Читать книгу Dr. Norden Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Oh, schau mal, Dan, sieht das nicht himmlisch aus?« Felicitas Norden saß im Wohnzimmer auf der Couch, die Beine dicht an den Körper gezogen und eingewickelt in eine dicke Decke. Ein gemütliches Feuer prasselte im Kamin, und der Schein der Flammen tanzten über den Reiseprospekt in ihren Händen. Begeistert blickte sie auf die Fotos, die das nächtlich beleuchtete Bangkok, weißen Sandstrand unter Palmen und Elefanten in dichtem Regenwald zeigten. »Thailand weckt alle Sinne seiner Besucher. Wie kein anderes Land bündelt es die ganze Pracht Asiens. Träumen und entspannen Sie sich an romantischen Palmenstränden im Süden. Reisen Sie in den Norden zu Bergvölkern und Elefantencamps inmitten faszinierender Berglandschaften. Lassen Sie sich vom bunten Nachtleben auf den einheimischen Nachtmärkten begeistern.« Fees Augen glänzten, als sie den Prospekt sinken ließ und ihren Mann ansah. »Mal abgesehen davon, dass es in Thailand jetzt schön warm ist, während ich hier langsam und qualvoll erfriere.«

Daniel, der seiner Frau im Sessel gegenüber saß, musterte sie mit einem belustigten Lächeln.

»Trotz einer dicken Decke, mindestens drei Paar Socken an den Füßen und einem heimeligen Kaminfeuer?«, fragte er.

»Das nützt mir ja nichts, wenn ich raus in die Kälte muss«, widersprach Fee leidenschaftlich. »Das Problem an unseren Wintern ist einfach, dass sie immer so lange dauern.«

»Dabei können wir uns hier in Deutschland noch gar nicht beklagen«, gab Dr. Norden zu bedenken. »Immerhin hat Deutschland das insgesamt warmgemäßigte Regenklima der mittleren Breiten«, erinnerte er sich an den Schulstoff, den er neulich erst mit den Zwillingen Janni und Dési gelernt hatte.

»Jaja, ich weiß.« Auch Fee hatte ihre Kinder mehr als einmal abgefragt und wusste den Text noch genau. »Aber die Westströmung wird zum Teil durch langlebige Hochdruckgebiete blockiert. Deshalb kann es bei uns auch zu sehr kalten, langen Wintern kommen«, erklärte sie mit hoch erhobenem Zeigefinger.

»Das heißt im Klartext, dass ich mit dir auf jeden Fall einen Urlaub in Thailand machen muss, wenn ich dich nicht in absehbarer Zeit an den Dauerfrost verlieren will«, verstand Daniel die indirekte Aufforderung.

Während Fee schelmisch lächelte, schälte sie sich aus ihrer Decke und stand auf. Mit wiegenden Schritten ging sie auf ihren Mann zu und setzte sich betont langsam auf Daniels Schoß.

»Das wäre die allerbeste Idee überhaupt. Vor allen Dingen deshalb, weil mein lieber Bruder Mario mir Urlaub verordnet hat. Und wenn wir zwei Wochen in Thailand waren, halte ich sicher auch noch den Rest des Winters durch, und du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen«, erklärte sie weich und streichelte mit der Hand über seine Wange.

Dieser Charmeoffensive hatte Daniel auch nach all den gemeinsam verbrachten Jahren nichts entgegenzusetzen.

»Ich setze mich gleich an den Rechner und suche eine passende Reise für uns aus«, gab er sich gerne geschlagen. »Das Problem ist aber wahrscheinlich, dass wir nicht die einzigen sind, die auf so eine Idee verfallen und in die Wärme flüchten wollen.«

Doch auch für dieses Problem hatte Fee schon eine Lösung parat.

»Deshalb gehen wir am besten zu meiner Freundin Charlotte. Sie hat doch seit Jahren dieses kleine Reisebüro in München, und ich wollte schon immer mal einen Urlaub bei ihr buchen. Mit ihren individuellen Planungen hat sie sich einen Namen gemacht, und ich bin sicher, dass sie uns weiterhelfen kann.«

Thailand war Daniel vollkommen fremd. Die Planung selbst in die Hand zu nehmen würde einen großen Zeitaufwand bedeuten. Schon deshalb war er mit diesem Vorschlag mehr als einverstanden.

»Du hast einfach immer die besten Ideen«, raunte er seiner Frau ins Ohr und konnte ihrem verlockenden Mund nicht länger widerstehen.

Doch lange sollte das Ehepaar nicht ungestört bleiben. Die Diskussion über den geplanten Urlauber hatte Zuhörer auf den Plan gerufen.

»Wie? Ihr fliegt nach Thailand?«, unterbrach Felix, zweitältester Sohn der Familie Norden, den innigen Kuss seiner Eltern unbarmherzig. Mit einem Becher Joghurt in der einen und einem Löffel in der anderen Hand ließ er sich auf die Couch fallen.

Bedauernd löste sich Daniel von seiner Frau, als auch Anneka ins Zimmer kam.

»Da muss ich aber nicht mit, oder?«, fragte sie und bedeutete ihrem Bruder Platz zu machen. »Leon ist erst vor ein paar Tagen aus der Reha entlassen worden. Da kann ich jetzt unmöglich für zwei Wochen von der Bildfläche verschwinden.«

»Ach, muss junge Liebe schön sein!«, säuselte Felix mit verstellter Stimme und erntete einen unsanften Knuff in die Seite.

»Du bist ja nur neidisch, weil Elena dir einen Korb gegeben hat«, konterte Anneka gar nicht schüchtern und schnitt eine Grimasse.

»Na und? Einfach kann jeder. Ich muss nur hartnäckig genug sein und mich richtig ins Zeug legen. Dann KANN sie mir einfach nicht länger widerstehen«, erklärte Felix im Brustton der Überzeugung und wandte sich dann an seine Eltern, die dem freundschaftlichen Zwist der Geschwister belustigt gelauscht hatten. »Deshalb kann ich leider auch nicht mit nach Thailand kommen. Obwohl ich natürlich weiß, dass ein Urlaub ohne mich nur halb so schön ist.«

Nur mit Mühe konnte sich Fee ein lautes Lachen verkneifen. Bevor ihr oder Daniel aber eine passende Antwort einfallen konnte, steckte Janni den Kopf zur Tür herein. Seine Zwillingsschwester Dési folgte ihm auf den Fuß.

»Wer fährt in den Urlaub? Und wann?«, erkundigte sich der Junge interessiert.

Ungläubig schüttelte Fee den Kopf.

»Sagt mal, haben die Wände Ohren oder was ist hier los?«, fragte sie ungläubig. »Euer Vater und ich haben uns einfach nur mal so darüber unterhalten, wie es wäre, wenn wir nach Thailand fliegen würden.«

Als Janni das Ziel der Reise vernahm, verzog er unwillig das Gesicht. »Thailand? Da will ich nicht hin. Da gibt’s Tollwut und Malaria und viele giftige Tiere. Das haben wir bei den Klimasachen und den Vegetationszonen in Erdkunde gelernt. Nein, danke. Ich bleib freiwillig bei Lenni.«

»Wenn ich die Einzige bin, die mitfahren würde, bleib ich auch da«, beschloss Dési daraufhin.

Daniel schickte seiner Frau einen ungläubigen Blick und lachte.

»Na, dann hätten wir ja zumindest diese Frage schon mal geklärt. Wenn überhaupt, dann reisen wir also zu zweit!«

»Das ist ja fast wie Flitterwochen.« Dieser Gedanke war so verführerisch, dass Fees Augen zu leuchten begannen. »Gleich morgen nach der Arbeit gehen wir zu Charlotte Beer und lassen uns ein Angebot machen.«

»Und ich rede mit Danny, ob er die Praxis zwei Wochen lang alleine führen kann«, gab Daniel zurück.

Für ihn spielte die Reise nur eine untergeordnete Rolle. Viel mehr wog die Freude seiner Frau, die ihm wichtiger war als alles andere und für die er noch viel größere Mühen als die Organisation eines gemeinsamen Urlaubs auf sich genommen hätte.

*

Auch am nächsten Morgen herrschte winterliche Kälte, und Bernhard Beer zog fröstelnd die Schultern hoch, als er die Bäckerei Bärwald betrat.

