Читать книгу Dr. Norden Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

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Die Stimmung in dem kleinen Club war angeheizt. Rhythmische, mitreißende Musik spielte. Über den Köpfen der Tanzenden drehte sich eine große Discokugel, und die Spiegel warfen Lichtreflexe auf die erhitzten Gesichter der ausgelassenen Menschen. Es war Abschlussabend des Rock‘n-Roll-Tanzkurses, zu dem Tatjana ihren Freund förmlich verdonnert hatte. Alle Teilnehmer tanzten ausgelassen. Nur Danny Norden saß müde an einem Tisch neben der Tanzfläche und beobachtete seine Freundin dabei, wie sie von einem anderen Tanzpartner übers Parkett gewirbelt wurde.

»Hey, warum muss ich eigentlich immer mit anderen Männern tanzen?«, fragte sie, als das Stück zu Ende war und sie mit glühenden Wangen an den Tisch zurückkehrte. Vergnügt ließ sie sich auf den Stuhl neben Danny fallen und trank einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas.

»Tut mir leid. Ich bin heute einfach nicht in Stimmung«, versuchte Danny ein weiteres Mal, sich herauszureden.

»Das hast du mir jetzt schon vier Mal erzählt«, gab Tatjana zurück und sah ihn herausfordernd an. »Wenn du aber nur rumsitzt und ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter ziehst, wird es auch nicht besser. Man könnte denken, dass du gar keine Lust hast, dich aufmuntern zu lassen.«

Wie so oft wunderte sich Danny auch dieses Mal über seine quirlige, aber sehbehinderte Freundin. Obwohl Tatjana nicht richtig sehen konnte und die Lichtverhältnisse alles andere als gut waren, wusste sie um seine verdrießliche Miene. Manchmal freute er sich über ihre ungewöhnliche Sensibilität. Manchmal war sie ihm unheimlich. Und manchmal, so wie jetzt, ging sie ihm ein bisschen auf die Nerven.

»Weißt du eigentlich, dass du dich ab und zu aufführst wie ein kleines Mädchen?«, fragte er sie ungeduldig.

Seit der Winter und damit die Grippe und schwere Erkältungskrankheiten Einzug gehalten hatten, war die Praxis noch besser besucht als ohnehin schon, und die beiden Ärzte konnten den Ansturm nur mit vereinten Kräften bewältigen. Deshalb war Danny abends rechtschaffen müde. In den allermeisten Fällen hatte seine Freundin Tatjana Verständnis dafür. Doch manchmal wollte sie einfach nur ihren Spaß haben.

»Was ist so schlimm daran, sich manchmal wieder wie ein Kind zu fühlen?«, fragte sie provokant. »Das ist übrigens eine sehr gesunde Haltung, die du auch ab und zu mal üben solltest.« Sie lehnte sich zurück und musterte Danny aus großen, irritierend dunkelblauen Augen.

Ihr Blick forderte ihn fast noch mehr heraus als ihre Worte.

Einen Moment lang verharrte Danny stocksteif am Tisch. Dann sprang er plötzlich auf und griff nach Tatjanas Hand.

»Was ist denn jetzt los?«, rief sie überrascht und stolperte hinter ihrem Freund her auf die Tanzfläche.

Ein neues Lied hatte begonnen, und die Paare drehten sich ausgelassen im Kreis.

»Jetzt lasse ich mal den Tiger in mir aus dem Käfig«, erklärte Danny grimmig lächelnd und zog seine Freundin mit einer schwungvollen Bewegung an sich. Einen Moment lang versanken ihre Blicke ineinander. »Das wolltest du doch!«

»Na, da bin ich ja mal gespannt«, lachte sie und nahm eine perfekte Tanzhaltung ein.

Nur wenige Augenblicke später waren die beiden der Mittelpunkt auf der Tanzfläche und wurden von den anderen Tänzern umringt. Bewundernde Blicke hingen an dem auffallend schönen Paar, das in schlafwandlerischer Sicherheit die schwierigsten Figuren tanzte.

»Wie wär’s mit ein bisschen Akrobatik?«, rief Tatjana ihrem Liebsten übermütig ins Ohr, als er sie wieder einmal schwungvoll an sich zog, um sie einen Augenblick später ebenso temperamentvoll wieder von sich zu stoßen.

»Also gut. Pass auf, wir machen den Schwan«, beschloss Danny spontan, die einfache Hebefigur zu wiederholen, die sie im Tanzkursus gelernt hatten. »Eins, zwei, drei«, zählte er. Gleichzeitig fasste er Tatjana kraftvoll um die schmale Hüfte und hob sie hoch. Einen Moment lang ging alles gut. Doch plötzlich geriet er aus dem Gleichgewicht. Mit Tatjana in den Armen wankte und schwankte Danny wie eine Fahne im Wind und sah dabei so komisch aus, dass sich die Zuschauer am Rand der Tanzfläche bogen vor Lachen. Schließlich rettete sich seine Freundin mit einem beherzten Sprung vor dem drohenden Sturz. Im selben Moment stöhnte Danny gequält auf. Er fasste sich mit der rechten Hand an die linke Schulter. Nebenbei stellte er mit Genugtuung fest, dass auf diese Weise wenigstens das Gelächter verstummte.

Auch Tatjana ahnte sofort, dass etwas passiert sein musste.

»Was ist los? Hast du dir weh getan?«, erkundigte sie sich besorgt bei ihrem Freund.

»So ein Mist. Ich hab mir irgendwas gesperrt«, stöhnte Danny unter den besorgten Blicken der anderen Tänzer auf.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht kehrte er auf seinen Platz zurück, gefolgt von Tatjana, die sich bittere Vorwürfe machte.

»Ich hab total vergessen, dass du nicht aufgewärmt warst. Du hättest mich nie und nimmer heben dürfen«, tadelte sie sich selbst.

Dummerweise bekam Danny diese Bemerkung in den völlig falschen Hals.

»Super! Nicht nur, dass ich mich zum Gespött aller Leute gemacht habe. Jetzt machst du mir auch noch Vorwürfe, weil ich versuche, dir jeden Wunsch zu erfüllen.«

»Aber das war doch kein Vorwurf an dich«, setzte sich Tatjana überrascht zur Wehr. »Ganz im Gegenteil. Und es tut mir leid, dass die Leute gelacht haben.« Sie meinte es ernst. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass auch um ihre Lippen ein belustigtes Lächeln spielte, wenn sie an die Wackelpartie dachte. »Obwohl wir sicher ein lustiges Bild abgegeben haben.«

Das ärgerte Danny nur noch mehr.

»Siehst du, jetzt lachst du mich auch noch aus«, schimpfte er schlecht gelaunt und rieb sich die immer noch die schmerzende Schulter. »Dabei hätte sonstwas passieren können.«

Tatjana war nicht auf den Mund gefallen und hätte ohne Weiteres eine schlagfertige Antwort parat gehabt. Doch sie wusste genau, wann sie lieber schweigen sollte.

»Komm, wir gehen nach Hause«, sagte sie sanft zu Danny und stand auf.

»Das hätten wir schon vor einer halben Stunde tun sollen«, murrte er und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge in Richtung Ausgang. Seine Freundin folgte ihm.

Als sie nacheinander hinaus in den kühlen Abend traten, schlug ihnen die Kälte entgegen. Ihr Atem stand in kleinen Wölkchen vor ihrem Mund. Tatjana stand vor Danny und legte die Arme um seinen Nacken. Dabei sah sie ihm tief in die Augen.

»Mein Süßer, entspann dich. Es gibt kein Problem, das nicht mit Schokocroissants, Pizza, einem leckeren Nudelgericht oder einer einfachen Tafel Schokolade gelöst werden könnte«, erklärte sie in Dannys ernstes Gesicht. Dabei sah sie so süß aus mit ihrer roten Nasenspitze unter den raspelkurz geschnittenen Haaren, dass ihm seine unwirsche Reaktion und seine schlechte Laune schon wieder leid taten. So gut es mit seiner schmerzenden Schulter möglich war, zog er sie an sich.

»Und mir tut es leid, dass ich dir den Abend verdorben habe!«

Mit dieser Entschuldigung hatte Tatjana nicht gerechnet.

»Im Ernst?« Hoffnung blitzte in ihren Augen auf.

»Klar«, versicherte Danny und küsste sanft ihre kalte Nasenspitze. »Schläfst du heute Nacht bei mir?«

Über diese Frage dachte Tatjana kurz nach. Dann schüttelte sie den Kopf und löste sich sanft aus der Umarmung.

»Nein, ich glaube, es ist besser, wenn wir uns mal ein bisschen Abstand gönnen. In letzter Zeit waren wir ziemlich oft zusammen. Vielleicht liegt deine schlechte Laune daran, dass ich dir auf die Nerven gehe.«

»Wie kommst du denn auf so eine Idee?«, fragte Danny entrüstet und sichtlich enttäuscht.

Tatjana legte den Kopf schief und musterte ihn eingehend. Im Dunkel der Nacht und nur beschienen vom matten Licht einer Straßenlaterne konnte sie nicht viel von seinem Gesicht erkennen.

»Wann hast du mich zum letzten Mal vermisst? Ich meine, so richtig. Dass du Sehnsucht nach mir hattest?«, fragte sie forschend.

»Vor zehn Minuten, als ich die Mäntel geholt habe«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen und Tatjana musste lachen. Seine Worte gaben den Ausschlag und sie nahm seine Hand, ehe sie sich umdrehte und ihn zu einer der Taxis zog, die am Straßenrand auf Kundschaft warteten.

*

Fee Norden erwachte mitten in der Nacht von einem Geräusch, das sie zunächst nicht einordnen konnte. Eine Weile lag sie wach im Bett, während ihre Mann Daniel neben ihr den Schlaf des Gerechten schlief. Sein leiser Atem beruhigte sie. Doch das wummernde Geräusch irgendwo im Haus hielt sie wach. Endlich beschloss sie, der Ursache auf den Grund zu gehen, und schlug die Bettdecke zurück. Kaum hatte sie die Schlafzimmertür geöffnet, wusste sie, was los war. Sie machte Licht und huschte auf bloßen Füßen über den Flur zum Zimmer ihres zweitältesten Sohnes.

»Felix, bist du verrückt geworden?« Fee bückte sich und zog mit einer resoluten Handbewegung kurzerhand den Stecker der Stereoanlage aus der Dose.

Erschrocken fuhr der junge Mann vom Bett hoch und starrte seine Mutter an, die, umgeben von einer Aureole von Licht, in der Tür stand.

»Mum, was machst du denn hier? Hab ich dich geweckt?«, fragte er schuldbewusst.

»Nein, es ist ganz normal, dass ich um diese Uhrzeit durchs Haus schleiche und meine Kinder erschrecke«, konnte sich Fee einen ironischen Kommentar nicht verkneifen. »Was glaubst du wohl, warum Nathaniel Baldwin im Jahr 1910 die ersten Kopfhörer erfunden hat?«

»Damit eine arme, geplagte Mutter im einundzwanzigsten Jahrhundert in Ruhe schlafen kann«, erwiderte Felix zerknirscht und wollte aufstehen und seine Mutter umarmen, als er stöhnend auf die Matratze zurücksank.

Fee erschrak.

»Was ist los?«

»Sport ist wirklich Mord. Ich schwöre, dass ich nie wieder Hallenfußball spiele. Ich muss mir einen Muskel im Oberschenkel gezerrt haben. Wegen diesen Schmerzen kann ich auch nicht schlafen.«

»Du Armer!« Sofort verflog Fees Ärger auf die Rücksichtslosigkeit ihres Sohnes, und sie setzte sich auf die Bettkante. »Warum hast du beim Abendessen nichts davon gesagt? Dein Vater hätte dir ein Schmerzmittel gegeben.«

»Ich wollte nicht jammern«, gestand Felix, dem der mütterliche Zuspruch sichtlich gut tat. Wie ein kleiner Junge lehnte er den Kopf an Fees Schulter und ließ es sich gefallen, dass sie ihm sanft den Rücken streichelte. »Außerdem sind Tabletten nicht gut für die Nieren.«

»Oh, mein kluger Sohn. Aber Schlaflosigkeit wegen Schmerzen ist sicher auch nicht angenehm.«

»Ich glaube, jetzt ist es schon viel besser«, seufzte Felix zufrieden. Er kuschelte sich noch enger an seine Mutter und schloss die Augen. »Wenn ich ein Kater wäre, würde ich jetzt anfangen zu schnurren.«

Felicitas lachte belustigt auf.

»Bist du zum Glück aber nicht, so dass jetzt hoffentlich Ruhe im Haus ist und wir beide schlafen können.« Auch sie war müde und sehnte sich nach ihrem wohlverdienten Schlaf.

Sie drückte Felix einen sanften Kuss auf die Stirn, wartete, bis er sich hingelegt hatte, und zog ihm – ganz wie in alten Zeiten – die Bettdecke bis hinauf zum Kinn. »Gute Nacht, mein Schatz«, flüsterte sie. Sein regelmäßiger Atem war Antwort genug, und so kehrte sie glücklich in ihr Bett zurück.

Als Fee sich hingelegt hatte, spürte sie, wie sie zwei Arme von hinten umschlangen.

»Wo warst du denn, mein Liebling?«, murmelte Daniel verschlafen und drückte sein Gesicht in ihr duftendes Haar. »Ich hab dich vermisst.«

»Felix hat Schmerzen und konnte nicht schlafen. Da war ich kurz bei ihm«, erwiderte sie und zog die Arme ihres Mannes noch enger um sich. Daniels Nähe tat ihr gut, beruhigte sie, und sie liebte es, in seinen Armen zu liegen.

»Was hat er denn?«

»Offenbar hat er sich beim Hallenfußball einen Muskel gezerrt.«

»Sport ist Mord.« Daniel unterdrückte ein Gähnen, und Fee lachte leise.

»Man merkt, dass ihr verwandt seid. Felix hat vorhin dasselbe gesagt. Aber vielleicht müsstet ihr einfach nur vernünftig sein und euch ordentlich aufwärmen. Dann passiert sowas nicht.«

»Meine kluge Fee. Was täte ich nur ohne dich und deine weisen Ratschläge?«, raunte Daniel ihr ins Ohr und küsste zärtlich ihren Hals.

»Schlafen«, murmelte sie, schon halb im Reich der Träume, bevor sie sich endgültig von seiner zärtlichen Umarmung gefangen nehmen ließ.

*

Es war kurz nach sechs Uhr, als der Wecker klingelte. Zuerst wusste Danny Norden nicht, wo er war. Seine schmerzende Schulter hatte ihn die halbe Nacht wach gehalten. Erst im Morgengrauen war er in einen unruhigen Schlaf gefallen und fühlte sich dementsprechend gerädert. Doch seine Freundin Tatjana kannte keine Gnade.

»Ich hab soooo schrecklich Hunger!«, seufzte sie und schob die Hand unter der Bettdecke hervor, um den Wecker auszuschalten.

Danny wusste, was diese Bemerkung bedeutete.

»Nein, vergiss es. Bei dieser Kälte gehe ich auf keinen Fall raus und schon gar nicht zum Bäcker.« Er schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Dabei rieb er sich die schmerzende Schulter. »Mal abgesehen davon, dass ich schwer verletzt bin.«

»Bewegung ist gut für verspannte Muskeln«, erwiderte Tatjana erbarmungslos. »Außerdem willst du doch sicher nicht, dass ich einen grausamen Hungertod sterbe.«

»Und was ist mit meinem Kältetod?«, hielt Danny dagegen. Inzwischen war er aufgestanden und lugte vorsichtig durch den Spalt zwischen den Gardinen hinaus in den unfreundlichen Wintermorgen. Dicke Schneeflocken fielen von einem eisgrauen Himmel, und schon jetzt wusste er, dass die Fahrt zur Praxis eine einzige Rutschpartie werden würde.

»So schnell stirbt es sich nicht«, gluckste Tatjana vergnügt. »Das sagst du doch selbst immer.«

Kopfschüttelnd drehte sich Danny zu ihr um. Nur der blonde Haarschopf, die blitzenden blauen Augen und die Nasenspitzte schauten unter der Decke hervor, und am liebsten wäre er sofort wieder zu ihr ins Bett gekrochen, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Doch leider ließ das zu erwartende Verkehrschaos diese Maßnahme nicht zu.

»Was hast du eigentlich da, wo andere Menschen ein mitfühlendes Herz haben?«, fragte er und begnügte sich damit, ihre verführerischen Lippen zu küssen.

»Hunger!«, antwortete Tatjana ohne Zögern, und Danny musste so sehr lachen, dass sich sofort wieder der Schmerz in der Schulter meldete.

»Eigentlich habe ich dich gestern ja nur mitgenommen, damit du mich heute pflegen kannst«, stöhnte er so gequält auf, dass Tatjana doch ein schlechtes Gewissen bekam.

»Ist es wirklich so schlimm?«, fragte sie besorgt.

»Grausam. Das kannst du dir gar nicht vorstellen«, übertrieb Danny absichtlich, um ihr Mitgefühl zu wecken.

»Moment mal. Die schlimmste Erkrankung des Mannes ist doch bekanntlich die Erkältung«, erwiderte sie keck und schälte sich aus der Bettdecke. »So schlimm kann so eine kleine Zerrung also gar nicht sein. Aber ich will mal nicht so sein und mache Frühstück.«

»Das ist doch reiner Selbstzweck«, rief Danny ihr nach und stand von der Bettkante auf, um endlich ins Bad zu gehen.

Lachend drehte sich Tatjana noch einmal zu ihm um.

»Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil sorge ich mit dieser Maßnahme dafür, dass du mich nicht wiederbeleben musst«, grinste sie frech, schickte ihm einen Handkuss und verschwand im großzügigen Wohn-Essbereich, um ihre Ankündigung wahr zu machen und Danny mit einem liebevollen Frühstück zu überraschen.

*

Als Dr. Daniel Norden nach dem gemeinsamen Frühstück mit seiner Familie das Haus verließ, sah die Stadt aus wie eine dieser idyllischen Landschaften in einer Schneekugel, die gerade kräftig geschüttelt worden war.

»Schade, dass in ein paar Stunden von dieser herrlichen Winterwunderwelt nur noch graubrauner Matsch übrig sein wird«, sagte er zu seinem Nachbarn Alfons Schimpf, der es wie jeden Winter gegen ein Taschengeld übernommen hatte, die Praxisparkplätze, Bürgersteig und Gartenweg freizuschaufeln. »Hoffentlich werden Sie nicht krank bei der Arbeit draußen.«

»Ach was!«, winkte der Senior lächelnd ab. Er trug eine Pudelmütze, und seine Wangen leuchteten mit seiner Nasenspitze um die Wette. »Die Bewegung hält mich warm. Und falls ich doch einen Schnupfen bekommen sollte, weiß ich ja, an wen ich mich wenden muss.«

»Dann verschreibe ich Ihnen heiße Zitrone mit Honig und ein Kräuterdampfbad«. Daniel lachte und konnte es sich nicht verkneifen, mit bloßen Händen in den weichen Pulverschnee zu greifen und ihn durch die Finger rieseln zu lassen. Kindheitserinnerungen stiegen in ihm auf. Plötzlich sah er sich auf dem alten Schlitten wieder, auf dem seine Mutter ihn als Kind hinter sich hergezogen hatte. Er hörte das Knistern des Feuers im Haus seiner Großeltern und hatte den süßen Duft von Bratäpfeln in der Nase.

»Was war das für eine herrliche Zeit!«, murmelte er versonnen.

Ein Schneeball, der ihm am Rücken traf, weckte ihn aus seinen Gedanken, und amüsiert sah er den Schulkindern nach, die fröhlich kreischend davon liefen. Auch Alfons Schimpf sah ihnen nach.

»Freche Gören!«

»Genau wie wir damals!« Dr. Norden lächelte.

»Sie haben recht. Manche Dinge ändern sich eben nie«, sinnierte Alfons Schimpf vor sich hin und schien, genau wie Daniel, ein wenig sentimental zu sein.

»Das stimmt glücklicherweise.« Als Daniel das Gesicht seiner Assistentin Wendy am Fenster erblickte, erinnerte er sich wieder an seine Arbeit. Er verabschiedete sich von seinem Nachbarn und ging den sauber geräumten Weg zur Tür.

