Читать книгу Dr. Norden Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 7

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»Na, das war ja ein schöner Reinfall gestern«, bedauerte Felicitas Norden ihren Versuch, ihrer Familie mit Hilfe eines persönlichen Fitnesstrainers ein schonendes Aufwärmtraining beizubringen. Bei einem unglücklichen Sprung war ihr Mann Daniel falsch aufgekommen und hatte seitdem Schmerzen im Knöchel. Und ihre Tochter Anneka lag am nächsten Morgen erkältet im Bett. »Statt euch fit zu machen, habe ich unser Haus in ein Lazarett verwandelt.«

Erschöpft von der schlaflosen Nacht lag Anneka im Bett und sah ihre Mutter aus müden Augen an.

»Ach, Mamilein, du kannst doch nichts dafür, dass es in der Halle so kalt war«, versuchte sie, Fee mit verschnupfter Stimme zu trösten. »Und dass Papi umgeknickt ist, ist doch auch nicht deine Schuld.«

»Trotzdem bin ich enttäuscht und traurig, dass das so danebengegangen ist«, gab die Ärztin offen zu. »Schließlich wollte ich euch eine Freude machen.« Einen Moment lang haderte Felicitas noch mit ihrem Schicksal, ehe sie diesen Gedanken entschieden zur Seite schob. »Aber Hauptsache, ihr werdet schnell wieder gesund.« Ihr forschender Blick wanderte hinüber zum Nachtkästchen, wo sie allerlei Hausmittel deponiert hatte. Eine Erkältungssalbe für Brust und Rücken war ebenso dabei wie Tee mit frisch gepresster Zitrone und zuckerfreie Halsbonbons.

Annekas Blick folgte dem ihrer Mutter.

»Das muss ich unbedingt«, bekräftigte sie Fees Meinung. »Heute Nachmittag wird doch Leon operiert. Es ist furchtbar, dass ich ihn nicht besuchen kann.« Diese Tatsache erschütterte sie noch viel mehr, als dass ihr die Erkältung zu schaffen machte. Unglücklich zog sie die Bettdecke hoch und dachte an den jungen Mann, in den sie sich unsterblich verliebt hatte.

Dem Zufall war es zu verdanken, dass Anneka Norden ihren Sandkastenfreund Leon Matthes in der Praxis ihres Vaters wiedergetroffen hatte. Er war inzwischen ein aufstrebender Tennisstar und hatte sich nach einem Zusammenbruch schweren Herzens dazu entschlossen, seinen Bandscheibenvorfall in der Behnisch-Klinik operieren zu lassen. Ein paar Treffen und intensive Gespräche zwischen Anneka und Leon hatten genügt, um eine zarte Liebe zwischen den beiden zu entfachen, die von Tag zu Tag wuchs und sich entwickelte. Und nun konnte die junge Frau ihrem Freund in seinen schweren Stunden nicht beistehen!

Felicitas saß am Bett ihrer Tochter und blickte verständnisvoll auf sie hinab. Sie wusste, woran Anneka in diesem Augenblick dachte, und suchte nach Worten, die sie trösten konnten.

»Nach der Operation wird Leon ohnehin erst mal erschöpft und froh sein, wenn er seine Ruhe hat«, erklärte sie. Gleichzeitig ahnte sie, dass es kein Wort gab, um den Schmerz ihrer Tochter zu lindern.

»Aber wenn ich nicht komme, glaubt er vielleicht, dass ich mich nicht mehr für ihn interessiere«, jammerte Anneka denn auch und putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das ihre Mutter ihr reichte.

Fee fühlte sich genauso verantwortlich für die Verletzung ihres Mannes wie für die Erkältung ihrer Tochter und sann über eine Lösung nach.

»Was hältst du davon, wenn du Leon einen kleinen Brief schreibst?«, kam ihr schließlich die rettende Idee. »Den kann ich ihm dann in die Klinik mitbringen, nachdem ich deinen Vater in der Praxis abgeliefert habe.«

Über diesen Vorschlag musste Anneka nicht lange nachdenken.

»Ach, Mami, du bist einfach die Beste!«, verfiel sie unwillkürlich in die kindliche Anrede, die sie sich eigentlich seit Jahren abgewöhnt hatte. Aber manchmal tat es so gut, sich wie ein kleines Mädchen zu fühlen, umsorgt von der wärmenden Liebe der Mutter.

Lächelnd stand Fee auf und holte Stift und Papier vom Schreibtisch ihrer Tochter. Dann verließ sie das Zimmer, um Anneka in Ruhe eine kleine Liebesbotschaft verfassen zu lassen und sich selbst darum zu kümmern, dass auch Daniel gut versorgt war.

*

»Ich mache mir solche Vorwürfe«, seufzte Fee, als sie ihren Mann auf dem kurzen Fußweg vom Wagen in die Praxis stützte. »Hätte ich nicht diese dumme Idee mit dem persönlichen Fitnesstraining gehabt, wäre das nicht passiert.« Mit einer Hand hielt sie Daniel am Arm fest und drückte mit der anderen die Tür zur Praxis auf.

»Ach, halb so wild«, gab Daniel so unbeschwert wie möglich zurück.

»Wir hätten doch lieber schön gepflegt ins Theater oder in die Oper gehen sollen«, fuhr Fee jedoch mit ihren Selbstvorwürfen fort und half dem Verletzten, durch den Flur der Praxis an den Tresen zu humpeln.

Dort angekommen stützte sich Daniel ab und begrüßte lächelnd seine beiden Assistentinnen Wendy und Janine, die zuverlässig wie jeden Morgen alles für die Sprechstunde vorbereitet hatten.

»Guten Morgen, Chef! Was ist denn passiert?«, erkundigte sich Wendy erschrocken, und auch ­Janine machte ein besorgtes Gesicht.

»Meine liebe Frau wollte den sportlich bedingten Verletzungen in der Familie ein Ende bereiten«, gab der Arzt bereitwillig Auskunft. »Deshalb hat Fee einen Fitnesstrainer engagiert, der uns das richtige Aufwärmen beibringen sollte.«

»Dabei ist Dan gestern Abend so unglücklich umgeknickt, dass er sich am Knöchel verletzt hat«, ergänzte Fee den Bericht ihres Mannes.

»Herrje, warum machen Sie denn auch solche Sachen?«, entfuhr es Janine. »Lassen Sie mich raten. Wie ich Sie kenne, haben Sie sich mal wieder richtig ins Zeug gelegt«, sagte sie ihrem Chef lächelnd auf den Kopf zu.

Am liebsten hätte Daniel lautstark widersprochen. Nachdem seine Frau aber Zeugin der Szene vom vergangenen Abend geworden war, konnte er es nicht leugnen.

»Na ja …«

»Dabei haben ausgerechnet Sie das überhaupt nicht nötig«, unterbrach Wendy ihn kopfschüttelnd. »Ich kenne nicht viele Männer, die in Ihrem Alter noch so fit sind.«

»Das hab ich ihm auch schon gesagt. Aber auf mich will er einfach nicht hören«, lächelte Fee, der die Kommentare der beiden Assistentinnen sichtlich gut taten. Auf diese Weise wog ihre Schuld nicht mehr gar so schwer.

In diesem Augenblick betrat Danny Norden die Praxis. Während er die Kälte aus den Gliedern schüttelte, betrachtete er den kleinen Auflauf am Tresen.

»Nanu, was ist denn hier los?«, erkundigte er sich verdutzt.

Schlagartig hellte sich Daniels Miene auf.

»Gut, dass du kommst. Du kannst mich aus den Fängen der weiblichen Emanzipation retten. Das bist du mir schuldig, weil du doch gestern Abend schon gekniffen hast.«

In diesem Augenblick fiel Danny auf, dass sein Vater nur ein Bein belastete. Ein freches Grinsen breitete sich auf seinem markanten Gesicht aus.

»Lass mich raten: Du hast gestern versucht, Mums Fitnesstrainer zu beeindrucken.«

»Woher denn!«, entrüstete sich Daniel augenzwinkernd. »Ich wollte einzig und allein deine Mutter beeindrucken.«

»Das ist dir wahrhaftig gelungen.« Tröstend streichelte Fee über den Arm ihres Mannes und sah dann auf die Uhr. »Nachdem du hier in guten Händen bist, kann ich jetzt ruhigen Gewissens in die Klinik fahren, oder? Wenn ich Marios Worten Glauben schenken darf, wird es heute ziemlich turbulent. Wir haben gleich heute Früh drei OPs. Ich weiß gar nicht, was zur Zeit los ist.«

»Mach dir keine Sorgen, Mum«, erwiderte Danny, ehe sein Vater Gelegenheit dazu hatte. »Heute Abend ist dein Mann wieder wie neu. Dafür sorge ich schon.«

Fee lachte und küsste Daniel zum Abschied auf den Mund. Sie winkte Danny, Janine und Wendy zu und machte sich dann auf den Weg in die Behnisch-Klinik, wo sie im Rahmen ihrer Fortbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Praktikum in der Pädiatrie absolvierte.

Die Tür war noch nicht hinter ihr in Schloss gefallen, als Danny seinen Vater am Arm nahm und ihn hinüber in eines der Behandlungszimmer führte. Dort angekommen hieß er ihn das Hosenbein hochziehen. Schuh und Socke zog er ihm eigenhändig vom Fuß und begann mit der Untersuchung.

»Wenn ich mir den Knöchel so ansehe, solltest du lieber auf eine passive Sportart wie Fußballschauen umsteigen«, erklärte er nachdenklich. »Der Knöchel ist ziemlich geschwollen.« Behutsam bewegte er das Fußgelenk auf und ab, drehte es nach rechts und links.

»Ach was«, stöhnte Daniel gequält auf. »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Zu dumm, dass Tatjana und ich gestern keine Zeit hatten. Vielleicht wärst du dann nicht so übermütig geworden.«

»Ich hab doch nichts getan«, verteidigte sich Daniel Norden. »Was kann ich denn dafür, dass ich umgeknickt bin? Vor Schmerzen konnte ich heute Nacht kaum schlafen.«

Inzwischen hatte Danny seine Untersuchung beendet und stand auf.

»Du hast nochmal Glück gehabt. Es ist nichts gerissen. Nur gedehnt. Das ist schmerzhaft, aber nicht gefährlich.« Er ging zum Schrank, um eine Tube mit Salbe und einen Stützverband zu holen. »Allerdings solltest du in Zukunft etwas vorsichtiger sein. In deinem Alter werden solche Verletzungen gerne mal chronisch«, bemerkte der junge Arzt, während er den Knöchel seines Vaters bandagierte. Dabei machte er ein ernstes Gesicht, doch um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.

»Willst du damit sagen, dass du deinem armen alten Herrn das Salz des Lebens nehmen und ihn zum Zuschauen verdammen willst?«, fragte Daniel.

Danny lachte laut heraus und klebte ein Stück Leukoplast auf das Ende des Verbands, um es zu fixieren.

»Ein Glück, dass Mum das jetzt nicht gehört hat. Sie geht sicher davon aus, dass sie das Salz deines Lebens ist.«

Daniel Nordens Augen blitzten vergnügt, als er von der Liege herunterrutschte und vorsichtig auftrat. So gestützt schmerzte der Knöchel kaum noch.

»Merk dir eines, mein Sohn«, erklärte er mit hoch erhobenem Zeigefinger. »Sport ist die schönste Nebensache der Welt.« Daniel machte eine kunstvolle Pause. »Deine Mutter dagegen ist die schönste Hauptsache der Welt.«

»Das ist ja unfassbar, Dad! Ich hätte nie gedacht, dass du so ein Charmeur bist«, bemerkte Danny gut gelaunt und hielt seinem Vater die Tür auf. »Da kann ich mir glatt noch eine Scheibe abschneiden.«

Daniel sagte dazu nichts mehr. Statt dessen lächelte er vielsagend, ehe er sich gut versorgt und zufrieden an die Arbeit machte.

*

»Wie oft muss man Ihnen eigentlich erklären, wie man so einen Schläger hält?« Bebend vor Wut stand die Golf-Trainerin Franziska Weiß vor ihrer völlig eingeschüchterten Schülerin, die immerhin über vierzig Jahre alt war. Ihre Stimme hallte von den Wänden des Golfcenters, das um diese Jahreszeit gut besucht war. »Das kann doch nicht so schwer sein!« Ohne mit der Wimper zu zucken, riss sie ihrem Schützling den Schläger aus der Hand und stellte sich an den Abschlagplatz.

Doch Frau von Soltenau hatte keine Nerven mehr. Sie kämpfte mit den Tränen und wandte sich ab.

»Schon gut. Dieser Sport ist einfach nichts für mich. Das lerne ich sowieso nicht.« Während sie davon stapfte, zerrte sie verzweifelt an dem weißen Handschuh ihrer rechten Hand.

Ungläubig starrte Franziska ihrer Schülerin nach.

»Das ist doch unfassbar!«, schimpfte sie schrill. »Sind wir hier im Kindergarten, oder was?«

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Weiß.« Von hinten legte sich eine Hand auf Franziskas Schulter, und wie von der Tarantel gestochen fuhr sie herum. Wie so oft in letzter Zeit schlug ihr Herz schmerzhaft und hart in ihrer Brust. Am liebsten hätte sie den Schläger fallen gelassen und die Hände dagegen gepresst. Da sie aber kein Aufsehen erregen wollte, musste sie sich damit begnügen, tief ein- und auszuatmen und neue Kräfte zu sammeln.

»Wer sind Sie eigentlich, dass Sie mir …«, wollte sie spontan eine erneute Schimpfkanonade loslassen, als sie ihren ehemaligen Schüler, den Bandscheibenspezialisten Dr. Roland Holzapfel, erkannte. Vor vielen Jahren hatte er das Golfspielen bei ihr gelernt und sie hatten sich lange nicht gesehen. Franziska holte Luft und rang sich ein verkrampftes Lächeln ab. »Ach, Sie sind es. Was machen Sie denn hier?«

»Ja, ich bin es«, erwiderte der Arzt gutmütig und lächelte gewinnend. »Wie alle anderen hier habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, meinem Hobby auch in der kalten Jahreszeit zu frönen. Wie geht es Ihnen?« Diese Frage war eigentlich überflüssig. Insgeheim fragte sich Roland, was aus der charmanten, warmherzigen und geduldigen Lehrerin geworden war, bei der er damals die hohe Kunst des Golfspiels gelernt hatte. Doch ihm blieb nicht viel Gelegenheit, über eine Antwort nachzudenken.

Was als Besänftigung gemeint war, fasste Franziska Weiß als Provokation auf.

»Wollen Sie mich hochnehmen?«, fauchte sie mit Funken sprühenden Augen. »Sie sehen doch, wie es mir geht.«

»Sie sehen wirklich nicht sehr gesund aus«, gestand Roland Holzapfel offen, als er den Leiter des Golfcenters bemerkte, der wutentbrannt über den Platz gestapft kam.

»Es tut mir leid, wenn ich stören muss«, entschuldigte sich Wolfram Kugler freundlich bei Franziskas Gesprächspartner, ehe er sich an die renommierte Golflehrerin wandte. Schlagartig veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?« Sein Tonfall war gefährlich ruhig und am liebsten hätte Franziska Weiß ihm eine ruppige Absage erteilt.

Da sie aber besonders im Winter auf diesen Arbeitsplatz in der Golfhalle angewiesen war, besann sie sich, auch wenn es schwer fiel.

»Natürlich«, seufzte sie und schickte Roland Holzapfel einen Blick, der Bände sprach.

Dann folgte sie ihrem Chef betont entspannt und blieb etwas abseits neben ihm stehen.

»Frau von Soltenau hat sich eben bei mir beschwert und sämtliche Verträge gekündigt, die sie für sich und ihre Familie abgeschlossen hat«, zischte Wolfram Kugler.

Diese Neuigkeit entlockte Franziska Weiß nur ein hämisches Lachen.

»Ein Glück, dann sind wir diese Kindergartentante und ihre Brut endlich los«, bemerkte sie zufrieden. »Worüber regen Sie sich auf? Sie hatte keinen Funken Talent. Stattdessen sollten Sie froh sein, wenn Sie nur die Elite hier versammeln.«

Über so viel Arroganz konnte der Leiter des Golfcenters nur den Kopf schütteln.

»Haben Sie schon mal einen Gedanken daran verschwendet, dass diese ›Kindergartentante‹ neben all unseren anderen Kunden Ihr Gehalt bezahlt? Dass wir auf jeden einzelnen Kunden angewiesen sind, um das Center weiter kostendeckend zu betreiben?«, fragte er scharf.

»Jetzt tun Sie doch nicht so, als stünden Sie am Abgrund!« Hämisch lachend schüttelte Franziska den Kopf.

Doch das Lachen sollte ihr gleich vergehen.

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, gab Wolfram Kugler zurück, ohne mit der Wimper zu zucken. »Noch ein verbaler Ausfall dieser Art und Sie sind Ihren Job los. Fristlos!« Mehr hatte er dazu nicht zu sagen und wandte sich ab, ehe Franziska Weiß eine passende Antwort eingefallen war.

Ungläubig starrte sie ihm nach, wie er freundlich nach links und rechts grüßend davon ging. Es dauerte einen Moment, bis sie die Tragweite seiner Worte realisiert hatte. Sichtlich zerknirscht und nicht die Spur besser gelaunt wollte sie zu Roland Holzapfel zurückkehren, um über die Ungerechtigkeit der Welt zu klagen. Doch ihr ehemaliger Schüler war inzwischen verschwunden, und Franziska blieb mit ihrem schmerzhaft in der Brust schlagenden Herz allein zurück.

*

Der letzte Patient der Vormittagssprechstunde hatte die Praxis verlassen, und Dr. Daniel Norden saß noch am Schreibtisch, als es klopfte.

»Ja, bitte?«, fragte er, ohne den Kopf von den Unterlagen zu heben, in die er vertieft war.

Es konnte nur eine seiner Assistentinnen sein, die etwas von ihm brauchte.

Daniel irrte sich nicht. Tatsächlich war es Janine, die den Kopf zur Tür herein steckte.

»Herr Dr. Holzapfel ist hier und möchte Sie sprechen!« Lächelnd wandte sie sich an den Bandscheibenspezialisten, der hinter ihr stand. »Es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern.«

»Ganz meinerseits«, erwiderte der das Kompliment galant. »Wenn Ihr Chef keine Zeit für mich haben sollte, lade ich Sie auf der Stelle heute Mittag zum Essen ein.«

In diesem Moment hob Daniel den Kopf und lachte.

»Roland, das ist ja eine schöne Überraschung! Was die Einladung meiner Assistentin angeht, müssen wir allerdings noch ein Wörtchen miteinander reden.«

»Sie sehen, ich stehe ganz schön unter dem Pantoffel«, erwiderte Janine belustigt. »Darf ich den Herrn etwas zu trinken anbieten? Kaffee vielleicht? Und ein bisschen Gebäck?«

»Diese Frau weiß einfach, was Männer brauchen«, lobte Roland überschwänglich.

»Deshalb passe ich ja so auf sie auf, dass sie mir nicht abhanden kommt.« Daniel stand auf und humpelte um den Schreibtisch herum.

Als Janine die Tür hinter sich geschlossen hatte, bot er seinem Besucher einen Platz in der gemütlichen Sitzgruppe in der Ecke seines Sprechzimmers an.

Dr. Holzapfel, mit dem ihn eine kollegiale Freundschaft verband, sah verwundert hinab auf den Fuß des Kollegen.

»Nanu, was ist denn mit dir passiert? Leidest du schon an Arthrose?«, scherzte er gut gelaunt.

Roland war ein lustiger Zeitgenosse, ein paar Jahre älter als Daniel, weshalb er sich solche Scherze ohne schlechtes Gewissen erlauben durfte.

»Ein Sportunfall«, winkte Dr. Norden ab und dankte Janine, die noch einmal hereingekommen war und ein Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen den beiden Männern abstellte. »Geht wieder vorbei.«

»Vielleicht solltest du einsehen, dass auch du älter wirst und dir eine gemächlichere Gangart angewöhnen.« Roland lächelte vielsagend. »Und eine gemächlichere Sportart.«

»An was hast du da gedacht? Spazierengehen?«, scherzte Daniel.