Danny Nordens Freundin, die Orientalistik-Studentin Tatjana Bohde, stand auch an diesem Morgen schon hinter der Theke. Mit der Arbeit in der Bäckerei und dem kleinen, angeschlossenen Café hatte sie sich während ihres Studiums etwas Geld dazu verdient. Inzwischen schrieb sie an ihrer Bachelor-Arbeit, sodass sie noch mehr Zeit in ihrer geliebten Bäckerei verbringen konnte.

»Schönen guten Morgen, Herr Beer«, begrüßte sie ihren Stammkunden mit einem strahlenden Lächeln.

»Sie haben wirklich Humor«, gab Bernhard zurück. Trotz des unfreundlichen Wetters konnte er nicht anders, als Tatjanas Lächeln zu erwidern. »Bei diesem Schmuddelwetter von schön zu reden …«

»Alles eine Frage der Einstellung«, erwiderte Tatjana unbeeindruckt. »New York versinkt beispielsweise gerade im Schneechaos. Und ehrlich gesagt sind mir ein paar Minusgrade und grauer Himmel lieber als meterhohe Schneewände vor der Bäckerei.«

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht«, lachte Bernhard. Tatjanas Charme war unwiderstehlich und zauberte trotz der vielen Probleme, mit denen er sich herumschlagen musste, immer wieder die Sonne in seine Seele.

»Freut mich, dass wir mal wieder einer Meinung sind«, gab sie gut gelaunt zurück und verpackte mit Vergnügen zwei Rosinenschnecken in eine und ein paar Brötchen in eine andere Tüte. »Ich wünsch Ihnen einen schönen Tag!«, verabschiedete sie sich von Herzen.

Sichtlich besser gelaunt als noch ein paar Minuten zuvor machte sich Bernhard Beer auf den Rückweg ins Reisebüro, wo seine Frau bereits am Schreibtisch saß. Als er die Räume betrat, beugte sie sich gerade tief über die Unterlagen eines Reiseveranstalters und tippte Zahlen in den Taschenrechner, der neben ihr auf dem Schreibtisch lag.

»Schau mal, ich hab uns Brötchen und was Süßes besorgt.« Zum Beweis hielt er die beiden Tüten hoch.

Doch Charlotte hob noch nicht einmal den Kopf.

»7345 Euro und 20 Cents … keine Zeit … 8457,40 Euro«, murmelte sie gedankenverloren.

Seufzend ließ Bernhard die Arme sinken und betrachtete seine Frau mit sichtlicher Sorge.

»Du gönnst dir noch nicht mal mehr ein Frühstück. Dabei ist das die wichtigste Mahlzeit des Tages.«

»Das ist ein Ammenmärchen«, erwiderte Charlotte und schrieb die eben ausgerechnete Summe unter die Aufstellung, die vor ihr lag. »Außerdem sagte ich doch schon, dass ich keine Zeit habe. In einer halben Stunde kommen die ersten Kunden zur Beratung. Bis dahin muss ich das hier fertig haben.«

»Aber du musst auf dich aufpassen«, bemerkte Bernhard. Mit den Tüten ging er hinüber in die kleine Küche, die an das große, offene Büro angrenzte. »Trinkst du wenigstens einen Kaffee mit mir?«

»Ja!«, kam zumindest diesmal eine positive Antwort.

Charlotte legte den Stift zur Seite und hob endlich den Kopf. Durch die geöffnete Tür hindurch sah sie ihrem Mann dabei zu, wie er Kaffeepulver in den Filter löffelte. »Aber warum sollte ich auf mich aufpassen? Doch nur, damit ich den Laden in Schuss halte.« Ihre Stimme klang überraschend grimmig.

Nur mit Mühe konnte Bernhard ein ungläubiges Lachen zurückhalten. Wenn Charlotte wüsste … Aber sie wusste nicht, und genau das war ja seine Absicht gewesen.

»Nein, nicht wegen des Ladens. Ganz einfach deshalb, weil ich dich liebe«, sagte er mit so unerwartet warmer Stimme, dass Charlotte milder gestimmt wurde.

»Das hast du schön gesagt, mein Lieber.« Ein kurzes Lächeln ließ ihre weißen Zähne aufblitzen, ehe ihre Gedanken sofort weiter eilten. »Apropos Liebe. Was ist eigentlich mit unserer Tochter? Kommt sie heute Abend vorbei, um dir mit dem Computer zu helfen?«

»Du glaubst doch nicht etwa im Ernst, dass Teresa ein Versprechen vergisst?«

»Nein, leider nicht, da hast du recht.« Charlotte schnitt eine Grimasse. Im Gegensatz zu ihrem Mann schien sie sich über den angekündigten Besuch nicht zu freuen. »Dann muss ich mir heute Abend also mal wieder anhören, was ich alles mit dem Geschäft falsch mache.«

Gurgelnd und leise zischend lief der Kaffee durch die Maschine in die Kanne auf der Warmhalteplatte. Bernhard holte zwei Tassen und einen Teller aus dem Schrank und seufzte.

»Jetzt sieh doch nicht immer alles so schwarz und lass die alten Streitereien ruhen«, bat er seine Frau.

Doch Charlotte war weit davon entfernt, auf ihren Mann zu hören.

»Seit Teresa Tourismuswirtschaft studiert hat, hält sie sich doch für was Besseres«, bemerkte sie bitter und rieb sich die trotz der frühen Stunde müden Augen. »Mit einem kleinen Reisebüro gibt sie sich doch gar nicht erst ab.«

»Sie geht eben einen anderen Weg«, versuchte Bernhard wie immer, Charlotte zu besänftigen, als das Telefon klingelte. Sie zuckte mit den Schultern und griff zum Hörer. Als sie die Stimme ihrer Freundin Fee Norden hörte, wurde ihre Miene wenigstens ein bisschen freundlicher.

»Fee, meine Liebe, wie geht es dir?«, fragte sie in den Hörer, während Bernhard Kaffee in die beiden Becher schenkte. Als er mit einem Tablett in den Händen zurückkehrte, hatte Charlotte das Telefonat beendet.

»Na bitte, so schlecht, wie ihr immer sagt, scheint mein Service doch gar nicht zu sein!«, frohlockte sie und ließ sich sogar dazu hinreißen, mit spitzen Fingern ein klebriges Stück von der verlockenden Rosinenschnecke abzureißen, die Bernhard auf dem Teller angerichtet hatte. »Heute Abend kommen Fee und Daniel vorbei. Sie wollen sich eine Thailand-Reise ausarbeiten lassen.«

Bernhard hatte einen tadelnden Kommentar auf den Lippen, den er sich aber wohlweislich verkniff. Stattdessen zwang er sich ein Lächeln ins Gesicht und reckte den Daumen der rechten Hand in die Höhe zum Zeichen, dass er sich über diesen Erfolg freute, so klein er auch sein mochteund so wenig er über die Schieflage hinweg helfen konnte, in die das kleine Reisebüro in den letzten Jahren geraten war.

*

»Du willst Leon also mit einem raffinierten Outfit überraschen?«, fragte Tatjana Bohde, als sie an diesem Nachmittag mit Anneka Norden durch die Fußgängerzone der Münchner Innenstadt schlenderte.

Aufgeregt tänzelte die junge Frau neben ihrer erwachsenen Freundin her.

»Findest du das blöd?«, fragte sie unsicher und sah Tatjana von der Seite an. »Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Da dachte ich mir, dass es ihm vielleicht gefällt, wenn ich irgendwie besonders aussehe.« Vor Verlegenheit und Kälte glühten ihre Wangen in schönstem Rot. »Besonders sexy«, fügte sie so leise hinzu, dass Tatjana es kaum hörte.

Doch das hatte die sich ohnehin schon gedacht.

»Ich finde, dass das eine tolle Idee ist«, versuchte sie, Anneka zu beruhigen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Das hab ich mit Danny auch schon gemacht. Komm schon, ich weiß, wo es das Richtige für deine Zwecke gibt.« Sie nahm Anneka an der Hand und zog sie mit sich in Richtung des Kaufhauses, in dem sich bestimmt etwas Passendes für den Empfang des jungen Tennisstars finden lassen würde.