»Ich wünsche einen wunderschönen guten Morgen allerseits!« Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen schneite er im wahrsten Sinne des Wortes in die Praxis und hinterließ eine weiße Spur, die sich schnell hinter ihm auflöste.

»Guten Morgen, Chef!«, Wendy freute sich sichtlich über die gute Laune des Seniors. »Schön, dass Sie so gut gelaunt sind. Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, dass Sie sich gleich an die Arbeit machen müssen.«

Daniel hängte seinen nassen Mantel an die Garderobe und ging hinüber zum Tresen, wo Janine schon eine frische Tasse Kaffee für ihren Chef bereitgestellt hatte.

»Aber die Sprechstunde hat doch noch gar nicht angefangen«, bemerkte er mit einem verwunderten Blick ins Wartezimmer. Es war leer. Noch lagen die Zeitschriften ordentlich gestapelt auf den kleinen Tischen, und das Kinderspielzeug lag sorgfältig verstaut in der Ecke in einem großen Korb. »Da ist keine Menschenseele.«

»Ihr Patient wartet schon im Behandlungszimmer auf Sie.«

Das war ganz und gar ungewöhnlich und schon wollte Daniel ein ernstes Wörtchen mit seinen beiden Assistentinnen reden, als er das belustigte Funkeln in Wendys Augen bemerkte. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn.

»Könnte es sein, dass es sich bei dem frühen Patienten um meinen Sohn Danny handelt?«, erkundigte er sich argwöhnisch, als er Schritte hinter sich hörte.

»Da bist du ja endlich, Dad«, erklärte Danny statt einer Begrüßung und gesellte sich zu seinem Vater an den Tresen.

»Was heißt hier endlich?« Daniel musterte seinen Sohn verwundert. »Du kannst von Glück sagen, dass ich schon hier bin. Wegen des Schnees bin ich viel früher losgefahren.«

Trotz seiner Schmerzen huschte ein Grinsen über Dannys Gesicht.

»Siehst du, und weil ich dein Pflichtbewusstsein so gut kenne, bin ich auch extra früh gekommen.« Um seine Worte zu unterstreichen, fasste er sich an die schmerzende Schulter. »Ich brauche nämlich deinen fachlichen Rat, bevor ich selbst wieder Hand an die Patienten lege.«

Während die beiden Männer Seite an Seite in Dr. Nordens Sprechzimmer gingen, erschien eine steile Falte auf Daniels Stirn.

»Was ist passiert? Hast du etwa auch Hallenfußball gespielt wie dein Bruder Felix?«

»Nein. Auf so eine dumme Idee würde ich niemals kommen. Es ist doch bekannt, wie hoch das Verletzungsrisiko bei Hallenfußball ist«, lächelte Danny ein wenig von oben herab. »Ich hab mit Tatjana doch diesen Tanzkursus gemacht und gestern beim Abschlussabend eine Hebefigur ausprobiert …«.

»Ah, und das ist eine klügere Idee als Hallenfußball?«, konnte sich Daniel einen spöttischen Kommentar nicht verkneifen. Er schloss die Tür hinter sich und lotste seinen Sohn ins Behandlungszimmer, das durch eine Verbindungstür vom Sprechzimmer getrennt war. »Setz dich hin und zieh das Hemd aus. Dann wollen wir uns die Sache mal anschauen.«

Als sein Sohn mit nacktem Oberkörper vor ihm saß, konnte der Arzt die Schulter auf Bewegungseinschränkungen und sichtbare Veränderungen überprüfen. Eine Tastuntersuchung und Ultraschall gaben schließlich Aufschluss über die Verletzung.

»Mit deiner akrobatischen Einlage hast du dir eine Schulterdistorsion eingehandelt«, erklärte Dr. Norden, nachdem er die Untersuchung beendet hatte. »Du kannst dich wieder anziehen.«

»Eine Zerrung?«, hakte Danny nach und schlüpfte in T-Shirt und Hemd. »Das bedeutet eine Sportpause, die Einnahme von Schmerzmitteln und Physiotherapie«, zählte er die erforderlichen Maßnahmen lehrbuchmäßig auf.

»Wenigstens hast du diese Vorlesung beim Studium nicht verpasst«, lächelte Daniel amüsiert und ging hinüber ins Sprechzimmer, um seinen Computer anzuschalten und alles für die Behandlung des ersten offiziellen Patienten vorzubereiten. »Zu dumm, dass Jennys Physiotherapeut im Augenblick urlaubsbedingt ausfällt«, dachte er laut nach. »Sie hat zwar eine Vertretung organisiert. Aber ich weiß nicht, wie sie arbeitet.«

»Ach, bei ein bisschen Krankengymnastik kann man nicht so viel falsch machen«, winkte Danny unbeschwert ab.

»Wenn du das so siehst, kannst du ja mal bei ihr vorbei schauen. Du bist ja heute Mittag eh in der Klinik und besuchst ein paar Patienten. Vielleicht hat sie ja noch ein paar Termine frei«, tat Daniel seine Hoffnung kund.

»Gute Idee.« Danny war seinem Vater gefolgt und knöpfte den letzten Knopf seines Hemdes zu.

Daniel musterte seinen Sohn, ein belustigtes Funkeln in den Augen.

»Und in Zukunft solltest du besser davon absehen, deine Freundin mit waghalsigen Kunststücken beeindrucken zu wollen. Dafür scheinst du inzwischen zu alt zu sein.«

Danny entging der amüsierte Unterton in der Stimme seines Vaters nicht, und er lachte gutmütig auf.

»Und was schlägst du stattdessen vor? Aber halt, lass mich raten.« Ehe Daniel antworten konnte, machte sein Sohn eine abwehrende Geste. »Einen ruhigen Spaziergang bei Sonnenuntergang an der Isar. Wahlweise einen ruhigen Abend vor dem heimischen Kaminfeuer. Oder ein ruhiges …«.

»Ich schlage vor, du machst dich jetzt ganz schnell an die Arbeit, bevor mein ruhiges Blut in Wallung gerät«, empfahl Dr. Norden lachend.

Danny zwinkerte seinem Vater gut gelaunt zu und verließ dann das Zimmer. Inzwischen hatte sich das Wartezimmer gefüllt, und wenn er an diesem Mittag die Pläne wahr machen und in die Klinik fahren wollte, musste er sich langsam an die Arbeit machen.

*

»Schön, dass Sie gleich heute einen Termin für mich hatten«, begrüßte Danny Norden die Physiotherapeutin. Wie sein Vater ihm geraten hatte, war er mittags bei Lilly Seifert vorbei gegangen und hatte sich vorgestellt. Natürlich war ihm das Leuchten ihrer grünen Augen nicht entgangen, als sie ihn von oben bis unten gemustert hatte. Doch er wäre kein richtiger Mann gewesen, wenn ihm die offensichtliche Bewunderung einer aparten Frau wie Lilly nicht geschmeichelt hätte.

Lilly saß gerade an ihrem Schreibtisch und blickte auf, als sie die markante Stimme des jungen Arztes hörte. Wieder war da dieses Leuchten, und ein Lächeln spielte um ihre vollen Lippen, als sie sich sich erhob und ihm mit ausgestreckter Hand entgegen kam.

»Herr Norden, einen Mann wie Sie lässt eine kluge Frau doch nicht warten«, gab sie zurück, und Danny war sich nicht sicher, ob nicht ein Hauch Ironie in ihrer Stimme mitschwang.

»Freut mich, wenn Sie das so sehen«, beschloss er, selbstbewusst aufzutreten, und erwiderte ihr Lächeln.

Diese Antwort schien Lilly nicht erwartet zu haben. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, strich sie sich mit einer anmutigen Geste eine braune, gewellte Strähne aus dem Gesicht und dachte kurz nach.

»Schön, dann fangen wir an. Sie leiden also unter einer Schulterdistorsion?«, erkundigte sie sich und brachte ihn hinüber in ihr Behandlungszimmer, das mit einer Massageliege ausgestattet war. Sie bat ihn, den Oberkörper frei zu machen und sich bäuchlings auf die Liege zu legen. »Wie ist das passiert? Im Fitness-Studio ein paar Kilo zu viel aufgelegt?«

Danny spürte, wie sie mit ihren schlanken Händen forschend über seinen Rücken strich.

»Ich gehe nicht ins Studio. Dafür hätte ich gar keine Zeit«, erwiderte er und stöhnte auf, als sie mit einer Kraft, die er diesen zierlichen Fingern gar nicht zugetraut hatte, in seine Schultern griff.

»Oh, dafür sind Sie aber erstaunlich gut trainiert. Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?«

»Gute Erbmasse«, lächelte Danny. Ihm gefiel das offensichtliche Interesse der jungen Physiotherapeutin. Trotzdem beschloss er, die Karten lieber gleich auf den Tisch zu legen, bevor ein Missverständnis die zukünftige Behandlung erschweren konnte. »Außerdem habe ich eine Freundin, die mich ziemlich auf Trab hält.«

»Das macht sie offenbar ziemlich gut.« Zu Dannys Erstaunen schien Lilly Seifert nicht im Mindesten beeindruckt oder gar enttäuscht zu sein. Nicht das leiseste Zucken ihrer Hände verriet ihre Gedanken. »Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, wo Sie sich verletzt haben.« Sie hatte sich ein Bild über seine Verletzung verschafft und nahm die Hände vom Rücken des jungen Arztes.

»Das sage ich nur, wenn Sie versprechen, mich nicht auszulachen«, gab Danny zurück und sah ihr dabei zu, wie sie durch den Raum ging und den Kühlschrank in der Ecke es Zimmers öffnete.

»Das kann ich nur versprechen, wenn es nicht um Details aus Ihrem Intimleben geht«, erwiderte sie schlagfertig und sorgte mit diesem Kommentar dafür, dass Danny bis über beide Ohren rot wurde.

»Sie denken in die völlig falsche Richtung«, erklärte er schnell. »Es ist beim Rock’n Roll passiert. Eine verunglückte Hebefigur.«

»Dann sollten Sie vielleicht doch mal in Erwägung ziehen, ins Fitness-Studio zu gehen.« Mit einer Kältepackung in den Händen kehrte Lilly zu ihrem Patienten auf der Liege zurück. »Genauso wichtig ist allerdings, sich vor jeder körperlichen Betätigung gut aufzuwärmen.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, legte sie die kühle Packung auf Dannys Rücken und deckte den Rest seines Rückens sorgfältig zu.

Danny verdrehte die Augen und lachte.

»Komisch, diese Worte kommen mir irgendwie bekannt vor.«

Die Physiotherapeutin stand einen Moment lang neben ihm und musterte ihn sinnend.

»Keine Angst, ich sage das nicht, um Sie zu bloßzustellen.« Plötzlich war ihre Stimme verändert, und sie fasste sich an den Ellbogen. Dabei verzog sie das Gesicht. »Mir passieren auch immer wieder dumme Fehler. Ich hab mir zum Beispiel beim Tennisspielen eine Entzündung im Ellbogengelenk geholt. Selbst schuld.« Lakonisch zuckte sie mit den Schultern. »Ich hätte nur auf die Warnsignale meines Körpers hören sollen.«

»Da müssen Sie bei Ihrem Beruf aber vorsichtig sein. Jede weitere Belastung ist Gift für den sogenannten Tennisellbogen.«

Lilly nickte und seufzte.

»Ich weiß. Aber was soll ich tun? Ich kann ja im Moment schlecht krank machen. Schließlich bin ich Stellvertreterin. Außerdem macht es sich gut in meinem Lebenslauf, wenn ich reinschreiben kann, dass ich an der Behnisch-Klinik gearbeitet hab. Das ist wie ein Sechser im Lotto.« Einen Moment stand Lilly sinnend neben Dannys Liege. Dann beugte sie sich zu ihm herab, sodass ihr Haar sein Ohr kitzelte. »Sie dürfen mich aber auf keinen Fall verraten. Ich will mir keine Blöße geben«, raunte sie ihm verschwörerisch zu. »Die paar Wochen halte ich schon durch.«

Von dieser Idee war Danny wenig begeistert. Als Arzt wusste er, wie gefährlich eine Belastung für ein entzündetes Gelenk war.

»Ich verrate Sie nicht. Unter einer Bedingung«, sagte er zögernd.

»Das klingt nach Erpressung«, bemerkte Lilly aufreizend.

»Wenn Sie so wollen.« Danny lächelte. »Ich verrate Sie nicht, wenn Sie versprechen, zum Arzt zu gehen. Wenn es in der Klinik schon niemand erfahren soll, dann können Sie einen der zahlreichen niedergelassenen Ärzte in München aussuchen. Sie haben die Wahl.«

Über diesen Vorschlag schien die Physiotherapeutin ernsthaft nachzudenken. Während sie das inzwischen warm gewordene Kissen von seinem Rücken entfernte, schwieg sie. Plötzlich leuchteten ihre Augen auf, und ein verschmitzter Zug erschien um ihren Mund.

»Das werde ich auf jeden Fall tun«, erklärte sie sich schließlich mit seinem Vorschlag einverstanden und bat ihn, sich aufzusetzen, damit sie mit behutsamen Bewegungsübungen beginnen konnte.

*

Der Tag verging wie im Flug, und als Daniel Norden am Abend nach Hause kam, wurde er schon sehnsüchtig erwartet. Sein jüngster Sohn Janni hatte sich die Wartezeit im heimischen Garten mit dem Bau eines mannshohen Iglus vertrieben und lief seinem Vater mit leuchtenden Augen entgegen.

»Da bist du ja endlich! Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich«, keuchte er und klopfte die Hände aneinander. Obwohl sie in Handschuhen steckten, waren sie kalt geworden.

Daniel konnte sich nur wundern. Offenbar war sein Typ an diesem Tag begehrter als sonst.

»Wieso? So spät bin ich doch heute gar nicht dran«, erwiderte er und ging Seite an Seite mit seinem Sohn zum Haus, wo Fee trotz der Kälte schon in der Tür stand.

»Du weißt doch, wie es ist, wenn man auf etwas wartet. Da vergeht die Zeit besonders langsam«, erinnerte sie ihren Mann an die unabänderlichen Tatsachen und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

»Das klingt ja geheimnisvoll. Darf ich erfahren, warum mein Typ heute so gefragt ist?«

Fee hatte inzwischen die Tür geschlossen, um die kalte Luft und die Dunkelheit auszusperren.

»Ist er doch immer«, widersprach sie und lächelte zärtlich.

»Ja, bei dir. Aber die Zeiten, in denen die Kinder Sehnsucht nach mir hatten, sind doch meines Wissens längst vorbei«, grinste Daniel und sah seinen Jüngsten, der bald genauso groß sein würde wie er, fragend an.

»Stimmt doch gar nicht!«, erwiderte Janni im Brustton der Überzeugung. »Morgen Nachmittag brauche ich dich zum Beispiel ganz dringend.« Inzwischen hatte er die Jacke ausgezogen und sie unter Fees mahnendem Blick wieder vom Boden aufgehoben und ordentlich an die Garderobe gehängt.

»Morgen Nachmittag?«, wiederholte Daniel und folgte dem verführerischen Duft, der aus dem Esszimmer strömte.

»Ja, da hast du doch keine Sprechstunde, und ich dachte, wir können zusammen mal in die Tennishalle fahren.«

Daniel begrüßte seine Töchter Anneka und Dési und seinen Sohn Felix, die alle drei schon hungrig am Tisch saßen. Bevor Daniel Gelegenheit hatte, über Jans Bitte nachzudenken, sah ihn Anneka fragend an.

»Kommen Danny und Tatjana heute nicht?« Sie liebte die Freundin ihres Bruders abgöttisch und genoss die gemeinsame Zeit am Abendbrottisch jedes Mal aufs Neue.

»Danny ist bei der Physiotherapie«, beantwortete Daniel die Frage und setzte sich auf seinen Platz.

»Was fehlt ihm denn?«, erkundigte sich Fee sofort besorgt, und Daniel berichtete von der misslungenen Hebefigur. »Beim ›Schwan‹ hat er sich die Schulter verrissen.«

»Das sah dann wohl eher aus wie der ›sterbende Schwan‹«, konnte sich Felix einen frechen Kommentar nicht verkneifen und sonnte sich in dem belustigten Gelächter seiner Geschwister. Nur Janni stimmte nicht mit ein. Er hielt Lenni den Teller hin, damit sie Gemüseeintopf hinein füllen konnte, und wackelte aufgeregt mit den Beinen.

»Was ist denn jetzt mit Morgen Nachmittag, Dad?«, erinnerte er seinen Vater ungeduldig daran, dass er ihm noch eine Antwort schuldig war.

»Wieso willst du denn plötzlich in die Tennishalle?«, stellte Daniel eine berechtigte Frage und tauchte den Löffel in den dampfenden Eintopf. »Du spielst doch gar nicht Tennis.«

»Ich möcht’s mir aber mal anschauen. Ein paar aus meiner Klasse sind im Verein und haben mich gefragt, ob ich nicht auch mitmachen will.«

»Lass lieber die Finger von so einem Sport«, mischte sich Felix vorlaut in das Gespräch zwischen Sohn und Vater ein. »Du siehst ja, was dabei rauskommt.« Mit gewichtiger Miene deutete er auf seinen Oberschenkel. »Ich hab mir bei dem dämlichen Hallenfußball den Muskel gezerrt.«

»Da kann der Fußball aber mit Sicherheit nichts dafür«, konnte sich Anneka einen anzüglichen Kommentar nicht verkneifen.

Felix schnitt ihr eine Grimasse.

»Und was ist mit Danny? Der hat sich ja schließlich auch verletzt.«

»Wenn ihr euch richtig aufwärmen würdet, wäre das sicher nicht passiert«, gab Dési ihrer Schwester Schützenhilfe. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, sich vorher richtig zu dehnen und warm zu machen. Selbst, wenn man ›nur‹ tanzt«, beugte sie einem nächsten, hämischen Kommentar von Felix vorsorglich vor.

Fee, die das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, nickte zustimmend.

»Ich finde, Dési und Anneka haben recht. Wenn man Sport vernünftig und in Maßen betreibt, ist er sehr gesund«, ergriff sie schließlich das Wort und sah ihren Mann aufmerksam an. »Schließlich seid ihr in der Praxis doch selbst mal eine Weile zum Joggen gegangen.« Ihr prüfender Blick wanderte hinunter zu Daniels Mitte. »Das würde dir im Übrigen auch mal wieder nicht schaden.«

Sofort fühlte sich Daniel ertappt und zog den nicht vorhandenen Bauch ein.

»Aber warum muss es ausgerechnet Tennis sein?«, wandte er sich schnell an Jan, damit er nicht auf die Bemerkung seiner Frau eingehen musste. »Warum gehst du nicht mit deiner Mutter ins Fitnessstudio? Oder mit Dési zum Tanzen?«

Genervt verdrehte Janni die Augen.

»O Mann, Dad, das ist doch voll uncool«, gab er gedehnt zurück. »Ich hab ja auch noch gar nicht gesagt, dass ich spielen will. Ich will es mir erst mal anschauen.«

Inzwischen hatte Daniel Norden seinen Teller geleert und legte den Löffel satt und zufrieden zur Seite.

»Na schön, dann fahren wir eben morgen in die Tennishalle«, gab er dem Wunsch seines Sohnes nach.

Am liebsten wäre Janni seinem Vater vor Freude um den Hals gefallen. Da sich das aber in seinem Alter nicht mehr geziemte, begnügte er sich mit einem anerkennenden Nicken.

»Echt cool von dir! Danke, Dad!«

»Nehmt aber lieber vorsichtshalber mal den Verbandskasten mit!«, bemerkte Felix grinsend und duckte sich, als sein Bruder seine Serviette zerknüllte und nach ihm werfen wollte.

Im letzten Augenblick konnte Fee ihren Jüngsten daran hindern.

»Halt«, sprach sie ein Machtwort, als es an der Tür klingelte.

Sofort war Anneka auf den Beinen.

»Das sind bestimmt Tatjana und Danny«, rief sie freudig und lief aus dem Zimmer.

»Super. Dann bekommen wir die Geschichte vom sterbenden Schwan ja gleich aus erster Hand geliefert«, feixte Felix belustigt, als das große Hallo Annekas Vermutung bestätigte und gleich darauf Danny und Tatjana hereinkamen, um die muntere Gesellschaft mit ihrer Anwesenheit zu bereichern.