»Eigentlich eher an Golf«, gab Roland ohne Zögern zurück.

»Golf?« Daniel wirkte sichtlich verwundert, als könnte er es nicht glauben. »Ist das nicht wahnsinnig langweilig? Einem Ball nachzulaufen, den man vorher mit einem Schläger möglichst weit weg geschlagen hat?« Er gab Zucker und Milch in seinen Kaffee und rührte um.

Auf diese Frage schien der Bandscheibenspezialist nur gewartet zu haben. Er beugte sich vor und nahm seinen Kollegen ins Visier.

»Meiner Ansicht nach ist Golf die am meisten unterschätzte Sportart der heutigen Zeit«, erklärte er enthusiastisch. »Dabei hat dieser Sport viele positive Effekte für Körper und Geist. Du musst nur bedenken, dass ein Golfspieler bei einer Runde etwa acht bis zehn Kilometer zu Fuß zurücklegt. Dabei wird die Fettverbrennung aktiviert und das Herz-Kreislauf-System trainiert.« Rolands Augen leuchteten. »Ausdauer- und Muskeltraining bilden eine perfekte Kombination.« Wieder betrachtete er nachdenklich Daniels Fuß. »Übrigens dämpft der weiche Rasen die Schritte. Auf diese Weise werden die Gelenke geschont. Kurzum, es gibt nur Vorteile bei einem kaum vorhandenen Verletzungsrisiko«, schloss er seinen kurzen Vortrag mit einer ironischen Anspielung auf Daniel Nordens Gesundheitszustand.

Daniel trank einen Schluck Kaffee und blickte skeptisch drein. Tatsächlich reizte ihn Roland Holzapfels Schilderung.

»Das klingt ja alles sehr verlockend …«, gestand er zögernd. Weiter kam er aber nicht.

»Mal abgesehen von den Verbindungen, die man auf einem Golfplatz knüpfen kann«, war seinem Kollegen in der Zwischenzeit ein weiteres Argument eingefallen. »Du glaubst gar nicht, wie viele Leute du auf einem Golfplatz triffst. Und nicht nur das! Auch Geschäfte und Kooperationen lassen sich an der frischen Luft viel besser und in aller Ruhe besprechen.«

Davon hatte Daniel Norden schon gehört. Auch sein Freund, der Anwalt Martin Sassen, spielte Golf und schwärmte immer wieder von dieser glücklichen Verbindung zwischen stressarmen Geschäftsbesprechungen und körperlicher Betätigung.

»Das hat schon was für sich.« Nachdenklich griff er nach einem der köstlichen selbstgebackenen Plätzchen, die Janine in einer Schale serviert hatte.

Roland ließ den Kollegen nicht aus den Augen.

»Außerdem wäre das doch auch was für deine Frau, meinst du nicht? Golfspielen ist ja nicht nur ein Sport, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis.«

In Gedanken versunken lehnte sich Daniel zurück. Die Idee, etwas völlig Neues zu beginnen, war ihm nicht ganz geheuer.

»Ich hab nie in meinem Leben etwas anderes als einen Minigolfschläger in der Hand gehabt.«

Dieses Argument ließ Roland nicht gelten. Während er die Unterlagen aufschlug, die er wegen des gemeinsamen Patienten Leon Matthes mitgebracht hatte, lächelte er nachsichtig.

»Dann lernst du es eben, mein Freund. Dafür ist es nie zu spät.« Bevor er sich über die Patientenakte beugte, dachte Roland kurz nach. »Weißt du was? Heute Abend nach Praxisschluss kommst du mit in die Golfhalle. Die ist nicht weit von hier entfernt, und ich geb dir eine Schnupperstunde. Bei der Gelegenheit kann ich dir auch gleich erzählen, wie der Eingriff bei dem jungen Matthes verlaufen ist«, machte er einen Vorschlag, den Daniel nicht ablehnen konnte.

Schließlich hatte Roland recht. Lebenslanges Lernen war die beste Garantie, bis ins hohe Alter geistig flexibel und lebendig zu bleiben. So stimmte er lächelnd zu, ehe auch er sich auf die Unterlagen konzentrierte, die vor ihnen auf dem niedrigen Tisch lagen.

*

»Dan, was machst du denn da?« Als Felicitas Norden ihren Mann an diesem Abend von der Arbeit abholen wollte, staunte sie nicht schlecht.

Mit der Öffnung auf der Seite lag ein Papierkorb auf dem Boden. Daniel stand einige Meter davon entfernt mitten im Zimmer und fixierte ihn. Er hielt einen Golfschläger in der Hand, der kleine weiße Ball lag vor ihm auf dem Boden.

»Absolute Ruhe bitte, ich muss mich konzentrieren«, bat er seine Frau. Dann holte er mit dem Schläger aus und traf den Ball, der direkt in die Öffnung des Papierkorbs rollte. »Drin ist er!« Er reckte die Faust in die Luft, und belustigt klatschte Fee in die Hände.

»Bravo, du bist ja ein echtes Talent.« Sie ging zu ihrem Mann und küsste ihn zur Begrüßung zärtlich auf den Mund. »Aber sag: Seit wann spielst du Golf?«

»Seit heute. Du kennst doch Roland Holzapfel?«

»Er hat heute Leon operiert,« Fee wusste genau, von wem die Rede war. »Ich hab Anneka schon gesagt, dass alles gut gelaufen ist.«

»Ein Glück! Da wird sie sich aber gefreut haben.« Daniel bückte sich nach dem Eimer und stellte ihn zurück an seinen Platz unter dem Schreibtisch. »Vor dem Eingriff war Roland heute Mittag bei mir, und wir haben noch einmal ein paar Einzelheiten diskutiert. Nebenbei hat er mir von Golf vorgeschwärmt und gemeint, wir sollten es mal ausprobieren. Bevor er gegangen ist, hat er mir noch diesen Schläger und den Ball hier gelassen. Für Trockenübungen.« Daniel dachte kurz nach. Dann hielt er seiner Frau Schläger und Ball hin. »Hier, willst du auch mal versuchen? Schließlich haben wir in einer halben Stunde ein Schnuppertraining.«

»Wie bitte?« Überrascht schnappte Fee nach Luft. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Wieso wir?«

»Na ja, du und ich«, erklärte Daniel arglos.

»Aber ich kann unmöglich. Anneka ist krank, sie braucht mich. Mal abgesehen davon, dass du verletzt bist. Du kannst nicht Golf spielen.« Sie deutete auf seinen bandagierten Knöchel.

Aber Daniel winkte nur lächelnd ab.

»Den Fuß hat Danny wunderbar hingekriegt. Er tut fast nicht mehr weh. Und wegen Anneka solltest du dir keine Sorgen machen. Bei Lenni ist sie in guten Händen. Mal abgesehen davon, dass es nicht so lange dauern wird.« Er schickte seiner Frau einen schmelzenden Blick, dass Fee lachen musste.

Trotzdem war sie noch nicht überzeugt.

»Aber Golf ist so ein elitärer Sport. Das passt doch gar nicht zu uns.«

Doch auch mit diesem Argument kam sie ihrem Mann nicht bei.

»Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute ist das ein Sport wie jeder andere auch. Und obendrein auch noch gesundheitsschonend!« Daniel legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Komm schon, Feelein, gib dir einen Ruck. Ich erfülle dir doch auch jeden Wunsch.«

Das war die Wahrheit, der Fee nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

»Da hast du allerdings recht«, gab sie sich seufzend geschlagen. »Und wenn du es dir so sehr wünscht …«

»Ja, das tue ich.« Daniel drückte ihr einen Kuss aufs duftende Haar. »Nur Mut, Frau Dr. Norden. Sie werden wie immer beeindruckend sein!«

*

»Pünktlich wie die Eisenbahn!« Roland Holzapfel wartete vor der Halle auf seine Gäste und begrüßte Fee und Daniel freudig. »Freut mich, dass du deinen Mann nicht alleine in die Höhle des Löwen lässt.« Galant beugte er sich über ihre Hand und hauchte einen formvollendeten Kuss darauf.

»Ehrlich gesagt war ich kurz davor«, gestand sie offen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über seine Schulter hinweg einen skeptischen Blick in die Halle zu werfen.

»Keine Angst. Da drin beißt dich niemand«, lächelte Roland Holzapfel beschwichtigend und hielt ihr die Tür auf.

Warme Luft schlug ihnen entgegen, als sie das künstliche Grün betraten. Neben Abschlagplätzen gab es naturgetreue Flächen, auf denen man das Einlochen üben konnte. Offenbar erfreute sich die Halle großer Beliebtheit, denn überall herrschte reges Treiben. Während das Trio auf dem Weg zu seinem Abschlagplatz war, nutzte Roland die Gelegenheit, um von Leons Operation zu berichten.

»Wie wir heute Mittag besprochen haben, habe ich eine endoskopische Operation bei Leon Matthes durchgeführt.«

»Konntest du das ausgetretene Bandscheibengewebe entfernen?«, erkundigte sich Daniel interessiert.

Sein ganzes Leben lang hatte der junge Mann auf alles verzichtet, um Tennisprofi zu werden. Umso dramatischer war die Entscheidung zur Operation gewesen, und Anneka hatte einen entscheidenden Einfluss daran gehabt.

»Ja«, gab Roland gerne Auskunft über den gelungenen Eingriff. »Es ist uns gelungen, den eingequetschte Nerv zu befreien.«

»Weiß man schon, ob er in seinen Sport zurückkehren kann?« Das war die alles entscheidende Frage, und zu seiner Erleichterung nickte Roland sofort.

»Durch die minimal-invasive Technik kann der junge Mann schnell mobilisiert werden und schon in wenigen Tagen mit dem Aufbauprogramm beginnen.«

»Das wird Anneka aber freuen!«, entfuhr es Fee, und sie lächelte zuversichtlich.

Wieder einmal war eine Hürde genommen und nun konnte das junge Glück von Sorgen ungetrübt in aller Ruhe wachsen und gedeihen.

»Und wir wollen keine Zeit mehr verlieren.« Inzwischen hatten sie ihren Abschlagplatz erreicht und Roland kehrte mit den Gedanken zu seinem Vorhaben zurück, dem Ehepaar Norden die Faszination des Golfsportes nahezubringen. Er brachte sich in Position. »Ich zeig euch mal einen Abschlag«, erklärte er und fixierte den Ball, schickte den Blick hinaus aufs Grün und holte dann aus. In hohem Bogen flog die kleine weiße Kugel davon.

Begeistert klatschte Fee in die Hände.

»Bravo! Das war ein toller Schlag!«

»Ein Lob aus dem Mund einer so bezaubernden Frau!«, lächelte Roland zufrieden. »Was kann ein Mann sich mehr wünschen.«

»Mit dieser Frau verheiratet zu sein«, bemerkte Daniel augenzwinkernd.

»Stimmt auffallend. Aber das bist du ja schon. Deshalb muss ich mich mit schönen Worten begnügen«, räumte der Bandscheibenspezialist charmant ein und reichte seinem Kollegen den Schläger. »So, jetzt bist du dran.«

»Ich?«

»Natürlich. Wie willst du es sonst lernen?« Roland fasste ihn an den Schultern und zeigte ihm, wie er sich richtig zum Ball stellen musste. »Also, du stellst dich hier hin … So hältst du den Schläger«, korrigierte er Daniels Haltung, während Fee aus sicherer Entfernung zusah. »Und jetzt musst du einfach durchschwingen«, gab Roland Holzapfel eine letzte Anweisung und brachte sich in Sicherheit.

Daniel Norden tat, wie ihm geheißen, und tatsächlich gelang ihm ein passabler Schlag.

»Toll«, nickte Roland anerkennend. »Das war wirklich gut.«

»Anfängerglück«, ertönte da eine Stimme aus dem Hintergrund. »Aber bilden Sie sich bloß nichts darauf ein. Das sagt noch gar nichts.«

Überrascht drehten sich Daniel und Fee um. Nur um Roland Holzapfels Mund spielte ein wissendes Lächeln.

»Mit Ihnen ist aber zur Zeit wirklich nicht gut Kirschen essen, Frau Weiß«, bemerkte er friedfertig. »Dabei wollte ich Ihnen gerade Dr. Daniel Norden und seine Frau Felicitas vorstellen. Herr Dr. Norden führt eine Praxis für Allgemeinmedizin hier in München, und seine Frau ist eine Kollegin in der Klinik. Ich versuche gerade, die beiden von der Faszination des Golfspiels zu überzeugen«, fuhr er leutselig fort und ließ sich auch von Franziskas griesgrämiger Miene nicht einschüchtern. »Das sind also möglicherweise neue Schüler für Sie, die Sie besser nicht vergraulen sollten«, spielte er auf die Szene an, deren Zeuge er geworden war.

»Ich bin froh, dass diese eingebildete Ziege das Weite gesucht hat«, schimpfte Franziska Weiß unbeeindruckt über Frau von Soltenau und maß Fee mit einem abschätzigem Blick. »Wenn Sie genauso drauf sind und sich auf Ihren Beruf was einbilden, können Sie gleich wieder gehen. Solche Snobs brauchen wir hier nicht.«

Völlig verwirrt über den ungerechtfertigten, überraschenden Angriff schnappte Fee nach Luft.

»Ich muss schon sehr bitten …«, setzte sie zu einer Verteidigungsrede an, als sich Franziska abwandte. Ihr nicht zu deutender Blick blieb einen Moment länger als unbedingt nötig an Daniel Norden hängen, ehe sie sich endgültig umdrehte und davon marschierte.

Ungläubig starrte Fee ihr nach, und Roland seufzte tief.

»Früher war Frau Weiß die Liebenswürdigkeit in Person«, erklärte er nachdenklich. »Ich habe bei ihr das Golfspielen gelernt und wir hatten viel Spaß. Vor ein paar Jahren haben wir uns dann aus den Augen verloren. Als ich sie zufällig vor ein paar Wochen hier in der Halle wiedertraf, war alles anders.«

»Seltsam«, wunderte sich auch Daniel Norden. »Ist etwas vorgefallen, was diese Veränderung erklären könnte?« Wie immer interessierte er sich für die Zusammenhänge, empfand viel Empathie und Mitgefühl für seine Mitmenschen.

Doch darauf konnte sein Kollege keine Antwort geben.

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.« Ratlos zuckte Roland mit den Schultern, ehe er sich wieder Fee zuwandte. »Aber jetzt wollen wir uns lieber wieder dem Grund widmen, wegen dem wir überhaupt hierher gekommen sind«, forderte er sie auf und drückte ihr den Golfschläger in die Hand.

Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Zögernd griff sie nach dem kalten Metall.

Doch Roland dachte nicht daran, Gnade walten zu lassen.

»Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, erwiderte er gut gelaunt und zeigte Fee, wie sie sich hinstellen musste. Glücklicherweise war es Franziska Weiß nicht gelungen, ihm die gute Laune zu verderben und schon bald lachten auch Daniel und Fee wieder und hatten viel Spaß bei ihrem Schnuppertraining mit dem sympathischen Kollegen.

*

»Da bist du ja endlich, Mami«, krächzte Anneka Norden, als sich Felicitas am Abend ins Zimmer ihrer kranken Tochter schlich. »Wo warst du denn so lange?«

Schlagartig bekam Fee eine schlechtes Gewissen.

»Ein Kollege hat Papi und mich in eine Golfhalle eingeladen. Da konnten wir nicht absagen«, erklärte sie fast schuldbewusst. Sie setzte sich ans Bett und legte die Hand prüfend auf Annekas Stirn. Sie war warm, aber nicht besorgniserregend heiß. »Ich hab vorher mit Lenni telefoniert. Sie hat mir gesagt, dass du schläfst und es dir halbwegs gut geht. Sonst wäre ich natürlich sofort heimgekommen.«

Die junge Frau rang sich ein mattes Lächeln ab.

»Mach dir keine Sorgen. Es ist alles okay. Ich bin ja kein Kleinkind mehr«, versuchte sie, Fees Sorge zu zerstreuen. »Trotzdem ist es schön, dass du jetzt da bist.« Anneka schmiegte die Wange in die Hand ihrer Mutter und lächelte versonnen. »Ich hab vorhin mit Leon telefoniert.«

»Oh, das ist ja schön. Geht es ihm schon wieder so gut?«, freute sich Fee über diese Nachricht.

»Stell dir vor, er hat überhaupt keine Schmerzen. Der Eingriff wurde minimal-invasiv gemacht und er hat nur drei kleine Schnitte.« Zu Fees Erstaunen wurde das Lächeln auf Annekas Lippen schmal.

»Was ist denn? Habt ihr euch gestritten?« Schon fürchtete sie um die Harmonie des noch so jungen Glücks.

»Nein, das nicht. Aber Leon hat schon wieder vom Training gesprochen und davon, dass er so schnell wie möglich in seiner neuen Mannschaft anfangen will. Dabei muss er doch erst ganz gesund werden, oder?«

Zärtlich strich Fee ihrer ältesten Tochter eine hellblonde Strähne aus der erhitzten Stirn.

»Du machst dir Sorgen, was?«, fragte sie verständnisvoll.

»Ich hab Angst, dass er genauso weitermacht wie vorher und sich seine Gesundheit endgültig ruiniert«, gab Anneka ohne Zögern zu.

Anders als viele andere Jugendliche in ihrem Alter hatte sie ein besonders gutes Verhältnis zu ihren Eltern und keine Geheimnisse vor Fee und Daniel. Sie konnte offen mit ihnen über alles reden und tat es auch vertrauensvoll.

»Diese Gefahr besteht natürlich«, gab Fee unumwunden zu. »Allerdings solltest du auch ein bisschen Vertrauen in ihn haben. Schließlich ist es sein Leben und er muss selbst entscheiden, was er damit anstellt.«

»Es ist aber gar nicht so einfach, da nicht dreinzureden«, seufzte Anneka.

Felicitas lachte.

»Das stimmt, meine Süße. Den anderen sein zu lassen, wie er ist, das ist die hohe Kunst der Liebe. Die zu erlernen, ist eine der schwierigsten Übungen überhaupt.«

Anneka kuschelte sich wohlig in die Kissen. Sie schloss die Augen und lächelte wie ein Engel.

»Ich glaube, ich fange erst morgen an, das zu lernen«, murmelte sie schon halb im Schlaf. »Heute bin ich zu müde dazu.«

Gleich darauf verrieten ihre gleichmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war.

Beruhigt strich Fee die Bettdecke glatt, schenkte ein frisches Glas kalten Tee ein, falls Anneka in der Nacht Durst bekam, und zog sich leise zurück. Die Tür ließ sie einen Spalt breit offen, so dass ein schmaler Lichtschein ins Zimmer fiel.

Wie früher!, ging es ihr durch den Sinn, und sie wurde ein bisschen wehmütig, während sie die Stufen nach unten stieg. Als die fünffache Mutter jedoch die munteren Stimmen ihrer Familie aus dem Esszimmer hörte, verflog die bedrückte Stimmung schnell und sie freute sich auf das gemeinsame Abendbrot mit ihren Lieben, an dem Anneka und vielleicht der Neuzugang Leon bald wieder teilnehmen konnten.

*

Als Wendy am nächsten Morgen in die Praxis kam, war ihre Freundin und Kollegin Janine schon da. Während sie mit der Gießkanne durch die Praxis ging und die Blumen goss, summte sie ein fröhliches Lied.

»Nanu, so gute Laune heute?«, erkundigte sich Wendy überrascht. Sie hängte die dicke Winterjacke an die Garderobe und rieb die kalten Hände aneinander.

»Ja, warum nicht?«, fragte Janine und strahlte ihre Freundin an. »Es ist doch auch ein wunderschöner Morgen.«

»Unter wunderschön verstehe ich was anderes«, gab Wendy irritiert zurück. Sie ging in die kleine Küche, um das Mittagessen, das sie am Abend zuvor vorbereitet hatte, im Kühlschrank zu verstauen. Bei dieser Gelegenheit holte sie sich gleich eine Tasse Kaffee. »Willst du auch noch Kaffee?«, fragte sie.

»Nein danke, ich hab noch«, säuselte Janine in so ungewohnt sanftem Tonfall, dass Wendy langsam doch misstrauisch wurde.