Durch Zufall hatte Leon Matthes seine Sandkastenfreundin Anneka im Wartezimmer der Praxis Dr. Norden wiedergetroffen. Sie war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass er sich zu der riskanten Operation seines Bandscheibenvorfalls entschieden hatte. Nach dem erfolgreichen Eingriff und der anschließenden Rehabilitation auf der Insel der Hoffnung konnte der aufstrebende Sportler endlich wieder nach Hause zurückkehren. Diesem Augenblick fieberte Anneka seit Wochen entgegen. Endlich würde sie die zarte Liebe leben können, die sie mit Leon verband. Zumindest hoffte sie das nach der langen, sehnsüchtigen Zeit inständig.

Zum Glück fand sie in Tatjana eine verständnisvolle, schwesterliche Freundin, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stand.

»Kannst du mir mal erklären, was an diesem winzigen Stück Stoff dreißig Euro kostet?«, fragte Anneka unwillig, als sie eine halbe Stunde später eine hübsch gemusterte Tasche aus dem Kaufhaus trug.

»Weil das der Stoff ist, aus dem Männerträume sind«, erwiderte Tatjana amüsiert. »Mal abgesehen davon, dass ich dreißig Euro für dieses süße Spitzenshirt nicht zu teuer finde. Leon werden die Augen aus dem Kopf fallen.«

»Na, hoffentlich nicht«, gab Anneka so überraschend trocken zurück, dass Tatjana den Kopf in den Nacken warf und lauthals lachte. »Dann wäre ja alles umsonst gewesen.«

»Das stimmt allerdings.« Tatjana wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Um der Kälte zu entkommen und den Einkauf noch einmal in aller Ruhe zu begutachten, winkte sie die Schwester ihres Freundes in ein nettes kleines Café.

Sie suchten sich zwei Plätze in einer ruhigen Ecke und bestellten heiße Schokolade und Sahnetorte.

»Ist das Shirt auch wirklich das Richtige?« Anneka war noch immer nicht überzeugt von ihrem Einkauf.

»Du siehst absolut fantastisch darin aus. Die schwarze Spitze passt wunderbar zu deinen hellblonden Haaren, und der enge Schnitt betont deine schöne schlanke Figur«, versicherte sie innig.

Trotzdem blieb Anneka skeptisch. Sie wusste selbst nicht, warum ihr plötzlich ihr Selbstbewusstsein abhanden gekommen war.

»Ich wäre gerne so toll wie du«, erklärte sie leise und mit einem sehnsüchtigen Blick auf Tatjana.

Die winkte lachend ab.

»Der Vergleich ist der Tod des Glücks«, entgegnete sie munter. »Und so toll bin ich nun auch wieder nicht. Es gibt genügend Stellen an meinem Körper, die mir nicht gefallen.«

»Haha, das glaubst du ja selbst nicht.« Anneka trank einen Schluck heiße Schokolade. »Wann immer Danny dich zu Gesicht bekommt, verschlingt er dich mit Blicken. Ich wünsche mir so sehr, dass Leon mich eines Tages auch so ansieht.«

»Nur Geduld, meine Süße, nur Geduld. Wenn er erst vor dir steht, wirst du sehen, dass sich alle Mühe gelohnt hat«, lächelte Tatjana mitfühlend.

Zu gut erinnerte sie sich an die erste Zeit mit dem jungen Arzt, als ihre Liebe noch zart und empfindlich wie ein kleines Pflänzchen gewesen war. Anders als Anneka hatte Tatjana ihre Unsicherheit damals hinter Schlagfertigkeit und frechen Kommentaren versteckt. Das bedeutete aber nicht, dass sie sich anders gefühlt hatte als ihre junge Freundin. »Wie hast du dir euer Wiedersehen denn überhaupt vorgestellt?«, fragte sie dann, um endlich von diesem heiklen Thema abzulenken.

»Gleich nach der Entlassung morgen hat Leon ein Gespräch mit dem Trainer seiner neuen Mannschaft. Danach treffen wir uns so gegen elf Uhr in einem Café. Aber ich bin wirklich aufgeregt.« Anneka schickte der unauffälligen Tüte auf dem Stuhl neben sich einen weiteren zweifelnden Blick. Doch im Grund genommen war sie ein klarer Mensch. Wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte, konnte sie so schnell nichts mehr davon abbringen. Das würde auch diesmal so sein, und als die beiden Frauen Seite an Seite das Café verließen, blickte Anneka schon deutlich positiver in die Zukunft.

*

»Fee, Daniel, wie schön, euch wieder mal zu sehen!« Freudestrahlend eilte Charlotte Beer auf ihre Jugendfreundin zu, als die am Abend Seite an Seite mit ihrem Mann in das kleine Reisebüro trat. »Wie geht es euch?« Sie umarmten sich zur Begrüßung.

»Sehr gut!« Dankend nahm Fee auf einem bequemen Stuhl vor Charlottes Schreibtisch Platz.

»Aber schlecht genug, dass wir dringend einen Urlaub in Thailand brauchen«, ergänzte Daniel augenzwinkernd und setzte sich neben seine Frau.

Als Bernhard die Stimmen seiner Freunde hörte, kam er aus dem Lagerraum, der sich im hinteren Teil der großzügigen Bürofläche befand.

»Daniel, Fee, ihr habt also tatsächlich den Weg in unsere heiligen Hallen gefunden!«, scherzte er und begrüßte das Arztehepaar fröhlich.

In seine Worte hinein klingelte das kleine Glöckchen über der Tür, und, er drehte sich um.

»Ach, Teresa, du bist schon hier?«

»Ich hoffe, ich bin nicht zu früh«, entschuldigte sie sich schnell mit Blick auf die Kundschaft und drückte ihm links und rechts einen Kuss auf die Wange. »Aber ich hab nachher noch einen dringenden Geschäftstermin. Deshalb dachte ich, ich schau jetzt schon vorbei.«

»Gar kein Problem. Du kennst doch unsere Freunde, die Nordens?« Bernhard deutete auf Fee und Daniel.

»Natürlich.« Lächelnd begrüßte Tessa das befreundete Ehepaar und küsste dann auch ihre Mutter auf beide Wangen. »Hallo, Mama.« Keinem blieb verborgen, dass diese Begrüßung wesentlich steifer ausfiel.

Um einer peinlichen Situation vorzubeugen, wandte sich Fee interessiert an die junge Frau.

»Schön, Sie zu sehen, Teresa. Ihre Mutter hat uns erzählt, dass Sie Ihr Studium der Tourismuswirtschaft erfolgreich abgeschlossen haben.«

Teresa nickte.

»Vor einem halben Jahr schon. Seitdem arbeite ich als Tourismusmanagerin im Vertrieb und Marketing eines Reiseunternehmens«, erklärte sie bereitwillig und mit deutlichem Stolz in der Stimme.

Niemand bemerkte, wie sich Charlottes Miene mehr und mehr verdunkelte. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die zielstrebige junge Frau.

»Interessant. Was machen Sie denn da genau?« Daniel Norden hatte keine Vorstellung von diesem Berufsfeld, und Teresa gab nur zu gern Auskunft.

»Ich bin von der Organisation bis zur Durchführung und Kontrolle von Vertriebsmaßnahmen zuständig«, erläuterte sie, während ihr Vater mit stolzgeschwellter Brust neben ihr stand. »Das klassische Beispiel ist der Katalog, der zweimal im Jahr produziert wird. Für die Produktion fahre ich mehrmals im Jahr auf sogenannte Informationsreisen. Dabei untersuche ich angebotene Hotels, Kreuzfahrtschiffe oder Appartements und Ferienwohnungen.«

»Ein Traumjob!«, schwärmte Fee. »Vielleicht sollte ich vom Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie doch zur Tourismusmanagerin umschwenken.«

Bernhard lachte.

»Das, was nach Urlaub und Erholung in der Sonne klingt, ist dummerweise harte Arbeit«, gab er zu bedenken, und Teresa nickte.

Sie stand immer noch neben dem Schreibtisch ihrer Mutter, die gar nicht daran dachte, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Mit verschlossener Miene saß Charlotte am Schreibtisch, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, und starrte vor sich hin.