*

»Komm, setzen wir uns hierher!« Eine Weile waren Janni und sein Vater in der großen Tennishalle herumgeschlendert, waren mal hier am Spielfeldrand stehen geblieben und hatten mal dort zugesehen, bis sich Janni schließlich dazu entschlossen hatten, auf einer kleinen Tribüne Platz zu nehmen. Von dort hatte man einen guten Überblick über die angrenzenden Spielfelder. Daniel war damit einverstanden und machte es sich auf dem harten Sitz so gemütlich wie möglich. Schon bald wurde die Aufmerksamkeit von Vater und Sohn gefangen genommen.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wann kapierst du eigentlich, wie ein Hechtvolley funktioniert?«, schrie der Trainer Toni Kroith seinen Schützling, einen etwa siebzehnjährigen jungen Mann, wütend an. »Mach das nochmal! Aber sofort!«

Seufzend bückte sich Leon Matthes nach zwei Bällen und kehrte zur Außenlinie zurück.

Janni sah ihm mit angehaltenem Atem zu.

»Glaubst du, er schafft es diesmal?«, flüsterte er seinem Vater zu.

Daniel schüttelte den Kopf.

»Das wäre ein Wunder. Der arme Kerl ist doch völlig verunsichert.«

Wie gebannt starrte er auf den jungen Mann, der sich konzentrierte, ehe er die gelbe Filzkugel in die Luft warf. Der Aufschlag gelang, und der Ball wechselte ein paar Mal die Seiten. »Mal abgesehen davon, dass er aussiehst, als hätte er Schmerzen.«

Der Trainer gab ein Zeichen, dass er nun den Hechtvolley erwartete. Leon lief los und streckte im Sprung den Schläger aus. Doch auch diesmal traf er nicht richtig, und wieder landete der Ball im Netz.

»Es tut mir leid. Ich hab solche …«, wollte Leon zu einer Entschuldigung ansetzen, als Toni Kroith wütend dazwischenfuhr.

»Komm schon, keine faulen Ausreden. Du hast wieder alles andere im Kopf. Nur nicht dein Training«, sagte er seinem Schützling auf den Kopf zu.

»Das ist nicht wahr! Ich geb mein Bestes!«, versicherte Leon. Vergeblich.

Toni schnaubte laut und verächtlich.

»Dass ich nicht lache! Wenn das hier dein Bestes ist, möchte ich wissen, was du überhaupt in der neuen Mannschaft verloren hast. Die Zusage vom Club heißt noch lange nicht, dass du auch wirklich spielen wirst. Diese Entscheidung treffe ich.«

Einen Moment lang stand Leon mit gesenktem Kopf auf dem Platz und haderte sichtlich mit sich.

»Ich kann heute nicht«, sagte er dann so leise, dass Daniel und Janni ihn fast nicht verstanden.

Doch sein Trainer hatte gut genug gehört. Schlagartig verzerrte sich sein Gesicht und lief krebsrot an.

»Was willst du dann noch hier? Verschwinde! Du stiehlst mir nur meine kostbare Zeit!« Mit diesen harschen Worten wandte er sich ab und wollte vom Platz gehen, als Leon ihm kläglich nachrief:

»Also gut, dann versuch ich es nocheinmal. Ich weiß, dass ich es kann«, flehte er Toni Kroith an. »Bitte geben Sie mir noch einen Versuch.«

Eine gefühlte Ewigkeit lang stand der Trainer schweigend da und musterte seinen Schüler aus kalten Augen.

Diese Gelegenheit nutzte Daniel und beugte sich hinüber zu seinem Sohn.

»Bist du dir sicher, dass du Tennis spielen willst?«, raunte er Janni zu. »Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass das Spaß macht.«

»So auf jeden Fall nicht«, räumte Jan bereitwillig ein. »Aber das muss doch auch anders gehen.«

In diesem Moment kam wieder Leben in Toni Kroith, und er erlöste Leon aus seiner grenzenlosen Verunsicherung. Mit einem überheblichen Grinsen auf den Lippen kehrte er auf den Platz zurück.

»Na bitte, geht doch. Warum nicht gleich so?«, fragte er hämisch und warf Leon einen Ball zu.

Der fing ihn geschickt auf und stellte sich an die Linie. Wieder spielten die beiden ein paar Mal hin und her.

»Und jetzt den Hechtvolley!«, rief Toni Kroith laut über den Platz und schlug den Ball zurück.

Leon Mattes fixierte die gelbe Filzkugel, die über das Netz flog. Er streckte den Arm mit dem Schläger aus und hechtete in die Richtung des Balles. Doch noch in der Flugphase geschah es. Leon schrie auf und stürzte wie ein nasser Sack zu Boden.

Ungläubig starrte Toni Kroith zu seinem reglosen Schützling hinüber. Dann lief er los und sprang mit einem gewaltigen Satz übers Netz. Daniel und Janni waren aufgesprungen und starrten hinunter auf den Platz. Ein paar jugendliche Zuschauer hatten sich um Leon geschart.

Toni drängte sich dazwischen.

»Was glotzt ihr so?«, herrschte er die Jungen an. »Lauft lieber und holt einen Arzt.«

Dr. Norden stieß seinen Sohn in die Seite und nickte Janni zu. Der verstand auch ohne Worte, was sein Vater meinte. Er folgte ihm, ohne überflüssige Fragen zu stellen.

»Ich bin Arzt! Ich sehe nach dem Jungen!«, verkündete Daniel, als er wenige Augenblicke später auf den Platz trat.

Einen Moment lang musterte Toni Kroith den unbekannten Mann misstrauisch. Als Leon jedoch leise stöhnte, trat er zur Seite und machte Platz, damit sich Dr. Norden um seinen Schützling kümmern konnte.

*

Leon öffnete in dem Moment die Augen, als sich Daniel Norden über ihn beugte.

»Da bist du ja wieder!«, begrüßte der Arzt den jungen Mann freundlich.

Der lag auf dem Boden und ließ den Blick hin und her wandern.

»Was ist passiert?«

»Du bist ohnmächtig geworden. Ich bin Arzt und werde dich jetzt untersuchen«, erklärte Daniel. »Hast du Schmerzen?«

Einen Moment lang lauschte Leon in sich hinein. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein.«

»Mein Sohn und ich haben dir vorhin zugeschaut, und ich hatte den Eindruck, dass dir sehr wohl was weh tut«, machte der Arzt keinen Hehl aus seiner Vermutung. »Ich untersuche jetzt deine Beine, und du sagst mir bitte, wo es weh tut, ja?«

Leons Miene hatte sich verschlossen und wirkte jetzt düster und unnahbar. Dr. Norden bekam keine Antwort auf seine Frage und begann mit der Untersuchung.

»Spürst du das? Und das hier?«

»Ich weiß gar nicht, was das Ganze hier soll«, setzte sich Leon schließlich zur Wehr. »Ich bin doch nur umgekippt. Kein Grund zur Aufregung.« Dabei zwinkerte er seinen Freunden zu, die das Geschehen aus gebührendem Abstand beobachteten.

Doch Daniel ließ sich von diesem Auftreten nicht beeindrucken.

»Aber es gibt einen Grund für diese Ohnmacht, und den werden wir herausfinden.« Er hatte Leon die Schuhe ausgezogen und kniete vor seinen Füßen. »Drückst du bitte mal gegen meine Hand? Und jetzt zieh die Zehen zu dir«, bat er und Leon tat, wie ihm geheißen.

»Hören Sie, mir fehlt nichts«, beteuerte er unterdessen, sich der Anwesenheit seines Trainers wohlbewusst. Auf keinen Fall wollte er sich vor Toni Kroith eine Blöße geben. »Das war eine kleine Kreislaufschwäche. Wahrscheinlich hab ich heute noch nicht genug gegessen. Kein Grund zur Panik.«

Doch davon ließ sich Dr. Norden nicht in seiner Konzentration stören.

»Das hat sich vorhin aber ganz anders dargestellt«, erklärte er ernst, während Janni neben ihm kniete und aufmerksam verfolgte, was geschah. »Kannst du das Bein bitte mal anheben?«

Leon haderte mit sich, ob er den Wunsch des Arztes befolgen sollte, entschied sich unter den strengen Blicken seines Trainers aber dann dafür. Er hob das Bein. Und stöhnte sofort auf.

»Aua!«

Unwillig verzog Daniel das Gesicht.

»Soso, dir fehlt also nichts«, bemerkte er streng. »Hattest du diese Beschwerden schon früher?«

Spontan schüttelte Leon den Kopf. Als ihn der strenge Blick des Arztes traf, überlegte er es sich anders.

»Ja, schon«, gestand er kleinlaut und so leise, dass sein Trainer ihn nicht hören konnte. »Aber nur bei ganz bestimmten Bewegungen.«

»Kannst du dich daran erinnern, wann die Schmerzen zum ersten Mal aufgetreten sind?«, forschte Daniel Norden erbarmungslos weiter.

»Keine Ahnung. Irgendwas tut einem ja ständig weh.«

»Warst du deswegen beim Arzt?«

Wieder schüttelte Leon den Kopf.

»Wenn es zu schlimm geworden ist, hab ich Schmerzmittel vom Trainer bekommen.«

»Und hast weitergemacht wie bisher. Das ist natürlich auch eine Lösung«, schimpfte Daniel ungehalten. »Dabei sind Schmerzen nichts anderes als ein Alarmsignal des Körpers, dass etwas schief läuft. Es ist ein fataler Fehler, diese Signale zu ignorieren.«

Diese Standpauke verfehlte ihre Wirkung nicht.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Leon kleinlaut, während Daniel ihm half, sich vorsichtig aufzusetzen.

»Jetzt fahren wir in die Klinik und machen ein MRT, um herauszufinden, was mit deinen Rücken los ist«, erklärte er und stand auf. »Kannst du laufen?«, erkundigte er sich bei Leon, während Toni Kroith seinem Schützling eine Trainingsjacke um die Schultern legte.

»Ich glaub, es geht schon.«

»Gut.« Daniel nickte seinem Sohn zu, der immer noch wie gebannt neben ihnen stand. »Ich gehe und fahre das Auto vor. Kommst du mit Leon in zwei Minuten nach?«

»Geht klar, Dad«, erwiderte Janni und lächelte Leon aufmunternd zu.

Der versuchte, den freundlichen Gruß zu erwidern, bekam aber nur eine schiefe Grimasse zustande.

*

Felicitas Norden erwartete ihren jungen Patienten schon. Sie hatte mit Janni telefoniert, der sie vom Auto aus in der Klinik angerufen und von dem Vorfall berichtet hatte. Seit Fee vor einigen Monaten die Fortbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie begonnen hatte, absolvierte sie ein Praktikum in der Pädiatrie der Behnisch-Klinik. Mit besonderer Liebe und Fürsorge nahm sie sich ihrer jungen Schützlinge an.

»Da seid ihr ja!«, begrüßte sie Daniel und Jan, als sie ihnen auf dem Flur entgegen kamen. Sie hatten einen Rollstuhl für Leon besorgt, und Dr. Norden schob den jungen Patienten vor sich her. »Hallo, Leon.« Freundlich lächelnd beugte sich Fee zu dem jungen Mann hinunter und reichte ihm die Hand. »Wie geht es dir?«

Doch Leon erwiderte ihr Lächeln kaum und wich ihrem Blick aus.

»Schon okay.« Während der Fahrt hatte er kein Wort gesprochen und haderte offenbar immer noch mit seinem Schicksal.

Irritiert suchte Felicitas den Blick ihres Mannes.

Doch auch Daniel konnte nur mit den Schultern zucken.

»Das hier ist Leon Matthes. Er ist 17 Jahre alt und beim Tennistraining plötzlich ohnmächtig geworden. Eine erste Untersuchung hat den Verdacht auf eine Bandscheibenverletzung ergeben.«

»Ich hab die Kollegen schon informiert«, konnte Fee ihrem Mann zu seiner Erleichterung mitteilen. »Das MRT ist frei. Sie warten schon auf ihn.« Eine Schwester kam herbei, um sich des jungen Mannes anzunehmen und ihn in die Radiologie zu bringen.

»Ich begleite Leon«, entschied Janni, und seine Eltern sahen dem kleinen Tross nach, der den Klinikflur hinunter ging.

Als die drei um die Ecke verschwunden waren, beugte sich Daniel zu seiner Frau, um ihr einen Kuss zu geben.

»Euch kann man aber auch keine fünf Minuten allein lassen«, stellte Fee kopfschüttelnd und nicht ganz ernst fest und bedeutete Daniel, ihr in ihr Büro zu folgen.

»Eigentlich kann Leon von Glück sagen, dass wir gerade in der Nähe waren. Er wäre imstande gewesen, aufzustehen und weiterzuspielen, als wäre nichts gewesen.«

Seufzend schloss Felicitas die Tür hinter ihrem Mann.

»Da stecken sicher mal wieder ehrgeizige Eltern dahinter. Kaffee?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Thermoskanne, die neben ein paar Tassen, Milch und Zucker auf dem Sideboard in ihrem Büro stand.

Daniel nickte und nahm dankend die dampfende Tasse, die seine Frau ihm gleich darauf reichte. Er nippte an seinem heißen Kaffee und wiegte nachdenklich den Kopf.

»Ich bin mir nicht so sicher. In diesem Fall scheint eher ein anspruchsvoller, strenger Trainer der Grund für den falschen Ehrgeiz zu sein. Und die Aussicht, in einer besseren Mannschaft mitzuspielen.«

»Das ist natürlich sehr verlockend für einen talentierten jungen Mann.« Fee biss in einen Keks, den sie aus der Schale auf dem Tisch genommen hatte. »Ich hoffe wirklich, dass sich Janni einen anderen Sport aussucht.«

»Da mach dir mal keine Sorgen«, winkte Daniel unbesorgt ab. »Er ist ohnehin viel zu alt, um noch groß Karriere zu machen.«

Dieser Gedanke erleichterte Fee in der Tat.

»Während ich auf euch gewartet habe, ist mir übrigens etwas eingefallen«, fuhr sie versonnen fort. »Bei fünf Kindern und gefühlten tausend angefangenen Hobbys verliert man schon mal den Überblick.« Sie leckte sich die Kekskrümel von den Fingerspitzen und sah Daniel aus schmalen Augen an.

»Und was ist dir eingefallen?«, hakte er interessiert nach.

»Anneka hat doch auch mal Tennis gespielt«, erinnerte sie ihren Mann an das kurze Intermezzo vor vielen Jahren. »Damals war sie erst vier oder fünf Jahre alt. Eine engagierte Mutter aus dem Kindergarten hatte diese Tennisgruppe gegründet. Nachdem fast alle ihre Freundinnen dabei waren, musste Anneka das natürlich auch unbedingt ausprobieren.«

Während seine Frau erzählte, hatte Daniel in seinen Erinnerungen gekramt und war tatsächlich fündig geworden.

»Stimmt, du hast recht«, lächelte er. »Soweit ich weiß, hat sie die Sache aber genauso schnell wieder an den Nagel gehängt.«

»Sie hatte sich das anders vorgestellt, spielerischer«, bestätigte Fee, als es klopfte und die Schwester mit den Bildern hereinkam.

»Hier sind die Aufnahmen von Leon Matthes.« Freundlich lächelnd reichte sie Fee eine CD. »Ich hab die Jungs übrigens im Aufenthaltsraum mit Kakao und Gebäck versorgt. Dann können Sie die Bilder in aller Ruhe ansehen.«

»Sie sind ein Schatz!«, lobte Daniel die Schwester und sah ihr wohlwollend nach, wie sie die Tür wieder hinter sich schloss.

»Die letzte Bemerkung habe ich überhört«, erklärte Fee spitz und setzte sich an den Schreibtisch, um die CD ins Laufwerk des Computers zu legen.

»Eifersüchtig?« Daniel lachte. Es schmeichelte ihm, dass seine über alles geliebte Frau auch nach so vielen gemeinsamen Jahren nichts von ihrer Leidenschaft für ihn verloren hatte.

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, bemerkte sie, während sie die Bilder studierte, die vor ihr auf dem Bildschirm aufgetaucht waren. »Sieh dir das an!«, forderte sie ihren Mann auf, und Daniel kam zu ihr.

Seite an Seite betrachteten sie eingehend die Aufnahmen.

»Eine Bandscheibenverletzung, wie ich es mir gedacht hatte«, bemerkte Dr. Norden schließlich.

»Aber die Verletzung ist nicht frisch. Das sieht nach einem alten Vorfall aus.« Fee deutete auf die entsprechende Stelle, und Daniel runzelte die Stirn.

»Ich verstehe nicht, warum Leon mit diesen Schmerzen nicht schon früher gekommen ist. Das muss doch unerträglich weh getan haben. Eigentlich müsste er operiert werden.«

»Wahrscheinlich ist er deshalb nicht zum Arzt gegangen, weil er genau das verhindern wollte«, gab Fee zu bedenken. »Aus Angst vor den Risiken einer Operation. Und aus Angst davor, dass ihn das seine Karriere kosten könnte.«

Daniel Norden schickte seiner Frau einen skeptischen Blick.

»Seit wann entscheiden Patienten denn über die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen?«, fragte er verwundert.

»Na, seit wir das Selbstbestimmungsrecht haben.« Fee lächelte.

»Ich fürchte, er kommt um einen Eingriff trotzdem nicht herum. Egal, ob er die Risiken fürchtet oder nicht.«

Doch diesmal war Felicitas nicht einer Meinung mit ihrem Mann. Als angehende Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigte sie auch der psychologische Aspekt dieser Geschichte.

»Und wenn es einen anderen Therapieansatz gäbe?« Sie lehnte sich zurück und starrte nachdenklich auf den Monitor. »Zum Beispiel eine gezielte Schmerztherapie?«

Unwillig schüttelte Daniel den Kopf.

»Wir müssen die Ursache abstellen, nicht die Symptome«, gab er zu bedenken.

»Aber was, wenn der Schmerz nun schon längst in einen chronischen Zustand übergegangen ist und der Vorfall gar nicht dafür verantwortlich ist?«, gab Fee zu bedenken.

Darauf hatte auch Dr. Norden keine Antwort. Schon jetzt ahnten beide, dass sie es mit einer besonders schwierigen Entscheidung zu tun hatten, und wussten nicht, wo der richtige Weg lag.

*

Als Danny an diesem Abend von der Praxis nach Hause in seine Wohnung kam, hörte er schon seine Freundin Tatjana in der Küche rumoren. Voller Freude über ihren überraschenden Besuch stellte er die Tasche auf den Boden und hängte seinen Mantel an den Garderobenhaken. Um das Werk der Putzfrau nicht gleich wieder zunichte zu machen, schlüpfte er aus den Schuhen und ging auf Socken hinüber in den großzügigen, offenen Wohn-Ess-Bereich.

»Hallo, Süße!«, begrüßte er Tatjana.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm vor dem geöffneten Kühlschrank und fuhr wie ertappt herum.

Als Danny sie ansah, stutzte er zuerst. Dann brach er in lautes Lachen aus.

»Was hast du denn da im Mund?«, fragte er ungläubig und zog ihr das große Stück Käse aus den Zähnen.

»He, was soll das? Ich hab Hunger«, verteidigte sie sich und versuchte, ihm die Beute wieder zu entreißen.

Da Danny aber einen halben Kopf größer war als sie, erwies sich dieses Unterfangen als Ding der Unmöglichkeit.

»Du sollst dich nicht mit diesem ungesunden Zeug vollstopfen. Lenni kocht uns doch was Gutes«, erinnerte er Tatjana fürsorglich.

»Das steht bestimmt schon längst auf dem Tisch und deine gefräßigen Geschwister fallen darüber her«, mutmaßte sie mit so verzweifelter Miene, dass Dannys Herz weich wurde. »Wo warst du überhaupt so lange?«

»Ich hab doch jetzt abends immer die Physiotherapietermine«, erinnerte er Tatjana und legte den Käse auf ein Brettchen. Er holte ein Messer und teilte ihn in viele kleine Stücke. Dazu servierte er ein paar Weintrauben, die er im Kühlschrank fand. »Normalerweise schließt Käse den Magen ja. Aber wenn du so knapp vorm Verhungern bist, will ich mal nicht so sein. Und Weintrauben haben ja wenigstens ein paar Vitamine.«

»Du bist so gut zu mir!«, grinste Tatjana frech und steckte sich eine Traube in den Mund. »Wann fahren wir zu deinen Eltern?«

»Gleich. Ich wollte mich nur schnell umziehen«, gab Danny zurück, warf ein Stück Käse und eine Traube in den Mund und ging hinüber ins Schlafzimmer.