»Sag mal, stimmt was nicht?« Mit der Tasse in der Hand lehnte sie im Türrahmen und beobachtete ihre Kollegin, wie sie die Gießkanne auf dem Fensterbrett abstellte und sich verträumt lächelnd an ihren Schreibtisch setzte.

»Doch, doch, alles bestens«, versicherte Janine. »Aber wieso fragst du?«

»Ich weiß nicht … irgendwas ist anders heute.« Wendy dachte immer noch über die wundersame Verwandlung ihrer Kollegin nach, als Daniel Norden die Praxis betrat. Von seiner Verletzung war kaum mehr etwas zu sehen, als er gut gelaunt an den Tresen trat.

»Einen wunderschönen guten Morgen, die Damen«, begrüßte er seine beiden Assistentinnen. »Sagen Sie, waren Sie schon mal beim Golfspielen? Wenn nicht, dann müssen Sie das unbedingt ausprobieren. Ich hätte nie gedacht, dass das so viel Spaß macht.« Einen Moment lang stand er sinnend am Tresen. Dann nickte er den beiden Frauen zu und wandte sich ab, um in sein Sprechzimmer zu gehen.

Verdutzt starrte Wendy ihrem Chef nach, als ihr ein Licht aufging.

»Moment mal, jetzt verstehe ich deine gute Laune«, erklärte sie belustigt und stellte sich neben Janines Schreibtisch.

»Ach ja?«

»Die hängt sicherlich mit diesem Charmeur Roland Holzapfel zusammen.«

Sie hatte den Namen noch nicht ganz ausgesprochen, als ihr die flammende Röte auf Janines Wangen auch schon recht gab.

»Wie kommst du denn …«, wollte sie zuerst wiedersprechen, ließ es dann aber bleiben. Es gab keinen Grund, Wendy etwas zu verheimlichen, zumal sie sich in der Vergangenheit als vertrauenswürdige Freundin erwiesen hatte. »Na ja, er ist zwar ein bisschen alt, aber nett ist er ja schon. Und stell dir vor: Er wollte mich gestern sogar zum Mittagessen einladen.«

»Ach, und was hat ihn davon abgehalten?«, hakte Wendy interessiert nach.

»Du solltest lieber fragen, wer«, entgegnete Janine, als ihr Gespräch unvermittelt unterbrochen wurde. Begleitet von wütendem Schimpfen wurde die Praxistür aufgestoßen.

»Warum geht denn diese Tür so schwer auf? Wie soll das eine todkranke Frau schaffen?«, zürnte niemand anderer als Franziska Weiß. Zornig, wie sie war, waren ihr ihre Beschwerden nicht anzusehen. Sie machte einen rundum gesunden, wenn auch nicht gerade glücklichen Eindruck.

»Guten Morgen«, begrüßte Janine Merck die aufgebrachte Patientin betont freundlich.

»Ich möchte mal wissen, was an diesem Morgen gut sein soll.« Franziska presste die Hände gegen die Brust und atmete schwer. »Das hier ist der pure Horror! Was sitzen Sie denn hier rum und glotzen mich an? Holen Sie gefälligst einen Arzt. Oder wollen Sie darauf warten, dass ich tot umfalle?«

Erschrocken sprang Janine auf und machte sich sofort Vorwürfe, den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben.

»Was fehlt Ihnen denn?«, fragte sie und fasste die aufgebrachte Frau am Arm, um sie zu einem Stuhl zu führen.

»Mein Herz«, stöhnte Franziska Weiß. »Dieses Herzrasen bringt mich eines Tages noch um.«

»Waren Sie schon mal bei einem Arzt deswegen?«, erkundigte sich Janine fürsorglich.

Doch das war offenbar genau die falsche Frage.

»Was glauben Sie wohl, warum ich hier bin? Oder ist das etwa keine Arztpraxis«, fauchte die Patientin erbost. Ihre Beschwerden schienen sie nicht davon abzuhalten, ihre schlechte Laune wie Gift zu versprühen.

Selbst Danny Norden, der die Praxis in diesem Augenblick betrat, wunderte sich über den ungewohnten Tonfall.

»Guten Morgen, die Damen«, grüßte er irritiert.

Franziska Weiß fuhr zu ihm herum und funkelte ihn an.

»Jetzt fangen Sie auch noch an! Ich brauche einen Arzt, aber sofort.«

»Ich bin Arzt«, erklärte Danny, der sich schnell wieder von seinem Schrecken erholt hatte.

Diese Mitteilung verschlug Franziska Weiß offenbar die Sprache. Einen Augenblick lang vergaß sie sogar Luft zu holen.

»Sie?«, keuchte sie schließlich und drehte sich hilfesuchend zu Wendy und Janine um. »Aber das kann nicht sein. Ich habe gestern Abend einen anderen Dr. Norden getroffen.«

»Dann meinen Sie sicher meinen Vater, den Seniorchef.« Insgeheim war Danny heilfroh, diese Auskunft geben zu können. Diese Patientin zu behandeln war sicher kein Spaß. »Ist Dad schon da?«, erkundigte er sich bei den beiden Assistentinnen.

»Natürlich.« Wendy erhob sich von ihrem Schreibtisch und ging um den Tresen herum. »Wenn Sie einen Augenblick warten, hole ich ihn.«

»Aber beeilen Sie sich! Ich habe keine Lust, auf dem Flur einer Arztpraxis zu sterben.«

»Keine Sorge, das werden Sie schon nicht. Dafür bin ich ja da«, versicherte Danny.

Doch das war offenbar nicht das, was Franziska Weiß hören wollte. Ihre Augen wurden rund vor Schreck.

»Sie fassen mich nicht an!«, kreischte sie entsetzt. »Nur über meine Leiche.«

Nur mit Mühe konnte sich Danny ein Grinsen verkneifen und war heilfroh, als sein Vater in Wendys Begleitung den Flur hinunterkam. Als Franziska Weiß ihn sah, stöhnte sie erleichtert auf.

»Da sind Sie ja endlich!«

»Guten Tag, Frau Weiß.« Daniel erinnerte sich an den Namen der Patientin.

Vor Schreck hielt Wendy die Luft an. Zu ihrem großen Erstaunen regte sich Frau Weiß aber diesmal nicht über den freundlich gemeinten Gruß auf.

»Dieser Tag ist nicht gut. Er ist der pure Horror«, teilte sie dem Arzt ruhig mit.

»Welche Beschwerden haben Sie denn?«, erkundigte sich Daniel fürsorglich. Er fasste sie sanft am Arm und führte sie unter den ungläubigen Blicken seiner Mitarbeiter durch den Flur in Richtung Sprechzimmer.

»Herzrasen … kennen Sie sowas? Es ist schrecklich. Jedes Mal wieder denke ich, dass ich sterben muss.«

Die Stimmen wurden leiser, und als Daniel die Tür hinter ihnen schloss, verstummten sie schließlich ganz. Danny, Wendy und Janine tauschten vielsagende Blicke. Wie auf Kommando atmeten alle drei gleichzeitig aus, ehe sie sich an die Arbeit machten.

*

Wann immer es nötig war, nutzten die beiden Ärzte der Praxis Dr. Norden die Mittagspause, um besonders schwierige Fälle zu besprechen. Sie saßen am Tisch und ließen sich Janines leckeren Gemüsestrudel schmecken, den sie kollegial mit ihnen geteilt hatte. Dabei diskutierten sie die Untersuchungsergebnisse von Franziska Weiß.

»Sämtliche Auswertungen sind unauffällig. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass das Herzrasen eine physische Ursache hat«, stellte Daniel Norden Senior fest. Um sich ein möglichst genaues Bild von Frau Weiß‘ Krankengeschichte machen zu können, hatte er sich die Unterlagen des Arztes kommen lassen, bei dem sie bisher in Behandlung gewesen war. »Auch eine Medikation hat nicht weitergeholfen. Das Herzrasen kommt trotzdem immer wieder.«

»Dann bleibt wohl nichts anderes übrig, als einen Herzschrittmacher einzusetzen«, erwiderte Danny und schob ein Stück Strudel in den Mund.

Während sein Sohn die Köstlichkeit genoss, dachte Daniel über diese Möglichkeit nach. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Das sehe ich anders, zumal die Patientin bei mir plötzlich lammfromm war.« Noch immer wunderte sich Daniel über Franziskas plötzliche Zurückhaltung, kaum dass er die Tür des Sprechzimmers hinter sich geschlossen hatte. Ihm gegenüber war sie zwar nicht herzlich, aber durchaus ruhig und besonnen gewesen.

Unwillig schüttelte Danny den Kopf.

»Ich bitte dich! Das ist doch keine Frage der Sichtweise. Diese Frau ist ganz offensichtlich herzinfarktgefährdet.« Er war so irritiert, dass er sogar vergaß, das weitere Stück Strudel, das er auf der Gabel aufgespießt hatte, in den Mund zu schieben. Ungläubig sah er seinen Vater an.

Doch Daniel ließ sich nicht beirren.

»Ich glaube, dass Frau Weiß‘ Beschwerden psychosomatischer Natur sind. Diese ständigen Beschimpfungen, diese aggressiven Ausbrüche …«

»Sind nichts weiter als Ausdruck ihrer Angst. Das ist doch ganz klar«, erläuterte Danny und betrachtete versonnen die Gabel in seiner Hand. »Mit dem Herzrasen kommen die Angstzustände. Und dass Angst aggressiv macht, ist ja nichts Neues«, erinnerte er seinen Vater an die unabänderlichen Tatsachen.

»Es könnte aber auch umgekehrt sein. Meinst du nicht?«, gab Daniel zu bedenken. »Aus irgendwelchen Gründen bekommt Frau Weiß Angst. Und dann setzen die Herzbeschwerden ein … das erinnert an die berühmte Frage, was zuerst da war. Das Ei oder die Henne.« Daniel hatte sein Mittagessen inzwischen beendet und schob den Teller von sich. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein, die Janine vorausschauend, wie sie war, gleich mitgebracht hatte, und lehnte sich zurück. »Irgendwas stimmt nicht mit dieser Frau. Meiner Ansicht nach braucht sie eine Psychotherapie.«

»Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass sie so einer Maßnahme niemals zustimmen wird. Eher reißt sie dir den Kopf ab«, erinnerte Danny seinen Vater. »Mal abgesehen davon, dass das Risiko zu groß ist, so lange zu warten, bis eine Therapie greift. Was, wenn sie uns in dieser Zeit wegstirbt?«

Diese Gefahr war nicht wegzudiskutieren. Das wusste Dr. Norden senior so gut wie sein Sohn. Trotzdem glaubte er nicht an eine operative Lösung des Problems.

»Du hast ja recht«, räumte er unumwunden ein. »Aber ein Herzschrittmacher wird die Probleme unserer Patientin nicht lösen. Mit Sicherheit wird sich ihr Körper dann ein anderes Ventil suchen und neue Symptome produzieren.«

Diese Worte seines Vaters konnte Danny beim besten Willen nicht nachvollziehen.

»Was ist denn das für eine Argumentation?«, fragte er unwillig. Auch er hatte sein Mittagessen beendet und stellte die beiden Teller auf dem Tablett zusammen. Im Gegensatz zu Daniel verzichtete er auf den Kaffee. »Das nächste Mal, wenn wir einen Patienten haben, lösen wir erst mal seine privaten Probleme und behandeln ihn dann. Oder wie stellst du dir das vor?«

Daniel Norden leerte seine Tasse und stand auf. Dabei maß er seinen Sohn mit einem nachdenklichen Blick.

»Mit allem, was du sagst, hast du recht«, räumte er bereitwillig ein. »Trotzdem bin ich nicht von einer Operation überzeugt.«

Es kam selten vor, dass sich Vater und Sohn nicht einig waren. Da die Mittagspause aber zu Ende war, mussten sie die Diskussion an dieser Stelle unterbrechen. In diesem besonderen Fall war das nicht schlecht. Beide brauchten Zeit, um über den ungewöhnlichen Fall nachzudenken.

*

Seit die Kinder groß waren und Felicitas ihre Fortbildung machte, hatte es sich die Familie Dr. Norden angewöhnt, sich so oft wie möglich zum gemeinsamen Abendessen an dem großen Tisch im Esszimmer zu versammeln. Auch Dannys Freundin, die sehbehinderte Orientalistik-Studentin Tatjana Bohde, war mit von der Partie. Sie hatte keine Angehörigen in Deutschland und genoss das Familienleben daher umso mehr. Die Sympathie war gegenseitig, und schon bald war Tatjana quasi als dritte Tochter adoptiert worden.

Zur Feier des Tages hatte sich sogar Anneka aufgerafft und saß in Jogginghose und dickem Pullover mit am Tisch. Mit Tatjana verband sie eine tiefe Freundschaft, und von ihrer Erkältung wollte sie sich auf keinen Fall von einem Treffen abhalten lassen.

»Wie kommst du denn mit deiner Bachelor-Arbeit voran?«, erkundigte sich Daniel Norden interessiert bei Tatjana und griff nach der Schüssel Salat, die Lenni neben anderen Leckereien auf den Tisch gestellt hatte.

»Oh, sehr gut. Wenn alles klappt, bin ich in einer Woche fertig«, berichtete die junge Frau freudig und fixierte den cremigen Nudelauflauf mit Tomaten und Mozzarella, der vor ihr stand. »Kann ich noch einen Löffel voll haben?«, fragte sie bescheiden. »Lenni hat sich wieder einmal selbst übertroffen.«

»Nimm nur, mein Kind. Du sollst ja nicht hungrig vom Tisch aufstehen«, erwiderte Fee lächelnd und füllte Tatjanas Teller ein weiteres Mal.

»Du solltest vorsichtig sein!«, mischte sich Danny in das Gespräch der beiden Frauen ein. »Je mehr du ihr gibst, umso mehr dehnt sich ihr Magen aus und umso mehr braucht sie zu essen. Am Ende bekomme ich sie gar nicht mehr satt.« Sein skeptischer Blick ruhte auf der großen Portion, die vor seiner Freundin stand.

Ihrer schlanken Figur war es nicht anzusehen, dass Tatjana Essen über alles liebte, und es war erstaunlich, welche Mengen diese schmal gebaute Frau vertilgen konnte.

»Du bist nur neidisch, weil du nicht so viel essen kannst, ohne zuzunehmen«, gab sie schadenfroh lächelnd zurück.

»Unsinn«, wehrte sich Danny gegen diese Unterstellung seiner Freundin. »Jeder Mensch weiß doch, dass Kalorien beim Überbacken mit Käse abgetötet werden.«

Einen Moment lang starrte Tatjana ihren Freund ungläubig an. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus.

»Du bist echt lernfähig«, lobte sie ihn gleich darauf und küsste ihn herzhaft auf die Wange. »Der hätte glatt von mir sein können. Langsam machst du mir mit deinen Sprüchen Konkurrenz.«

»Das ist nur ein Ablenkungsmanöver, damit er dir unbemerkt Nudeln vom Teller klauen kann«, machte Felix sie frech wie immer auf die Gabel aufmerksam, die Danny unbemerkt auf ihren Teller schieben wollte.

In diesem Moment meldete sich Anneka zu Wort. Bis jetzt hatte sie schweigend am Tisch gesessen und lustlos in ihren Nudeln herumgestochert, ohne auch nur einen einzigen Bissen zu nehmen.

»Wenn du willst, kannst du meine Portion auch noch haben«, bot sie ihrem großen Bruder großzügig an und schob ihm den Teller zu.

Augenblicklich gehörte alle Aufmerksamkeit der kranken jungen Frau.

»Hast du denn keinen Hunger?«, erkundigte sich Tatjana besorgt.

Anneka schüttelte den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz sanft hin und her wippte.

»Ich glaub, mir geht’s doch noch nicht so gut«, entschuldigte sie sich und stand auf. Trotz ihrer Krankheit vergaß sie nicht, ihren Stuhl ordentlich an den Tisch zu schieben.

»Soll ich dir einen Tee kochen?« Sofort verging Tatjana der Appetit und sie machte Anstalten aufzustehen. »Oder magst du lieber eine Suppe? Lenni kann dir bestimmt ganz schnell was zaubern.«

Doch Anneka schlug diese wohlgemeinten Angebote aus.

»Ich bin eine Mischung aus schlaf und wach. Also schwach!«, versuchte sie, ihre Familie trotz ihrer Krankheit aufzuheitern. »Eigentlich will ich nur schlafen.« Der Versuch glückte, und kurz hellte sich die Stimmung am Tisch auf.

Halbwegs zufrieden winkte Anneka in die Runde, ehe sie sich auf den Weg nach oben machte.

Fee zögerte nicht und stand ebenfalls auf. Sie machte sich Sorgen um ihre älteste Tochter und folgte ihr für den Fall, dass ihr schwindlig wurde.

»Schlafen ist vielleicht wirklich die beste Idee.« In Annekas Zimmer angekommen wartete sie, bis sie ins Bett geschlüpft war, und setzte sich dann auf die Bettkante. »Bist du traurig darüber, dass du Leon nicht sehen kannst?«, fragte sie weich und streichelte Anneka über die Wange.

»Ich hab nicht gedacht, dass ich ihn so vermissen würde«, gestand die kläglich. »Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass wir uns wiedergetroffen haben. Trotzdem denke ich seitdem Tag und Nacht an ihn. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass es ihn mal nicht in meinem Leben gab.« Diese Erkenntnis erstaunte sie selbst am meisten.

Trotz ihrer Sorge musste Fee lächeln.

»Das ist ganz normal, wenn man verliebt ist.«

»Schön und anstrengend gleichzeitig.«

»Vielleicht ist die Verliebtheit auch ein bisschen schuld an deiner Verfassung«, gab die besorgte Mutter zu bedenken. Immerhin kannte sie ihre sensible Tochter und wusste um ihr empfindsames Gemüt.

»Weiß nicht.« Ratlos zuckte Anneka mit den Schultern. Sie war viel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.

»Aber dein Körper weiß zumindest, was gut für ihn ist. Ruhe ist immer noch die beste Medizin«, stellte Fee schließlich fest.

»Ich versuch mal zu schlafen«, murmelte die junge Frau und schloss die Augen.

Als Fee zu ihrer Familie zurückkehrte, stand ihr die Sorge ins Gesicht geschrieben. Tatjana musterte sie ängstlich.

»Was hat sie denn?«, fragte sie. »So hab ich Anneka noch nie erlebt.«

»Ach, ich glaube, da kommt vieles zusammen. Der grippale Infekt, viel Stress in der Schule, ihre erste Liebe, die Sorgen um Leon …«

»Na ja, irgendwie kann ich schon verstehen, dass sie das mitnimmt«, erwiderte Tatjana ernst. »Gefühle sind heutzutage ja auch nur noch was für die ganz Mutigen unter uns.«

»Findest du, dass du Mut brauchst, um mich zu lieben?«, fragte Danny, den diese Ansicht überraschte.

»Na klar«, entfuhr es Tatjana. Doch das vergnügte Funkeln in ihren überraschend blauen Augen verriet, dass sie es nicht ganz ernst meinte. »Bei dir besonders. Man weiß ja nie, welche Gemeinheiten du dir wieder einfallen lässt, nur um mich am Essen zu hindern. Ich habe nur Glück, dass deine Familie zu mir hält und mich versorgt.« Um ihre Worte zu unterstreichen, nahm sie den kleinen Löffel und tauchte ihn tief in die Cremespeise, die Lenni inzwischen zum Nachtisch serviert hatte.

*

Während die Familie lachte und ebenfalls zugriff, stand Dési heimlich vom Tisch auf. Sie hatte die ganze Zeit zugehört und Anneka mit großen Augen dabei zugesehen, wie sie nach oben gegangen war. Langsam machte auch sie sich ernsthafte Sorgen um ihre große Schwester.

Als sie an die Zimmertür trat, sah sie durch den Spalt, wie sich Anneka unruhig im Bett hin und her wälzte.

»Soll ich dir was zu trinken bringen?«, erkundigte sie sich fürsorglich.

Anneka lächelte matt ins Dämmerlicht.