»Meine Aufgaben liegen beispielsweise in der Qualitätssicherung oder aber der Organisation von Fotoshootings für den neuen Katalog. Neben allem Stress komme ich dabei aber auch in Kontakt mit vielen verschiedenen Menschen und muss mich in vielen Regionen und Sprachen zurechtfinden. Das reizt mich an meiner Arbeit besonders.«

»Das klingt ja auch wirklich sehr interessant«, bestätigte Fee und nippte an ihrem Glas Wasser, das Bernhard, zuvorkommend, wie er war, inzwischen ungefragt serviert hatte. »Dieses Reise-Gen scheint in der Familie zu liegen.«

Diesen Verdacht konnte Bernhard nur bestätigen.

»Schon Charlottes Vater war ein Pionier in Sachen Reisen. Als einer der ersten überhaupt ist er mit dem Motorrad um die Welt gefahren. Das war wirklich ein toller Typ!«

»Ganz im Gegensatz zu mir, meinst du wohl?«, entfuhr es Charlotte in diesem Moment. Die ganze Zeit hatte sie sich nicht am Gespräch beteiligt, und ihr Kommentar kam so überraschend, dass alle Köpfe zu ihr herumfuhren.

Unwillig schnalzte Teresa mit der Zunge.

»Nein, meine ich nicht«, erwiderte sie betont sanft. »Das, was ich kann, hab ich unter anderem von dir gelernt. Schon vergessen? Und ich bin stolz darauf, die Familientradition fortzusetzen. Mein Chef ist jedenfalls ganz begeistert von mir.« Ihr stolzes Lächeln bestätigte ihre Worte.

Doch ihre Mutter hatte einen anderen Eindruck.

»Wenn dir wirklich was an Tradition liegen würde, würdest du das Reisebüro hier übernehmen«, gab Charlotte unerwartet schroff zurück.

Bernhard, der seine Frau und den Grund der Diskussion mehr als genau kannte, mischte sich an dieser Stelle ein.

»Bitte lass es gut sein, Charly. Nicht heute«, bat er sie inständig.

Doch Charlotte schien ihn gar nicht zu hören.

»Wirklich schade, dass meine Kunden keine Millionen haben, um exklusive Weltreisen zu buchen«, steigerte sie sich unversehens in die alte, bekannte Wut hinein. Dabei schien sie völlig vergessen zu haben, dass Daniel und Fee auch noch da waren.

Im Gegensatz zu seiner Frau entgingen Bernhard die betroffenen Mienen der gemeinsamen Freunde nicht. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er die Situation entschärfen konnte. Schließlich legte er sanft, aber bestimmt die Hand auf Teresas Arm und lächelte sie freundlich an.

»Wirklich schön, dass du gekommen bist.«

Sie verstand seine Absicht, lächelte friedfertig und beugte sich über die Thailand-Unterlagen, die Charlotte schon am Nachmittag für Daniel und Fee Norden vorbereitet hatte.

»Da hast du ja eine richtig tolle Reise zusammengestellt«, versuchte sie, ihre Mutter friedlich zu stimmen.

Vergeblich, wie sich gleich darauf herausstellen sollte.

»Aber nicht schön genug für dich!«, ließ Charlottes Kommentar nicht lange auf sich warten. »Dafür leben dein Vater und ich ganz gut davon.« Sie war so aufgebracht und voller Minderwertigkeitsgefühle, dass sie das Arztehepaar völlig vergessen hatte.

Langsam verlor Teresa die Geduld. Während sich Fee und Daniel am liebsten unsichtbar gemacht hätten, stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte ihre Mutter an.

»Kann ich eigentlich kein einziges Wort sagen, ohne dass du dich persönlich angegriffen fühlst?«, fauchte sie wütend, enttäuscht und verletzt.

Zum Leidwesen ihres Mannes dachte Charlotte nicht daran, klein beizugeben.

»Du bist doch nur gekommen, um dich über mich lustig zu machen«, griff sie ihre Tochter so zornig an, dass sich Bernhard genötigt fühlte, sich schützend vor Teresa zu stellen.

»Entschuldige, wenn ich das jetzt sagen muss. Aber ich finde, dass du schon sehr empfindlich bist.« Seine Stimme war freundlich, trotzdem schäumte Charlotte vor Wut.

»Natürlich bist du auf ihrer Seite!«, rief sie und schlug mit den Handflächen auf den Tisch. »War ja klar! Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!« Charlotte zitterte am ganzen Körper, als sie sich an Teresa wandte. »Und du verschwindest jetzt am besten hier!«

Fassungslos starrte die junge Frau ihre Mutter an.

»Das ist ja wohl die absolute Höhe!« Ihre Stimme überschlug sich, und sie drehte sich abrupt um, um aus dem Reisebüro zu stürmen.

Und auch Bernhard konnte es nicht fassen. Er schickte seiner Frau einen entsetzten Blick, ehe er sich einen Ruck gab und Teresa nachlief.

»Bitte nicht! Bleib hier!« Bevor sie die Tür öffnen konnte, griff er nach ihrem Arm.

Doch sie war so wütend, dass sie reflexartig zu ihrem Vater herumfuhr und ihm einen unsanften Stoß verpasste.

»Ich bleibe nicht …« Weiter kam Teresa nicht. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie dabei zu, wie ihr Vater rückwärts taumelte und mit den Armen ruderte. Vergeblich! Ehe Daniel oder Fee reagieren konnten, stolperte Bernhard über die Teppichkante und stürzte mit einem Aufschrei zu Boden. Vor Schreck war Charlotte vom Stuhl aufgesprungen. Fassungslos starrte sie auf ihren Mann, der reglos liegen geblieben war.

»Papa!« Teresas Stimme gellte durch das Reisebüro. Doch ehe sie Gelegenheit hatte, Bernhard zu Hilfe zu eilen, war Dr. Norden schon zur Stelle.

Während er sich neben den bewusstlosen Freund auf den Boden kniete, zog Fee das Telefon aus der Tasche, um einen Wagen aus der Behnisch-Klinik anzufordern. Erst dann lief sie und holte die Arzttasche aus dem Kofferraum.

*

»Der Patient heißt Bernhard Beer, 56 Jahre alt, Sturz auf den Hinterkopf, initial bewusstlos«, erklärte Dr. Norden dem behandelnden Arzt in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik sachlich. Er hatte den Transport begleitet und wich auch jetzt nicht von Bernhards Seite. Fee kümmerte sich inzwischen um ihre Freundin Charlotte und die Tochter Teresa, die dem Krankenwagen im Wagen der Nordens gefolgt waren. »Verdacht auf Hirntrauma, Atmung und Kreislauf stabil. Offenbar keine weiteren Verletzungen.«

Jenny Behnisch war zufällig in der Notaufnahme. Als sie die bekannten Stimmen hörte, kam sie rasch herbei.

»Danke, Kollege Fritsch. Ich übernehme das hier«, teilte sie ihrem Mitarbeiter mit. Widerspruchslos überließ er ihr das Feld.

Während sie eine kleine Taschenlampe aus der Kitteltasche zog, begrüßte Jenny ihren langjährigen Freund und Kollegen Daniel. Dann wandte sie sich dem Patienten zu.

»Die Pupillen reagieren sehr träge«, stellte sie mit deutlicher Sorge im Gesicht fest.

»Vorhin war Bernhard kurz bei Bewusstsein. Trotzdem besteht der Verdacht einer Hirnblutung«, teilte Daniel Norden ihr seine Befürchtung mit.

»Das sehe ich ähnlich«, nickte die Klinikchefin ernst und drehte sich zu der Schwester um, die neben der Liege im Behandlungsraum stand und auf Anweisungen wartete. »Bitte sagen Sie in der Radiologie Bescheid. Wir brauchen Aufnahmen vom Schädel. Und dann bereiten Sie bitte den OP vor.«

Froh, sich nützlich machen zu können, eilte die Schwester zum Telefon, um die Aufträge der Chefin sofort auszuführen. Dann schob sie die Liege mit dem immer noch bewusstlosen Bernhard Beer aus dem Behandlungszimmer.

Während Jenny und Daniel zurückblieben und sich leise über den zu erwartenden Eingriff unterhielten, warteten Charlotte und Teresa vor dem Behandlungsraum. Fee hatte die Gelegenheit genutzt, um kurz auf der Kinderstation nach dem Rechten zu sehen.

Als Charlotte ihren Mann kalkweiß im Bett liegen sah, erschrak sie. Sie machte einen Schritt nach vorn.