Leichtfüßig folgte Tatjana ihrem Freund. Sie ließ sich aufs Bett fallen und sah ihm dabei zu, wie er sein Hemd aufknöpfte.

»Hmm, da könnte ich glatt auf dumme Gedanken kommen«, erklärte sie, als Danny leise aufstöhnte, während er versuchte, den Ärmel des Hemdes möglichst ohne Bewegung des Arms auszuziehen. »Tut es immer noch so weh?«, fragte sie sofort erschrocken und kam ihrem Freund zu Hilfe.

»Was hast du denn gedacht?«, fragte er und küsste sie zum Dank auf die weichen Lippen.

»Dass die Physiotherapeutin heilende Hände hat«, gab Tatjana keck zurück und half Danny auch gleich noch aus dem T-Shirt. Sie blieb vor ihm stehen und streichelte verliebt über seine nackte Brust. Doch ihrem Freund stand nicht der Sinn nach Zärtlichkeiten.

»Von wegen. Statt sanfter Massagen quält sie mich mit Übungen, damit das Gelenk beweglich bleibt.« Vorsorglich verschwieg er Tatjana lieber, dass ihm Lilly Seifert unverhohlene Avancen machte, selbst wenn er inzwischen mehrfach betont hatte, dass er in einer festen Beziehung lebte. Das schien die Physiotherapeutin jedoch nicht zu stören, und sie flirtete munter weiter mit dem jungen Arzt. Doch Danny sah keinen Grund, darüber zu reden. Er war glücklich mit seiner Tatjana und hatte vor, es auch noch lange zu bleiben. Bald darauf verließen sie Hand in Hand die Wohnung, um sich ihr wohlverdientes Abendessen im Hause Norden einzuverleiben und sich am bunten Familienleben zu freuen.

*

Am nächsten Tag kam Leon Matthes gemeinsam mit seinem Trainer Toni Kroith in die Praxis Dr. Norden. Daniel hatte die beiden bestellt, um das Ergebnis des MRTs mit ihnen zu besprechen.

»Schön, dass Sie kommen konnten«, erklärte der Arzt, nachdem er sie begrüßt und ihnen einen Platz angeboten hatte. »Ich fürchte, ich habe keine sehr guten Neuigkeiten für Sie.«

»Was heißt das genau?« Anders als tags zuvor beim Training war Toni Kroith an diesem Tag beherrscht und wirkte fast sympathisch. Er musterte Daniel Norden sichtlich interessiert, während Leons Augen schmal geworden waren vor Argwohn.

»Das bedeutet, dass möglicherweise eine Operation nötig ist, damit Leon wieder gesund wird.«

Diese Nachricht erschütterte besonders den jungen Tennisstar.

»Sie wollen mich operieren?«, rief er entsetzt aus. »Das sagen Sie doch nur, um mich vom Training abzuhalten.«

Beschwichtigend legte der Trainer seine Hand auf den Arm des jungen Mannes.

»Sei nicht albern, Leon. Du bist hier bei dem besten Arzt weit und breit. Warum sollte er dir nicht die Wahrheit sagen?«

»Schon gut«, wandte sich Daniel verständnisvoll an Leon. »Ich kann deine Aufregung ja verstehen …« Weiter kam er nicht.

»Gar nichts können Sie verstehen!«, brach die Verzweiflung ungehindert aus dem jungen Mann heraus. »Seit ich vier Jahre alt bin, gibt es für mich nichts anderes als Tennisspielen.« Leons Kopf fuhr zu seinem Trainer herum. »Mit einer Operation bin ich nicht einverstanden.«

Toni Kroiths Mundwinkel zuckten verdächtig. Trotzdem blieb er ruhig.

»Wenn ich Dr. Norden richtig verstanden habe, ist es doch noch gar nicht sicher, dass operiert wird. Er zieht nur die Möglichkeit in Betracht«, versuchte er, auf seinen Schützling einzuwirken. Dann wandte er sich an Daniel und sah ihn fragend an. »Gibt es denn irgendeine Alternative?«

»Das kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen«, gestand der Arzt offen und provozierte damit unwissentlich einen weiteren emotionalen Ausbruch von Leon.

»Wie? Das können Sie jetzt noch nicht sagen?«, fuhr er Daniel Norden ungehalten an. »In drei Wochen soll ich zum ersten Mal ein Turnier für meinen neuen Verein spielen. Jeder Tag, an dem ich nicht trainieren kann, wirft mich um Jahre zurück. Dann war alles umsonst.«

Obwohl Daniel die Verzweiflung des aufstrebenden Tennisspielers nachvollziehen konnte, war er skeptisch.

»Gleich um Jahre?«, wagte er es, vorsichtige Zweifel zu äußern. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Nein, da hat er wirklich recht«, erhielt Leon in diesem Fall Schützenhilfe von seinem Trainer. »Das ist leider wirklich so.«

Ohne Dr. Norden aus den Augen zu lassen, nickte Leon düster.

Inzwischen hatte er nachgedacht und nach einer Möglichkeit gesucht, den Arzt zu überzeugen. Schließlich beugte er sich vor und sah Dr. Norden eindringlich an.

»Wissen Sie, was eine Operation für meine berufliche Karriere bedeuten würde?«, fragte er schroff. »Das wäre das Aus. Sie müssen mich einfach mit Medikamenten behandeln! Es gibt keine andere Wahl.« Mit dieser Forderung war er einen Schritt zu weit gegangen.

Eine steile Falte erschien zwischen Daniels Augen.

»Jetzt hör mir mal gut zu, junger Mann. Ich muss überhaupt nichts. Aber du, du musst dir ganz genau überlegen, was du von deinem Leben noch erwartest. Möglicherweise geht es für dich um weit mehr als nur um deine Karriere«, sprach er deutliche Worte, die Leon jedoch nicht zu erreichen schienen.

»Tennisspielen IST mein Leben. Wenn ich das nicht mehr kann, kann ich mir gleich die Kugel geben«, rief er und vergrub das Gesicht in den Händen.

In diesem Augenblick konnte sich Toni Kroith nicht länger zurückhalten.

»Jetzt komm mal wieder zu dir!«, verlangte er so scharf, dass Leon schlagartig aufhörte zu schluchzen. »Sonst lernst du mich von einer ganz neuen Seite kennen. Und ich bin mir ganz sicher, dass sie dir nicht gefallen wird.«

In diesem Moment erinnerte er Daniel wieder an die Szene in der Tennishalle und schlagartig wurde ihm klar, dass der Junge nicht von ungefähr so geworden war. Er dachte einen Augenblick nach, dann stand er unter den verwunderten Blicken des Trainers auf. Er ging um den Schreibtisch herum, beugte sich zu Leon hinunter und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

»Leon, tust du mir den Gefallen und gehst bitte schon mal vor ins Wartezimmer? Ich muss mal kurz mit deinem Trainer unter vier Augen sprechen.«

Verwundert hob Leon den Kopf und sah Daniel aus geröteten Augen an. Er nickte, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und erhob sich langsam. Als er zur Tür ging, war es ihm anzusehen, wie schwer ihm jeder Schritt fiel.

Äußerlich vollkommen ruhig, aber innerlich aufgewühlt wie lange nicht, wartete Daniel, bis die Tür hinter dem jungen Mann ins Schloss gefallen war. Erst dann drehte er sich zu Toni Kroith um. Seine Miene verriet nichts Gutes.

»Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Aber meiner Ansicht nach können Sie nicht so mit dem Jungen umgehen.« Daniel Norden hatte noch nie schweigend dabei zugesehen, wenn anderen Menschen ein Unrecht widerfuhr. Und er würde ganz bestimmt nicht jetzt damit anfangen.

Alle Freundlichkeit war aus Toni Kroiths Miene gewichen, als er den Arzt abschätzend musterte.

»Ich fürchte, das müssen Sie schon mir überlassen«, erklärte er dann überheblich.

Doch Dr. Norden war nicht bereit, sich so leicht geschlagen zu geben.

»Es geht mir nicht darum, Sie zu kritisieren«, erklärte er betont bedächtig. »Im Augenblick geht es einzig und allein nur um Leon. Das, was er jetzt braucht, ist Hilfe und Unterstützung. Härte oder Drohungen sind im Augenblick völlig fehl am Platz.«

Doch wenn Daniel gedacht hatte, Toni Kroith mit dieser Bemerkung zu beeindrucken, so musste er einsehen, dass er sich geirrt hatte.

Ein herablassendes Lächeln spielte um die Lippen des Trainers, als er sagte:

»Härte und Disziplin, Herr Doktor, gehören zu unserem Job. Fleiß und Begabung auch. Dessen ist sich Leon mehr als bewusst und danach handelt er.«

Daniel konnte nicht glauben, was er da hörte.

»Sehen Sie denn nicht, wie verunsichert der Junge ist? Er braucht unsere Unterstützung«, wiederholte er sein Anliegen noch einmal, diesmal eindringlich und sah erstaunt dabei zu, wie sich der Trainer daraufhin in aller Seelenruhe erhob.

»Vor allen Dingen ist Leon Tennisspieler und das größte Talent, das ich seit vielen Jahren gesehen habe«, erklärte Toni Kroith völlig unbeeindruckt.

Wieder stand Daniel die Szene vom vergangenen Tag vor den Augen.

»Das sah aber gestern ganz anders aus«, stellte er kritisch fest. »Die Karriere, der Ruhm, das ist wohl wirklich alles, was Sie interessiert. Den Menschen dahinter sehen Sie wohl nicht.«

Toni Kroith stand vor dem Schreibtisch des Arztes und wirkte plötzlich wieder jovial und gutmütig.

»Wie Sie vorhin so schön gesagt haben, geht es hier nicht um Sie und nicht um mich. Es geht in der Tat um Leon. Und alles, was den Jungen interessiert, ist nun mal Tennis. Ich habe in den letzten Jahren mehr Zeit mit ihm verbracht, als er Zeit mit seinen Eltern verbracht hat. Und wissen Sie: Wenn man alles gibt, die ganze Kraft, die man zur Verfügung hat, dann wird einem ein Schüler so wichtig wie ein eigener Sohn. Dann muss man ihn einfach fördern, ihn unterstützen und ihm helfen, wo man nur kann.«

In diesem Augenblick musste Dr. Norden wohl oder übel einsehen, dass er gegen Windmühlen kämpfte. Seine Worte waren ohne Wirkung geblieben.

»Also gut.« Er nahm sich ein Beispiel an dem Trainer und stand ebenfalls auf, um ihn zur Tür zu begleiten. »Bitte machen Sie mit meiner Assistentin morgen einen Termin für weitere Untersuchungen aus. Inzwischen werde ich mir Gedanken darüber machen, wie wir weiter verfahren wollen.«

Sie waren an der Tür angelangt und Toni Kroith drehte sich zu dem Arzt um. Sein Lächeln zeugte von seiner Zufriedenheit.

»Das nenne ich mal ein Wort!« Er hielt Daniel die Hand hin. Der Arzt zögerte einen winzigen Augenblick. Dann nahm er sie und schüttelte sie.

»Grüßen Sie Leon von mir. Wir sehen uns morgen.«

*

»Hübscher Bengel!« Als Leon Matthes die Praxis in Begleitung seines Trainers verlassen hatte, sah Janine Merck den beiden interessiert nach.

»Wen meist du damit? Den jungen Mann oder seinen Beschützer?«, hakte Wendy belustigt nach und stand von ihrem Schreibtisch auf, um ein paar Patientenkarten in die Schublade zurück zu sortieren.

»Den Jungen natürlich. Auf so einen Sohn wäre ich stolz.«

»Und ich dachte schon, er gefällt dir als Mann.«

»Gott bewahre! So schlimm ist es dann doch noch nicht«, lachte Janine unbeschwert.

Seit ihre Beziehung mit dem Sohn eines Patienten trotz vielversprechendem Anfang recht schnell und schmerzlos zu Ende gegangen war, lebte sie allein. Die meiste Zeit war sie zufrieden mit ihrem Schicksal, ging sie doch davon aus, dass ihr Singledasein nur ein vorübergehender Zustand war. Manchmal war sie aber durchaus wehmütig und nahm die Patienten der Praxis genauer unter die Lupe, wohlwissend, dass eine solche Verbindung niemals in Frage kam. Schließlich wusste sie, was sich gehörte. Ganz im Gegensatz zu der Patientin, die die Praxis in diesem Augenblick betrat.

»Guten Tag. Mein Name ist Lilly Seifert. Ich möchte bitte zu Danny Norden«, verlangte die schöne Frau ohne Umschweife.

Überrascht warf Janine einen Blick in den Terminkalender.

»Tut mir leid, das muss ein Irrtum sein. Herr Norden Junior hat heute keine weiteren Patienten mehr.«

»Das trifft sich ganz hervorragend. Bitte melden Sie mich an«, verlangte Lilly, während sie die Fransen ihres Ponchos zurecht zupfte.

Janine haderte kurz mit sich, dann stand sie auf und tat das einzig mögliche.

»Danny, da ist eine Dame am Tresen, die verlangt, von Ihnen behandelt zu werden«, informierte sie ihren jungen Chef.

Danny Norden saß am Schreibtisch und studierte die Laborergebnisse eines Patienten. Aus seiner Konzentration gerissen hob er den Kopf und sah seine Assistentin überrascht an.

»Das muss ein Irrtum sein. Die Sprechstunde ist zu Ende«, widersprach er.

»Das habe ich der Dame auch gesagt. Aber offenbar bildet sie sich ein, dass sie ein Recht auf Sonderbehandlung hat«, bemerkte Janine Merck. »Warum auch immer«, fügte sie mit spitzer Stimme hinzu.

Seufzend lehnte sich Danny zurück.

»Wie heißt sie denn?«

»Lilly Seifert.«

Vor Schreck fiel Danny der Kugelschreiber aus der Hand. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Physiotherapeutin den Tipp mit dem Arztbesuch auf ihn beziehen könnte.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, entfuhr es ihm unwillig, und er dachte angestrengt darüber nach, was er jetzt tun sollte. Wenn er Lilly wegschickte, würde er ebenso Verdacht erregen wie wenn er sie behandelte. Wie er es drehte und wendete: Er saß in der Klemme. So beschloss er schließlich, der argwöhnischen Janine die Wahrheit zu sagen. »Das ist die Physiotherapeutin aus der Behnisch-Klinik«, gestand er zähneknirschend. »Ich hab das Gefühl, dass sie mir schöne Augen macht.«

»Dann sollten Sie ihr vielleicht mal reinen Wein einschenken«, gab Janine ihm einen Tipp.

Danny verdrehte die Augen gen Himmel.

»Was glauben Sie denn, was ich getan habe? Ich hab Tatjana mindestens sieben Mal erwähnt und auch erzählt, wie glücklich wir sind.«

Damit hatte Janine nicht gerechnet und zuckte ratlos mit den Schultern.

»Dann muss es wohl tatsächlich daran liegen, dass Sie im Begriff sind, in die Fußstapfen Ihres Vaters zu treten und ein außergewöhnlicher Arzt zu werden«, erklärte sie und zwinkerte ihm gutmütig zu. »Also, was machen wir jetzt mit ihr? Wollen Sie sie noch behandeln oder soll ich ihr einen Termin geben?«

Über diese Frage dachte Danny kurz nach.

»Wenn das so ist, bringe ich es lieber gleich hinter mich.« Er steckte den Laborbefund zurück in die Patientenakte, und schon wollte Janine die Tür hinter sich schließen, als Danny sie mit einer Bitte zurückhielt. »Eins noch: Könnten Sie Tatjana bitte nichts davon sagen? Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht und Probleme sieht, wo keine sind.«

Janine zögerte einen Moment. Dann nickte sie.

»Natürlich«, versprach sie. »Und jetzt schicke ich Frau Seifert.«

*

»Schön, dass Sie sich doch noch Zeit für mich nehmen.« Ein maliziöses Lächeln auf den schönen, vollen Lippen spazierte Lilly nur ein paar Minuten später in Danny Nordens Sprechzimmer.

»Frau Seifert, das ist ja eine Überraschung. Eigentlich war ich gerade auf dem Sprung … ich habe eine Verabredung mit meiner Freundin bei meinen Eltern.«

Wie schon die Male zuvor ignorierte Lilly diese Bemerkung einfach.

»Ich freu mich auch, Sie zu sehen. Was macht die Schulter?«, erkundigte sie sich offensichtlich belustigt.

Diese Frage überraschte Danny, und er bewegte instinktiv die Schulter.

»Schon viel besser. Ihre Therapie scheint anzuschlagen.«

»Das freut mich.« Sie sah ihn forschend an. »Sicher fragen Sie sich, warum ich mir aus den vielen Ärzten in München ausgerechnet Sie ausgesucht habe«, bemerkte sie und setzte sich mit einer weit ausgreifenden Bewegung auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Sie schlug die langen, schlanken Beine übereinander und lächelte Danny strahlend an. Diese Frau verstand es wirklich, sich in Szene zu setzen, und Danny kämpfte kurz mit seiner Fassung.

»Können Sie Gedanken lesen?«, fragte er irritiert.

Lilly lachte auf.

»Vielleicht. Es könnte allerdings auch daran liegen, dass Sie leicht zu durchschauen sind«, gab sie zu bedenken. »Aber um Ihre Frage zu beantworten: Das hier ist der Beweis, dass ich Ihrer Forderung nachkomme und zu einem Arzt gehe. Womöglich hätten Sie mir sonst nicht geglaubt und mich doch an Frau Dr. Behnisch verraten.« Sie blinzelte Danny vergnügt an.

Ob er wollte oder nicht, er musste lachen.

»Ganz schön clever, ich muss schon sagen«, erwiderte er und stand auf. »Dann wollen wir uns die Sache mal anschauen. Bitte kommen Sie mit.«

Er wartete, bis Lilly aufgestanden war, und begleitete sie hinüber ins Behandlungszimmer. Dort legte sie den Poncho ab, unter dem sie eine Kostümjacke trug.

»Welcher Ellbogen ist es denn?«, erkundigte sich Daniel und wartete darauf, dass sie den Ärmel der Jacke zurückschob. Statt dessen knöpfte die Physiotherapeutin jedoch die Jacke auf und zog sie kurzerhand aus. Darunter trug sie nichts weiter als einen BH aus teurer Spitze.

Peinlich berührt hielt Danny die Luft an.

Lilly bemerkte es und lachte ungeniert auf.

»Ich habe heute gar nicht dran gedacht, dass ich noch zum Arzt muss«, sagte sie mit entschuldigendem Lächeln.

Danny räusperte sich und sah demonstrativ an ihrem zugegebenermaßen verführerischen Dekolleté vorbei.

»Wie sieht es mit den Schmerzen aus?«, erkundigte er sich, während er die Bewegungsfähigkeit des Ellbogengelenks überprüfte.

»Gestern Abend war es ganz gut. Aber heute Nacht wurde es wieder schlimmer.«

Als Danny ihren Arm hin und her bewegte, stöhnte sie leise auf.

»Ich denke, wir sollten eine Ultraschallaufnahme machen.«

»Muss das sein?« Über dieses Vorhaben schien Lilly Seifert alles andere als erbaut zu sein.

Danny bemerkte es verwundert.

»Sie als Physiotherapeutin sollten eigentlich wissen, dass das nicht weh tut«, zog er jedoch die falschen Schlüsse aus ihrer Reaktion. »Außerdem kann man im Ultraschall zuverlässig Veränderungen am betroffenen Sehnenansatz im Ellbogen erkennen. Im weiteren Verlauf der Krankheit bilden sich dort vermehrt neue kleine Blutgefäße und wachsen in den Bereich ein«, erläuterte er, während er das kühle, durchsichtige Gel auf Lillys Ellbogen drückte.

Dann setzte er den Schallkopf auf und fuhr damit über das Gelenk.