»Süße, du kannst echt Gedanken lesen«, staunte sie nicht schlecht. »Ich träum schon die ganze Zeit von einem Glas eiskaltem Orangensaft.«

»Das ist eben echte Geschwisterliebe«, erwiderte Dési, stolz darauf, gerade im richtigen Moment gekommen zu sein. »Ich bin gleich wieder da.« Mit diesem Versprechen lief sie die Treppe wieder hinunter.

In der Küche traf sie auf ihren Vater, der sich ein Bier aus dem Kühlschrank holte.

»Irgendwie geht es Anneka wirklich nicht so gut«, stellte sie fest, während sie den Saft in ein Glas schenkte. Sie klopfte zwei Eiswürfel aus dem Behälter. Sie knackten leise, als sie sie in den Saft fallen ließ.

»Wenn es ihr morgen nicht besser geht, soll Felix sie in die Praxis bringen«, beschloss Daniel und legte tröstend die Hand auf Désis Schulter. »Rein äußerlich gibt es nämlich gar keinen Grund für ihren schlechten Zustand. Sie hat weder besonders hohes Fieber und außer ein bisschen Schnupfen und Husten keine eindeutigen Krankheitssymptome. Nur dieser Erschöpfungszustand, der gibt mir wirklich zu denken.«

»Glaubst du, dass es was Schlimmes ist?«, fragte Dési skeptisch. Inzwischen standen sie im Flur, sie hatte den Fuß schon auf die erste Stufe gesetzt.

Diese Frage konnte Daniel ruhigen Gewissens beantworten.

»Nein, das glaube ich nicht«, lächelte er beruhigend. »Mach dir nicht so viele Sorgen.«

»Ich versuch’s«, erwiderte Dési und nahm sich vor, tapfer zu sein und nicht immer gleich an das Schlimmste zu denken.

»Wenn Danny und Tatjana fort sind, sehe ich gleich nochmal nach Anneka«, versprach Daniel noch.

Das war es, worauf Dési gehofft hatte.

»Du bist eben doch der beste Papi der Welt!«, erklärte sie erleichtert und stellte sich auf die erste Stufe, um Daniel einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann hatte sie es eilig, Anneka den eisgekühlten Orangensaft zu bringen. Als sie aber das Zimmer betrat, schlief ihre Schwester tief und fest.

*

Anneka schlief auch noch am nächsten Morgen, als ihre Familie das Haus verließ, sodass ihr Vater sie nicht stören wollte. Notgedrungen verzichtete er auf die Untersuchung.

»Bitte sehen Sie nach ihr und rufen Sie mich an, wenn es ein Problem gibt«, bat er Lenni, die gute Seele des Hauses.

Tadelnd zog sie eine Augenbraue hoch.

»Das klingt ja ganz so, als ob Sie sich nicht auf mich verlassen können«, erwiderte sie und wirkte eine Spur beleidigt.

»Tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, entschuldigte sich Daniel schnell und beeilte sich, zu Fee in den Flur zu kommen.

»Na, hast du dich mit deiner unsensiblen Art mal wieder in die Nesseln gesetzt?«, scherzte sie unbekümmert.

Sie hatte leise nach Anneka gesehen und festgestellt, dass ihre Temperatur über Nacht offenbar herunter gegangen war. Friedlich, wie sie dort lag und schlief, schien sie langsam über den Berg zu sein.

»Und ich dachte immer, ich bin die Empathie in Person«, schmunzelte Daniel mit einem Anflug von Selbstironie.

»Tja, mein Lieber, so kann man sich täuschen. Können wir?« Felicitas war zum Aufbruch bereit und wartete darauf, dass Daniel den Reißverschluss seiner Jacke zuzog, ehe sie die Tür öffnete.

Der Winter hatte das ganze Land fest im Griff, und draußen herrschten ungemütliche Temperaturen. Während Daniel und Fee Seite an Seite zu den Autos gingen, knirschte das Eis unter ihren Füßen und der Atem stand in kleinen Wölkchen vor ihren Mündern.

»Wollen wir uns heute Abend in der Golfhalle treffen und ein paar Abschläge üben?«, fragte Daniel, bevor er sich von seiner Frau verabschiedete.

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Im Augenblick ist furchtbar viel los in der Klinik, sodass wir oft gar nicht wissen, wo uns der Kopf steht«, erwiderte Fee bedauernd und zupfte einen Fussel von Daniels Jacke. »Lass uns telefonieren, ja?«, bat sie, küsste ihn schnell und flüchtete in den Wagen, bevor sie völlig ausgekühlt war.

Auch Daniel machte sich auf den Weg in die Praxis. Wie immer waren Wendy und Janine schon da und kämpften mit Kerzenlicht gegen das hartnäckige Grau des Tages.

»Schön haben wir’s hier. Richtig gemütlich«, seufzte er zufrieden und rieb sich die kalten Hände. Sein Glück war perfekt, als ihm Janine im Sprechzimmer eine frische und sehr heiße Tasse Kaffee servierte. »Jetzt kann eigentlich nichts mehr passieren.«

Dieser Eindruck täuschte, wie er bald darauf feststellen musste.

»Geben Sie mir was! Los! Sie müssen mir was geben!«, kreischte eine inzwischen wohlbekannte Stimme auf dem Flur. Obwohl sie nur gedämpft bei Daniel ankam, war sie noch laut genug. Gleich darauf war auch Janine zu hören.

Als Franziska Weiß kreidebleich in die Praxis stürmte, überblickte die ehemalige Krankenschwester die Situation sofort.

»Sauerstoff!« Mit einem Satz war sie auf den Beinen und eilte zum Notfallschrank.

Zu ihrer und Wendys großer Überraschung lehnte sich Franziska entschieden gegen diesen Vorschlag auf.

»Quatsch!«, zischte sie ärgerlich. »Mein Herz! Ich brauch was für mein Herz.«

Irritiert hielt Janine inne.

»Haben Sie Schmerzen?«

»Nein.«

»Ein Druckgefühl in der Brust?«

Langsam wurde es Franziska Weiß zu bunt.

»Das ist ein Infarkt, Sie Anfängerin«, herrschte sie Janine erbost an. »Geben Sie mir endlich ein Beruhigungsmittel.«

Hilfesuchend wandte sich die Assistentin an ihre Freundin und Kollegin Wendy.

Die verstand sofort und hob den Hörer.

»Chef, können Sie bitte schnell kommen?«, bat sie, als sich Daniel Norden sofort meldete. »Frau Weiß ist hier. Sie behauptet, dass sie einen Herzinfarkt hat.«

Diese Nachricht war allerdings alarmierend.

»Dann muss sie in die Klinik. Haben Sie schon einen Wagen bestellt?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ihre Diagnose wirklich richtig ist. Sie ist ein wandelnder Wutanfall und hat erstaunlich viel Energie«, erklärte Wendy mit Blick auf die tobende Patientin.

Daniel dachte nur kurz nach. Dann traf er eine Entscheidung.

»Bringen Sie sie ins EKG-Zimmer. Ich bin in zwei Minuten da.«

Es kostete beide Assistentinnen alle Mühe, Franziska Weiß von der Notwendigkeit der Untersuchung zu überzeugen. Mit Engelszungen redeten sie auf sie ein und bugsierten sie ins EKG-Zimmer. Sie brachten die Elektroden auf ihrem Körper an, als Dr. Norden zu ihnen kam.

»Frau Weiß, bitte beruhigen Sie sich«, bat er inständig. Auch wenn Franziska körperlich völlig gesund war, bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie einen Infarkt erlitt.

»Geben Sie sich keine Mühe!«, bemerkte Janine erbittert. »Das habe ich auch schon versucht. Vergeblich.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als jedoch das Wunder geschah.

Als Franziska die Stimme des Arztes hörte, wurde sie augenblicklich ruhiger. Ihr Atem ging langsamer, und sie hörte auf zu zittern.

»Ein Glück, dass Sie da sind, Herr Doktor«, seufzte sie, und ihre Miene entspannte sich ein wenig.

Inzwischen verfolgte Wendy die Aufzeichnungen des EKGs, während Janine an den Tresen zurückgekehrt war, um sich um die anderen Patienten zu kümmern.

»Machen Sie sich bitte keine Sorgen«, redete Daniel weiter beschwichtigend auf seine Patientin ein. »Alles wird gut.« Er sah sich nach Wendy um und schickte ihr einen fragenden Blick.

Die zuckte ratlos mit den Schultern.

»Keine Ahnung, woher diese Anfälle kommen. Körperlich ist Frau Weiß völlig in Ordnung«, zog sie einen ersten Schluss aus den Aufzeichnungen des Geräts.

»Dann muss es sich tatsächlich um ein psychosomatisches Phänomen handeln«, bemerkte Daniel Norden nachdenklich.

Angesichts dieser Bemerkung regte sich schon wieder Franziskas Unmut.

»Ich bin nicht psychisch krank«, schimpfte sie.

»Das hat ja auch keiner behauptet. Wir müssen nur sämtliche Möglichkeiten in Betracht ziehen, um Ihren Anfällen auf die Spur zu kommen.« Daniel nickte Wendy zu und bedeutete ihr, den Papierstreifen mit den Aufzeichnungen des EKGs abzureißen und mit nach draußen zu nehmen. »Ich bin sofort wieder bei Ihnen«, entschuldigte er sich bei Franziska Weiß und verließ in Begleitung seiner Assistentin den Raum.

»Ich schätze, die Frau will nur Medikamente haben«, teilte Wendy ihrem Chef flüsternd ihren Eindruck mit, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Sie kam in die Praxis und verlangte sofort Beruhigungsmittel.«

Obwohl Daniel große Stücke auf die Meinung seiner erfahrenen Assistentin hielt, war er diesmal anderer Ansicht.

»Ich denke, ich werde mich mal in Ruhe mit Frau Weiß unterhalten«, sprach er seine Gedanken halblaut aus. »Vielleicht braucht sie einfach nur ein bisschen Aufmerksamkeit.«

»Mit Verlaub, Chef, Sie sind wirklich ein Optimist«, gab Wendy ungläubig zurück. »In Anbetracht des Ansturms, den wir heute erwarten, sollten Sie so ein Gespräch lieber auf den frühen Abend verschieben«, gab sie ihm noch einen wohlmeinenden Rat. Damit war Daniel einverstanden, und sie sah ihm dabei zu, wie er mit dem Papierstreifen in das EKG-Zimmer zurückkehrte.

Kopfschüttelnd gesellte sich Wendy wieder zu Janine.

»Das hättest du sehen sollen.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm sich die Post vor, die der Bote gerade gebracht hatte. »Frau Weiß war wie verwandelt, kaum dass der Chef ins Zimmer gekommen ist.«

Janine, die die Daten eines neuen Patienten im Computer vervollständigt hatte, sah überrascht auf.

»Was hat er denn noch mit ihr gemacht? Ich meine, hat er irgendwas Besonderes getan oder gesagt?«

»Nein. Er hat nur mit ihr geredet. Ganz normal.«

Janine lehnte sich zurück und sah Wendy nachdenklich an.

»Jetzt, wo du es sagst … Das ist mir gestern auch schon aufgefallen.« Sie erinnerte sich an das Leuchten in Franziskas Augen, als Dr. Norden aufgetaucht war. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Vielleicht … nein … das glaub ich nicht«, wagte sie es aber nicht, ihn auszusprechen.

Doch Wendy war hellhörig geworden.

»Was?«, hakte sie neugierig nach.

Janine lächelte peinlich berührt.

»Na ja, vielleicht hat sie sich ja in ihn verliebt. Ich meine, er ist ein attraktiver Mann im besten Alter.«

»Glaubst du wirklich?«, fragte Wendy überrascht. Doch wenn sie länger darüber nachdachte, war diese Idee gar nicht so absurd. Schließlich fand Janine den Bandscheibenspezialisten Dr. Roland Holzapfel auch ausgesprochen attraktiv, und er war noch ein paar Jahre älter als ihr Chef. »Was ist eigentlich mit deinem Verehrer?«, fragte sie aus dem Zusammenhang gerissen.

Erschrocken fuhr Janine zusammen.

»Kannst du etwa Gedanken lesen?«, fragte sie verdutzt. Tatsächlich hatte sie gerade an Roland Holzapfel denken müssen. Wendy lachte belustigt auf.

»Nein.« Sie schob Janine einen Zettel mit einer Telefonnummer über den Schreibtisch. »Aber er hat vorhin angerufen und wollte mit dir sprechen. Du sollst bitte zurückrufen.«

Als Janine das Stück Papier nahm, glühten ihre Wangen in schönstem Rot. Ohne sich dazu zu äußern, schob sie es schnell in die Hosentasche. Zum Glück betrat in diesem Augenblick ein neuer Patient die Praxis Dr. Norden, sodass auch Wendy abgelenkt wurde und ihre Neugier vorerst nicht stillen konnte.

*

Wie Felicitas Norden erwartet hatte, verlief der Tag in der Klinik hektisch und anstrengend. Zwischen zwei Operationen fand sie kurz Gelegenheit, mit Anneka zu telefonieren und sich über ihren Gesundheitszustand zu informieren.

»Mach dir keine Sorgen, Mum. Heute hab ich ziemlich Halsweh, aber sonst geht’s mir eigentlich ganz gut.«

»Halsschmerzen?« Fee wurde hellhörig. Es war das erste Mal, dass Anneka über diese Beschwerden sprach. »Hast du die schon länger?«

»So ein leichtes Kratzen im Hals … Aber das war wirklich nicht schlimm«, versicherte die junge Frau noch einmal mit Nachdruck. »Ich hab heute früh schon mit Leon telefoniert. Der meint, dass er auch krank wird.« Wie immer, galt ihre erste Sorge den Menschen, die sie liebte.

»Herrje, hoffentlich habt ihr euch nicht gegenseitig angesteckt. Das könnte den Heilungsprozess nach seiner Operation deutlich verzögern«, entfuhr es Fee in der Hektik besorgt.

Schwestern und Pfleger eilten an ihr vorbei. In der Nähe stand ihr Bruder Mario Cornelius und diskutierte mit einem Kollegen über die unmittelbar bevorstehende Operation. Dabei sah er immer wieder fragend hinüber zu seiner Schwester. Die Zeit drängte und Fee musste das Telefonat bald beenden.

Doch ihre Worte hatten ihre Tochter ernsthaft besorgt.

»Glaubst du wirklich?«, fragte Anneka kläglich. »Das wäre furchtbar für ihn. Er erträgt es jetzt schon kaum mehr, nicht trainieren zu können.«

Als Fee die Sorge in der Stimme ihrer Tochter hörte, ärgerte sie sich über sich selbst.

»Nach der nächsten Operation sehe ich gleich mal nach ihm. Bitte zerbrich dir jetzt nicht den Kopf über Leon. Im Augenblick sollst du nur daran denken, selbst wieder gesund zu werden. Nur dann kannst du deinem Freund auch eine echte Stütze sein.«

Anneka seufzte bekümmert.

»Du hast ja recht«, zeigte sie sich einsichtig, und Fee konnte halbwegs beruhigt auflegen.

In den nächsten Stunden galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen Oliver, dessen Blinddarm aufgrund einer nicht erkannten Entzündung durchgebrochen war. Erst während des Eingriffs stelle sich heraus, dass die Entzündung inzwischen auf das Bauchfell übergegriffen hatte. Eine Lähmung des gesamten Darms war zu befürchten, und Mario Cornelius und sein Team kämpften fieberhaft um die Gesundheit des Jungen. Mehr als einmal stand der Erfolg der Operation auf Messers Schneide, und es dauerte Stunden, bis die Gefahr endlich gebannt war.

»Puh, das ist gerade nochmal gut gegangen!«, seufzte Mario, als er neben Fee am Waschbecken stand und sich heißes Wasser über die Hände laufen ließ. »Jetzt haben wir uns den Feierabend aber redlich verdient.«

Felicitas wollte schon zustimmen, als ihr Leon wieder einfiel.

»Für mich leider noch nicht. Ich muss nochmal nach Leon Matthes sehen. Anneka hat mir erzählt, dass er auch Halsschmerzen hat.«

»Oh, dann haben die beiden wohl zu viel gekuschelt«, stellte Mario anzüglich lächelnd fest.

»Schon möglich. Sie haben sich zum letzten Mal vor Leons Operation gesehen. Das ist jetzt drei Tage her. Möglicherweise war einer von beiden da schon krank und hat den anderen angesteckt«, dachte Fee laut nach, während sie sich die Hände abtrocknete und anschließend eincremte.

Mario bemerkte, wie angespannt seine Schwester war.

»Soll ich …«, wollte er großzügig anbieten, als der Piepser an seinem Gürtel ein durchdringendes Geräusch von sich gab.

Fee wusste, was das bedeutete, und lächelte ihn dankbar an.

»Dein Typ ist heute offenbar heiß begehrt.«

»Nicht nur heute«, seufzte Mario. Er warf einen Blick auf das Display und schaltete das Gerät ab.

»Mach dir nichts draus«, tröstete seine Schwester ihn. »Ich erledige das schon mit Leon. Dann muss Daniel eben heute auf meine Gesellschaft beim Golfen verzichten.«

Als sie Seite an Seite den Operationssaal verließen, lachte Mario belustigt auf. Er liebte seine Arbeit, sodass ihm selbst der Stress die gute Laune nicht verderben konnte.

»Sag bloß, unser Bandscheibenspezialist hat euch auch schon geködert?«

Fee stutzte.

»Ach, dann macht er das öfter«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Verwunderung. »Kassiert er etwa eine Provision für jeden abgeschlossenen Vertrag?«

»Schwer vorstellbar, dass ein Mann in seiner Position darauf angewiesen sein sollte«, gab Mario zu bedenken, ehe sich ihre Wege trennten. »Vielleicht meint er es einfach nur gut mit seinen Mitmenschen.« Er winkte seiner Schwester und machte sich auf den Weg zur Intensivstation, wo er dringend erwartet wurde.

Fee sah ihm kurz nach. Dann steckte sie die Hände in die Kitteltaschen und ging in die andere Richtung davon, um ihr Versprechen einzulösen und nach dem Freund ihrer Tochter zu sehen.

*

Dr. Daniel Norden hatte den Rat seiner langjährigen Assistentin befolgt und Franziska Weiß am späten Nachmittag noch einmal in die Praxis bestellt. Bevor ein Unglück passieren konnte, wollte er ihrer Krankheit unbedingt auf den Grund gehen.

Im Wartezimmer wartete Franziska auf ihre Behandlung. Nach einem turbulenten Tag saß nur noch eine Patientin dort, die einen Termin bei Danny Norden Junior hatte. Verena Natter litt unter chronischer Bronchitis und hustete unentwegt. Ein paar Minuten schwieg Franziska Weiß und versuchte, sich auf einen Artikel zu konzentrieren. Doch irgendwann war es vorbei mit ihrer Geduld. Entnervt klappte sie die Zeitschrift zu und funkelte Verena wütend an.

»Hören Sie schon auf! Das hält ja keine Menschenseele aus!«

Verena Natter zuckte erschrocken zusammen.

»Aber ich tu es doch nicht mit Absicht«, setzte sie sich entschieden zur Wehr. »Was sind Sie nur für ein Mensch?«

Wenn sie erwartet hatte, Franziska mit dieser Frage nachdenklich zu stimmen, so hatte sie sich geirrt.

Ihre Miene blieb kalt und herzlos.

»Wie darf ich diese Frage verstehen?«, fragte sie herausfordernd. »Moralisch, philosophisch oder wissenschaftlich?«

Verena Natter war so schockiert, dass sie sogar ihren Husten vergaß.

»Ich werde mich beschweren«, erklärte sie und stand auf, um das Wartezimmer zu verlassen.

»Ja, machen Sie nur, Sie kleine Petze! Mir schlottern die Knie vor Angst.« Franziska Weiß lachte unbeeindruckt.

Verena war noch nicht an der Tür angelangt, als Janine ihr entgegenkam. Sie hatte den Disput am Tresen mit angehört und gemeinsam mit Wendy beschlossen einzugreifen.

»Ich muss schon sehr bitten, Frau Weiß!«, erklärte sie streng.

»Was denn? Ist doch wahr!«, fauchte Franziska zornig und schien sich jeden Augenblick auf Verena Natter stürzen zu wollen.

»Bitte beruhigen Sie sich!«

»Wenn Sie gehen und diese Petze mitnehmen, kann ich mich vielleicht beruhigen.« Frau Weiß dachte jedoch gar nicht daran, einsichtig zu sein.