»Bernhard!«

Teresa dagegen wirkte relativ gefasst. Nur das Zucken um ihre Mundwinkel verriet, was in ihr vorging. Im Gegensatz zu ihrer Mutter sagte sie kein Wort.

»Lassen Sie uns bitte durch«, verlangte die junge Schwester freundlich, aber bestimmt.

Es war Eile geboten, und beschämt machte Charlotte Platz.

»Natürlich.« Hilflos blickte sie dem kleinen Transport nach.

Teresa hatte unterdessen die beiden Ärzte bemerkt, die der Schwester mit kurzem Abstand gefolgt waren.

»Herr Dr. Norden, wie geht es Papa?«, stellte sie die alles entscheidende Frage.

»Ihr Vater hat wahrscheinlich eine Hirnblutung erlitten.«

Auch Charlotte hörte diese Worte.

»Eine Hirnblutung?«, wiederholte sie ängstlich.

Jenny nickte.

»Wenn sich der Verdacht bestätigt, müssen wir sofort operieren«, übernahm Jenny Behnisch das Wort. »Leidet Ihr Mann unter Allergien oder Bluthochdruck? Nimmt er irgendwelche Medikamente oder ist er zuckerkrank?«

»Nein, nichts dergleichen.« Charlotte schüttelte den Kopf. »Bis jetzt war Bernhard immer kerngesund.«

Wenigstens das war eine gute Nachricht.

»Gut.« Jenny Behnisch gab Daniel ein Zeichen, ihr zu folgen. »Wir halten Sie auf dem Laufenden.« Schon wollte sie sich abwenden, als Charlotte sie mit einer Frage zurückhielt.

»Muss das denn sein? Ich meine, eine Operation?«

Daniel und Jenny tauschten vielsagende Blicke.

»Unserer Ansicht nach ist die Blutung zu groß, als dass sie von selbst weggehen könnte. Wenn wir abwarten, riskieren wir bleibende Schäden.«

»Aber bei einer Operation kann doch auch was passieren«, wehrte sich die besorgte Ehefrau mit aller Macht gegen den drohenden Eingriff, als sie spürte, wie sich eine Hand auf ihren Arm legte.

»Mama, natürlich wird Papa operiert«, klang die leise, aber entschiedene Stimme ihrer Tochter an ihr Ohr. Gleichzeitig sah Teresa die beiden Ärzte an und nickte.

Da die Zeit drängte, lag es Jenny am Herzen, die Diskussion zu beenden.

»Wir halten Sie auf dem Laufenden!«, erklärte sie und wandte sich endgültig ab.

Dr. Norden folgte ihr, nachdem er Charlotte noch einmal Mut zugesprochen hatte.

Dann eilten die beiden Ärzte davon, und Mutter und Tochter blieben allein auf dem Flur zurück, die Herzen voller Angst, aber dennoch unfähig, wenigstens für den Moment Frieden mit der Vergangenheit zu schließen.

*

Die Nacht in der Klinik zog sich in die Länge, und es war schon spät, als das Ehepaar Norden endlich nach Hause kam. Glücklicherweise war der nächste Tag ein Samstag, sodass Fee und Daniel ausschlafen konnten. Auch die anderen Bewohner des Hauses Norden nutzten die günstige Gelegenheit, um so lange wie möglich im Bett zu bleiben.

Nur Anneka geisterte seit dem frühen Morgen durchs Haus. Heute war der große Tag: Endlich würde sie ihren Freund Leon wiedersehen! Sie war aufgeregt wie ein kleines Kind vor Weihnachten und hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan.

Um die Spuren der Übernächtigung zu tilgen, war sie schon eine Runde joggen gegangen, hatte geduscht und sich drei Mal geschminkt und wieder abgeschminkt. Erst beim vierten Versuch war sie mit dem Ergebnis zufrieden und ging in ihr Zimmer, um das neu erstandene Shirt anzuziehen. Skeptisch drehte sie sich vor dem Spiegel am Schrank hin und her.

»O Mann, wenn ich nur wüsste, ob Leon das gefällt«, seufzte sie. Je länger sie über diese Frage nachdachte, desto unsicherer wurde sie. »Vielleicht ist das doch viel zu gewagt, und er hält mich für aufdringlich.« Ohne ihr Spiegelbild aus den Augen zu lassen, strich Anneka mit den Fingern über den zarten Spitzeneinsatz des Shirts. Dann gab sie sich einen Ruck und wandte sich ab. »Schluss damit! Wenn ich noch lange überlege, ziehe ich mich aus und leg mich wieder ins Bett«, schalt sie sich selbst und setzte sich an den Schreibtisch, um die letzte Stunde Wartezeit bis zu Leons Rückkehr mit Lernen zu überbrücken.

Der Plan misslang gründlich, und als Anneka sich endlich gegen elf Uhr auf den Weg in das Café machte, in dem sie sich verabredet hatten, hatte sie gerade mal eine Seite im Geschichtsbuch gelesen.

Pünktlich auf die Minute betrat sie das Café. Wie ein aufgeregter kleiner Vogel flatterte ihr Herz in ihrer Brust. Doch so gründlich sich Anneka auch umsah, so wenig konnte sie Leon entdecken.

»Na ja, ich bin ja auch ein bisschen zu früh dran«, murmelte sie.

Obwohl sie ein pünktlicher Mensch war und ihr diese Eigenschaft auch bei anderen Menschen wichtig war, mahnte sie sich zur Geduld. Sie wählte einen Tisch am Fenster des Cafés, damit sie Leon sofort sehen konnte. Um die Zeit zu überbrücken, bestellte sie Milchkaffee. Essen konnte sie nichts. Dazu war sie viel zu aufgeregt. Während Anneka an ihrem Kaffee nippte, starrte sie wie paralysiert nach draußen auf die Menschen, die durch die Fußgängerzone liefen. Manche hatten es eilig, andere schlenderten gemütlich zu zweit oder in kleinen Gruppen über das Pflaster. Doch so sehr sie auch Ausschau hielt, so wenig war etwas von Leon zu sehen.

»Sein Handy hat er ausgeschaltet!«, stellte sie mit einem ratlosen Blick auf ihr Mobiltelefon fest.

Seit fast einer Stunde saß Anneka im Café und wartete vergeblich auf ihren Freund. In dem Augenblick, als sie zutiefst enttäuscht die Geldbörse zückte, um das Getränk zu bezahlen und dann zu gehen, bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Gestalt.

»Anneka, wie gut, dass du noch da bist«, keuchte Leon Matthes atemlos, als er an den Tischt trat.

Doch ihre Aufregung war inzwischen einer gesunden Wut gewichen, und sie sah ihn von unten herauf strafend an.

»Wir waren um elf Uhr verabredet«, erinnerte sie ihn erbarmungslos und drehte den Kopf weg, als er sich über sie beugen und sie auf den Mund küssen wollte. »Jetzt ist es fast halb eins. Darf ich erfahren, wo du jetzt herkommst?«

Trotz seiner Verspätung hatte der erfolgsverwöhnte Leon nicht mit diese Begrüßung gerechnet. Verstimmt ließ er sich auf den freien Stuhl auf der anderen Seite des Tisches fallen.

»Tut mir leid, aber ich konnte nicht früher kommen«, erklärte er sichtlich beleidigt.

»Schon mal was davon gehört, Bescheid zu sagen? Oder wenigstens eine Nachricht zu schicken?«

»Mein Akku vom Handy ist leer«, rechtfertigte sich Leon schnell. »Ich hatte keine Gelegenheit, ihn irgendwo aufzuladen.« Seine Tonfall war so ernst, fast dramatisch, dass Anneka ihm einen fragenden Blick schickte.

Empathisch, wie sie war, verflog ihr Ärger fast sofort und machte einer vagen Sorge Platz.

»Was war denn los?«, erkundigte sie sich.

Leon zögerte und wich Annekas Blick aus.

»Du weißt doch, dass ich mit meinem neuen Trainer gesprochen habe.«

»Du hast sowas erwähnt.« Vergessen war das hübsche Shirt, das ihr so gut zu Gesicht stand. Und auch Leon hatte es nicht bemerkt.