»Hmmm, hier ist nichts zu sehen«, stellte er nach gründlicher Untersuchung fest. »Das ist wirklich merkwürdig. Wie lange haben Sie die Beschwerden denn schon?« Er reichte ihr ein Papiertuch.

»Oh, noch nicht so lange«, beeilte sich Lilly zu versichern und wischte das Gel vom Ellbogen. »Vielleicht sieht man deshalb noch nichts auf dem Ultraschall.«

»Schon möglich.«

Danny holte ihre Kostümjacke und half ihr, sie anzuziehen. Als sie sich schwungvoll zu ihm umdrehte, wäre sie fast in seine Arme gefallen. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Daniel Norden kam herein.

»Danny …« Als er seinen Sohn so dicht vor der Frau mit der geöffneten Kostümjacke stehen sah, den erschrockenen Blick auf seinen Vater gerichtet, blieb dem Senior das Wort ihm Hals stecken. »Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass du noch einen Patienten hast«, entschuldigte er sich schnell.

»Patientin trifft es wohl eher«, kicherte Lilly unbeeindruckt und schloss die beiden großen Knöpfe ihrer Jacke, die sie nur leidlich vor allzu tiefen Einblicken bewahrte.

Daniel maß sie mit einem vielsagenden Blick, ehe er sich wieder an seinen Sohn wandte.

»Ich wollte dir nur sagen, dass deine Mutter und ich heute nicht zum Abendessen zu Hause sind.«

»Das trifft sich gut«, erwiderte Danny wie aus der Pistole geschossen. »Dann kann ich mit Tatjana ja zum Essen gehen.« Er schickte seinem Vater eindringliche Blicke.

Da Daniel nicht wusste, welches Spiel hier gespielt wurde, trat er jedoch lieber den Rückzug an.

»Gut, wir sehen uns morgen.« Er nickte Lilly Seifert freundlich zu und schloss die Tür hinter sich.

»Was ist denn? Warum schauen Sie so böse?«, erkundigte sich die Physiotherapeutin, als sie Dannys wütende Miene bemerkte.

»Sie haben mich in eine unmögliche Situation gebracht«, machte er keinen Hehl aus seiner Meinung und wandte sich ab, um an seinen Schreibtisch zurückzukehren.

Ungläubig starrte Lilly ihm nach.

»Was kann ich denn dafür, dass Sie mich untersucht haben? Ultraschall geht ja wohl schlecht mit Kostümjacke«, wandte sie ein.

Danny, der keine Lust auf eine Diskussion hatte, schwieg.

Während sich Lilly wieder in ihren Poncho einwickelte, tippte er sein Untersuchungsergebnis in den Computer ein.

Seine Patientin sah ihm eine Weile schweigend dabei zu.

»Welche Behandlung schlagen Sie jetzt vor?«, schlug sie schließlich einen betont munteren Tonfall an, als wäre nichts geschehen.

»Nachdem der Ultraschall kein Ergebnis gebracht hat, sollten Sie einen Termin in einer Radiologie Ihrer Wahl vereinbaren«, erklärte der junge Arzt zurückhaltend.

»Muss das sein?«

»Eine Röntgenaufnahme ist nötig, um eine Arthrose oder andere Erkrankungen auszuschließen«, sagte Danny ohne hochzusehen.

Schließlich hatte er seine Eingabe beendet und stemmte sich aus dem Stuhl hoch, um seine Patientin zur Tür zu bringen.

»Wenn Sie die Bilder haben, können Sie einen Termin bei mir oder meinem Vater vereinbaren. Dann sehen wir weiter.«

»Einverstanden.« Gezwungenermaßen gab sich Lilly damit zufrieden und folgte ihrem Arzt durch die geöffnete Tür. »Morgen haben Sie ja wieder einen Termin bei mir. Ich freu mich schon«, erklärte sie so laut, dass es durch die ganze Praxis hallte.

Tatjana, die seit ein paar Minuten bei Janine am Tresen stand, horchte auf. Sie wollte ihren Freund überraschen und ihn abholen.

»Wer ist denn das?«, erkundigte sie sich sichtlich irritiert bei der Assistentin der Praxis Dr. Norden.

»Diese Physiotherapeutin aus der Klinik«, setzte Janine eben zu einer Erklärung an, als Danny auch schon mit seiner Patientin um die Ecke bog.

Als er seine Freundin am Tresen stehen sah, blieb er abrupt stehen.

»Tatjana, was machst du denn hier?«

»Störe ich?« Ihr Unterton war schnippisch, und sie maß Lilly mit einem argwöhnischen Blick.

»Ich bin gerade fertig geworden.« Danny hatte sich schnell von seinem Schrecken erholt und ging auf seine Freundin zu, um sie demonstrativ vor aller Augen zu küssen. »Janine, geben Sie Frau Seifert bitte die Adresse der Radiologie? Sie muss Aufnahmen machen lassen«, bat er dann seine Assistentin, die seine Bitte mit einem aufreizenden Lächeln quittierte.

»Sehr gerne.«

Während sich Danny leise mit Tatjana unterhielt, reichte sie Lilly eine Visitenkarte und erklärte ihr den Weg dorthin. Nur wenige Minuten später verabschiedete sich die Physiotherapeutin säuerlich lächelnd.

Tatjana überlegte einen Augenblick, ob sie ihren Freund auf die Besucherin ansprechen sollte. Doch dann überlegte sie es sich ­anders. Die eifersüchtige Freundin war nicht die Rolle, die sie gerne spielte. Da kämpfte sie lieber mit anderen, vielversprechenderen Waffen und hakte sich süß lächelnd bei Danny unter, um gemeinsam mit ihm die Praxis zu verlassen.

*

»Und was machen wir zwei Hübschen jetzt?«, fragte Danny, nachdem er die Praxis mit seiner Freundin verlassen hatte. Er war froh, Lilly Seiferts Fängen noch einmal entkommen zu sein. Aber fast noch mehr erleichterte ihn, dass Tatjana keine Anstalten machte, ihn zur Rede zu stellen. »Meine Eltern essen heute Abend auswärts. Das könnten wir eigentlich auch machen, oder? Wir waren schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr zusammen weg.«

»Und was ist mit dem Tanzabend neulich?«, fragte Tatjana auf dem Weg zum Wagen verschmitzt.

»Oh, stimmt, den hab ich völlig verdrängt.« Danny grinste schief und ließ die Schlösser seines Wagens aufschnappen.

»Kein Wunder, bei den Schmerzen und dem Hohn, den du ertragen musstest«, bemerkte Tatjana erstaunlich ernst und setzte sich auf den Beifahrersitz.

Vergeblich suchte Danny im Gesicht seiner Freundin nach dem ihr eigenen gutmütigen Spott und setzte sich schließlich irritiert hinters Steuer.

»Also, worauf hast du Lust?«

Tatjana musterte ihn mit einem Blick, den er nicht recht deuten konnte.

»Am allerliebsten würde ich dich heute zu Hause verwöhnen«, kam die nächste überraschende Antwort, die Danny jedoch schlagartig den Angstschweiß auf die Stirn trieb.

»Du hast doch nicht etwa vor, für mich zu kochen?« Mit Grauen erinnerte er sich an den Fischeintopf, an dem sich Tatjana kürzlich versucht hatte. Zum Glück hatten sie keine Gäste gehabt, sodass sie die undefinierbare Masse ohne großes Aufsehen im Mülleimer versenkt hatten. »In diesem Fall muss ich leider dankend ablehnen.«

»Willst du etwa damit sagen, dass du meine Kochkünste nicht zu schätzen weißt?«

»Doch, schon. Aber meine Gesundheit schätze ich ehrlich gesagt noch mehr«, gab Danny unverhohlen zu.

Während er ausparkte und langsam die Seitenstraße hinunterfuhr, in der die Praxis Dr. Norden lag, versank Tatjana in nachdenkliches Schweigen. An der Kreuzung angekommen, blieb Danny stehen und sah seine Freundin fragend an.

»Und jetzt? Wohin soll es gehen?«

Inzwischen hatte Tatjana eine Entscheidung getroffen.

»Zum Studentenwohnheim«, beharrte sie auf ihrer ursprünglichen Idee.

Seufzend gab sich Danny geschlagen und setzte den Blinker. Um sich von den kulinarischen Genüssen abzulenken, die ihn möglicherweise noch erwarteten, begann der junge Arzt ein Gespräch mit seiner Freundin. Er fragte sie nach ihrem Tag, und sie berichtete facettenreich und spannend wie immer von ihrem Studium der Orientalistik, das sie demnächst abschließen würde. So verging die Zeit wie im Flug, und ehe es sich die beiden versahen, parkte Danny den Wagen vor dem Haus, in dem Tatjanas kleine Studentenwohnung lag.

»Geh du doch schon mal rauf und mach es dir gemütlich«, sagte Tatjana zu ihrem Freund und drückte ihm den Schlüssel in die Hand.

Danny verstand die Welt nicht mehr.

»Und du?«, erkundigte er sich verwirrt.

»Ich sorge dafür, dass du nicht verhungerst, die kommende Nacht aber trotzdem überlebst«, lächelte sie vergnügt, winkte ihm und war auch schon um die Ecke verschwunden.

Einen Moment lang stand Danny ratlos vor der Haustür. Dann schloss er auf und ging nach oben, wie Tatjana es ihm vorgeschlagen hatte.

Da sie die meiste gemeinsame Zeit inzwischen in seiner Wohnung verbrachten, war er schon länger nicht mehr hier gewesen. Ein Hauch von Wehmut überfiel ihn, als er an die Anfänge ihrer Liebe dachte.

»Eigentlich müssten wir öfter hier übernachten«, murmelte er, während er durch das Wohnzimmer mit der Küchenzeile schlenderte. Er warf einen Blick in das kleine Schlafzimmer und lachte über das Regal über dem Bett, an dem er sich morgens regelmäßig den Kopf angestoßen hatte.

In diesem Augenblick klingelte es, und er ging zur Tür. Obwohl er fast sicher war, dass es sich bei dem Besucher um niemand anderen als Tatjana handeln konnte, betätigte er die Gegensprechanlage.

»Ja bitte?«

»Sushiservice!«, rief eine fröhliche Stimme, und schnell drückte Danny auf den Türöffner.

Im Treppenhaus hallten Tatjanas leichtfüßige Schritte. Gleich darauf tauchte sie mit leuchtenden Wangen vor ihrem Freund auf. An ihrem Arm baumelte ein prall gefüllte Tüte, in der einen Hand hielt sie eine Tüte Krabbenbrot und in der anderen eine Flasche Rotwein.

»Seit wann hat mein Lieblingsasiate denn einen weiblichen Boten?«, spielte Danny das Spiel seiner Freundin vergnügt mit und nahm ihr die Tüte Krabbenbrot und den Wein ab.

»Das ist ein Service für unsere ganz besonderen Gäste«, ließ die aufreizende Antwort nicht lange auf sich warten. »Wie der Nachtisch übrigens auch. Den bekommen Sie gratis dazu«, lächelte Tatjana verführerisch und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Danny zu küssen.

Normalerweise schlossen sie beide dabei die Augen. Doch an diesem Abend schien alles anders zu sein. Danny konnte den Blick nicht von ihren Augen wenden, die so tief und unergründlich und zugleich so sanft und warmherzig funkelten. Er sah die kleinen silbernen Punkte in dem satten Dunkelblau, die ihre Augen jedes Mal, wenn sie sich bewegte, aufblitzen ließen wie zwei Sterne.

»Was denn? Wollen Sie etwa den Nachtisch vorziehen?«, lachte sie an seinen Lippen. »Da muss ich Sie aber vorwarnen. Sie werden heute noch viel Kraft brauchen und sollten sich satt essen, ehe wir zum gemütlichen Teil des Abends übergehen.«

Tatsächlich knurrte in diesem Moment laut und vernehmlich Dannys Magen, und lachend löste sich Tatjana von ihm, um das längst fällige Abendessen zu servieren.

»Weißt du was, heute machen wir es uns bequem«, machte sie einen Vorschlag und drückte ihn auf die Couch. »Und nachdem du heute so hart gearbeitet hast, musst du keinen Finger krumm machen.« Sie lächelte ihm engelsgleich zu und ging hinüber zur Küchenzeile, um die Sushi-Röllchen schön auf einem Teller anzurichten.

Mit wachsender Sorge beobachtete Danny seine Freundin dabei. Normalerweise zog sie es vor, sich von ihm verwöhnen zu lassen, und erinnerte ihn immer wieder an seine Pflichten als Mann.

»Sag mal, ist eigentlich irgendwas passiert?«, konnte er seinen Argwohn schließlich nicht länger zurückhalten. »Gibt es vielleicht irgendeine schlechte Nachricht, auf die du mich schonend vorbereiten willst?«

»Nein, wieso?«, stellte Tatjana eine unschuldige Gegenfrage und gesellte sich mit einem Tablett zu Danny auf die Couch. Sie hatte den Wein geöffnet, zwei Gläser eingeschenkt und prostete ihrem Freund verliebt lächelnd zu. »Ich habe nur das dringende Bedürfnis, dir zu zeigen, was für ein wunderbarer Mann du bist und wie glücklich ich mich schätze, die Frau an deiner Seite zu sein.«

Mit dieser Liebeserklärung machte sie Danny endgültig sprachlos. Solche Worte hatte er noch nie zuvor aus ihrem Munde gehört, und sein Herz wurde weit und weich vor Liebe zu dieser wunderbaren Frau.

»Oh, Tatjana, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, erwiderte er so verwirrt, dass sie unwillkürlich lachen musste.

»Dann sag doch einfach gar nichts. Lass uns lieber was essen, bevor wir wirklich noch verhungern womit uns dann die schöne Nachspeise entgeht.« Geschickt nahm sie mit den Stäbchen ein Sushi-Röllchen hoch, garnierte es mit scharfer Wasabi-Paste und einem Stück chinesischem Sellerie, tauchte es in Sojasauce und steckte es Danny in den Mund.

»Was hast du eigentlich als Nachspeise geplant?«, fragte er, nachdem er einen Schluck Wein nachgetrunken hatte.

»Das, mein Lieber, verrate ich dir jetzt noch nicht«, gab Tatjana geheimnisvoll zurück. Doch ihr verführerisches Lächeln und ihre feucht glänzenden Lippen sprachen eine eindeutige Sprache, die keine Fragen offen ließ und Danny dazu bewog, schnell zu essen, um nur nicht unnötig noch mehr Zeit zu verlieren.

*

Daniel Norden fand seine Frau in ihrem Büro in der Klinik.

»Feelein, warum sitzt du denn um diese Zeit noch am Schreibtisch?« Eigentlich hatten sie ausgemacht, gemeinsam essen zu gehen. Doch alles sah danach aus, als ob Fee mit ihrer Arbeit noch nicht fertig war.

Als sie die Stimme ihres Mannes hörte, hob sie lächelnd den Kopf.

»Dan, mein Lieber! Schön, dass du da bist.«

Besorgt stellte Daniel fest, dass ihre Augen gerötet waren und sie müde aussah.

»Wie geht es dir?« Er beugte sich über sie und küsste sie, bevor er sich einen Stuhl heranzog.

Seufzend lehnte sich Felicitas zurück.

»Ach, seitdem du mir heute am Telefon von dem Gespräch mit Leons Trainer erzählt hast, geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich müsste er wirklich operiert werden.«

»Und die Schmerztherapie, über die du nachgedacht hast?«, hakte Daniel nach.

»Das ist auch nicht ganz einfach«, erwiderte sie mit Blick auf den Monitor. »Wie du schon vermutet hast, stellen die Injektionen zwar eine Möglichkeit dar, eine gewisse Zeit zu überbrücken. Dauerhaft geholfen werden kann den Patienten allerdings nicht. Ich habe ausgiebig im Internet recherchiert. Über kurz oder lang war bei jedem Profisportler eine Operation nötig.«

»Mit der Leon nicht einverstanden ist«, seufzte Daniel geknickt. »Du hättest ihn heute mal sehen sollen. Er ist regelrecht ausgeflippt, als ich ihm diesen Vorschlag unterbreitet habe.«

»Dann bleibt uns im Augenblick eigentlich nur übrig, es mit einer gezielten Schmerztherapie zu versuchen«, erklärte Fee und beugte sich vor, um den Computer herunterzufahren und auszuschalten. Der Tag war lang und anstrengend gewesen ,und sie sehnte sich danach, ein bisschen abzuschalten und sich auszuruhen.

»Gut, dann werde ich ihm das morgen vorschlagen. Wer weiß, vielleicht funktioniert es ja tatsächlich«, tat Daniel seine Hoffnung kund und sah seine Frau zärtlich an. »Was meinst du, sollen wir gehen?«

Sofort stand Fee auf, schob den Stuhl an den Schreibtisch und ging hinüber zur Garderobe.

»Was hast du denn Schönes für uns ausgesucht?«, erkundigte sie sich, während sie schneller in ihren Mantel schlüpfte, als Daniel ihr hineinhelfen konnte.

»Ich dachte an die Tapas-Bar. Die liebst du doch so!«, erklärte ihr Mann, als sie das Büro verließen. Nachdem Fee die Tür abgeschlossen hatte, schlenderten sie Hand in Hand den Flur hinab.

»Warum hast du eigentlich immer die besten Ideen?«, fragte sie ihn verliebt und dachte an die kleine Bar, die bis auf den letzten Quadratmeter vollgestellt war mit Tischen, Stühlen und Hockern. Es war so eng, dass man sich kaum bewegen konnte, und nur die großflächigen Spiegel an der Wand vermittelten den Eindruck von Weite. Trotzdem war es urgemütlich in dem kleinen Restaurant, das meist bis auf den letzten Platz gefüllt war. Und die Speisen waren unschlagbar lecker. Genauso wie der schwere Rotwein, der in kleinen Karaffen serviert wurde und verführerisch im Kerzenschein schimmerte. Voller Vorfreude kuschelte sich Fee an ihren Mann. »Du bist einfach genial.«

»Dieser Eindruck entsteht nur, weil ich dich liebe und es immer mein Bestreben ist, dich glücklich zu machen«, erwiderte Daniel bescheiden wie immer. Als er seiner Frau eine Glastür aufhielt, musste er unwillkürlich an seinen Sohn Danny und die zweifelhafte Szene im Behandlungszimmer denken. »Und ehrlich gesagt wünschte ich mir, wir wären unseren Kindern auch in beziehungstechnischer Hinsicht mit gutem Beispiel vorangegangen«, seufzte er bekümmert.

»Sind wir das etwa nicht?«, hakte Fee verwundert nach. Sie sah ihren Mann fragend an und bemerkte den Unwillen, der sich auf seinem Gesicht spiegelte. »Was ist passiert?«

In knappen Worten berichtete Daniel von der unliebsamen Begegnung.

»Hast du eine Ahnung, ob zwischen Danny und Tatjana alles in Ordnung ist?«, fragte er sichtlich besorgt.

»Zumindest hab ich nichts Gegenteiliges gehört«, gab Fee verwundert zurück und trat neben Daniel hinaus in den kühlen Winterabend.

Diesmal war der Himmel sternklar und kein Lüftchen regte sich. Voller Zuversicht blickte Felicitas hinauf in den Abendhimmel.

Daniel beobachtete sie dabei und bemerkte das belustigte Lächeln, das um ihre Mundwinkeln spielte.

»Was ist? Lachst du mich etwa aus?«, fragte er verstimmt.

»Ganz und gar nicht. Ich musste nur gerade daran denken, wie es mir früher manchmal ergangen ist. Solche Szenen sind mir durchaus nicht fremd, auch wenn diese Zeiten glücklicherweise lange zurückliegen.«

Daniel dämmerte, wovon seine Frau sprach.

»Aber damals ist nie was gewesen«, verteidigte er sich energisch. »Mir wäre es im Traum nicht eingefallen, einer Patientin oder überhaupt einer anderen Frau als dir den Hof zu machen.«

»Trotzdem habe ich dich zwei, drei Mal in solchen verfänglichen Situationen gesehen«, erinnerte Fee ihren Mann und dankte ihm mit einem Lächeln, als er ihr die Autotür aufhielt.

Während er um den Wagen herumging, dachte Daniel über ihre Worte nach.