Verena Natter stand immer noch neben Janine und bebte vor Erregung. Tröstend legte die Assistentin den Arm um ihre Schultern.

»Das werde ich sicher nicht tun«, erklärte sie in Franziskas Richtung.

Doch auch diese Worte prallten wirkungslos von der aufsässigen Patientin ab.

»Das sollten Sie aber. Sonst bekomme ich nämlich gleich meinen nächsten Anfall, und Sie wissen ja, wohin das führen kann.«

Angesichts dieser Dreistigkeit stand Janine der Mund offen. War Franziska Weiß nichts anderes als eine Simulantin, die um jeden Preis um Aufmerksamkeit kämpfte?

Glücklicherweise kam in diesem Moment Daniel Norden vorbei und steckte den Kopf ins Wartezimmer. Auch er hatte die lauten Stimmen gehört.

»Gibt es ein Problem?« Fragend sah er von einer zur anderen, und augenblicklich erhellte sich Franziskas verkniffene Miene. Sie griff nach ihrer Tasche und sprang vom Stuhl auf.

»Sie sind meine Rettung, Herr Doktor«, rief sie und eilte mit ausgestreckter Hand auf Daniel zu.

Der zögerte nur kurz.

»Kommen Sie bitte mit in mein Sprechzimmer«, erklärte er mit einem vielsagenden Blick in Janines Richtung. Darin lag die Bitte, sich um Verena Natter zu kümmern und sie milde zu stimmen.

Diese stumme Bitte verstand die fleißige Assistentin auch ohne Worte und tat ihr Bestes, um ihre aufgebrachte Patientin zu beruhigen.

*

Als Daniel Norden gegenüber Franziska Weiß Platz nahm, dachte er kurz über den Plan nach, den er sich im Laufe des Tages zurecht gelegt hatte.

Geduldig, als könne sie kein Wässerchen trüben, saß sie ihm gegenüber und wartete darauf, dass er das Gespräch eröffnete.

»Sämtliche Untersuchungen haben ergeben, dass Sie organisch völlig gesund sind.« Er hatte beschlossen, den Vorfall im Wartezimmer zu ignorieren. Stattdessen nahm er die Laborberichte zur Hand, die am Nachmittag aus der Behnisch-Klinik gekommen waren. »Die Ursache für das Herzrasen ist einfach nicht herauszufinden«, seufzte er und hob den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen. »Ich frage mich wirklich, wie Sie mit der ständigen Angst vor diesen Anfällen klarkommen.«

Das ehrliche Mitgefühl des Arztes überraschte Franziska. Schon lange hatte sich niemand mehr für ihre Gefühle interessiert, und um ihre Mundwinkel zuckte kurz ein feines Lächeln.

»Ehrlich gesagt macht mich das völlig wahnsinnig«, gestand sie schließlich leise und fast ein bisschen verlegen. »Ich weiß genau, dass das nächste Herzrasen, die Todesangst bestimmt wiederkommen. Mit diesem Gedanken stehe ich morgens auf und gehe abends wieder ins Bett. Und die ganze Zeit weiß ich, dass es irgendwann einmal schief gehen wird. Irgendwann werde ich einen Herzinfarkt bekommen.«

Daniel ließ sich Zeit mit einer Antwort. Er wusste, dass alles darauf ankam, dass er die richtigen Worte fand.

»Manchmal werden Sie ganz schön wütend, oder?«, tastete er sich vorsichtig an das Problem heran.

Zu seiner großen Erleichterung wurde Franziska Weiß nicht zornig. Stattdessen senkte sie den Kopf und spielte mit dem Henkel ihrer Handtasche, die auf ihrem Schoß stand.

»Es gibt wirklich Augenblicke, da verliere ich einfach die Kontrolle«, gestand sie sichtlich zerknirscht. »Wer mir dann über den Weg läuft, hat schlechte Karten.«

In diesem Augenblick drang gedämpftes Husten durch die Wände. Offenbar untersuchte Danny seine Patientin im Nebenzimmer, und sofort stand eine steile Falte zwischen Franziskas Augen.

»Geht das schon wieder los?«, stöhnte sie genervt.

Diesmal schwieg Daniel Norden nicht.

»Die Patientin ist hier, weil sie krank ist. Sie hustet nicht absichtlich, um Sie zu ärgern, und leidet mit Sicherheit mindestens genauso darunter wie Sie«, machte er sie auf die unabänderlichen Tatsachen aufmerksam.

Seine eindringliche Stimme brachte Franziska zum Nachdenken.

»Glauben Sie wirklich?« Fragend legte sie den Kopf schief. »Na dann …«

Ihre Reaktion machte Daniel Norden Mut. Er lehnte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch.

»Wissen Sie, ich versuche immer, mich in andere Menschen hinein zu versetzen, mich zu fragen, wie es ihnen wohl im Augenblick geht«, erklärte er freundlich. »Vielleicht sollten Sie das auch einmal probieren.«

Franziska Weiß wagte es kaum, ihrem Arzt ins Gesicht zu sehen. Instinktiv wusste sie, dass er recht hatte. Aber sie kannte auch den Grund für ihr Verhalten. Und doch brachte sie es nicht über sich, sich ihm zu offenbaren.

»Ich weiß nicht …«, erwiderte sie zögernd.

»Seit wann haben Sie denn dieses Herzrasen?«, fuhr Daniel unermüdlich mit seiner Befragung fort. Er war wild entschlossen herauszufinden, woher Franziskas Probleme rührten.

»Seit einigen Monaten. Anfangs war es ja noch erträglich. Aber langsam zerstört es mein ganzes Leben. Selbst meinen Schülern gegenüber reagiere ich ungehalten und manchmal sogar richtig aggressiv. Mein Chef hat schon damit gedroht, mir zu kündigen.«

»Ihre Stelle in der Golfhalle?«, hakte Daniel interessiert nach. Er hatte Geschmack an dieser Freizeitgestaltung gefunden und liebäugelte mit der Teilnahme an einem Kursus. »Das wäre schade. Meine Frau und ich würden diesen Sport gerne bei Ihnen lernen.«

Bei dem Gedanken, diesen attraktiven, empathischen Mann häufiger zu Gesicht zu bekommen, huschte ein Leuchten über Franziskas Gesicht, das aber ebenso schnell wieder verschwand.

»Damit könnte es bald vorbei sein. Das habe ich doch gerade gesagt.«

»Oder aber wir finden heraus, was es mit diesen Anfällen auf sich hat«, ließ Daniel nicht locker. »Ist damals irgendwas passiert, worauf Sie das Herzrasen zurückführen können?«

Er sah seine Patientin interessiert an. Täuschte er sich oder verschloss sich ihre Miene wieder, die sich ihm eben erst ein wenig geöffnet hatte?

»Die Anfälle waren plötzlich da«, bemerkte Franziska schroff. »Aber ich verstehe nicht, was dieses Verhör soll. Ich dachte, Sie wollten mich untersuchen.« Plötzlich stand eine neue Feindseligkeit in ihrem Blick, die sie Daniel gegenüber bisher nicht gezeigt hatte.

Doch darauf konnte er in diesem Augenblick keine Rücksicht nehmen. Er war so weit gekommen und ahnte, dass er der Lösung des Problems auf der Spur war.

»Nur eine Frage noch«, bat er. »Was ist mit Ihrer Familie? Steht Sie Ihnen bei?«

Doch Franziska stand für weitere Antworten nicht mehr zur Verfügung. Wütend sprang sie vom Stuhl auf und sah von oben auf ihn hinab.

»Ach, meine Familie interessiert mich nicht!«, stieß sie hervor und lief zur Tür.

Auch Daniel Norden war aufgestanden und folgte ihr.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst. So eine gefühlvolle Frau wie Sie!«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

»Lassen Sie mich in Ruhe! Ich will nichts mehr hören!« Mit diesen Worten riss Franziska die Tür auf und stürzte aus dem Zimmer, an Danny und seiner Patientin und am Tresen mit den beiden Assistentinnen vorbei aus der Praxis.

Daniel stand in der Tür und sah ihr ungläubig nach.

»Sieht so aus, als hätten Sie Frau Weiß‘ Gunst verspielt«, stellte Wendy lakonisch fest, und Dr. Norden zuckte ratlos mit den Schultern.

*

»Wo sind denn die Äpfel hin?« Ratlos stand Lenni vor dem Kühlschrank und starrte in das Gemüsefach, in dem sich an diesem Mittag noch fünf große Äpfel befunden hatten. »Die bekommen doch nicht einfach Füße und laufen davon.«

»Seit wann führst du denn Selbstgespräche, liebste Lenni?«, fragte Felix, der in diesem Augenblick gestiefelt und gespornt in die Küche kam. Ein Rucksack baumelte über seiner linken Schulter, in der rechten hielt er den Rest eines …

»Sag bloß, du hast sämtliche Äpfel aufgegessen?« Lenni schnappte ungläubig nach Luft.

Irritiert blickte Felix auf den Butzen in seiner Hand und bekam schlagartig ein schlechtes Gewissen.

»Na ja, die waren so lecker, da konnte ich einfach nicht wiederstehen«, gestand er und schenkte Lenni einen treuherzigen Blick. »Aber warum bist du denn so böse mit mir? Sonst schimpfst du mich immer nur, wenn ich mich mit ungesundem Zeug vollstopfe. Dabei sind Äpfel doch gesund. An apple a day keeps the doctor away. So sagt man doch«, zitierte er den berühmten Spruch und grinste.

»Demnach kommen deine Eltern in den nächsten fünf Tagen nicht nach Hause!«, grummelte Lenni verstimmt. »Ich wollte heute Abend einen Apfelstrudel backen. Der Teig liegt schon fertig im Kühlschrank.«

»Wenn Mum und Dad nicht heimkommen, können wir ja auch Pizza bestellen«, entfuhr es Felix. Nur mit Mühe konnte er sich ein Lachen verkneifen.

Lennis Miene wurde indes immer finsterer.

»Das könnte dir so passen«, schimpfte sie. »Aber so leicht kommst du mir nicht davon. Du setzt dich jetzt sofort in dein Auto und holst mir neue Äpfel«, verlangte sie energisch.

»Das würde ich ja wirklich sehr gern tun, allerliebste Lenni. Aber ich muss zum Nachmittagsunterricht in die Schule, und wenn ich zu spät komme, gibt’s einen Verweis. Das ist gar nicht gut so kurz vorm Abi«, gab Felix zu bedenken. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und verließ die Küche.

Lenni blieb nichts anderes übrig, als sich diesem Argument geschlagen zu geben.

»Das nächste Mal fragst du, bevor du den Kühlschrank räuberst«, rief sie ihm nach, ehe er das Haus verließ.

Nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, blieb sie einen Moment in der Küche stehen. Dann traf sie einen Entschluss. Sie hängte die Schürze an den Haken und holte die Börse mit dem Haushaltsgeld aus der Schublade.

»Dann mache ich eben einen kleinen Spaziergang. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft schadet mir schließlich auch nicht«, sagte sie zu sich selbst und wollte sich schon auf den Weg machen, als ihr etwas einfiel. »Anneka! Ich muss ihr Bescheid sagen und ihr das Telefon bringen, falls es klingelt, wenn ich nicht da bin.«

Die älteste Tochter des Hauses hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen, und als Lenni das letzte Mal nach ihr gesehen hatte, hatte sie tief und fest geschlafen. Sie stieg die Treppe nach oben. Als sie die Tür aufschob, erschrak sie.

»Liebes, wie geht es dir denn?« Mit großen Schritten eilte Lenni ans Bett, in dem Anneka mit rot glühenden Wangen und weit aufgerissenen Augen lag.

»Ich hab so furchtbar Halsweh. Mir tun sogar die Ohren weh. Und Kopfweh hab ich auch«, krächzte sie.

Lenni schlug die Hände auf die Wangen.

»Ach du liebe Zeit! Und das ausgerechnet jetzt, wenn deine Eltern nicht zu Hause sind. Was soll ich denn jetzt tun?«

»Ich hab so Durst«, erwiderte Anneka, als ob sie Lennis Lamento nicht gehört hätte. Sie schien regelrecht geistesabwesend zu sein, und Lenni bekam es mit der Angst zu tun.

»Durst? Warte, ich bring dir ein Glas Wasser. Ich bin gleich wieder bei dir.« Froh, überhaupt etwas tun zu können, lief sie die Treppe hinunter.

In der Küche traf sie auf Dési, die sich gerade ein Stück Schokolade in den Mund steckte. Mit großen Augen wartete sie auf die Standpauke, die diesmal jedoch ausblieb. Als sie die Sorge in Lennis Gesicht entdeckte, vergaß sie die Schokolade sofort.

»Geht es Anneka schlechter?«, Sie wusste sofort, worum es ging.

»Ich glaube, deine Schwester hat hohes Fieber und große Schmerzen«, jammerte Lenni, während sie ein Glas mit kaltem Wasser füllte. »Und das ausgerechnet jetzt, wenn deine Eltern nicht da sind.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als ihr der rettende Gedanke kam. »Du könntest bei deinem Vater in der Praxis anrufen.«

Doch Dési hatte eine andere Idee.

»Wenn Dad Patienten hat, kann er nicht weg. Wir müssen in der Klinik anrufen. Mum soll einen Wagen schicken lassen.«

»Ja … ja, ich glaube, das ist eine gute Idee. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Dann kann sich deine Mutter gleich um Anneka kümmern.«

Dieser Vorschlag erleichterte Lenni ungemein. Sie atmete auf und streichelte Dési übers blonde Haar.

»Du bist einfach ein kluges Mädchen«, lobte sie.

»Das hab ich von Mami geerbt«, erwiderte Dési und sonnte sich einen Augenblick lang in dem warmen Gefühl, das das Lob ihr bereitete. Dann erinnerte sie Lenni an das Glas Wasser und eilte selbst zum Telefon, um ihre Mutter über Annekas Zustand zu informieren.

*

Es war nicht wie erhofft Désis Mutter Felicitas, die ans Telefon ging. Statt der vertrauten Stimme klang eine völlig fremde Stimme an Désis Ohr.

»Schwester Nadine Apparat Norden. Was kann ich für Sie tun?«, meldete sie sich freundlich und innerlich stöhnte Dési auf. Während Lenni oben über Anneka wachte, wanderte sie mit dem Telefon am Ohr unruhig im Flur hin und her. Dési nannte ihren Namen und schilderte in knappen Worten ihr Anliegen.

»Tut mir leid, deine Mum ist im Moment im OP. Da kann ich sie unmöglich rausholen«, erhielt sie eine Antwort von Schwester Nadine, die ihr ganz und gar nicht gefiel.

Doch Dési war ein gewieftes Mädchen und wusste auch in dieser Situation einen Rat.

»Und was ist mit meinem Onkel Mario Cornelius? Ist er auch im OP?«, hatte sie sofort die nächste Lösung parat.

»Einen Augenblick, das kann ich gleich für dich rausfinden.« Es knackte in der Leitung, und einen Moment lang hörte Dési eine ruhige Melodie. Dann meldete sich Mario.

»Dési, mein Schatz, Nadine hat mir gesagt, dass du Sehnsucht nach deinem Lieblingsonkel hast«, tönte seine gut gelaunte Stimme an ihr Ohr.

Trotz ihrer Sorgen musste Dési lachen.

»Kunststück, ich hab doch nur den einen.«

»Aber wenn du mehrere hättest, wäre ich der Lieblingsonkel, oder?«, ließ Mario nicht locker.

Der Notfall vom Nachmittag war glimpflich verlaufen, und das Mädchen, dem eine Gräte im Hals stecken geblieben war, befand sich auf dem Weg der Besserung. Er hatte allen Grund für gute Laune.

»Das musst du erst beweisen«, kam eine unerwartet ernste Antwort von Dési. »Ich brauche deine Hilfe.«

Sofort wurde Mario ernst und konzentrierte sich auf das Anliegen seiner Nichte.

»Keine Sorge«, konnte er sie dann beschwichtigen. »Das hat mir Nadine schon alles gesagt. Der Wagen ist schon unterwegs zu euch«, konnte er sie gleich im Anschluss an ihren aufgeregten Bericht beruhigen.

Dési rollte mit den Augen. Gleichzeitig fiel ihr ein Stein vom Herzen.

»Warum sagst du das denn nicht gleich?«, fragte sie, als sie auch schon ein verdächtiges Motorengeräusch hörte.

»Damit dir das Warten nicht zu lange wird.« Mario lachte leise und freute sich, dass seine kleine List gelungen war. »Und jetzt sag deiner Schwester schöne Grüße. Sie soll sich keine Sorgen machen. Ihr Lieblingsonkel wartet schon in der Klinik auf sie.«

*

Nachdem sich Danny Norden noch einmal bei seiner Patientin für das ungehörige Verhalten von Franziska Weiß entschuldigt und sich mit Handschlag von ihr verabschiedet hatte, gesellte er sich zu seinem Vater ins Sprechzimmer. Nachdenklich saß Daniel in seinem Sessel und sah hoch, als sich Danny auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen ließ.

»Was war denn jetzt schon wieder mit Frau Weiß los?«, fragte er und Daniel seufzte.

»Wenn ich das wüsste, wäre ich klüger«, gestand er. »Ich habe mich nach ihrer Familie erkundigt, und plötzlich ist sie ausfallend geworden.«

»Na, so kennen und lieben wir sie ja.«

Dr. Norden ignorierte den Versuch seines Sohnes, die Stimmung etwas zu heben.

»Wenn ich nur wüsste, was mit ihr nicht stimmt. Da muss irgendwas passiert sein …«

In diesem Augenblick riss Danny der Geduldsfaden. Er schätzte und respektierte die Bemühungen seines Vaters, jedem Patienten zu helfen. Doch diesmal ging es ihm zu weit.

»Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?«, fragte er freundlich aber bestimmt.

Irritiert zog Daniel eine Augenbraue hoch.

»Wie meinst du das?«

Ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen, beugte sich Danny vor und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel.

»Du verbringst ziemlich viel Zeit damit herauszufinden, was Frau Weiß fehlen könnte.«

»Seit wann ist das ein Fehler?«, fragte Daniel irritiert nach.

Auf diese Frage ging Danny gar nicht ein.

»Fachliches Können, Menschlichkeit und Engagement sind drei Säulen unseres Berufs«, erläuterte der Junior dem Senior vorwitzig. »Die vierte ist professionelle Distanz.«

Über den Versuch seines Sohnes, ihn zu belehren, lächelte Daniel vielsagend, hatte aber ganz und gar nicht vor, sich von seinem Kurs abbringen zu lassen.

»Frau Weiß braucht dringend jemanden, mit dem sie offen sprechen kann. Dem sie sich anvertrauen kann. Meiner Ansicht nach trägt sie eine große seelische Last mit sich herum, mit der sie nicht mehr fertig wird.«

Danny unterdrückte ein ungeduldiges Seufzen.

»Das ist ja alles schön und gut, Dad«, bestätigte er seinen Vater mit Engelszungen. »Aber sollten wir dieses Feld nicht denjenigen überlassen, die das gelernt haben? Nicht umsonst heißt es: »Schuster, bleib bei deinen Leisten.« Wir sollten uns also auf das beschränken, was wir können.« Seine Stimme war eindringlich.

Doch Dr. Norden ließ sich nicht beirren. Er erhob sich von seinem Stuhl, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, im Zimmer auf und ab zu wandern.

»Ich glaube schon, dass ich Zugang zu ihr habe. Offenbar mag sie mich recht gern. Das ist sogar schon Wendy und Janine aufgefallen.«

In diesem Moment musste Danny einsehen, dass jedes weitere Wort umsonst war. Seufzend stemmte auch er sich aus dem Stuhl hoch.

»Überleg dir gut, was du tust. An deiner Stelle würde ich nicht mehr zu lange warten und ihr die Alternative Herzschrittmacher empfehlen«, gab er seinem Vater einen wohlmeinenden Rat.