»Ja, genau.« Um seinen nervösen Händen etwas zu tun zu geben, griff er nach einem der Zahnstocher, die verpackt in einem Halter auf dem Tisch standen. »Nachdem ich grünes Licht von Dr. Hofmann von der Rehaklinik bekommen habe, soll ich nächste Woche mit nach Australien fliegen.« Leon wusste genau, dass Anneka entsetzt sein würde. Deshalb fügte er gleich hinzu: »Nach dem Bandscheibenvorfall ist das eine Wahnsinnschance für ein Comeback. Die Leute werden sehen, dass ich wieder da bin. Sie werden sich an mich erinnern. Und wenn es mir gelingt, mich auf einen der vorderen Plätze zu spielen, wäre das natürlich genial.« Für ihn selbst klangen seine Worte mehr als verführerisch und Leons Augen leuchteten, als er den Kopf hob und Anneka ansah.

»Ist das nicht toll?«, fragte er aufgeregt. Er ahnte nicht, dass sich augenblicklich der Kummer bleischwer auf ihre Seele gelegt hatte.

»Super!«, antwortete sie matt. Einen Moment musste Anneka daran denken, wie schön sie sich das Wiedersehen mit ihrem Freund ausgemalt hatte. Nach dem Cafébesuch hatte sie Hand in Hand mit ihm durch die Fußgängerzone schlendern und Pläne schmieden wollen. Doch dieser Traum zerplatzte in diesem Augenblick wie eine schillernde Seifenblase. »Nächste Woche schon?«, fragte sie der Form halber nach. Es fiel ihr schwer, die Begeisterung ihres Freundes zu teilen.

Endlich schien Leon zu bemerken, dass etwas ganz und gar nicht stimmte mit Anneka. Er beugte sich über den Tisch und griff nach ihren eiskalten Händen.

»Komm schon! Mach nicht so ein Gesicht!«, bat er sie inständig. »Es sind doch nur ein paar Wochen. Ich dachte, du freust dich, dass die Operation geglückt ist und ich meine Karriere fortsetzen kann.«

»Ja, schon«, räumte Anneka zögernd ein. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Natürlich freute sie sich irgendwie für ihn. Andererseits hatte sie gehofft, ihm ein ganz neues Leben zeigen zu können, nachdem seine ganze Kindheit und Jugend dem Tennissport zum Opfer gefallen war. »Aber wir hatten doch so viele Pläne … wollten einen Tanzkurs machen und zusammen den Klettergarten unsicher machen. Mit Freunden ausgehen und ins Kino … Sachen eben, die man macht, wenn man jung und unbeschwert ist«, erinnerte sie ihn vorsichtig an die Pläne, die sie in der Klinik und während seines Reha-Aufenthalts am Telefon geschmiedet hatten. Das sollte jetzt alles hinfällig sein?

Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Leon genervt die Hände zurückzog und sich zurücklehnte.

»Du tust ja gerade so, als wäre ich aus der Welt!«, beschwerte er sich unwillig und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. »Mensch, Anneka, es geht um ein paar Wochen, dann bin ich wieder da.«

»Bis das nächste Turnier kommt«, bemerkte sie bitter.

Leon betrachtete sie und sagte nichts mehr. Schließlich sah er auf die Uhr und seufzte.

»Ich muss leider schon wieder los. Der neue Trainer will mit mir noch ein paar Einzelheiten durchsprechen«, erklärte er schuldbewusst.

»Schon gut.« Anneka winkte ab und drehte sich zu ihrer Jacke um, die hinter ihr über der Stuhllehne hing. Leon hatte ihr hübsches Oberteil noch nicht einmal bemerkt und Tatjana sich getäuscht. »Ich wollte eh heimgehen. Meine Eltern planen eine Reise nach Thailand, bei der ich unbedingt dabei sein will. Heute sehen wir mal die Unterlagen durch«, erfand sie schnell eine Ausrede, die auf den zweiten Blick gar nicht so schlecht war.

Mit Genugtuung bemerkte Anneka, wie Leon das Gesicht verzog.

»Du willst nach Thailand?«, fragte er unwillig und hielt ihr die Tür auf. »Und was, wenn ich in dieser Zeit in Deutschland bin?«

Obwohl Anneka gar nicht zum Lachen zumute war, verspürte sie in diesem Augenblick den Drang, laut aufzulachen.

»Dann hast du wohl einfach Pech gehabt«, erwiderte sie, ehe sie mit hoch erhobenem Kopf aus der Tür hinaus stolzierte und Leon einfach stehen ließ.

Ungläubig starrte er ihr nach und haderte mit sich. Am liebsten wäre er ihr nachgelaufen und hätte sie zurückgehalten. Doch die Uhrzeit saß ihm im Nacken, und der neue Trainer wartete. So drehte sich Leon schließlich schweren Herzens um, steckte die Hände tief in die Jackentaschen und ging davon, während Anneka außer Sichtweite in heiße Tränen ausbrach.

*

Obwohl Wochenende war, fuhr Dr. Daniel Norden auch an diesem Samstagvormittag in die Klinik. Der Gesundheitszustand von Bernhard Beer besorgte das Ehepaar Norden, und Daniel versprach seiner Frau, sich zu melden, sobald er Neuigkeiten erfahren hatte. Doch bevor er Bernhards Zimmer erreichte, traf er auf Schwester Johanna. Sie gehörte quasi zum Inventar der Behnisch-Klinik und freute sich immer, den beliebten Arzt zu treffen.

»Sieh mal einer an, der gute Doktor Norden«, begrüßte sie ihn erfreut, als sie ihm auf dem Flur begegnete. »Wohin des Wegs?«

»Wie immer zu einem Patienten, liebe Schwester Johanna«, erwiderte Daniel leutselig und hielt ihr galant die Tür auf.

»Dann sehen Sie sich mal vor«, warnte Johanna ihn. »Ich hatte heute schon eine bemerkenswerte Begegnung mit einem störrischen Patienten.« Während sie sprach, blitzten und funkelten ihre kleinen Äuglein munter.

»Tatsächlich? Was ist passiert?« Obwohl Daniel es ein bisschen eilig hatte, wollte er die mitteilungsbedürftige Schwester nicht vor den Kopf stoßen.

»Stellen Sie sich vor, trotz der winterlichen Temperaturen wollte der Mann einen Ventilator anmachen, den er von zu Hause mitgebracht hat. Er meinte, er könnte sonst nicht einschlafen. Und schwupps, hatte er ihn eingeschaltet.«

Obwohl Daniel der Witz an dieser Geschichte verborgen blieb, lächelte er pflichtschuldig.

»Manche Patienten sind einfach unverbesserlich«, bemerkte er, als Schwester Johanna die Hände hob.

»Gemach, gemach, lieber Doktor. Die Pointe kommt er erst noch«, machte sie ihn freundlich aufmerksam. »Der gute Mann hat nämlich vor ein paar Tagen einen riesigen Blumenstrauß geschenkt bekommen, der nicht mehr ganz frisch war. Als er den Ventilator angeschaltet hat, war’s um die schöne Pracht natürlich geschehen. Sie hätten das Gesicht des guten Mannes sehen sollen, als er sich in einem Bett aus Blütenblättern wiedergefunden hat.«

Diese Vorstellung war so komisch, dass Daniel tatsächlich lachen musste. »Das muss wirklich ein lustiger Anblick gewesen sein!«

»Ein Bild für die Götter«, versicherte Johanna und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Er lag im Bett und sah aus wie ein Blumenmädchen!«

Wieder lachten beide los, als eine scharfe Stimme dem heiteren Treiben ein Ende bereitete.

»Du lachst, während mein Mann mit dem Tod ringt?«, fauchte Charlotte, die vor der Intensivstation auf Daniel gewartet hatte.

Vertieft, wie der Arzt in das Gespräch gewesen war, hatte er die Freundin der Familie gar nicht bemerkt.

Auch Tochter Teresa war diesmal wieder bei ihrer Mutter und legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm.

»Mama, bitte!«, mahnte sie leise.

Unwillig und ohne ihre Tochter eines Blickes zu würdigen, schüttelte Charlotte die Hand ab. Unverwandt starrte sie Daniel an, der sichtlich erschrocken war.

»Bernhard ringt mit dem Tod? Davon weiß ich ja gar nichts«, gab er zurück und wollte an Mutter und Tochter vorbei in die Intensivstation stürzen, um sich Gewissheit über Bernhards Zustand zu verschaffen.