»Du meinst also, dass diese Physiotherapeutin unserem Danny nachstellt?«

»Ich meine, dass wir Vertrauen in unsere Kinder haben sollten«, lächelte Fee und schien kein bisschen beunruhigt zu sein. »Mal abgesehen davon, dass wir Tatjana nicht unterschätzen sollten. So spröde, wie sie sich Danny gegenüber oft gibt, ist sie nämlich gar nicht. Sie ist eine Kämpferin, die sich nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen lässt.«

Diese weisen Worte seiner Frau beruhigten Daniel, und er lenkte den Wagen sicher durch den dichten Feierabendverkehr. Endlich konnte er sich entspannen und sich nach dem anstrengenden Tag auf einen schönen Abend mit seiner Fee freuen.

*

Anneka Norden war sichtlich aufgeregt, als sie am nächsten Mittag von der Schule nach Hause kam und weder Daniel noch Fee am Mittagstisch vorfand. »Deine Mutter hat angerufen, dass sie einen Notfall in der Klinik hatten und sie deshalb nicht kommen kann. Und dein Vater muss ein paar Besorgungen machen«, erklärte Lenni, als sie Omelette mit frischem Salat servierte. Die Zwillinge Jan und Dési hatten Nachmittagsunterricht, sodass Anneka mit ihrem Bruder Felix alleine zu Mittag aß.

»So was Dummes. Ausgerechnet heute brauche ich Mum oder Dad«, murrte Anneka verstimmt und setzte sich an den Tisch.

»Oh, hat das kleine Mädchen Sehnsucht nach Mami und Papi?«, fragte Felix mit gespielt mitfühlender Stimme.

Sofort erkannte seine Schwester den Spott dahinter und funkelte ihn ärgerlich an.

»Ganz und gar nicht. Aber ich brauche dringend eine Unterschrift wegen der Klassenfahrt morgen. Und heute Abend bin ich mit einer Freundin auf einem Diavortrag. Deshalb werde ich Mum und Dad heute wieder nicht sehen.«

»Ich kann dir doch die Erlaubnis unterschreiben, dass du am Ausflug teilnehmen darfst«, erklärte Felix gönnerhaft und streckte stolz die Brust heraus.

»Zum Glück bist du nicht mein Erziehungsberechtigter. Da wäre ich schon längst getürmt.« Anneka nahm Messer und Gabel zur Hand und machte sich hungrig über das Omelette her.

»Wo willst du denn hin, wenn es dunkel wird?«, lachte Felix und wich geschickt dem Knuff aus, den seine Schwester ihm versetzen wollte. Beide wussten, dass diese Sticheleien nicht ernst gemeint waren, und spielten dieses Spiel mit Freude.

»Dahin, wo du nicht bist«, lächelte sie grimmig. »Schade, dass du keine Freundin mehr hast. Als du noch mit Saskia zusammen warst, war es hier so schön ruhig. Andererseits kann ich sie ja verstehen, dass sie es nicht länger mit dir ausgehalten hat.«

Zu ihrem großen Erstaunen verschwand das freche Grinsen von Felix’ Gesicht, und bedauernd schüttelte er den Kopf.

»Schade, schade. Dabei wollte ich dir gerade anbieten, dich in die Praxis zu fahren, damit du dir Dads Unterschrift abholen kannst.«

Im ersten Moment hatte Anneka einen weiteren, frechen Kommentar auf den Lippen. Als sie jedoch an die unangenehme Kälte dachte, die draußen herrschte, überlegte sie es sich anders.

»Das würdest du für mich tun? Freiwillig?«, fragte sie und schickte ihrem Bruder einen misstrauischen Blick.

»Na ja, einen kleinen Gefallen könntest du mir im Gegenzug schon dafür tun.« Felix legte den Kopf schief und lächelte bestechend.

Nur mit Mühe konnte Anneka ein Seufzen unterdrücken.

»Kommt drauf an«, erwiderte sie zögernd. »Um was geht es?«

»Na ja, du hast doch diese neue Mitschülerin …Elena heißt sie …«, begann Felix grinsend, als Anneka ihn lachend unterbrach.

»Schon verstanden. Ich soll ihr möglichst unauffällig erzählen, was für einen süßen, schnuckeligen, unwiderstehlichen Bruder ich habe.«

Zu ihrem großen Erstaunen schüttelte Felix den Kopf.

»Nein, beim Thema Selbstvermarktung bin ich ganz weit vorn. Ich brauche nur ihre Telefonnummer. Dann lade ich sie ganz einfach zu einem Hallenfußballspiel ein. Wenn sie mich erst in Aktion sieht, gibt es keine Fragen mehr«, erklärte er augenzwinkernd zum Zeichen, dass diese Bemerkung nicht ganz ernst gemeint und sein Selbstbewusstsein nicht so unerschütterlich war, wie er es gern hätte.

Verwundert legte Anneka den Kopf schief.

»Hallenfußball? Ich dachte, das spielst du nie wieder, weil du dich doch neulich verletzt hast.«

»Ach, du meinst die Muskelschmerzen?«, winkte Felix unbeirrt ab. »Dank Mums wunderbarer Behandlung haben sie sich in Luft aufgelöst. Liebe ist halt doch immer noch die beste Medizin«, fügte er mit so treuherzigem Augenaufschlag hinzu, dass sich Anneka geschlagen gab.

»Also schön. Dann werde ich mal sehen, was ich für dich tun kann«, gab sie sich schließlich diesem Ausbund an männlichem Charme geschlagen und stand auf, um gemeinsam mit Felix den Tisch abzuräumen.

Gut erzogen, wie sie waren, halfen die Geschwister Lenni noch beim Aufräumen und heimsten ein zufriedenes Lob ein, ehe sie eine Viertelstunde später in Felix’ Wagen in die Praxis aufbrachen.

*

»Anneka, das ist ja eine Überraschung!« Wendy strahlte, als die ältere Tochter des Arztehepaares vor dem Tresen der Praxis Dr. Norden auftauchte. Sie kannte die Kinder ihres Chefs von Kindesbeinen an und hatte lebhaft Anteil an ihrer Entwicklung genommen. »Wie geht es dir?«, erkundigte sie sich und lauschte interessiert dem Bericht der jungen Frau.

»Und jetzt bin ich hier, um mir eine Unterschrift von Dad abzuholen«, schloss Anneka ihren kurzen Lagebericht.

Wendy lächelte.

»Das ist schon so eine Sache, wenn Eltern selbstständig werden, was?«, stellte sie scherzhaft fest. »Dein Vater ist gerade in einer Behandlung. Am besten, du setzt dich noch einen Moment ins Wartezimmer. Ich denke, es dauert nicht mehr lange.«

»Kein Problem«, winkte Anneka ab. »Felix ist sowieso noch unterwegs. Er wollte schnell was einkaufen und ist in ungefähr einer halben Stunde zurück.«

»Das trifft sich ja gut.« Zufrieden kehrte die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden an ihre Arbeit zurück, und Anneka ging hinüber ins Wartezimmer. Nur ein junger Mann saß dort. Er war in eine Zeitschrift vertieft. Als Anneka ihn grüßte, hob er den Kopf. Sekundenlang starrten sie sich wortlos an.

Es war die Arzttochter, die ihre Sprache zuerst wiederfand.

»Leon? Bist du das?«

»Anneka?« Leons Stimme vibrierte vor freudiger Aufregung. Mit ein paar Schritten war Anneka bei ihm und setzte sich auf den freien Stuhl zu seiner Rechten. »Das gibt’s doch gar nicht.«

»Mensch, das ist wirklich ein Zufall. Wie lang ist das denn her, dass wir uns zuletzt gesehen haben?«, fragte Anneka und lachte vor Freude.

Leon dachte nach, ohne die ehemalige Freundin aus den Augen zu lassen.

»Das war in diesem Kindertennistraining. Damals waren wir vier oder fünf Jahre alt.«

»Eigentlich müsste ich ja jetzt sagen, dass du dich kaum verändert hast«, kicherte Anneka und wunderte sich über sich selbst. Warum nur war der Blick in Leons tiefgründige Augen so aufregend? »Aber das stimmt nicht. Du siehst richtig erwachsen aus. Trotzdem hab ich dich sofort erkannt.«

»Und du bist wunderschön geworden«, entfuhr es Leon, und Anneka schoss die Röte in die Wangen. »Dir scheint es richtig gut zu gehen«, erklärte er schnell, um sie aus ihrer Verlegenheit zu erlösen.

»Das stimmt. Und wie läuft es bei dir? Du bist doch hoffentlich nicht krank?« Sie hatte kaum ausgesprochen, als sie sich schon über ihre Worte ärgerte. Natürlich musste er krank sein. Was hatte er sonst beim Arzt zu suchen?

»Wie man es nimmt«, seufzte Leon nachdenklich. »Ich hab ja damals einfach mit Tennis weitergemacht. Im Grunde genommen ist es immer dasselbe. Nicht besonders spannend«, gab er sich bescheiden.

»Das glaub ich dir nicht«, widersprach Anneka sofort, und Leon lächelte über ihre Leidenschaft.

»Na ja, ich hab einen neuen Verein gefunden, für den ich bald auf einem wichtigen Turnier antreten darf.« Obwohl er sich bemühte, nicht anzugeben, schwang Stolz in seiner Stimme mit.

»Das ist ja toll! Davon hast du schon als kleiner Junge geträumt. Ich erinnere mich gut daran.« Tatsächlich hatte Anneka plötzlich das Bild des blondgelockten, süßen Jungen vor Augen, der Leon einmal gewesen war. Sie war so gefesselt von dieser Erinnerung, dass sie nicht bemerkte, wie sich seine Miene verfinsterte.

»Das stimmt schon.« Erst als sie den Groll in seiner Stimme hörte, kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. »Aber der Traum ist leider ausgeträumt. Dein Vater meint, dass ich an den Bandscheiben operiert werden muss. Weißt du, was das bedeutet? Dass ich meine Karriere vergessen kann.« Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und wirkte plötzlich so verzweifelt, dass Annekas Herz schwer wurde vor Mitgefühl.

»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Er sah so betrübt aus, dass sie nicht anders konnte und spontan nach seiner Hand griff. Die zärtliche Berührung tat ihm unverhofft gut, und Leon lächelte trotz seiner Sorgen fein.

»Keine Ahnung. Ich denke mal, dass wir das gleich besprechen werden.« Er schickte ihr einen tiefen Blick, und Anneka spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.

»Du darfst nicht aufgeben!«, erklärte sie leidenschaftlich. »Du musst an dich glauben. Du musst kämpfen!« Während sie sprach, steckte Janine den Kopf zur Tür herein.

Als sie die beiden jungen Menschen sah, die ganz in den Anblick des anderen vertieft waren, musste sie unwillkürlich lächeln.

»Anneka, dein Vater hat jetzt kurz Zeit«, weckte sie die Tochter ihres Chefs nur ungern aus ihrer Verzückung.

Wie ertappt zuckte die junge Frau zusammen. Schnell zog sie ihre Hand zurück, schickte Leon einen entschuldigenden Blick und sprang vom Stuhl auf.

»Alles Gute! Ich glaub an dich!«, raunte sie ihm noch zu, ehe sie an Janine vorbei aus dem Wartezimmer lief.

»Und Sie, Herr Matthes, können schon mal mit ins Behandlungszimmer kommen. Der Doktor hat gleich Zeit für Sie«, erklärte die Assistentin schmunzelnd.

Als sie den sehnsüchtigen Blick sah, mit dem Leon Anneka nachsah, wünschte sie sich einen kurzen, heißen Augenblick lang, noch einmal so jung zu sein wie damals, als die Liebe noch leicht und unbeschwert war. Doch der Moment ging vorüber, und pflichtbewusst kehrte Janine an ihre Arbeit zurück.

*

Obwohl Leon die Begegnung mit seiner Sandkastenfreundin aufgewühlt hatte, war sein Herz schwer, als er Janine ins Sprechzimmer folgte. Er musste nicht lange warten, bis sich der Arzt zu ihm gesellte und die Tür hinter sich schloss.

»Anneka hat mir erzählt, dass ihr euch kennt«, berichtete Daniel lächelnd, nachdem er seinen jungen Patienten begrüßt hatte. »Das ist ja wirklich ein schöner Zufall.«

»Noch schöner wäre er, wenn ich mir keine solchen Sorgen machen müsste«, gab Leon düster zurück und starrte auf seine rechte Hand, die vor wenigen Minuten noch in Annekas gelegen hatte. Er fühlte fast noch ihre Wärme und musste trotz allem lächeln.

Dr. Norden bemerkte seine Versunkenheit mit einem Schmunzeln, sagte aber nichts dazu.

»Vielleicht habe ich ja gute Neuigkeiten für dich«, erklärte er statt dessen.

Sofort hob Leon den Kopf und sah den Arzt fragend an.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich hab mich nochmal mit meiner Frau – sie arbeitet auf der Kinderstation der Behnisch-Klinik – und der Klinikchefin Dr. Behnisch beraten. Wir haben beschlossen, dass wir es zunächst mit einer Schmerztherapie versuchen wollen.« Daniel sah es Leon an, dass er in Jubel ausbrechen wollte, und hob warnend die Hände. »Wie gesagt, es handelt sich um einen Versuch. Eine Garantie, dass es klappt, kann ich nicht geben«, warnte er den Tennisspieler vorsichtshalber.

Leon hörte ihm gar nicht richtig zu.

»Und Sie glauben wirklich, dass ich mit der Therapie bald wieder trainieren kann?«, fragte er und rutschte aufgeregt auf dem Stuhl hin und her.

»Nun mal langsam«, versuchte Daniel, ihn zu beruhigen. »Ich glaube gar nichts. Es ist ein Versuch. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn er klappt, gut. Aber wenn nicht, dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.« Seine Stimme war eindringlich.

Doch Leon waren wieder Annekas Mut machenden, Worte eingefallen. Du darfst den Mut nicht verlieren und musst an dich glauben!, hatte sie gesagt, und ihre weiche, warme Stimme klang ihm noch im Ohr. Mit leuchtenden Augen sah er Dr. Norden an.

»Wissen Sie, Leistungssport ist wie eine Religion. Das kann man nur ganz oder gar nicht machen«, erklärte er inständig.

»Aber ganz kann man diesen Sport nur machen, wenn man auch ganz gesund ist«, wollte sich Daniel nicht von seiner Euphorie anstecken lassen. Dazu war die Zukunft zu ungewiss, war nicht klar, ob die Therapie wirklich anschlagen und keine gravierenden Nebenwirkungen zeigen würde. Sagen konnte er Leon das indes nicht.

»Das kann nicht alles umsonst gewesen sein!«, sagte der junge Sportler leidenschaftlich. »Sie können sich gar nicht vorstellen, auf was ich alles verzichtet habe. Schon immer war ich anders als andere Kinder. Wenn sie nachmittags mit Freunden gespielt haben, stand ich auf dem Tennisplatz. Wenn sie heute feiern und einen trinken gehen, liege ich längst im Bett und bereite mich auf den nächsten Tag, das nächste Training, das nächste Spiel vor. Mein Trainer hat immer darauf geachtet, dass ich meine Zeit so sinnvoll wie möglich nutze.«

Mit wachsendem Unmut hatte Dr. Norden den Ausführungen des jungen Mannes gelauscht. In den Augen einer besorgten Mutter mochten diese Worte wie ein Wunder wirken. Doch als Arzt und Vater wusste Daniel, dass so eine Entwicklung alles andere als gesund für ein Kind war.

»Das klingt nicht danach, als hättest du sehr viel Spaß gehabt«, äußerte er offen seine Bedenken. »Ganz im Gegenteil hast du ja auf ziemlich viel verzichtet.«

Doch davon wollte Leon nichts hören. Sein Wangen glühten vor Eifer, als er erklärte:

»Das sehen Sie völlig falsch. Ich war sechs Jahre alt, als mich Toni, ich meine Herr Kroith, entdeckt hat. Seitdem gibt es für ihn nichts anderes als meine Karriere«, berichtete er euphorisch. »Er hat sich für mich aufgeopfert und sogar auf eine eigene Familie verzichtet.« Leon hielt inne und holte tief Luft. »Wissen Sie, Toni stand selbst mal kurz davor, Tennisprofi zu werden. Aber dann hatte er einen schlimmen Unfall. Er hat es nie wieder geschafft, an seine Leistungen anzuknüpfen.«

Während der Tennisspieler das bestätigte, was Fee und Daniel tags zuvor schon vermutet hatten, war eine steile Falte zwischen Dr. Nordens Augen aufgetaucht.

»Soso, und jetzt hofft er also, dass du seinen alten Traum vom Ruhm erfüllst.«

Leon war in Gedanken so sehr mit seinem Trainer beschäftigt, dass er den Missmut in Daniels Stimme gar nicht bemerkte.

»Ja! Das tut er«, bestätigte der Tennisstar inständig und strich sich ein dunkelblonde Locke aus der erhitzten Stirn. »Wenn Sie zugelassen hätten, dass ich operiert werde, dann wäre alles umsonst gewesen. Nicht nur meine Mühen. Auch seine.« Leon seufzte glücklich. »Aber jetzt wird alles gut.«

Es kostete Dr. Norden alle Beherrschung, keinen ausfallenden Kommentar abzugeben. Er maß Leon Matthes mit einem kritischen Blick, ehe er sich über die Patientenakte beugte und sich noch einmal die Notizen durchlas, die er sich zu der erforderlichen Behandlung gemacht hatte. Er erläuterte Leon, wie die Schmerztherapie vonstattengehen würde, und bat ihn, früh am nächsten Morgen in die Behnisch-Klinik zu kommen.

Der junge Mann versprach es und verabschiedete sich fast fröhlich.

»Sie hatten übrigens recht.« Als sie schon an der Tür standen, drehte er sich noch einmal zu Daniel Norden um. »Es war wirklich ein schöner Zufall, dass ich Anneka ausgerechnet hier wiedergesehen habe. Da bekommt doch selbst diese dumme Bandscheibengeschichte einen Sinn.« Leon lächelte sehnsüchtig. »Bitte sagen Sie ihr schöne Grüße von mir.« Damit wandte er sich endgültig ab und verließ das Sprechzimmer, und Daniel sah ihm nach, wie er nicht direkt beschwingt, aber doch lockerer als zuvor den Flur hinunterging.

Als Tatjanas großer Metallwecker am nächsten Morgen schrill klingelte, fuhr Danny Norden aus tiefem Schlaf entsetzt im Bett hoch. Nur einen Augenblick später schrie er auf vor Schmerz.

»Aaaahhhh! Warum hängt dieses dumme Regal eigentlich immer noch direkt über dem Bett?«, fragte er und rieb sich die schmerzende Beule, die in Sekundenschnelle auf seinem Hinterkopf wuchs.

Tatjana, die von dem Lärm neben sich schneller, als ihr lieb war, wach geworden war, blinzelte ihren Freund aus verschlafenen Augen an.

»Oh je, mein armer, schwarzer Kater.« Sie schob die Hand unter der Bettdecke hervor und streichelte sanft seinen Arm. Dabei lächelte sie, erinnerte sie dieses Szenario doch an die Zeit, als ihre Liebe noch jung gewesen war. »Du weißt doch, dass in meiner kleinen Studentenbude viel zu wenig Platz ist. Deshalb hatte ich keine Wahl, als das Regal dort aufzuhängen. Das hattest du inzwischen selbst eingesehen«, erinnerte sie ihn zärtlich an die unabänderlichen Tatsachen.

»Aber seit wann hast du diesen Monsterwecker? Der ist imstande und weckt Tote auf.« Unwillig deutete Danny auf das imposante Gerät.

»Den hab ich mir extra gekauft, damit ich nicht immer verschlafe. Du weißt doch, dass Aufstehen ein Problem für mich ist«, gab Tatjana zerknirscht zurück. »Geht’s wieder?«

Danny sank in die Kissen zurück und seufzte theatralisch.

»Ein Kuss könnte meine Schmerzen durchaus lindern. Und ein leckeres Frühstück.«

Bei diesem Vorschlag wurde Tatjana hellhörig. Obwohl sie sich genau an ihr Vorhaben erinnerte, Danny durch ein kleines Verwöhnprogramm von etwaigen Gedanken an andere Frauen abzulenken, wurde er für ihren Geschmack langsam zu anspruchsvoll.