Daniel nahm seinem Sohn die Belehrung nicht übel. Ganz im Gegenteil freute er sich über das Interesse seines Sohnes und legte Danny die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, dass ich ganz nah dran bin, ihr Geheimnis zu lüften!«, wiederholte er noch einmal. »Ein Gespräch noch! Wenn es mir dann nicht gelingt, ihr die Wahrheit zu entlocken, empfehle ich ihr einen Besuch in der Klinik«, versprach er seinem Sohn und Partner nach kurzer Bedenkzeit.

Mit diesem Kompromiss konnte auch Danny leben, und er nickte seinem Vater erfreut zu.

»Ich bin zwar gespannt, wie du anstellen willst, dass Frau Weiß nach diesem Auftritt noch einmal ein Wort mit dir redet«, grinste er schon wieder gut gelaunt. »Aber bitte, du bist alt genug, um zu wissen, was du tust.«

Daniel lachte und vollführte eine kleine Verbeugung vor seinem ältesten Sohn.

»Dein Vertrauen ehrt mich!«, erklärte er, ehe er das Thema wechselte.

Nur wenige Minuten später konnte man die beiden Männer beobachten, wie sie Seite an Seite und vertieft in ein angeregtes Gespräch die Praxis verließen, um ihren wohlverdienten Feierabend zu genießen.

*

Felicitas Norden war noch im OP, als der Krankenwagen mit ihrer Tochter Anneka im Hof der Behnisch-Klinik vorfuhr. Mario Cornelius wartete schon auf seine Nichte.

»Hey, Mädel, wenn ich gewusst hätte, dass du solche Sehnsucht nach mir hast, hätte ich dich zu Hause besucht«, bemerkte er augenzwinkernd, während die Kollegen die Liege mit dem Mädchen in die Notaufnahme fuhren. »Behandlungsraum 2 bitte. Ich übernehme«, wies er die Kollegen an und bedankte sich wieder einmal für die gute Zusammenarbeit. Dann widmete er sich ganz seiner Nichte. »Du bist doch hoffentlich damit einverstanden, dass ich dich verarzte?«, fragte er und sah sie dabei so treuherzig an, dass sich trotz ihrer Schmerzen ein feines Lächeln auf Annekas Lippen schlich.

»Klar darf mein Lieblingsonkel mich untersuchen.«

»Eine weise Entscheidung!« Mario strahlte sie an. »Außerdem wird es wahrscheinlich gar nicht lange dauern. Deine Mutter hat nämlich heute deinen Freund untersucht, und wir gehen davon aus, dass ihr euch aneinander angesteckt habt.«

»Leon geht es auch so schlecht?«, fragte Anneka sofort aufgeschreckt. Den ganzen Tag war sie so erschöpft gewesen, dass sie nicht mehr mit ihrem Freund telefoniert hatte. Umso größer war der Schrecken, der ihr jetzt ins Gesicht geschrieben stand. »Was hat er denn?«

»Das darf ich dir leider nicht sagen«, schüttelte Mario bedauernd den Kopf und fuchtelte mit einem Holzspatel vor ihrem Gesicht herum. »Aber ich kann herausfinden, was dir fehlt. Machst du bitte mal den Mund auf?« Mit einer Taschenlampe leuchtete er in Annekas Rachen und fand sofort, wonach er suchte.

»Dachte ich es mir doch. Gerötete und geschwollenen Gaumenmandeln. Sogar die Eiterbeläge fehlen nicht.« Mario legte das Stäbchen zur Seite und tastete den Hals seiner Nichte ab. Die geschwollenen Lymphknoten brachten den letzten Beweis seinen Verdacht.

»Was heißt das?«, fragte Anneka.

»Du hast dir eine akute Tonsillitis eingehandelt, auch eitrige Mandelentzündung genannt.« Unwillig schüttelte der Arzt den Kopf. »Da hast du schon zwei Ärzte zu Hause und keiner stellt diese Diagnose. Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit deinen Eltern sprechen.«

»Mum und Dad haben mich untersucht. Aber da war von belegten Mandeln noch nichts zu sehen«, verteidigte Anneka ihre Eltern fast ärgerlich. »Die Halsschmerzen kamen ganz plötzlich heute Morgen.«

Mario lachte und winkte ab.

»Schon gut. Ich wollte ihre Kompetenzen nicht in Frage stellen«, erklärte er beschwichtigend und maß Fieber. Als er einen Blick auf das Thermometer warf, erschrak er. »Du liebe Zeit. Du glühst ja wie ein Hochofen.« Er dachte einen Moment über die geeignete Therapie nach, dann traf er eine Entscheidung.

»Am besten wir verabreichen dir intravenös ein Antibiotikum. Das beschleunigt den Heilungsverlauf und du musst nicht länger als unbedingt nötig leiden. Außerdem bekommst du Schmerzmittel, damit du heute Nacht schlafen kannst.«

Doch Anneka hörte ihm kaum zu.

»Hat Leon auch Mandelentzündung?«, fragte sie ängstlich und sah ihrem Onkel dabei zu, wie er hinüber zum Schreibtisch ging und den Telefonhörer hob, um bei einer Schwester die Infusionslösung zu bestellen.

»Eine Tonsillitis ist hochansteckend«, gab er statt einer eindeutigen Antwort zurück und erläuterte der Schwester, was er brauchte.

Aber Anneka verstand auch so.

»Aber er ist doch frisch operiert. Wird er denn dann überhaupt wieder gesund werden?«

Kopfschüttelnd kehrte Mario Cornelius ans Krankenbett seiner Nichte zurück. Er legte eine Manschette um ihren Arm, um das Blut zu stauen und legte einen Venenzugang in ihre Hand. Das tat er so geschickt, dass Anneka kaum etwas davon merkte.

»Mädchen, du solltest dir jetzt nicht den Kopf über deinen Freund zerbrechen. Leon ist bei uns in den besten Händen. Mal abgesehen davon, dass er nicht halb so krank ist wie du«, beschwor er sie eindringlich.

Die Tür öffnete sich, und eine Schwester kam mit dem Infusionsbeutel herein.

»Du bist jetzt die Hauptperson in deinem Leben«, erklärte der Arzt noch. »Wenn du wieder gesund bist, kannst du dich gerne um deine Lieben kümmern. Aber nicht jetzt. Versprichst du mir das?« Er schickte Anneka einen eindringlichen Blick, der sie selbst in ihrem schlechten Zustand erreichte.

»Also gut, ich versprech’s«, erklärte sie krächzend.

Das war es, was Mario hören wollte. Er nickte lächelnd, bedankte sich bei der Schwester und hängte den Beutel an die Haltevorrichtung über dem Bett.

Dann befestigte er den durchsichtigen Plastikschlauch am Zugang und regelte über einen Schieber die Menge an Flüssigkeit, die in die Vene tropfen sollte. Er war gerade fertig mit seiner Arbeit, als der Piepser an seinem Gürtel wieder einmal einen durchdringenden Signalton von sich gab.

»Hab ich noch nicht mal Ruhe, wenn ich mich mit einer schönen, jungen Frau beschäftigte?«, fragte er in gespielter Verzweiflung und warf einen Blick auf das Display. »Tut mir leid, Süße, ich muss los«, entschuldigte er sich dann bei seiner Nichte. »Die Schwester bringt dich gleich auf dein Zimmer. Und spiel bloß nicht den tapferen Indianer, sondern drück auf die Klingel, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist«, mahnte er sie zum Abschied.

Anneka nickte folgsam und sah Mario nach, wie er den Behandlungsraum mit eiligen Schritten verließ. Seine tröstende Stimme im Ohr schloss sie erschöpft die Augen und tat, wie er sie geheißen hatte: Im Augenblick kümmerte sie sich nur um sich und versuchte, ein bisschen Ruhe zu finden. Doch das Glück war nicht von langer Dauer.

*

Janine Merck hatte an diesem Abend etwas Besonderes vor.

»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich schon gehe?«, fragte sie ihre Freundin und Kollegin Wendy und schaltete den Monitor ihres Computers aus. Ihr prüfender Blick wanderte über den Schreibtisch. »Die Abrechnungen sind fertig und die Laborberichte sortiere ich morgen ein«, erklärte sie, während sie ihre Handtasche nahm und zur Garderobe ging.

Interessiert hob Wendy den Kopf. Es kam nicht oft vor, dass Janine die Praxis vor ihr verließ.

»Nanu, hast du etwa noch was vor heute Abend?«Sie dachte an den Zettel mit der Telefonnummer, den sie ihrer Freundin zugeschoben hatte. »Etwa eine Verabredung mit deinem Galan?«

»Sag mal, hast du eigentlich noch was von deinem Verehrer gehört? Wie hieß er doch gleich?«, konterte Janine mit einer Gegenfrage.

Ihre geröteten Wangen und die leuchtenden Augen täuschten aber nicht darüber hinweg, dass Wendy ins Schwarze getroffen hatte. Doch sie insistierte nicht und lachte nur von einem Ohr zum anderen. Janine winkte ihr und verließ mit eiligen Schritten die Praxis, um sich auf den Weg in das Restaurant zu machen, in das Dr. Roland Holzapfel sie spontan eingeladen hatte.

Der Bandscheibenspezialist hatte sie schon durchs Fenster gesehen und war von dem verschwiegenen Tisch in der Ecke des romantischen Restaurants aufgesprungen, um ihr entgegen zu eilen.

»Ich hätte nie damit gerechnet, dass Sie sich so schnell bei mir melden!«, begrüßte er Janine freudestrahlend.

»Ich ehrlich gesagt auch nicht«, entfuhr es ihr. Das war die Wahrheit. Sie war nicht auf der Suche nach einem Mann und hätte sich im Normalfall noch ein paar Tage Zeit gelassen. Doch die Tatsache, dass sich ein so viele Jahre älterer Mann für sie interessierte, schmeichelte ihr und sie hatte die erste freie Minute genutzt, um ihn anzurufen.

Roland Holzapfel, der nichts von ihren Gedanken wusste, fasste sie sanft am Ellbogen, um sie zum Tisch zu führen.

»Haben Sie gleich her gefunden? Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier. Ich mag kleine Restaurants mit dem gewissen Etwas.« Während Roland sie an den Tisch brachte, sah sich Janine um. Auch ihr gefiel das stilvolle Ambiente, das trotz seiner Schlichtheit gemütlich wirkte. Kerzen flackerten auf den dunklen Holztischen. Bunte Kissen auf den Stühlen und Künstlerbilder an den Wänden lockerten die strenge Nüchternheit auf.

»Sie haben genau meinen Geschmack getroffen«, lobte Janine und nahm Platz auf dem Stuhl, den Roland galant für sie zurecht rückte. Er war ein Kavalier alter Schule und beeindruckte sie nicht zuletzt mit seinen hervorragenden Manieren.

»Sie meinen auch«, gab er ihr Kompliment umgehend zurück und sah sie bewundernd an. »Sie sehen wunderschön aus.«

»Sie schmeicheln mir«, bemerkte Janine verlegen und blickte an sich hinab. Sie trug einfache, dunkelblaue Jeans, die sie mit einer schlichten Bluse und einem kurzen Blazer kombiniert hatte.

»Nein wirklich, es ist perfekt.«

Als sie sich gegenüber saßen, entstand eine kurze, gespannte Stille.

»Was …«, begannen beide plötzlich wie auf Kommando gleichzeitig zu sprechen, hielten inne und lachten sich nervös an.

»Sie zuerst«, wollte Janine ihrem Tischherrn den Vortritt lassen, doch natürlich wusste Roland, was sich gehörte.

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, wehrte er ab und sah sie aufmerksam an. »Was wollten Sie mich fragen?«

Verlegen senkte sie den Kopf. Während sie mit dem leeren Wasserglas spielte, das auf dem Tisch stand, sah sie ihn von unten herauf an.

»Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie mich auch zum Golfspielen überreden wollen. Herrn und Frau Dr. Norden haben Sie ja förmlich um den kleinen Finger gewickelt.«

Als Janine seine Passion erwähnte, leuchteten die Augen des Arztes auf.

»Hätten Sie denn Interesse daran, diesen Sport zu lernen?«

Abwehrend hob Janine die Hände und lachte.

»Oh nein, ich glaube kaum, dass ich Gefallen daran finden könnte, einem Ball hinterher zu laufen, den ich vorher möglichst weit weg geschlagen habe.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als Roland in schallendes Gelächter ausbrach.

»Wissen Sie, dass Ihr Chef genau das gleiche gesagt hat?«, fragte er, als er sich wieder beruhigt hatte.

»Nun, wir arbeiten schon eine Zeitlang sehr eng zusammen. Das schweißt natürlich zusammen«, gestand Janine und lächelte versonnen, wenn sie an dieses wunderbare Verständnis dachte, das sie mit ihrem Chef verband.

Roland sah ihr tief in die Augen und griff über den Tisch hinweg nach ihren Händen.

»Ich hoffe wirklich, dass sich die gute Beziehung zu Ihrem Chef nur auf den beruflichen Aspekt bezieht«, tat er seine Hoffnung kund und zog ihre Hände an seine Lippen.

»Aber natürlich«, versicherte Janine wie aus der Pistole geschossen. »Wo denken Sie hin? Herr Dr. Norden ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet.« Fast war sie ein wenig entrüstet. Wie konnte Roland Holzapfel nur an so etwas denken? »Aber wie ist es mit Ihnen?«, stellte sie schlagfertig eine Gegenfrage. »Es ist schwer vorstellbar, dass es in Ihrem Leben keine Frau geben sollte.«

Der Kellner kam und schenkte den bestellten Wein in die beiden Gläser. Ehe Roland antwortete, hob er das Glas und stieß mit Janine an.

»Sie wissen doch sicherlich, wie das ist? Wir Ärzte sind mit unserem Beruf verheiratet«, antwortete er ausweichend.

»Und mit dem Golfspielen«, erwiderte Janine keck. Natürlich registrierte sie, dass sie keine richtige Antwort erhalten hatte, und versuchte es auf andere Art und Weise. An diesem Tag hatte Janine kaum etwas gegessen, und der ungewohnte Alkohol tat seine Wirkung. Er lockerte ihre Zunge, und sie sprach Dinge aus, die sie im Normalfall niemals gesagt hätte. »Ein attraktiver Mann wie Sie knüpft doch sicherlich viele nette Bekanntschaften auf dem Golfplatz«, sagte sie ihm gar nicht schüchtern auf den Kopf zu.

Doch Roland lachte unbeeindruckt.

»Da will ich Ihnen nicht widersprechen. Aber keine war so bezaubernd wie Sie.«

»Sie schmeicheln mir.« Um ihre Verlegenheit zu überspielen, trank Janine einen weiteren Schluck Wein.

Dabei ließ Roland sie nicht aus den Augen.

»Jetzt müssen Sie aber auch die Karten auf den Tisch legen. Man sollte meinen, dass eine schöne Frau wie Sie an jedem Finger mindestens einen Verehrer hat.«

Im Kerzenschein bemerkte er, wie Janine zart errötete, was sie in seinen Augen nur noch bezaubernder machte.

»Ich hatte schon die eine oder andere Beziehung. Aber der Richtige war noch nicht dabei«, gestand sie leise und betrachtete sinnend den Wein, der verlockend im Glas schimmerte. »Im Augenblick bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es sich allein ganz angenehm lebt. Obwohl ich natürlich nicht für immer Single bleiben will.«

»Oh, dann sind wir ja ganz einer Meinung«, stellte Roland Holzapfel erfreut fest und lächelte den Kellner an, der in diesem Augenblick das Essen servierte.

Während des Essens schlug er einen munteren Plauderton an und unterhielt seine Begleiterin mit charmanten kleinen Geschichten. Natürlich landeten sie schließlich wieder bei seinem Lieblingsthema Golf.

»Vielleicht gelingt es Ihnen ja, mir die Faszination dieses Sports nahe zu bringen«, stellte Janine irgendwann fest und legte den kleinen Löffel und die Kuchengabel beiseite, mit der sie die Apfelkücherl mit Vanilleeis bis auf den allerletzten Rest verspeist hatte. »Obwohl ich davon überzeugt bin, dass ich mich nie mehr wieder bewegen kann.«

Roland hatte es wirklich gut mit ihr gemeint und sie nach Strich und Faden verwöhnen lassen.

»Ach, wissen Sie, Golf, das ist perfekt geregelter Wahnsinn. Eine teure Variante des Murmelspiels«, beantwortete er ihre Frage mit einem Schuss Selbstironie.

»Also wieder was für Erwachsene, die im Grunde ihres Herzens Kinder geblieben sind.«

»Wenn Sie so wollen«, gab Roland gut gelaunt zurück. »Aber was ist so schlecht daran, ein Kind zu sein?«

Dabei sah er sie so treuherzig an, dass Janine unwillkürlich lachen musste.

»Nichts. Nicht umsonst heißt es ja sogar in der Bibel, dass wir wieder wie die Kinder werden sollen«, gab sie ausgelassen zurück, ehe sich das Gespräch wieder anderen Themen zuwandte und der Abend in fröhlichem Geplauder und der gegenseitigen Versicherung endete, dass man am nächsten Abend gemeinsam den Golfschläger schwingen würde. Gut, dass Janine nicht sah, dass Roland sich ins Fäustchen lachte, nachdem er seine Begleiterin zum Taxistand begleitete hatte.

»Nummer sieben!«, murmelte er zufrieden und sah den Rücklichtern des Taxis nach, die langsam von der Dunkelheit verschluckt wurden.

*

Die Operation hatte länger gedauert als gedacht.

»Gute Arbeit, meine Damen und Herren!«, lobte der Kinderarzt Konstantin Klaiber seine Kollegen und lächelte anerkennend. Doch Fee konnte sich über dieses Kompliment gar nicht richtig freuen.

Selten zuvor war sie so erschöpft gewesen wie an diesem Abend. Ihre Anwesenheit im Operationssaal war wichtig gewesen für ihre Ausbildung. Trotzdem war sie froh, dass sie endlich Feierabend hatte. Doch sie hatte kaum Gelegenheit, den Mundschutz vom Gesicht zu ziehen, als eine Schwester aufgeregt in den Vorraum des Operationssaals stürmte.

»Gut, dass Sie endlich fertig sind, Frau Dr. Norden. Sie müssen sofort kommen!«

Müde verdrehte Felicitas die Augen.

»Schon wieder ein Notfall? Kann das nicht ein Kollege übernehmen? Ich bin seit sechzehn Stunden auf den Beinen«, bat sie um Mitleid, als Schwester Agnes bedauernd den Kopf schüttelte.

»Es geht um ihre Tochter Anneka.«

Einen Moment lang erstarrte Fee vor Schreck.

»Anneka ist hier?«, fragte sie entgeistert. Sofort war ihre Müdigkeit vergessen, und sie folgte der Schwester, die sie mit sich winkte.

»Sie wurde vor etwa einer Stunde eingeliefert. Dr. Cornelius hat sich um sie gekümmert und ihr eine Infusion verabreicht. Am Anfang sah alles ganz gut aus. Aber dann …«

»Was ist dann passiert?«, fragte Fee alarmiert, während sie Seite an Seite mit Agnes den Flur hinunter eilte.

»Ich war zufällig im Zimmer, als sie plötzlich anfing, nach Luft zu schnappen. Ihr Gesicht ist ganz blau geworden und sie hatte furchtbare Bauchschmerzen.«

»Ein anaphylaktischer Schock!«, wusste Fee sofort, um was es ging. »Bestimmt hängt das mit dem Medikament zusammen, das Mario ihr verabreicht hat.« Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. »Haben Sie einen Arzt geholt? Ist jemand bei ihr?«

»Ihr Mann ist gerade gekommen und hat die Behandlung Ihrer Tochter übernommen.«

»Daniel?«, hauchte Felicitas kraftlos. Vor Erleichterung wurden ihr einen Moment lang die Knie weich und sie fürchtete, mitten auf dem Flur zu straucheln. Doch der schwache Moment ging vorüber, und gleich hatte sie sich wieder im Griff. Das war sie ihrer Tochter schuldig. »Ein Glück. Wenn er bei ihr ist, dann ist es ja gut.«

Sie waren auf der Intensivstation angekommen, auf die Anneka inzwischen verlegt worden war. Als Fee ihre Tochter erblickte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Eine Sauerstoffmaske bedeckte Annekas bleiches Gesicht. In beiden Handrücken lagen Venenzugänge, durch die sie verschiedene Medikamente bekam. Ein Herztonschreiber überwachte ihre Herztätigkeit, und auch die Atemfrequenz wurde gemessen.