Teresa hinderte ihn daran.

»Halt. Meine Mutter übertreibt mal wieder schamlos«, hielt sie ihn ab. »Sie macht sich Sorgen, weil er immer noch nicht reagiert.«

Erleichtert atmete Daniel auf.

»Aber ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass es uns gelungen ist, die Blutung auszuräumen. Danach haben wir Bernhard in ein künstliches Koma versetzt, damit sich der Körper erholen kann.« Er winkte die beiden Frauen mit sich. Dieses Thema wollte er nicht unbedingt auf dem Klinikflur diskutieren und zog die geschützte Atmosphäre des Schwesternzimmers vor.

»Und wie lange dauert das?«, fragte Charlotte und sah hinüber zur Oberschwester, die über den Dienstplan gebeugt am Tisch saß.

»Mama!«, ermahnte Teresa ihre Mutter erneut und diesmal deutlich ungeduldiger, bevor sie sich wieder an Daniel wandte. »Es ist egal, wie lange es dauert. Hauptsache, mein Vater wird wieder ganz gesund«, versicherte sie mit Nachdruck.

So gern Daniel ihr dieses Versprechen gegeben hätte, so wenig konnte er es.

»Ehrlich gesagt ist eine Prognose schwierig.« Sein Blick wanderte durch die Scheibe, die die Intensivstation vom Schwesternzimmer trennte. Er blickte direkt auf Bernhard Beer, der schlafend im Bett lag. Die Kabel und Schläuche, mit denen sein Körper verbunden war, wirkten beängstigend. »Wir müssen auf jeden Fall mit einem langwierigen Heilungsprozess und einem längeren Aufenthalt in einer Reha-Klinik rechnen.«

Teresas Augen wurden schmal.

»Sie glauben also, dass etwas zurückbleibt?«, fragte sie und bemühte sich, ihre tiefe Sorge so gut es ging zu unterdrücken.

Daniel zögerte. Nachdenklich wiegte er den Kopf.

»Zunächst einmal sollten wir nicht mit dem Schlimmsten rechnen«, versuchte er dann, wenigstens ein bisschen Optimismus zu verbreiten.

Diese Worte erreichten auch Charlotte Beer, die stumm neben den beiden stand. Sie blickte auf, und in ihren Augen lag ein Hauch von Hoffnung.

»Können wir zu Bernhard? Ich möchte ihn so gerne sehen.«

»Natürlich könnt ihr zu ihm«, erwiderte Daniel, obwohl er nicht sicher war, ob Charlottes Besuch dazu angetan war, Bernhard zu beruhigen. Auch wenn er weit weg schien, war es möglich, dass Teile seines Unterbewusstseins die schlechte Stimmung aufnahmen. Trotzdem brachte er es nicht über sich, Charlotte direkt abzuweisen. »Aber da ihr sowieso nicht mit ihm reden könnte wäre es vielleicht besser, wenn ihr nach Hause fahren und euch ausruhen würdet. Die nächste Zeit wird mit Sicherheit anstrengend genug werden«, versuchte er es auf diplomatische Art und Weise.

Doch wenn Dr. Norden gedacht hatte, die gestresste Freundin mit vernünftigen Argumenten überzeugen zu können, so hatte er sich geirrt.

»Kommt nicht in Frage«, lehnte Charlotte entschieden ab. »Ich bleibe auf jeden Fall bei ihm.«

»Gut«, stimmte Daniel nach kurzer Bedenkzeit schließlich zu. »Aber zuerst würde ich gern nach ihm sehen.«

Damit waren sowohl Charlotte als auch Teresa einverstanden und verabschiedeten sich von dem engagierten Arzt.

Während sie im Schwesternzimmer auf die Erlaubnis warteten, Bernhard zu besuchen, sah Charlotte versonnen auf die Uhr.

»Ach, du Schande!« Ihr kam plötzlich ein Gedanke in den Sinn. »Ich hab ja ganz vergessen, dass in einer halben Stunde ein paar Kunden kommen, um eine Reise zu buchen.«

»Dann ruf sie an und sag ab«, empfahl Teresa ihrer Mutter spontan.

Doch die Reisefachfrau schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Wir brauche jeden Auftrag.« Dabei wagte sie kaum, ihrer Tochter in die Augen zu sehen.

Teresa war sichtlich entsetzt.

»Spielt das denn im Augenblick eine Rolle?«, fragte sie schroff. »Da drüben liegt Papa im Koma, und du denkst an Geld?«

Diesen Einwand ihrer Tochter verstand Charlotte ausnahmsweise einmal.

»Ich weiß, dass das dumm klingt. Aber gerade jetzt können wir es uns nicht erlauben, einen Auftrag zu verlieren. Ich will, dass Papa die beste Reha bekommt, die es gibt«, erklärte sie leidenschaftlich und blickte durch das Fenster auf ihren schlafenden Mann. Mit dem Kopfverband, verbunden mit Kabeln und Schläuchen, wirkte er viel kleiner und verletzlicher als sonst. Ihr Herz zog sich zusammen vor Angst. »Selbst wenn ich sie aus eigener Tasche bezahlen muss.«

Auch Teresas Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

»So viele Reisen kannst du in deinem Leben nicht mehr verkaufen, dass du Papa wirklich helfen kannst!«, entfuhr es ihr bitter.

Charlotte bekam diese Anspielung in den falschen Hals und lächelte sarkastisch.

»Das würde wahrhaft anders aussehen, wenn uns unsere einzige Tochter nicht im Stich gelassen hätte.«

Teresa zögerte. Ihr lag ein weiterer bissiger Kommentar auf den Lippen, den sie sich aber wohlweislich verkniff. Auf keinen Fall wollte sie einen Streit vom Zaun brechen. Nicht in dieser Situation. Und schon gar nicht in der Klinik.

»Ich fahr in den Laden und kümmere mich um die Kundschaft«, bot sie daher friedfertig an.

Einen Moment lang war Charlotte überrascht. Dann lächelte sie und nickte.

»Danke!« Mehr sagte sie nicht.

*

»Anneka, was ist denn mit dir los?« Als die Schwester ihres Freundes mit verweinten Augen in der Bäckerei Bärwald auftauchte, legte Tatjana Bohde sofort das Geschirrtuch zur Seite, mit dem sie die noch warmen Kaffeetassen aus der Spülmaschine abtrocknete. Zum Glück war das kleine Café im Augenblick leer. Tatjana eilte um den Tresen herum und legte fürsorglich den Arm um die schmalen Schultern der jungen Frau. »Du siehst ja aus wie ein Gespenst.«

»Vielen Dank für die Blumen«, lächelte Anneka schief und wischte sich mit dem Jackenärmel über die feuchten Wangen. »Aber wahrscheinlich hast du sogar recht. Genauso fühl ich mich nämlich auch.« Vom Weinen waren ihre Augen feuerrot, und die Wimperntusche war verschmiert.

Tatjana hingegen sah wie immer makellos aus. Ihre bestechend blauen Augen strahlten mit ihrer Haut um die Wette, sodass sich Anneka noch mehr fühlte wie ein hässliches Entlein.

»Das war wohl nichts mit dem neuen Oberteil und Leons faszinierten Blicken. Er hat es noch nicht mal bemerkt«, erklärte sie bitter und atmete den verführerischen Kaffeeduft ein, der durch die kleine Bäckerei zog.

Tatjana bemerkte es und deutete hinüber ins Café.

»Setz dich schon mal da hinten an den kleinen Tisch. Ich hol uns schnell Kaffee und ein paar Leckereien. Und dann erzählst du mir alles.«

Folgsam setzte sich Anneka auf die Bank und sah ihrer älteren Freundin dabei zu, wie sie mit schlafwandlerischer Sicherheit die Kaffeemaschine bediente und schließlich an den Tisch trat.Sie lächelte dankbar, als Tatjana ihr die Tasse in die Hand drückte, einen Teller mit gemischtem Gebäck auf den Tisch stellte und neben Anneka auf die Bank rutschte. Das heiße Getränk weckte wenigstens ein paar von Annekas Lebensgeistern wieder.

»Nicht nur, dass Leon eineinhalb Stunden zu spät gekommen ist. Er geht nächste Woche auch noch nach Australien«, platzte sie gleich darauf mit den entsetzlichen Neuigkeiten heraus.