»Moment mal!«, reklamierte sie energisch. »Ich hab dir doch neulich erst Frühstück gemacht. Und außerdem hab ich gestern Abend dafür gesorgt, dass du keinen qualvollen Hungertod erleiden musst.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du noch für ganz andere Sachen gesorgt«, lächelte Danny in Erinnerung an die nächtlichen Freuden und zog Tatjana an sich. »Das alles ist so schön, dass ich mich glatt daran gewöhnen könnte. Mal abgesehen davon, dass ich schwerverletzt bin und mich unter gar keinen Umständen anstrengen darf«, erinnerte er seine Freundin an die Schulterverletzung, die eigentlich kaum mehr schmerzte.

»Davon hab ich heute Nacht aber gar nichts mitbekommen«, antwortete Tatjana schlagfertig und stützte sich auf Dannys nackte Brust. »Die hübsche Physiotherapeutin scheint ja gute Arbeit geleistet zu haben.« Obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihre Eifersucht nicht zu zeigen, konnte sie sich diesen anzüglichen Kommentar nicht verkneifen.

Danny, der zu dieser frühen Stunde keinen Zusammenhang zwischen Tatjanas Bemühungen und ihrer Eifersucht auf Lilly herstellen konnte, stöhnte genervt auf.

»Fachlich ist diese Frau ja wirklich nicht schlecht. Aber das, was sie sich gestern in der Praxis geleistet hat, war reichlich überflüssig.«

»Was war denn los?«, fragte Tatjana so unbedarft wie möglich und bettete das Kinn auf Dannys Brust.

»Frau Seifert kam ohne Termin und unter einem fadenscheinigen Vorwand in die Praxis geschneit. Angeblich leidet sie an einem Tennisarm. Aber im Ultraschall war rein gar nichts zu sehen.«

»Du glaubst, sie markiert?« Tatjana ließ es sich nicht anmerken, doch das war genau das, was sie diesem Typ Frau zutraute. Und sie freute sich, dass Danny das offenbar genauso sah.

»Ich möchte ihr nichts unterstellen. Aber wir werden ja sehen, ob sie tatsächlich in die Radiologie geht und Aufnahmen machen lässt. Ich für meinen Teil glaube es nicht.« Danny warf einen Blick auf den riesigen Metallwecker mit den goldenen Schellen und stellte bedauernd fest, dass es Zeit wurde aufzustehen. Er hätte noch Stunden dort liegen und mit seiner Freundin plaudern können. Doch die Pflicht rief, und er schob Tatjana sanft von seiner Brust, nachdem er sie geküsst hatte.

»Und was ist mit deiner Behandlung? Die machst du doch sicher zu Ende«, fragte sie forschend und sah Danny nach, wie er durch das kleine Zimmer zur Tür ging. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal um.

»Du findest, dass ich noch behandlungsbedürftig bin?«, fragte er frech grinsend, und Tatjana lachte laut heraus.

»Eigentlich nicht. Und wenn, dann bekommst du eine Sonderbehandlung von mir«, gab sie anzüglich zurück.

»Nichts anderes wollte ich hören.« Danny warf ihr eine Kusshand zu, bevor er hinüber ins kleine Bad ging.

Tatjana indes machte es sich zufrieden lächelnd wieder im Bett bequem. Ihre Strategie war aufgegangen, und sie musste sich keine Sorgen mehr machen. Wenn das nicht der beste Tagesanfang war, den man sich wünschen konnte! Abgesehen von einem leckeren Marmeladencroissant vielleicht …

*

Auch Daniel Norden war guten Mutes, als er am nächsten Morgen gemeinsam mit seiner Frau direkt in die Behnisch-Klinik fuhr. Seit sein ältester Sohn in die Praxis mit eingestiegen war, hatten beide Ärzte mehr Freiheiten und konnten sich auch intensiver um die Patienten kümmern, die eine Weiterbehandlung in der Klinik brauchten.

»Ich bin wirklich gespannt, wie die Schmerztherapie bei Leon anschlägt«, sprach er den Gedanken aus, der ihn im Augenblick am meisten beschäftigte.

»Und ob er damit wirklich wieder Tennis spielen kann, ohne die Bandscheibe noch mehr zu schädigen«, ergänzte Fee, während sie Seite an Seite mit ihrem Mann über den Flur in Richtung Pädiatrie ging, als ihnen auf halbem Weg Jenny Behnisch entgegen kam. Sie ging so schnell, dass die Blätter in ihrer Hand flatterten. Als sie ihre langjährigen Freunde und Kollegen sah, lächelte sie erleichtert.

»Hallo, Daniel, Fee, guten Morgen. Ein Glück, dass ich euch treffe. Ich hatte schon befürchtet, dass ihr die Therapie bei dem jungen Matthes schon begonnen habt.«

Sämtliche geplante Maßnahmen hatten die beiden Ärzte mit der erfahrenen Klinikleiterin abgestimmt.

»Wir waren gerade auf dem Weg zu ihm«, erwiderte Dr. Norden überrascht. »Gibt es Probleme?«

»Er war gestern noch einmal zur Blutabnahme hier, und ich habe heute Morgen die Laborergebnisse bekommen.« Jenny wedelte mit den Unterlagen durch die Luft. »Eine Schmerztherapie kommt auf keinen Fall in Frage. Durch die vielen Medikamente, die sein Trainer ihm offenbar nebenbei verabreicht hat, sind die Blutwerte grenzwertig. Ein Nierenschaden wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wir müssen vorsichtig sein.«

Das Ehepaar tauschte erschrockene Blicke.

»Das ist ja furchtbar«, entfuhr es Felicitas.

»Damit hatte ich in der Tat nicht gerechnet«, seufzte Dr. Norden und dachte angestrengt nach. »Gut, dann werde ich jetzt gehen und ihm die Botschaft überbringen. Erfreut wird er darüber nicht gerade sein.« Er nahm den Laborbefund, den Jenny ihm reichte.

»Bestimmt nicht«, teilte sie das Bedauern ihres Freundes. »Aber immer noch besser, als den Rest seines Lebens an der Dialyse zu hängen.«

»Das stimmt allerdings.« Daniel lächelte schmal.

»Soll ich dich begleiten?«, bot Fee bereitwillig an, doch er schüttelte den Kopf.

»Es reicht, wenn Leon einem den Kopf abreißt.« Er zwinkerte seiner Frau zu und machte sich dann auf den Weg zu Leon.

Der wartete schon ungeduldig in Gesellschaft seines Trainers auf den Beginn der Therapie.

»Herr Dr. Norden, da sind Sie ja!«, begrüßte er den Arzt, der das Behandlungszimmer mit bedauernder Miene betrat.

Toni Kroith hingegen lächelte hoffnungsvoll.

»Ich freue mich wirklich, dass Sie doch noch einen Weg gefunden haben, Leon auch ohne Operation zu helfen.«

Daniel Nordens Herz wurde schwer, als er in die erwartungsvollen Gesichter blickte.

»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, hielt er mit seiner Botschaft nicht länger hinter dem Berg. Je schneller er es hinter sich brachte, umso besser.

Angesichts seiner ernsten Miene erlosch das erwartungsfrohe Lächeln auf Leons Gesicht.

»Was ist los?«, fragte er schroff.

Toni Kroith begnügte sich mit einem stummen Blick.

»Wir haben heute früh die Laborergebnisse bekommen. Deine Blutwerte lassen eine Schmerztherapie nicht zu«, erklärte Dr. Norden ernst.

»Was soll das heißen?«, machte der Trainer keinen Hehl aus seinem Entsetzen. »Und wieso so plötzlich?« Seine Stimme war forsch und unfreundlich, und Daniel spürte, wie er zornig wurde.

»Diese Frage müssten Sie wohl am allerbesten beantworten können«, wies er ihn barsch zurecht. »Hätten Sie Ihrem Schützling nicht wahllos Schmerzmittel verabreicht, wäre das nicht passiert«, konnte er ihm einen Vorwurf nicht ersparen.

Im ersten Augenblick machte der Trainer den Eindruck, als wollte er etwas erwidern. Doch dann verzichtet er darauf. Beleidigt presste er die Lippen aufeinander und schwieg.

Doch Leon war außer sich.

»Das glaub ich einfach nicht!«, rief er und schlug mit der Faust auf die Behandlungsliege. »Das kann doch nicht wahr sein.« Er wusste nicht, auf wen er wütender war: Auf seinen Trainer, der seine Gesundheit so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte. Oder auf sich selbst, weil er ihm so kritiklos gefolgt war. Als er Toni Kroith wütend anstarrte, senkte der den Kopf.

»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht«, murmelte er eine kaum verständliche Entschuldigung.

»Was soll ich mit Ihrem Mitleid?«, schimpfte Leon unbarmherzig weiter. »Sie haben mir so große Hoffnungen gemacht. Fast mein ganzes Leben lang hab ich auf alles verzichtet, was Spaß macht. Und jetzt das!«

»Tennis macht dir doch auch Spaß …«, wagte der Trainer einen vorsichtigen Einspruch.

»Ach ja?« Leon lachte hämisch. Plötzlich musste er wieder an Anneka denken, daran, was sie alles erlebt, wie viel Spaß sie bisher in ihrem Leben gehabt haben musste. Ihre fröhliche Ausstrahlung, das zufriedene Leuchten in ihren Augen sprachen eine deutliche Sprache. »Aber das Leben besteht nun mal nicht nur aus Tennis, auch wenn Sie mir das weismachen wollten. Und fast wäre es Ihnen gelungen.« Vor Wut und Verzweiflung standen ihm Tränen in den Augen, und hilflos wandte sich Toni Kroith an Daniel Norden.

»Ich flehe Sie an, Herr Doktor. Das können Sie Leon nicht antun«, überging er den Vorwurf seines Schützlings einfach. »Bitte lassen Sie ihn nicht im Stich. Sie sind unsere ganze Hoffnung! Irgendeine Möglichkeit muss es doch geben.« Ein Gedanke kam ihm in den Sinn, und seine Augen leuchteten auf. »Vielleicht wurden die Untersuchungsergebnisse ja vertauscht. Sie könnten noch einmal Blut abnehmen …«.

Es kam nicht oft vor, dass Daniel Norden wütend würde. Doch in diesem Augenblick war es so weit.

»Sie zweifeln allen Ernstes lieber die Kompetenz der Mitarbeiter an statt Ihren eigenen Fehler einzusehen?«, fragte er scharf.

»Aber …«.

»Kein Aber!« Mit einer resoluten Handbewegung schnitt Dr. Norden dem Trainer das Wort ab. »Ich habe jetzt keine Zeit mehr. In der Praxis warten Patienten, die meine Hilfe nötiger brauchen. Sie entschuldigen mich.« Bevor er ging, wandte er sich noch einmal an Leon. »Falls du dich doch zu einer Operation entschließt oder meinen Rat und ärztliche Hilfe brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen. Meine Nummer hast du ja«, erinnerte er den jungen Mann an die Visitenkarte, die er ihm bei seinem letzten Besuch gegeben hatte.

Einen Moment lang sagte Leon nichts. Dann nickte er.

»Ich melde mich«, sagte er leise. Seine Worte klangen fast wie ein Versprechen.

*

Versonnen saß Anneka in ihrem Zimmer am Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Der Himmel war eisgrau und die Luft kalt. Kein Lüftchen regte sich, kein spielendes Kind war zu sehen und kein Vogel saß in einem der Bäume und zwitscherte ein fröhliches Lied. Man hätte meinen können, dass die Welt still stand. Von alledem bemerkte die Arzttochter jedoch nichts. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um den jungen Mann, der sie nicht mehr losließ, seit sie ihn nach so vielen Jahren so unvermutet wiedergetroffen hatte. Leons Bild verfolgte sie bis in den Schlaf und am Morgen wachte sie wieder mit ihm auf. Und auch jetzt war sie so vertieft, dass sie das Klopfen an ihrer Zimmertür nicht hörte.

»Was gibt’s denn da draußen so Spannendes zu sehen?«, fragte Felix, der schließlich einfach hereingekommen war.

Erschrocken zuckte Anneka zusammen und fuhr zu ihm herum.

»Wegen dir bekomm ich irgendwann nochmal einen Herzinfarkt.«

»Da ist es doch ungemein praktisch, dass wir in einem Arzthaushalt leben und dich jederzeit wiederbeleben können. Findest du nicht?«, fragte er frech grinsend und setzte sich auf die Schreibtischkante. Sein forschender Blick ruhte auf seiner Schwester.

»Einfacher wäre es, wenn du dir mal Manieren angewöhnen und anklopfen würdest«, erwiderte Anneka unbarmherzig.

»Aber ich hab doch angeklopft«, empörte sich Felix. »Vielleicht solltest du mal einen Termin bei Dad ausmachen, um dir mal in die Ohren schauen zu lassen.«

»Schon okay, meinen Ohren geht’s gut«, winkte Anneka ab. »Vielleicht hab ich’s wirklich nicht gehört«, räumte sie zum großen Erstaunen ihres Bruders friedfertig ein.

Irritiert legte Felix den Kopf schief.

»Was ist denn mit dir los? Bist du krank?« Die Sorge in seiner Stimme war so echt, dass Anneka lachen musste.

»Nein. Mir geht’s gut«, versicherte sie und wurde unter seinem forschenden Blick rot.

»Aber irgendwas stimmt nicht … du bist so verändert … War die Klassenfahrt nicht schön?«

»Doch, doch, die war in Ordnung.«

»Dann hab ich nur noch eine Idee«, sagte Felix seiner älteren Schwester schließlich auf den Kopf zu.

»Und zwar?«

»Du bist verliebt.«

Eine verräterische Röte schoss Anneka in die Wangen, und sie versuchte zu leugnen.

»Unsinn …Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie fast ein wenig unfreundlich und beugte sich tief über den Block, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

»Verliebtheit wird definiert als starkes Gefühl der Zuneigung. Psychologen gehen davon aus, dass sie mit einer Einengung des Bewusstseins einhergeht«, erklärte Felix mit gewichtiger Miene und hoch erhobenem Zeigefinger. »Das würde auch erklären, dass du mein Klopfen überhört hast.«

»Woher weißt du das denn so genau?«, platzte Anneka überrascht heraus.

Ein verlegenes Lächeln spielte um Felix’ Mundwinkel, und er überlegte kurz, ob er seiner Schwester die Wahrheit sagen sollte. Aber wem sonst wenn nicht seiner engsten Vertrauten?

»Na, weil’s mir doch genauso geht. Ich hab mich tatsächlich in Elena verliebt«, gab er schließlich zu. »Hast du mir ihre Telefonnummer besorgt?«, erinnerte er seine Schwester an ihr Versprechen.

»Natürlich!« Triumphierend bückte sich Anneka nach ihrer Tasche und zog einen kleinen, zusammengefalteten Zettel hervor und hielt sie Felix vor die Nase. »Ich halte meine Versprechen.«

»Danke, du bist ein Schatz!«. Strahlend nahm er die Nummer in Empfang und rutschte von der Tischkante. Endlich konnte er seinen Plan in die Tat umsetzen und seine Flamme zu dem Hallenfußballspiel einladen, das am kommenden Wochenende stattfinden sollte. »Dafür verrate ich auch niemandem, dass du in Leon verliebt bist«, erklärte er auf dem Weg zur Tür.

»Wie bitte?«, platzte Anneka verwirrt heraus. »Woher weißt du das denn schon wieder?«

Vielleicht kann ich hellsehen. Oder Gedanken lesen. Felix dachte gar nicht daran, seine Informationsquelle preiszugeben, und verließ unter Annekas ungläubigem Blick das Zimmer. Erst als sie sich umdrehte und sich seufzend wieder über den Block beugte, bekam sie die Antwort auf ihre Frage: In schön geschwungenen Buchstaben stand dort der Name ›Leon‹, eingerahmt von lauter großen und kleinen Herzchen.

»O Mann, Felix hat recht. Liebe schränkt den Horizont wirklich ein«, murmelte sie und riss das Blatt vom Block, um es mit glühend roten Wangen in der untersten Schublade ihres Containers zu verstauen.

*

Am diesem Nachmittag war keine Sprechstunde in der Praxis Dr. Norden, sodass Daniel die Patienten besuchen konnte, die zu schwach oder zu krank waren, um zur Behandlung zu ihm zu kommen. Danny hingegen nutzte an diesem Nachmittag die Gelegenheit, um in die Behnisch-Klinik zu fahren und diejenigen Patienten aufzusuchen, die zur Weiterbehandlung überwiesen worden waren. Neben anderen stand dort ein erfreulicher Termin bei einem Patienten auf dem Programm, dessen Leben durch die Beharrlichkeit des jungen Arztes gerettet worden war.

»Hallo, Herr Bogner«, begrüßte Danny Norden den Familienvater, der bequem im Klinikbett saß und in einer Zeitschrift blätterte. Als er ans Bett trat, legte Lorenz Bogner das Magazin sofort zur Seite und nahm die Lesebrille ab.

»Herr Norden, wie schön, dass Sie mich besuchen kommen«, freute er sich ganz offensichtlich über den Besuch. »Jetzt hab ich endlich Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken.« Seine Stimme war heiser und ein wenig schleppend, doch das schien ihn nicht sonderlich zu stören.

»Aber das ist doch nicht nötig«, versicherte Danny und zog sich einen Stuhl ans Bett. »Wie fühlen Sie sich?«

»Nicht nötig? Sie machen mir Spaß!«, ging Lorenz Bogner gar nicht auf die Frage seines Arztes ein. »Wenn Sie sich nicht so viele Gedanken über meinen plötzlichen Bluthochdruck und die komische Heiserkeit gemacht hätte, wäre ich heute nicht mehr am Leben.« Mit dieser Behauptung hatte er recht.

Nach einer wahren Odyssee durch verschiedene Arztpraxen war der Mann schließlich bei Danny Norden gelandet, der einen Zusammenhang zwischen dem Bluthochdruck und der seltsamen Heiserkeit festgestellt hatte. Eine einfache Untersuchung der Stimmbänder hatte eine Lähmung des linken Stimmbandes ergeben. Eine von Danny angeordnete Computertomographie bestätigte schließlich den Verdacht.

»Eigentlich hätte jeder andere Arzt das Aortenaneurysma genauso diagnostizieren können. Immer, wenn Ihr Blutdruck in die Höhe schnellte, drückte die ungesund erweiterte Schlagader den linken Stimmbandnerv ab. Deshalb wurden Sie heiser«, stellte Danny nachdenklich fest. »Das zu erkennen, war kein Kunststück.«

»Aber Sie waren der einzige, der sich die Zeit genommen und mal über die Anatomie des menschlichen Körpers nachgedacht hat«, ließ sich der Patient nicht beirren.

Danny lächelte.

»Ich bin jedenfalls froh, dass das erweiterte Stück der Hauptschlagader erfolgreich durch eine Prothese ersetzt werden konnte und der Nerv dadurch jetzt nicht mehr strapaziert wird.«

»Das bin ich auch. Vor allen Dingen aber bin ich froh, dass Sie das Aneurysma gefunden haben. Wenn es geplatzt wäre, wäre ich eines Tages einfach tot umgefallen.« Dieser Gedanke ließ Lorenz noch im Nachhinein erschauern.

Diese Vorstellung wollte Danny gar nicht zulassen.

»Es ist ja zum Glück alles nochmal gut gegangen«, lächelte er zufrieden. »Wie geht es jetzt bei Ihnen weiter?«

»In ein paar Tagen kann ich mit der Sprachtherapie anfangen. Dann ist von der vorübergehenden Stimmbandlähmung auch bald nichts mehr zu hören«, konnte Lorenz von den Plänen der Ärzte berichten.

Danny freute sich, seinen Patienten so munter und optimistisch zu sehen, und erhob sich. Das Stichwort ›Therapie‹ hatte ihn wieder an die Aufgabe erinnert, die ihm noch bevorstand und der er mit gemischten Gefühlen entgegensah.

»Dann weiterhin gute Besserung! Wir sehen uns dann zur Nachsorge«, verabschiedete er sich freundlich und verließ das Krankenzimmer und machte sich auf den Weg zu Lilly Seifert.

Unterwegs dachte er darüber nach, wie er der Physiotherapeutin erklären sollte, dass er die Therapie abbrechen würde. Sollte er die Wahrheit sagen und sich über ihre unangebrachten Annäherungsversuche beschweren? Oder sollte er eine diplomatische Lösung wählen, die sie beide mit gutem Gefühl zurückließ?