»Meine Kleine!« Tränen schossen Fee in die Augen, als sie ans Bett trat. In ihrer Verzweiflung bemerkte sie ihren Mann nicht, der in einer Ecke saß und den Schlaf seiner Tochter bewachte.

Daniel erhob sich und trat hinter seine Frau.

»Ich weiß, sie sieht schrecklich aus. Aber ihr Zustand ist seit einer halben Stunde stabil«, erklärte er leise, um Fee nicht zu erschrecken, und legte seine Hände auf ihre Schultern.

Während sie ihre Tochter anstarrte, rannen ihr Tränen übers Gesicht. Doch Daniels Stimme war beruhigend, und schnell wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wangen. Ohne sich nach im umzudrehen, lehnte sie sich zurück. Felicitas tastete nach seiner Hand und drückte sie dankbar. Die Nähe ihres Mannes war Balsam für ihre besorgte Seele, und langsam ebbte der Schock ab. Endlich konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen.

»Hast du Anneka einliefern lassen?«, fragte sie leise.

»Das war Dési. Lenni war völlig aufgelöst, als ich nach Hause gekommen bin. Deshalb bin ich sofort hergefahren. Keine Sekunde zu früh, wie sich herausgestellt hat.«

»Oh Dan, ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin«, seufzte Fee. »Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn …«,

»Pssssst!« Sanft legte Daniel seinen Zeigefinger auf die weichen Lippen seiner Frau, sodass sie nicht aussprechen konnte. Es war nicht nötig, diesen Gedanken weiterzuspinnen. »Es ist aber nicht passiert. Das Glück war mal wieder auf unserer Seite.«

»Dafür können wir gar nicht dankbar genug sein«, seufzte Felicitas und spürte, wie sich ihr aufgeregt schlagendes Herz langsam beruhigte. »Aber sag, wie konnte das passieren?«

»Offenbar reagiert Anneka hochgradig allergisch auf den Wirkstoff des Medikaments, das Mario ihr verabreicht hat. Aber das war nicht vorauszusehen.«

»Der Arme. Wenn er das erfährt, wird er sich ganz schöne Vorwürfe machen«, mutmaßte Fee.

»Es ist an uns, diese Last von ihm zu nehmen«, erwiderte Daniel in aller Selbstverständlichkeit.

Als besorgtem Vater hätte es ihm keiner übel genommen, wenn er seinem Schwager Vorwürfe gemacht hätte. Doch davon war der erfahrene Arzt weit entfernt. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie unberechenbar das Leben trotz vielfältiger medizinischer Möglichkeiten war, und dass es keine Garantie gab, ungeschoren davonzukommen.

»Ach Dan, habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, was für ein toller Mensch, was für ein wunderbarer Mann du bist?«, fragte Felicitas. Die Anstrengungen des Tages forderten langsam ihren Tribut. Ihre Nerven waren nicht mehr im besten Zustand, und schon wieder schwammen ihre Augen in Tränen.

Behutsam drehte Daniel seine Frau an den Schultern zu sich herum und schloss sie in seine Arme.

»Vielleicht ein oder zwei Mal«, scherzte er dicht an ihrem Ohr. »Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich das gar nicht oft genug hören.«

Als er Fee leise lachen hörte, stimmte er in ihr Lachen mit ein und drückte sie noch fester an sich, um ihr die Sicherheit zu geben, die sie gerade an diesem Abend so dringend brauchte.

*

Das Licht der Deckenleuchte fiel durch einen Spalt der Tür und direkt in das Gesicht von Dr. Daniel Norden. Spätabends hatte er seine Frau Felicitas nach Hause geschickt mit dem Versprechen, in Annekas Nähe zu bleiben. Da er nicht auf der Intensivstation übernachten konnte, hatte er es sich im Ruheraum der Ärzte bequem gemacht, nicht ohne vorher den Kollegen eingebläut zu haben, ihn zu wecken, wenn mit seiner Tochter etwas nicht in Ordnung war.

»Aufwachen, mein Freund. Sonst verpasst du das Frühstück.« Daniel war so müde, dass er nicht reagieren konnte. Wie tot lag er im Bett und zuckte noch nicht einmal mit dem Augenlid.

»Sag bloß, das Bett hier ist so gemütlich? Dann sollten wir an diesem Zustand schleunigst etwas ändern«, fuhr Roland Holzapfel unbarmherzig fort.

Noch immer rührte sich Dr. Norden nicht.

»Oder aber deine bezaubernde Frau Felicitas übernimmt das nächste Mal den Weckdienst. Mit ihren weiblichen Reizen hat sie möglicherweise mehr Erfolg.«

Erst als Daniel das sanfte Rütteln an der Schulter spürte und Rolands belustigte Stimme in sein Bewusstsein drang, blinzelte er verwirrt in den Lichtstrahl, in dessen Aura sein Freund und Kollege grinsend stand. »Nein, lieber doch nicht«, erklärte der inzwischen unbarmherzig. »Diesen erschütternden Anblick wollen wir ihr doch lieber ersparen.«

Diese freche Bemerkung weckte den Allgemeinarzt endgültig auf. Er kämpfte sich hoch und setzte sich auf die Bettkante. Währen der herzhaft gähnte, fuhr er sich mit den Händen durch das verstrubbelte Haar.

»Aus dir spricht der blanke Neid, weil du keine so wundervolle Frau hast wie ich«, rächte er sich postwendend für Rolands Scherze, als ihm wieder einfiel, warum er sich überhaupt in diesem Bett, in diesem Zimmer befand. »Ist was mit Anneka?«, fragte er plötzlich hellwach und sichtlich besorgt.

»Wer ist Anneka?«, fragte Roland verwundert nach. Die Namen der vielköpfigen Kinderschar seines Freundes hatte er nicht parat. »Etwa eine neue Verehrerin? Die hast du doch wohl nicht beim Golfspielen kennengelernt.«

Er machte ein so verdutztes Gesicht, dass sich Daniel augenblicklich entspannte und lachte.

»Anneka ist meine älteste Tochter. Und neben meinen Kindern habe ich nur Augen für meine Frau.«

»Schon gut, schon gut, ich hab’s endlich verstanden!«, wehrte Roland lachend ab. »Wobei deine Assistentin ja auch nicht von schlechten Eltern ist.«

Diese Anspielung verstand Daniel Norden sofort. Er stand auf und schlüpfte in seine Hose.

»Du hast dich trotz meines Vetos an Janine rangemacht?«, fragte er nicht ganz ernst.

»Rangemacht? Wie das klingt!«, empörte sich Roland Holzapfel. »Es geht lediglich um Studienzwecke.«

Daniel stieg in die Schuhe und starrte seinen Freund ungläubig an.

»Studienzwecke?«, wiederholte er ungläubig.

»Jetzt schau mich doch nicht so an, als wäre ich ein Sittenstrolch«, bat Roland um Milde, als es an der Tür klopfte und eine Schwester das Gespräch der beiden Ärzte unterbrach.

»Herr Dr. Norden«, fragte sie freundlich.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr Daniel herum.

»Ist was mit Anneka?«, fragte er voller Angst.

Schwester Regina lächelte beruhigend und schüttelte den Kopf.

»Keine Angst. Sie ist aufgewacht und hat nach Ihnen gefragt.«

Erleichtert atmete er auf.

»Bitte sagen Sie ihr, dass ich in drei Minuten bei ihr bin«, bat er lächelnd. Regina versprach es und verschwand wieder.

Daniel Norden nahm seine Jacke vom Haken. Ehe er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal nach Roland um.

»Studienzwecke!«, wiederholte er kopfschüttelnd und mit deutlichem Tadel in der Stimme.

Doch ehe der Bandscheibenspezialist etwas sagen geschweige denn erklären konnte, hatte sein Freund das Zimmer schon verlassen.

*

»Da hast du uns gestern aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt!«, seufzte Felicitas Norden, als sie bereits am frühen Morgen an Annekas Bett stand. Die junge Frau hatte die Nacht ohne weitere Zwischenfälle gut überstanden und war inzwischen auf die normale Station verlegt worden. Zärtlich streichelte Felicitas ihrer ältesten Tochter eine Strähne aus der Stirn. »Fieber scheinst du nicht mehr zu haben.«

»Mir geht’s auch viel besser.« Bequem angelehnt saß Anneka im Bett und wirkte erstaunlich munter. An das, was tags zuvor passiert war, konnte sie sich kaum erinnern. »Tut mir leid, wenn ich euch erschreckt hab!«, entschuldigte sie sich trotzdem so schuldbewusst, dass Fee lachen musste.

»Aber du kannst doch nichts dafür.«

»Mario aber auch nicht«, galt die Sorge der sensiblen jungen Frau wie immer zuerst den anderen. »Er wusste ja nicht, dass ich diese Sorte Antibiotikum nicht vertrage. Du hast ihn doch hoffentlich nicht geschimpft?«, tat sie ihre Hoffnung kund.

»Doch, und wie!«, ertönte da eine wohlbekannte Stimme aus dem Hintergrund. »Ich hab mich erst jetzt wieder unter dem Tisch hervor getraut.« Niemand anderer als Mario Cornelius war unbemerkt ins Zimmer gekommen. Die tiefen Ringe um seine Augen und der Schatten am Kinn zeugten von einer durchwachten Nacht.

»Mami?« Mit strenger Stimme durchbohrte Anneka ihre Mutter mit stechenden Blicken.

Doch Fee war sich keiner Schuld bewusst.

»Ich wasche meine Hände in Unschuld!«, beteuerte sie. »Ich hab deinen Onkel seit gestern noch nicht mal gesehen.«

»Aber wenn du mich zwischen die Finger bekommen hättest, wäre es mir nicht gut ergangen«, mutmaßte Mario trotz seiner Erschöpfung belustigt.

Er war ebenso erleichtert wie Fee, seine Nichte auf dem Weg der Genesung anzutreffen, und deshalb schon wieder zu Scherzen aufgelegt.

»Oh, Mann, Mario!«, lächelte Anneka kopfschüttelnd. »Das hätte Mami nie getan. Du konntest doch nichts dafür.«

»Mag schon sein«, gab der Kinderarzt zu bedenken. »Aber mit uns ist es genauso wie mit anderen Geschwistern auch. Wir ärgern uns gern gegenseitig. Nicht wahr, Feelein?« Übermütig piekste Mario mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Fees Seite.

Die hatte mit diesem Angriff nicht gerechnet und schrie erschrocken auf. Während sich Mario ausschütten wollte vor Lachen und auch Anneka kichern musste, wurde die Tür aufgestoßen und ein völlig aufgelöster Daniel Norden stürmte ins Zimmer.

»Um Gottes willen, was ist passiert?« Der Schrei seiner Frau hatte ihn alarmiert, und abrupt blieb er stehen, um sich einen Überblick über die offenbar dramatische Situation zu verschaffen.

Verdutzte Blicke trafen ihn.

»Dan, ist alles in Ordnung? Du bist ja ganz bleich.« Fee war die Erste, die ihre Stimme wiederfand. Sie ging auf ihren Mann zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Keine Angst. Anneka geht es heute schon viel besser. Sogar die Tonsillitis scheint abzuklingen.«

»Aber warum hast du dann gerade so fürchterlich geschrien?«, fragte Daniel entgeistert.

Anneka lachte glucksend, und auch Mario konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Amüsiert lächelnd drehte Fee den Kopf zu ihrem Bruder.

»Weil Mario mich gekitzelt hat.«

»Gekitzelt?«, fragte Daniel verständnislos und verdrehte die Augen gen Himmel. »Diese Familie bringt mich eines Tages noch ins Grab«, seufzte er dann nicht ganz ernst.

Die Erleichterung darüber, dass es Anneka besser ging, zauberte ein Strahlen in seine Augen. Sein liebevoller Blick wanderte zu seiner Tochter. Der ging es offenbar schon wieder so gut, dass sie Pläne schmieden konnte.

»Bevor wir dich ins Grab bringen, könntest du mich vielleicht zu Leon fahren«, bat sie mit unwiderstehlichem Augenaufschlag. »Immerhin hab ich keine Kosten und Mühen gescheut, zu ihm in die Klinik zu kommen.«

»Ach, so ist das«, spielte Daniel ihr gut gelauntes Spiel mit. »Am Ende steckst du mit Mario noch unter einer Decke, und ihr habt euch das alles nur ausgedacht.« Während er seiner Tochter aus dem Bett und in den neben dem Bett bereitstehenden Rollstuhl half, zwinkerte er ihr fröhlich zu. Trotz der Müdigkeit war alle Sorge aus seinem Herzen gewichen. Nachdem er sich von seiner Frau und seinem Schwager verabschiedet hatte, erfüllte er Annekas sehnlichsten Wunsch und brachte sie zu ihrem Freund, dem Tennisprofi Leon Matthes, den sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen hatte.

Zum ersten Mal überhaupt empfand Anneka eine Krankheit als Glücksfall: Da Leon und sie sich ohnehin schon gegenseitig angesteckt hatten, konnte ja jetzt nichts mehr passieren. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten Tango, als sie verhalten an die Tür klopfte und endlich wieder Leons geliebte Stimme hörte.

*

Als sich Daniel Norden trotz der Anstrengungen der vergangenen Nacht auf den Weg in die Praxis machte, lag ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht. Alles hatte sich wieder einmal zum Guten gewendet …

»Fast alles«, murmelte er versonnen. Angesichts seines eigenen Glücks und dem seiner Familie war ihm Franziska Weiß wieder eingefallen. Der Gedanke daran, so kurz vor dem Ziel aufzugeben und diese Frau ihrem Schicksal zu überlassen, machte ihn so unzufrieden, dass er eine spontane Entscheidung traf.

»Wenn ich mich nicht irre, wohnt Frau Weiß in der Blumenstraße«, sinnierte er vor sich hin. Konzentriert blickte er durch die Windschutzscheibe hinaus und las die Namen der Straßenschilder, die links an ihm vorbeizogen. »Das ist nicht weit von hier.« Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. »Wenn ich mich beeile, schaffe ich es vor Beginn der Sprechstunde.« An der nächsten Kreuzung setzte er den Blinker und bog ab.

Fünf Minuten später stand Dr. Daniel Norden vor dem Wohnblock, in dem Franziska Weiß lebte. Er zögerte einen Augenblick, dann drückte er entschlossen auf den Klingelknopf. Die Tür war nicht verschlossen, sodass er ins Haus gelangte. Frau Weiß wohnte im Erdgeschoss. Als sie die Tür öffnete, sah sie ihm direkt ins Gesicht.

»Sie?«, fragte sie erstaunt und alles andere als erfreut. Sofort wurde ihre Miene abweisend. »Ich will Sie hier nicht sehen!«

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Weiß!«, bat Daniel und hob beschwichtigend die Hände.

Doch Franziska dachte nicht daran, seiner Bitte Folge zu leisten.

»Sind sie schwerhörig?«, fauchte sie zornig. »Oder haben Sie nur Luft zwischen den Ohren?«

»Warum sagen Sie solche Sachen?«, fragte er ernst, aber immer noch freundlich. »Was habe ich Ihnen denn getan?«

Franziska Weiß schnitt eine Grimasse und legte den Kopf schief.

»Huhu, was habe ich Ihnen denn getan?«, äffte sie ihren Arzt nach.

Normalerweise hätte sich Daniel eine solche Respektlosigkeit niemals gefallen lassen. Doch in diesem Fall war er wild entschlossen, die Sache zu einem guten Ende zu bringen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nichts anmerken zu lassen. Dieses besonnene Verhalten schien Franziska aber nur noch mehr zu reizen. »Ich kann solche verlogenen Menschen wie Sie einfach nicht ausstehen. Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, hole ich die Polizei. Und jetzt verschwinden Sie endlich!«

Langsam regte sich nun doch Dr. Nordens natürlicher Widerspruchsgeist. Doch der war es nicht, der ihn die folgenden Sätze aussprechen ließ. Es ging darum, Franziskas Panzer zu durchbrechen. Dazu waren offenbar deutliche Worte nötig.

»Was erlauben Sie sich eigentlich?«, fragte Daniel deshalb unerwartet schroff. »Haben Sie Ihr gutes Benehmen völlig vergessen? Kein Wunder, dass kein Mensch mehr Kontakt zu Ihnen haben möchte … Wenn sie mit allen so umgehen …«

Franziska Weiß machte den Eindruck, als ob sie ihrem Arzt direkt ins Gesicht springen wollte. Sie bebte am ganzen Körper und ballte die Fäuste.

»Das ist eine Unverschämtheit!«

Doch Daniel ließ sich nicht beirren.

»Ach ja? Wo ist denn dann Ihre Familie?«, fragte er provokant. »Sie haben gar keine, stimmt’s? Es gibt keinen einzigen Menschen, der sich um Sie kümmert. Für den Sie wichtig sind. Deshalb sind Sie bei meiner Frage gestern so wütend geworden«, sagte er seiner Patientin auf den Kopf zu. Er mochte sich selbst nicht für diese Worte. Aber es musste sein.

Franziska Weiß stand in der Wohnungstür und starrte ihn hasserfüllt an. Doch plötzlich änderte sich etwas in ihrem Gesichtsausdruck. Aus irgendeinem Grund verpuffte die maßlose Wut und machte einer abgrundtiefen Hilflosigkeit Platz, die Dr. Nordens Herz berührte.

Irgendwann senkte Franziska Weiß den Kopf. Mit hängenden Schultern stand sie da und nagte an der Unterlippe.

»Richard«, murmelte sie endlich kaum hörbar.

Verwundert legte Daniel den Kopf schief. Noch immer stand er im Hausflur. Eigentlich hätte er längst in die Praxis aufbrechen müssen und schon jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen den Patienten gegenüber, die auf ihn warten mussten. Doch keiner von ihnen litt an einem schwerwiegenden Problem, sodass er sich auf Franziska konzentrierte.

»Richard?«, hakte er vorsichtig nach. Er fühlte, dass er des Rätsels Lösung ganz nah war und wollte diesen Erfolg nicht durch ein unbedachtes Wort kaputt machen.

Franziska haderte noch immer mit sich.

»Richard war mein Mann«, gestand sie endlich. »Er hat die Liebe zum Golf in mir geweckt.« Als sie über ihren Mann sprach, begannen ihre Augen zu leuchten. »Er war so talentiert. Wo er auftauchte, herrschte gute Laune. Ein richtiger Charmeur, wie er im Buche steht.« Sie hielt inne, und ihre Augen die bis jetzt an Daniel vorbei gesehen hatten, nahmen ihn ins Visier. »Er war …,er war wie Sie!«

Das Geheimnis war gelüftet und überrascht schnappte Daniel nach Luft.

»Wie ich?«

Franziska nickte erschöpft. Jetzt, da ihr Widerstand gebrochen war, wirkte sie kleiner, verletzlicher als bisher. Wie ein kleines, hilfloses Mädchen stand sie mit hängenden Schultern vor ihrem Arzt.

»Ja, diese Ähnlichkeit ist unglaublich«, gestand sie heiser. »Als Sie in der Golfhalle auftauchten … das war wie ein Wunder für mich. Einen Augenblick dachte ich, dass Richard zurückgekehrt sei. Es war so …« Franziska suchte nach dem richtigen Wort. »Zuerst war es so tröstlich. Aber dann habe ich es nicht mehr ertragen.«

Obwohl sie es mit keiner Silbe erwähnt hatte, wusste Daniel, dass Richard Weiß nicht mehr am Leben war. Mitfühlend streckte er die Hand aus und legte sie tröstend auf ihren Arm. Franziska wehrte sich nicht und ließ es einfach geschehen.

»Was ist passiert?«, fragte er behutsam.

»Ein Unfall«, presste Frau Weiß durch die blutleeren Lippen. »Wir hatten Streit. Wie so oft ist Richard einfach weggefahren.« Ihr Stimme stockte, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Doch dieses Mal ist er nicht wiedergekommen. Wahrscheinlich war er so wütend auf mich, dass er den LKW übersehen hat. Er ist frontal in ihn reingefahren. Der andere Fahrer hatte keine Chance auszuweichen. Richard war sofort tot. Und auch ich habe in diesem Moment aufgehört zu leben.« Sie hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich ihre geröteten Augen auf einmal weiteten. Franziska öffnete den Mund, als wollte sie fortfahren. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, stöhnte sie leise auf, verdrehte die Augen und stürzte direkt in die Arme ihres Arztes.