Ein Glück, dass die Vorräte an Tränen inzwischen verbraucht waren. So konnte sie wenigstens halbwegs flüssig erzählen, was in dem Café vorgefallen war.

Tatjana wirkte entrüstet, aber nicht ganz so, wie Anneka es insgeheim erwartet hatte. Die empörten Schimpftiraden blieben aus.

»Na ja, du wusstest von Anfang an, dass ihm sein Sport wahnsinnig wichtig ist«, gab sie, vernünftig wie sie war, zu bedenken. »So hast du ihn kennen und lieben gelernt. Ohne sein Tennis wäre er nicht der Mann, der er ist.«

»Ja, schon!«, gestand Anneka kleinlaut und zupfte eine Rosine aus einem Rosinenbrötchen. »Die Leidenschaft für seinen Sport hat ihn schon zu was Besonderem gemacht. Aber ich dachte irgendwie, dass er nach der Bandscheibengeschichte ein neues Leben anfangen will.«

»Ach, Süße!«, seufzte Tatjana. Sie drückte Anneka an sich. »Ich weiß, es ist kein Trost. Aber vielleicht solltest du es nicht zu schwer nehmen. Manchmal tut es einer Beziehung auch ganz gut, wenn man sich nicht so oft sieht.«

Über diese Bemerkung musste Anneka dann doch lachen, auch wenn es ein freudloses Lachen war.

»Das mag ja gut und schön sein, wenn man schon länger zusammen ist wie Danny und du. Aber Leon und ich haben uns ja erst vor ein paar Wochen nach Jahren wiedergetroffen. Es wäre wirklich schön, ihn ein bisschen besser kennenzulernen«, stellte sie fest. Sie zupfte eine weitere Rosine aus dem süßen Gebäck und knabberte unglücklich daran.

»Da hast du natürlich auch wieder recht«, stimmte Tatjana dieser Ansicht zu und biss nachdenklich in eine Rosinenschnecke. Eine Weile kaute sie stumm. Dann huschte ein Leuchten über ihr Gesicht. »Vielleicht hat er einfach noch nicht gelernt, was es heißt, eine Bindung einzugehen. Schließlich ist er schon seit vielen Jahren von zu Hause weg und hatte kein Familienleben mehr. So was prägt natürlich.«

»Was meinst du damit?« Anneka legte den Kopf schief und sah Tatjana forschend an.

»Ich meine, dass du ihn mal ein bisschen aus der Reserve locken solltest. Vielleicht geht ihm dann auf, was ihm fehlen würde, wenn du plötzlich nicht mehr an seiner Seite bist. Geh mal nicht mehr bei jedem Telefonat ran. Steh nicht immer zur Verfügung, wenn er zufällig Zeit und Lust hat. Bleibe eine eigenständige Persönlichkeit«, machte sie einen vernünftigen Vorschlag.

Zu ihrer eigenen Überraschung musste Anneka plötzlich lachen.

»Dann habe ich ja instinktiv genau das Richtige getan«, grinste sie, schon wieder halbwegs getröstet, und erzählte Tatjana von ihrer kleinen Urlaubsschwindelei. »Ich war so sauer auf ihn, dass ich dachte, ich muss ihm zeigen, dass ich nicht auf ihn angewiesen bin.«

»Ich bin stolz auf dich!«, lobte Tatjana ihre jugendliche Freundin. »Und ich wette, dass das Ergebnis nicht lange auf sich war…" Ein dumpfes Klingeln unterbrach sie, und Anneka begann, in ihrer Tasche nach dem Mobiltelefon zu kramen. Als sie es herauszog, war der Anrufer auf die Mailbox umgeleitet worden. »Lass mich raten! Das war Leon.«

»Stimmt!«, frohlockte Anneka. »Dabei hat er vorhin noch behauptet, dass sein Akku leer ist.« Einen Moment lang war sie versucht, ihn zurückzurufen.

Doch sie tat es nicht. Stattdessen steckte sie tapfer das Handy zurück in die Tasche und brach gemeinsam mit Tatjana in belustigtes Gelächter aus.

*

Charlotte Beer verbrachte ein paar Stunden am Bett ihres Mannes, bis sie einsah, dass ihr Freund Daniel Norden recht hatte. Bernhard schlief tief und fest, und sie konnte nichts anderes für ihn tun als dazusitzen und seine Hand zu streicheln.

»Wollen Sie wirklich nicht heimgehen, Frau Beer?«, erkundigte sich die Intensivschwester Lisa, als sie sah, wie Charlotte zum wiederholten Male gähnte. »Ihr Mann ist gut versorgt bei uns. Und Sie werden Ihre Kraft noch brauchen für die Zeit, wenn er erst wieder zu Hause ist«, wiederholte sie, ohne es zu ahnen, Daniel Nordens Worte.

Charlotte sah ihren Mann fragend an. Dann nickte sie.

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Vielleicht sollte ich wirklich nach Hause gehen und mich ein bisschen ausruhen.« Leise seufzend stand sie auf und zögerte noch einen Moment. Dann beugte sie sich übers Bett und küsste Bernhard auf die blasse, eingefallene Wange, ehe sie sich auf den Weg ins Reisebüromachte.

Dort wurde sie schon von ihrer Tochter Teresa erwartet. Die junge Tourismusmanagerin saß am Schreibtisch ihres Vaters und hob den Kopf, als Charlotte eintrat.

»Und? Wie geht es Papa?«, fragte sie.

Erschöpft ging Charlotte hinüber zur Anrichte, wo stets eine Kanne mit Kaffee und eine Karaffe mit frischem Wasser bereit stand. Bevor sie antwortete, schenkte sie sich ein Glas Wasser ein und trank in großen Schlucken. Als sie den ersten Durst gestillt hatte, drehte sie sich zu ihrer Tochter um.

»Bernhard kann ja nichts sagen. Er sieht aus, als würde er schlafen. Wenn die ganzen Kabel und Schläuche nicht wären …"

Teresa biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf.

»Ich hab solche Angst um ihn.«

Auch Charlotte hatte Angst um ihren Mann. Doch diesen Gedanken wollte sie nicht zulassen und ging deshalb nicht auf die Worte ihrer Tochter ein.

»Alles glatt gegangen mit dem Auftrag?«, fragte sie stattdessen und ging hinüber zu ihrem Schreibtisch.

»Kein Problem!«, winkte Teresa ab. »Du hattest ja alles schon bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Wie immer.«

»Das ist eben der Service, den die Kunden besonders zu schätzen wissen. Deshalb kommen sie immer wieder in unser Reisebüro«, rechtfertigte sich Charlotte und setzte sich ihrer Tochter gegenüber auf ihren Stuhl.

Im ersten Augenblick war Teresa versucht, einen Kommentar zu den aufwändig aufbereiteten Reisen abzugeben. Doch dann überlegte sie es sich anders.

»Übrigens war da ein Anruf von einer Firma. Ein gewisser Herr Antonin hat angefragt, ob ihr das leer stehende Büro vermieten würdet.«

Empört blickte Charlotte auf.

»Wie kommt er denn auf die Idee? Und woher weiß er überhaupt, dass wir so einen Raum haben?«

Ratlos zuckte Teresa mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Aber ehrlich gesagt finde ich die Idee gar nicht so schlecht. Er hat ein richtig gutes Angebot gemacht.«

Doch davon wollte Charlotte nichts wissen.

»Kommt überhaupt nicht in Frage! Diese Räume hier sind unsere Existenzgrundlage. Die vermieten wir nicht.«

Teresa traute ihren Ohren kaum.

»Na hör mal, seit ich weg bin, wird das Büro nicht mehr genutzt. Das brauchst du doch eh nicht mehr.«

»Unsere Flaute ist nur vorübergehend. Irgendwann stellen wir wieder eine Kraft ein. Dann brauchen wir das Zimmer und werden die Mieter möglicherweise nicht mehr los.« Entschieden schüttelte Charlotte den Kopf. »Nein, nein. Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Um ihrer Tochter zu bedeuten, dass das Gespräch an dieser Stelle für sie beendet war, beugte sie sich wieder über ihren Schreibtisch.

Dr. Norden Staffel 3 – Arztroman

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