Über diese Frage dachte er noch nach, als er vor der Tür stand, die zu den Physiotherapieräumen führte. Er hatte angeklopft und wartete darauf, eingelassen zu werden. Endlich hörte er Schritte im Inneren und straffte die Schultern. Doch statt wie erwartet in Lillys grüne Augen zu blicken, schaute er in das Gesicht eines Mannes.

»Ja, bitte?«, fragte der Physiotherapeut Nils Wilhelm und sah den jungen Arzt freundlich an. »Haben Sie einen Termin?«

Verwundert warf Danny einen Blick über die Schulter des unbekannten Mannes in weißer Kleidung. Doch der Schreibtisch war leer. »Suchen Sie jemanden?«, fragte Nils Wilhelm weiter, als er keine Antwort erhielt.

Dannys Blick kehrte zu ihm zurück.

»Eigentlich suche ich Lilly Seifert«, gab er endlich die gewünschte Auskunft. »Ich hätte heute Abend einen Termin bei ihr, den ich leider absagen muss.«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes wurde breiter.

»Oh, hat Sie Ihnen gar nicht gesagt, dass Sie ab heute wieder mit mir vorlieb nehmen müssen?« Er reichte Danny die Hand und stellte sich vor. »Mein Name ist Nils Wilhelm. Ich bin der Physiotherapeut an dieser Klinik.«

In diesem Moment hellte sich auch Dannys Miene auf.

»Ach, dann ist Lilly gar nicht mehr hier?«

»Nein. Sie hat mich nur während meines Urlaubs vertreten. Und der ist heute leider vorbei. Deshalb ist Lilly, ich meine Frau Seifert, gestern Abend abgereist.«

Danny war so sehr damit beschäftigt gewesen, was er Lilly erzählen sollte, dass es einen Augenblick dauerte, bis die Bedeutung dieser Nachricht in sein Bewusstsein vorgedrungen war. Langsam breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Wohin bedeutet denn abgereist?«, hakte er nach, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich weit genug weg war.

»Frau Seifert lebt in Frankfurt und arbeitet dort in einer großen Praxis. Deshalb konnte sie auch kurzfristig einspringen«, erklärte Nils Wilhelm bereitwillig. »Aber was ist denn jetzt mit Ihrem Termin heute Abend?«, hakte er mit einem Blick auf die Uhr nach. In wenigen Minuten würde der nächste Patient eintreffen.

Über diese Frage dachte Danny einen Augenblick lang nach.

»Also, wenn Sie die Stunde machen, würde ich sie gerne wahrnehmen.«

Diese Antwort irritierte den Physiotherapeuten ein wenig.

»Waren Sie denn nicht zufrieden mit Frau Seifert?«, fragte er verwundert und begrüßte nebenbei den Patienten, der sich mit einem freundlichen Nicken an Danny vorbeigeschoben und die Therapieräume betreten hatte. »Eigentlich ist sie eine sehr kompetente Kollegin.«

»Und darüber hinaus eine sehr einsame, wie es schien«, konnte sich Danny einen aufschlussreichen Kommentar nicht verkneifen. Ehe der Therapeut darauf reagieren konnte, beschloss er, den Rückzug anzutreten. »Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Bis heute Abend.« Er grinste den Physiotherapeuten breit an, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und beschwingt den Flur hinunter ging.

*

Wann immer es möglich war, versammelte sich die Familie Norden um den großen Esstisch und ließ sich Lennis vorzügliche Speisen schmecken. In letzter Zeit war diese liebgewonnene Tradition jedoch ein wenig ins Hintertreffen geraten. Umso mehr freuten sich alle Familienmitglieder, als sie an diesem Abend wieder einmal alle zusammen saßen.

»Das ist fast wie Weihnachten«, bemerkte Dési und betrachtete die fröhliche Runde mit glänzenden Augen.

»Fehlen nur noch die Geschenke.« Daniel lächelte belustigt, als sich Tatjana einmischte.

»Die hab ich mitgebracht! Vorausgesetzt natürlich, dass Frau Bärwalds Schokomuffins mit flüssiger Füllung als Geschenke durchgehen«, verriet sie, was sich in der großen Papiertüte verbarg, die sie aus der Bäckerei mitgebracht hatte.

»Schokomuffins mit flüssiger Füllung?«, schnappte Felix nach Luft. Obwohl er seinen Teller noch nicht leer gegessen hatte, legte er schlagartig das Besteck zur Seite. »Dann muss ich leider jetzt aufhören und noch Platz für die Muffis lassen.«

Felicitas musterte ihren zweitältesten Sohn verwundert.

»Seit wann hast du denn Probleme damit, sieben Gänge hintereinander zu verschlingen?«, erkundigte sie sich schmunzelnd.

»Seit er verliebt ist!«, platzte Anneka vorlaut heraus. »Wenn er der schönen Elena gefallen will, muss er eben auf seine Figur achten.«

Doch wenn sie gedacht hatte, Felix damit necken zu können, hatte sie sich geirrt.

»Apropos verliebt. Wie geht es denn eigentlich Leon?«, wandte er sich mit einem aufreizenden Blick in Richtung seiner Schwester an seinen Vater, der das heitere Gespräch zufrieden verfolgt hatte.

Als Felix aber seinen unglücklichen Patienten erwähnte, verschwand das Lächeln aus Daniels Gesicht.

»Leider nicht so gut«, erklärte er, und erschrocken riss Anneka die Augen auf. Der Bissen blieb ihr im Hals stecken.

»Wieso?«, fragte sie. »Was ist passiert?«

Bedauernd schüttelte Daniel den Kopf.

»Das darf ich dir leider nicht sagen«, erinnerte er seine Tochter an seine ärztliche Schweigepflicht. »Wenn, dann muss er dir das selbst erzählen. Nur so viel: Es ist nicht lebensbedrohlich«, konnte er ihr zumindest die größte Sorge nehmen.

»Na bitte, wenn das keine Gelegenheit ist, den Herzallerliebsten wiederzusehen«, erklärte Felix, und Anneka schickte ihm einen funkelnden Blick.

»Nur weil du jetzt Elenas Telefonnummer hast, musst du dich nicht in Sicherheit wiegen«, warnte sie ihren Bruder. »Ich kann ihr immer noch ein paar Geschichten über dich erzählen, die sie nicht so prickelnd finden wird. Zum Beispiel dein Talent beim Einparken«, erinnerte sie ihren Bruder scheinheilig lächelnd an die vielen Beulen, die er seinem Wagen schon verpasst hatte.

Diese Drohung blieb nicht ohne Wirkung.

»Das würdest du doch niemals tun, Schwesterherz, oder?« Felix blinzelte sie an und lächelte dabei so süß, dass alle am Tisch lachten.

Doch schnell kehrten Annekas Gedanken zu dem jungen Mann zurück, der ihr Herz so unvermutet berührt hatte.

»Und wie finde ich jetzt heraus, was ihm fehlt?«, fragte sie ihren Vater. »Ich hab ja noch nicht mal seine Telefonnummer. Und die darfst du mir wahrscheinlich auch nicht geben.«

»Stimmt genau«, musste Daniel zugeben. Trotzdem gab es einen Hoffnungsschimmer für seine Tochter. »Aber ich hab da einen Tipp für dich. Wenn du morgen Nachmittag gegen drei in die Praxis kommst, hast du gute Chancen, ihn zu treffen. Er hat heute angerufen und einen Termin vereinbart.«

Schlagartig begannen Annekas Augen zu leuchten.

»Du bist halt doch der beste Papi der Welt!«, entfuhr es ihr, und sie sprang auf, um Daniel zu umarmen. Zufrieden schloss er seine Tochter in die Arme, bis Fee schließlich in die Hände klatschte.

»Weil wir gerade von Geschenken gesprochen haben …Ich hätte da auch noch eine kleine Überraschung für meine liebe Familie«, kündigte sie vergnügt an.

»Für uns alle?«, fragte Désis Zwillingsbruder Janni und machte große Augen.

»Ja, für uns alle!« Sichtlich stolz blickte Fee in die Runde und genoss die gespannten Gesichter. »Nachdem in letzter Zeit in unserer Familie gehäuft sportbedingte Verletzungen auftreten, dachte ich mir, dass ich uns mal einen persönlichen Fitnesstrainer organisiere. Er soll uns zeigen, wie man sich vor dem Sport richtig aufwärmt«, verriet sie ihr bis dahin wohl gehütetes Geheimnis. Alle waren begeistert und lachten und johlten durcheinander. Alle bis auf einen.

»Einen Fitness-Trainer?«, hakte Daniel misstrauisch nach. »Wo hast du den denn her?«

»Aus meinem Fitness-Studio«, erwiderte Fee leichthin und lachte. »Du wirst doch wohl nicht eifersüchtig sein?«

»Nein … Na ja, ein bisschen vielleicht«, räumte Daniel ein und zwinkerte seiner Frau zu zum Zeichen, dass er ihr Spiel verstanden hatte und mitspielte. »Sieht er gut aus?«

Fee tat so, als würde sie über diese Frage intensiv nachdenken.

»Ja, also ich finde schon!«, gab sie dann zu.

»Ist er jung?«

»Im besten Alter.« Diese Antwort kam schon schneller, und Daniel runzelte die Stirn.

»Aber ich gehe mal davon aus, dass Fitnesstrainer so anständig sind wie Ärzte und ihren Kunden nicht nachstellen«, tat er seine Hoffnung kund.

»Wenn sie so drauf sind wie manche Physiotherapeutinnen, dann würde ich mich nicht darauf verlassen«, warf Danny vielsagend ein.

Fee hatte ihr Abendbrot beendet und sich entspannt zurückgelehnt. Belustigt lauschte sie den Kommentaren ihrer Familie. Nach und nach verstummten die Stimmen, und die Aufmerksamkeit kehrte zu ihr zurück.

»Meine Lieben, ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass es auch nur einen einzigen Mann gibt, der eurem Vater Konkurrenz machen kann?«, fragte sie dann in die Runde. »Er könnte Mister Universum persönlich sein und trotzdem würde er mich nicht reizen. Weil euer Vater eine unschlagbare Eigenschaft hat.«

»Und die wäre?«, fragte Danny gespannt.

Fee zögerte und maß Daniel mit einem innigen Blick voller Liebe und Zärtlichkeit.

»Er ist einfach der beste Mann der Welt und er liebt mich, wie kein anderer mich lieben könnte«, erklärte sie dann innig.

»Und das nach so vielen Jahren!«, entfuhr es Tatjana. Ihre Sprache war rau vor Rührung, hatte sie ihre Eltern doch nie in solch einer Harmonie erleben dürfen.

Auch der Rest der Familie Norden war hingerissen von dieser Liebeserklärung, die aus tiefstem Herzen gekommen und so nicht geplant gewesen war.

Daniel konnte nicht anders als sich zu seiner Frau zu beugen und sie zärtlich vor aller Augen zu küssen.

Und während sich ihre Familie über diese schöne Liebeserklärung mindestens genauso freute wie Daniel selbst, beugte sich Danny zu Tatjana hinüber.

Selbst Felix, der in allen Situationen einen frechen Kommentar parat hatte, hatte es diesmal die Stimme verschlagen. Wahrscheinlich dachte er an seinen Schwarm Elena und daran, dass seine Eltern ebenso jung gewesen waren, wie sie selbst es jetzt waren. In diesem Augenblick schien alles möglich zu sein, und die Sterne waren zum Greifen nah.

Diese Chance nutzte auch Danny, um sich zu seiner Freundin zu beugen.

»Bevor Dad das Kompliment zurückgeben und behaupten kann, dass Mum die beste Frau der Welt ist, verleihe ich dir dieses Prädikat«, raunte er ihr ins Ohr, und Tatjana lachte glücklich auf. Ihre weibliche List war gelungen, und niemand freute sich mehr darüber als sie, dass das Gespenst Lilly Seifert verschwunden war und sie sich Dannys Liebe wieder ganz sicher sein konnte.

Bevor die Stimmung jedoch allzu feierlich werden konnte, sprang sie auf und klatschte übermütig in die Hände.

»Wenn das kein Grund zum Feiern ist!«, rief sie fröhlich in die Runde und lief, um die Schokomuffins zu holen, die Lenni inzwischen auf einem Teller angerichtet hatte.

*

Obwohl Anneka Norden im Normalfall gerne zur Schule ging, fiel es ihr am nächsten Tag schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie handelte sich sogar einen Tadel ihrer Klassenleiterin ein, den sie ohne mit der Wimper zu zucken hinnahm. All ihre Gedanken weilten bei Leon und dem, was ihm fehlte, und sie brannte darauf, endlich in die Praxis fahren zu können.

»Schmeckt’s dir denn nicht?«, erkundigte sich Lenni besorgt, als die älteste Tochter des Hauses nach nur fünf Minuten und einem kleinen Happen Kartoffelgratin wieder vom Tisch aufsprang.

»Es ist total lecker!«, versicherte Anneka und schickte dem guten Geist des Hauses Norden einen Handkuss. »Aber ich hab keine Zeit mehr.«

Das war nur die halbe Wahrheit. Vor Aufregung hätte sie nämlich ohnehin keinen Bissen mehr hinuntergebracht und war froh, sich gleich auf den Weg machen zu können. Diesmal war Felix nicht zu Hause und sie musste die U-Bahn nehmen.

Annekas Wangen leuchteten mit ihrer Nase um die Wette, als sie eine halbe Stunde später vor der Kälte in die kuschelig warme Praxis flüchtete.

»Nanu, du schon wieder?«, fragte Wendy verwundert. Es gab Monate, da bekam sie Anneka überhaupt nicht zu Gesicht. Und nun besuchte sie die Praxis schon zum zweiten Mal innerhalb einer Woche. Mit dieser Bemerkung brachte sie Anneka unwissentlich in Erklärungsnotstand.

»Äh, ja, ich muss demnächst ein Referat in Bio über seltene Krankheiten halten und brauch von Dad ein paar Informationen«, stammelte sie eine Ausrede, die glücklicherweise noch nicht einmal gelogen war.

Wendy schickte einen kritischen Blick hinüber zum Wartezimmer.

»Diesmal wirst du aber eine Weile warten müssen. Es ist ganz schön was los.«

»Ach, das macht gar nichts«, winkte Anneka ab, erleichtert darüber, keinen Argwohn erregt zu haben. »Das Wartezimmer ist voll gemütlich. Da kann man es gut aushalten.«

Wendy lachte.

»Diese Ansicht teilen beileibe nicht alle unsere Besucher.« Als das Telefon klingelte, nickte sie der Tochter ihres Chefs freundlich zu und machte sich wieder an die Arbeit.

Anneka indes hängte ihre Jacke an die Garderobe und ging mit klopfendem Herzen hinüber zum Wartezimmer. Ihre Hände waren feucht vor Aufregung, und sie spähte vorsichtig hinein. Im ersten Moment dachte sie, dass Leon nicht unter den Wartenden war, und ihr Herz wurde schwer vor Enttäuschung. Da entdeckte sie ihn in der Kinderecke auf der kleinen Bank, offenbar der einzige Bereich, wo noch Platz war.

Einen Moment lang stand die junge Frau wie erstarrt da. Dann gab sie sich einen Ruck und betrat das Zimmer. Sie grüßte leise, aber freundlich, und Leon blickte hoch. Ein Leuchten huschte über sein Gesicht, als er Anneka erkannte.

»Du bist ja auch schon wieder hier!«, lächelte er und rutschte ein Stück auf der Kinderbank zur Seite, damit sie sich neben ihn setzen konnte. »Wenn das kein Zufall ist! Hoffentlich bist du nicht krank.«

Die Sorge in seinen Augen rührte Anneka, und um ein Haar hätte sie ihr Geheimnis preisgegeben. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich zurückhalten.

»Bei mir ist alles in Ordnung. Ich brauch nur ein paar Informationen für ein Referat von meinem Dad«, benutzte sie dieselbe Ausrede wie zuvor bei Wendy. »Aber was ist mit dir?«

Leon seufzte tief und legte die Zeitschrift, in der er vorhin gelesen hatte, zurück auf den Tisch.

»Mir geht’s nicht so gut«, gestand er und senkte den Kopf. »Bei einem Bluttest hat sich rausgestellt, dass mein Trainer mir zu viele Schmerzmittel gegeben hat. Deshalb kann keine Schmerztherapie gemacht werden.« Blicklos starrte er auf seine Hände, die verschlungen in seinem Schoß lagen. »Du weißt ja, was das für mich bedeutet.«

Das war es also! Auf der einen Seite war Anneka unendlich froh und erleichtert, dass nichts Schlimmeres passiert war. Auf der anderen konnte sie Leons Kummer natürlich nachvollziehen.

»Ja, ich weiß!«, murmelte sie betroffen. »Was hast du jetzt vor?«

»Ich weiß es noch nicht. Deshalb bin ich hier. Ich will mit deinem Vater darüber reden. Ich glaube, er ist ein kluger Mann. Ein guter Ratgeber.« Seine Worte unterstrich er mit einem kräftigen Nicken.

»Das ist er auf jeden Fall«, entfuhr es Anneka spontan, und ihre Wangen glühten vor Freude und Stolz.

Leon bemerkte es nicht, so sehr war er mit den Gedanken an seine Zukunft beschäftigt.

»Manchmal glaube ich, dass mein Leben keinen Sinn mehr hat, wenn ich nicht Tennis spielen kann.« Er schickte ihr einen Blick, in dem all seine Hilflosigkeit lag. Anneka spürte, wie sich seine Hand wie Halt suchend in die ihre legte, und sofort schlug ihr Herz noch schneller.

»So was darfst du noch nicht mal denken, geschweige denn sagen«, bat sie ihn inständig. »Mal abgesehen davon, dass nicht gesagt ist, dass du nach einer Operation nicht mehr spielen kannst. Vielleicht geht es ja besser als vorher«, wagte sie eine mutige Prognose. »Du musst einfach kämpfen, Leon! Und dass du das kannst, hast du doch in deinem Sport schon oft genug bewiesen.«

Leon hob den Kopf und sah seiner Freundin aus Kindestagen tief in die Augen. Plötzlich hatten beide den Eindruck, als wären sie auf einer Insel, ganz allein, und nicht inmitten eines Wartezimmers voller Patienten, die sich leise unterhielten, in Zeitschriften blätterten oder nachdenklich vor sich hin starrten.

»Heißt das, dass du an mich glaubst?«, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit leise.

Anneka spürte den Druck seiner Hand. Sie brannte wie Feuer und fühlte sich doch so gut an.

»Natürlich glaube ich an dich«, versicherte sie innig. »Und selbst wenn du nicht mehr Tennisspielen kannst, wird sich ein neuer Weg vor dir auftun. Das Leben hält so viele Überraschungen bereit. Wenn sich eine Tür schließt, öffnen sich dafür andere. Wer weiß, wie viele unerkannte Talente noch in dir schlummern. Du hattest ja noch gar keine Zeit, dich überhaupt kennenzulernen. Vielleicht gibt es ja noch viel Besseres als Tennisspielen, und du weißt es nur noch nicht.«

Staunend und mit großen Augen hatte Leon dieser leidenschaftlichen Rede gelauscht. Er wollte eben zu einer Antwort ansetzen, als Wendy ins Wartezimmer kam und sich suchend umsah.

»Herr Matthes?« Sie entdeckte ihn Hand in Hand mit Anneka und lächelte.

Wie ertappt senkte die Arzttochter die Augen. Doch ihre Hand zog sie nicht zurück.

»Herr Dr. Norden erwartet Sie.« Wendy nickte dem jungen Mann zu und kehrte zurück an den Tresen.

Bevor Leon aufstand, sah er Anneka noch einmal tief in die Augen.

»Jetzt weiß ich, was ich tun muss«, erklärte er im Brustton der Überzeugung. Und ehe es sich Anneka versah, beugte er sich zu ihr hinüber und gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. »Ich danke dir!«

Er drückte ihre Hand noch einmal und stand dann auf, um Wendys Aufruf zu folgen und in Dr. Nordens Sprechzimmer zu gehen. Anneka blieb zurück, wie verzaubert und unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wusste nur eines: So also fühlte sich Liebe an!

Dr. Norden Staffel 3 – Arztroman

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