*

»Das ist ja schön, dass wir dich heute auch noch in den heiligen Hallen begrüßen dürfen«, erklärte Danny Norden mit leisem Sarkasmus, als Daniel gegen Mittag endlich in die Praxis kam. »Hast du am Ende doch noch Sehnsucht nach uns bekommen?« Nachdem er an diesem Vormittag nicht nur seine, sondern auch noch die Patienten seines Vaters behandelt hatte, hatte er sich eine Pause redlich verdient. Entspannt lehnte er am Tresen, in der einen Hand eines von Frau Bärwalds unwiderstehlichen Schoko-Vanille-Hörnchen und in der anderen eine Tasse Kaffee, und sah seinen Vater erwartungsvoll an. Daniels hungriger Blick hingegen hing an dem Hörnchen, das Stück für Stück im Mund seines Sohnes verschwand.

»Nach dir vielleicht nicht gerade. Aber die Sehnsucht nach so einem Hörnchen kann ich nicht leugnen.« Die Tüte der Bäckerei, in der Dannys Freundin Tatjana neben ihrem Studium jobbte, lag neben dem Juniorarzt auf dem Tresen. Schon wollte Daniel danach greifen, als sich Dannys Hand besitzergreifend darauf legte. Dabei ließ er seinen Vater nicht aus den Augen.

»Moment. So einfach ist das nicht!«

»Seit wann kümmerst du dich nur um dein Wohlergehen?«, fragte Daniel konsterniert zurück.

»Oh, das tue ich gar nicht. Wendy und Janine haben schon was abbekommen«, erwiderte der Sohn schlagfertig, und die Assistentinnen nickten bestätigend. »Wir drei haben im Gegensatz zu dir heute schon fleißig gearbeitet. Aber ich will mal nicht so sein«, erklärte er mit gönnerhafter Miene. »Wenn du mir verrätst, wo du warst, bekommst du auch ein Hörnchen.« Das freche Blitzen in Dannys Augen verriet, dass er diese Forderung nicht ganz ernst meinte.

Nach der anstrengenden Nacht und dem aufregenden Vormittag war Daniel Norden jedoch alles andere als zum Scherzen zumute.

»Das ist Erpressung«, setzte er sich erschöpft zur Wehr. »Ich komme gerade aus der Klinik, in die Frau Weiß heute früh eingeliefert wurde.«

Mit dieser Nachricht hatte Danny nicht gerechnet. Vor Überraschung blieb ihm der Mund offen stehen. Diese Gelegenheit nutzte der Senior und sicherte sich ein leckeres Gebäckstück.

»Was ist passiert?«, fragte Danny, als er sich wieder gefasst hatte. Von dem anapyhlaktischen Schock seiner Schwester hatte er inzwischen gehört und sich ausführlich berichten lassen. Aber dass auch Frau Weiß in der Klinik war, war ihm völlig neu.

»Mir hat die Sache einfach keine Ruhe gelassen«, gestand Daniel und wischte sich den Puderzucker von den Lippen. »Deshalb bin ich auf dem Weg in die Praxis heute Morgen bei Franziska Weiß vorbei gefahren. Ich wollte einfach nur mit ihr reden, sie zur Vernunft bringen. Aber während des Gesprächs ist sie bewusstlos zusammengebrochen.«

»Hab ich’s doch gewusst, dass Gefahr in Verzug ist«, entfuhr es Danny.

Doch zu seinem Erstaunen schüttelte sein Vater den Kopf. Nicht der Hauch eines Triumphs lag in seinem Gesicht.

»Du irrst. Auch Jenny konnte keinen physischen Grund für die Ohnmacht feststellen. Frau Weiß wurde inzwischen gründlich untersucht. Ihr Herz ist zwar von den ständigen Stresssituationen angeschlagen, aber nicht akut infarktgefährdet.«

»Und jetzt?« Danny steckte das letzte Stück Hörnchen in den Mund und trank seinen Kaffee aus. Dabei sah er seinen Vater erwartungsvoll an. »Was hast du jetzt vor?«

»Jetzt werde ich das Versäumte nachholen und mich heute Nachmittag aufopfernd um meine Patienten kümmern«, erklärte Daniel und nahm dankbar die Tasse Kaffee entgegen, die Janine ihm aus der kleinen Küche geholt hatte. »Und nach der Sprechstunde fahre ich noch einmal in die Klinik und unterhalte mich mit unserem Sorgenkind.«

»Das wollen Sie sich wirklich antun?«, platzte Janine besorgt heraus. Sie stand vor ihrem Chef und sah ihn forschend an. »Sie machen jetzt schon den Eindruck, als könnten sie Erholung brauchen.«

Nur mit Mühe gelang es Daniel, ein Gähnen zu unterdrücken.

»Das stimmt«, räumte er bereitwillig ein. Während er Janine nachdenklich betrachtete, kam ihm allerdings ein anderer Gedanke in den Sinn. »Ich habe gehört, dass Sie der Kollege Holzapfel zum Essen eingeladen hat«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

Das Blut, das Janine augenblicklich in die Wangen schoss und sie zum Leuchten brachte, war Antwort genug.

»Das ist richtig. Warum fragen Sie?«

Daniel bemerkte das Beben in ihrer Stimme und lächelte beschwichtigend.

»Ich bin nur um Ihr Wohlergehen besorgt und möchte nicht, dass Ihnen jemand Herzschmerzen bereitet«, machte er keinen Hehl aus seinen Sorgen. »Auch oder gerade dann nicht, wenn dieser Jemand ein guter Freund ist.«

Die Sorge ihres Chefs rührte an Janines weiches Herz. Glücklicherweise konnte sie Daniel beruhigen.

»Keine Angst!«, zwinkerte sie ihm zu. »Roland … ich meine Herr Holzapfel … ist zwar ein sehr netter Mann. Aber ehrlich gesagt ist er vom Alter her doch eher was für unsere liebe Wendy.« Lächelnd drehte sie sich zu ihrer Kollegin um, die das muntere Gespräch am Schreibtisch sitzend verfolgte.

»Ein Glück, dass mein Bedarf an Männerbekanntschaften im Augenblick gedeckt ist«, schmunzelte sie über die nicht ganz ernst gemeinte Anspielung ihrer Freundin und Kollegin.

Und auch Daniel war sichtlich erleichtert. Bei Janines Anblick war ihm Rolands Bemerkung wieder in den Sinn gekommen und er freute sich, dass seine Sorgen unbegründet waren. So konnte er sich trotz seiner Erschöpfung halbwegs gestärkt und mit neuem Elan an die Nachmittagssprechstunde machen.

*

Als Dr. Daniel Norden an diesem Abend ins Zimmer seiner Patientin Franziska Weiß trat, sah sie ihm schon erwartungsvoll entgegen. Vor Aufregung tanzten hektische rote Flecken auf ihren Wangen. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie auf diesen angekündigten Besuch gewartet hatte.

»Wie geht es Ihnen, Frau Weiß?«, erkundigte sich der Arzt, nachdem er sie begrüßt hatte. Er setzte sich auf die Bettkante und griff routinemäßig nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu zählen.

Franziska ließ es sich bereitwillig gefallen.

»Ich stehe tief in Ihrer Schuld«, sagte sie leise. »Wenn Sie nicht dagewesen wären, hätte es schlimm ausgehen können. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich allein in der Wohnung ohnmächtig geworden wäre.«

»Ehrlich gesagt fühle ich mich schon ein bisschen mitschuldig an Ihrem Zustand«, räumte Daniel schuldbewusst ein.

Erstaunlich energisch schüttelte Franziska den Kopf.

»Sie trifft keine Schuld. Mir war schon die ganze Nacht so komisch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich umfallen würde.« Sie sah Dr. Norden an, und er stellte fest, dass sie völlig verändert wirkte. Fast wie geläutert. »Wissen Sie … ich habe noch nie, mit keiner Menschenseele, über diese Sache mit Richard geredet … Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn Sie nicht so hartnäckig gewesen und diese Tür in mir aufgestoßen hätten …«

Franziska ahnte nicht, welche Freude sie ihrem Arzt mit diesem Geständnis machte, zeigte es doch, dass seine Ahnung richtig und er auf der richtigen Fährte gewesen war.

»Jetzt müssen Sie nur dafür sorgen, dass diese Tür nicht wieder zufällt«, lächelte er und drückte freudig ihren Arm.

Franziska Weiß nickte.

»Ich hoffe, Sie können mir verzeihen. Ich schäme mich so sehr dafür, wie ich Sie behandelt habe.«

»Schon gut«, winkte Daniel ohne Zögern ab.

Franziska lächelte dankbar.

»Ich hab die ganze Zeit gewusst, dass dieses Herzrasen psychisch bedingt ist. Aber ich habe diesen Gedanken an Richard, an meine Schuld an dem Unfall, einfach weggeschoben. Ich konnte mich nicht damit auseinandersetzen. Es hat einfach zu weh getan.«

»Das kann ich nur zu gut verstehen.« Daniels Herz war weit vor Mitgefühl. »Werden Sie sich behandeln lassen? Ich meine psychotherapeutisch?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ja, natürlich!« Diese Worte kamen aus tiefstem Herzen. »Durch Sie habe ich erkannt, was ich mit meinem Leben anrichte. Wie ich mich selbst sabotiere. Dabei kommt Richard auf diese Weise auch nicht zurück. Es ist an der Zeit umzudenken und wieder Freude und Licht in mein Leben zu lassen. Das bin ich ihm schuldig.«

Selten zuvor hatte Daniel Norden eine so gravierende Veränderung an einem Menschen erlebt wie die, die sich an Franziska Weiß vollzogen hatte. Sie war nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich völlig verändert. Ihre verkniffene Miene, die sie um Jahre älter gemacht hatte, hatte sich geglättet und zeigte völlig neue, weiche, weibliche Züge. Erst jetzt offenbarte sich, dass Franziska Weiß von einer reifen, herben Schönheit war, die nicht zu übersehen war.

Das entging auch Roland Holzapfel nicht, der nach kurzem Anklopfen, ohne auf eine Antwort zu warten, ins Zimmer stürmte.

»Was machen Sie denn für Sachen, Frau Weiß? Ich habe eben …«, begann er temperamentvoll wie immer, als er Franziska aufrecht im Bett sitzen sah. Das Wort blieb ihm im Hals stecken, und er starrte ungläubig auf die Golftrainerin und ihren Besucher. »Entschuldigung. Da muss ich mich wohl im Zimmer geirrt haben«, erklärte er verlegen, als Franziska ihn leise lachend zurückhielt.

»Ach woher denn, lieber Roland. Ich bin’s doch, Franziska.« Sie streckte die Hand nach ihm aus und winkte ihn zu sich. »So verändert hab ich mich doch nicht.«

Es dauerte einen Moment, ehe sich der Bandscheibenspezialist von seiner Verwunderung erholt hatte.

»Viel mehr als Sie denken«, erklärte er und wendete sich fragend an Daniel. »Das findest du doch auch, oder?«

Diesen Eindruck konnte Dr. Norden mit gutem Gewissen bestätigen, auch wenn ihm nicht ganz wohl bei der Sache war. Seit sich Roland wegen Studienzwecken um seine Assistentin bemüht und sie zum Essen eingeladen hatte, war sein Vertrauen in den Freund und Kollegen gesunken. Vor allen Dingen auch deshalb, weil Roland ganz offensichtlich seine Versuche auch auf Franziska Weiß ausdehnen wollte. Seine bewundernden Blicke sprachen eine eindeutige Sprache.

»Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich jetzt mal nach meiner Tochter Anneka sehen«, beschloss er, sich auf diskrete Art und Weise zurückzuziehen.

»Tu das!«, erwiderte Roland, ohne den Blick von Franziska wenden zu können. Wie paralysiert stand er mitten im Raum und starrte sie immer noch ungläubig an. »Bitte richte ihr schöne Grüße und gute Besserung von mir aus«, erklärte er gedankenverloren.

»Das mache ich.«

»Von mir auch. Unbekannterweise«, erklärte Franziska Weiß, als sie ihrem Arzt dankbar lächelnd die Hand reichte. »Und dann sollten Sie nach Hause gehen und sich gründlich ausschlafen«, gab sie ihm einen wohlmeinenden Rat mit auf den Weg. »Sie sehen sehr müde aus.«

»Das bin ich auch«, bestätigte Daniel aus tiefstem Herzen, ehe er die beiden allein ließ und sich auf den Weg zu Anneka machte.

Als er aber an die Zimmertür seiner Tochter klopfte, bekam er keine Antwort. Gleich darauf stellte er fest, dass ihr Bett leer war. Er konnte sich denken, wo sie steckte, und seufzte, teils erleichtert, teils bekümmert.

»Jetzt ist es also so weit«, murmelte Daniel nachdenklich vor sich hin, als er den Rückweg zum klinikeigenen Parkplatz antrat, um endlich nach Hause zu fahren. »Meine große Tochter wird endlich erwachsen.«

*

»Am Golfschwung zu arbeiten ist wie ein Hemd bügeln. Kaum hat man eine Seite fertig, ist die andere Seite schon wieder verknittert«, erklärte Dr. Roland Holzapfel seinen zahlreichen Zuhörern ein paar Wochen später mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen.

»Ich hasse bügeln«, verkündete Tatjana und machte Anstalten, den Schläger sofort wieder in die Ecke zu stellen. »Dann brauche ich das hier gar nicht zu versuchen.«

Im letzten Augenblick hinderte Danny seine Freundin daran und drückte ihr das Corpus Delicti wieder in die Hand.

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Es heißt nicht umsonst: Probieren geht über Studieren. Mal abgesehen davon, dass ich für dich auch schon alles Mögliche ausprobiert habe«, erinnerte er sie an die unabänderlichen Tatsachen.

Der Widerspruch, der auf ihren Lippen lag, war Tatjana anzusehen. Angesichts der vielen amüsierten Beobachter ihrer kleinen Szene verzichtete sie jedoch darauf und fügte sich überraschend willig in ihr Schicksal.

Auch Roland hatte sich schmunzelnd in Geduld geübt. Er stand immer noch am Abschlagplatz und hob jetzt wieder den Schläger.

»Dann hätten wir das ja geklärt. Sind wir jetzt alle bereit?«, fragte er diesmal vorsichtshalber und sah sich um. Das zustimmende Nicken seiner willigen Schüler ließ ihn fortfahren. »Gut. Die Suche nach dem Golfschwung-Geheimnis begann nach dem ersten Schlag vor über 500 Jahren, als der Golfsport gerade in der Entstehung begriffen war«, erklärte er und machte die erforderliche Bewegung langsam vor. »Um euch überflüssiges Bügeln respektive die langwierige Suche nach der richtigen Technik zu ersparen, zeige ich euch gleich die alles entscheidende Bewegung. Ihr müsst nichts anderes tun als sie nachzumachen.«

»Haha, als ob dir das so leicht gefallen wäre«, konterte plötzlich eine unbarmherzige Stimme aus dem Hintergrund. Sie gehörte niemand anderem als Franziska Weiß, die sich bis zu diesem Augenblick dezent zurückgehalten hatte. Doch nun gab es kein Halten mehr. Während sich Fee und Daniel amüsierte Blicke zuwarfen, drängte sie sich mit dem Schläger über der Schulter durch die kleine Gruppe und schob Roland kurzerhand vom Abschlagplatz. »Wenn du so was sagst, vergraulst du die Leute sofort«, tadelte sie ihn streng. »Und widersprich nicht! Ich weiß genau, was ich sage. Schließlich bin ich Spezialistin im Menschenverschrecken.« Ehe Franziska sich in Position stellte, zwinkerte sie ihren neuen Freunden aus der Praxis Dr. Norden belustigt zu zum Zeichen, dass sie es nicht ganz ernst meinte. »Anfänger, die ihren Golfschwung trainieren, machen fast alles durch ihr Handgelenk kaputt«, begann sie zu erklären, während Roland Holzapfel in gebührendem Abstand neben ihr stand und sie ungeniert anhimmelte.

»Die beiden sind ein Bild für die Götter«, raunte Danny seinem Vater Daniel belustigt zu. »Ich hätte nie gedacht, dass diese Geschichte mal so enden würde.«

Daniel schmunzelte wissend.

»Eigentlich endet sie hier auch nicht. Das hier ist erst der Anfang«, gab er weise zurück.

»Und den haben die beiden allein dir zu verdanken«, lobte Danny seinen Vater unumwunden. All seine Bewunderung gehörte Daniel, dem es durch Beharrlichkeit gelungen war, den emotionalen Panzer seiner Patientin zu durchbrechen und auf diese Weise eine unnötige Operation und Schlimmeres zu verhindern.

Bescheiden, wie er war, wollte Dr. Norden davon jedoch nichts hören.

»Ach was«, winkte er ab. »Ich habe höchstens ein bisschen nachgeholfen. Den Rest hat Franziska schon selbst erledigt. Wenn sie sich nicht freiwillig in psychologische Behandlung begeben hätte, wäre alles umsonst gewesen.«

»Ist es aber nicht«, grinste Danny, ehe er seine Aufmerksamkeit Franziska Weiß widmete, um am Ende nicht der Einzige zu sein, der keinen ordentlichen Schlag hinbekam.

So verging die erste Kursusstunde wie im Flug, und ganz gegen die Erwartung der meisten Teilnehmer gab es jede Menge Grund zum Lachen und Scherzen.

»Dein Schwung hat ausgesehen, als wolltest du den Rasen verprügeln«, grinste Felix seine Schwester Anneka an, die nach ihrer Genesung ebenso mit von der Partie war wie ihr Freund Leon, der aufgrund seiner Bandscheibenoperation allerdings nur Zuschauer war und den Caddy für seine Freundin spielte.

»Sei bloß still!«, gab Anneka zurück. »Nur weil du ausnahmsweise mal nur den Ball und nicht auch noch gleich den Halter weggeschlagen hast, brauchst du dir noch lange nichts einzubilden«, konterte sie schlagfertig und lächelte ihren Bruder engelsgleich an. »Aber wir wissen ja, dass auch ein blindes Huhn manchmal ein Korn findet.«

»Nana, das sind ja echte Liebeserklärungen, die ihr beiden da wieder mal tauscht.« Unbemerkt war Janine zu den Geschwistern getreten. Sie hatte es übernommen, die Fragebögen zu Rolands Studie zu verteilen. Gemeinsam mit Wendy würde sie sie am Schluss auswerten.

»Bis einer weint, hat Mum früher immer gesagt«, erinnerte sich Felix belustigt an längst vergangene Zeiten.

»Ihr habt wirklich eine kluge Mutter«, lobte Janine die Frau ihres Chefs überschwänglich. »Aber damit nicht doch noch Tränen fließen, füllt ihr jetzt bitte diesen Fragebogen aus. Aber nicht schwindeln!«, mahnte sie mit erhobenem Zeigefinger, teilte die Bögen aus und ging dann zwei Schritte weiter zu Daniel und Fee. Auch ihnen teilte sie die Unterlagen aus, und Dr. Norden musste immer noch lachen, wenn er an das Missverständnis dachte, das ihn kurzfristig von seinem Freund Roland Holzapfel getrennt hatte.

»Ich schäme mich immer noch, wenn ich daran denke, dass ich Roland Vielweiberei unterstellt habe«, raunte Daniel seiner Frau zu. »Wenn ich geahnt hätte, dass es sich um eine Studie zum Thema Bandscheibengesundheit und Golf handelt …« Während er ungläubig den Kopf schüttelte, schwebte das Ende des Satzes in der Luft.

»Du wirst dich wohl an den Gedanken gewöhnen müssen, dass du zwar nahezu perfekt, aber immer noch nicht vollkommen unfehlbar bist«, gab Fee schmunzelnd zurück und küsste ihren Mann auf den Mund, bevor er die richtigen Worte gefunden hatte, um näher über diese liebevolle Gemeinheit nachzudenken.

Dr. Norden Staffel 3 – Arztroman

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