Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

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»Weißt du, wo die Akte von Carla Baumann verschwunden ist?« Dr. Nordens langjährige Assistentin Annemarie Wendel, von allen nur Wendy genannt, stand vor der großen Schublade mit den Patientenkarten. »Ich hab den Buchstaben B schon mindestens drei Mal durchforstet. Sie ist weg. Oder ich bin blind.«

Janine kam aus der Küche, wo die Kaffeemaschine vielversprechend blubberte und zischte. Es war noch früh am Morgen, die Sprechstunde begann erst in einer halben Stunde.

»Carla Baumann?«, wiederholte sie und trat an Wendys Schreibtisch. »Die hast du doch vorhin schon rausgelegt, weil du eine Impfung nachtragen wolltest.«

Wendy sah sie ungläubig an, ehe sie beschloss, sich selbst davon zu überzeugen. Sie trat an ihren Tisch und nahm die Karte, die ihre Freundin und Kollegin ihr hinhielt.

»Tatsächlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es so weit. Ich werde alt.«

»Ach, Quatsch. Das passiert doch jedem Mal.« Janine lachte. Aber nur kurz. Ihr Blick war auf ein Kuvert gefallen, das auf Wendys Schreibtisch lag. »Da liegt ja noch der Brief an Dr. Schneider. Der Chef hat doch gestern gesagt, dass der dringend weg muss.«

Wendys Augen folgte ihrem Fingerzeig. Sie wurde bleich wie eine Wand und schlug die Hände auf die Wangen.

»O mein Gott, den hab ich total vergessen.« Obwohl es noch so früh war, sank sie kraftlos auf den Stuhl.

Janine sah auf die Uhr und dachte nach.

»Wenn ich gleich loslaufe und ihn per Express wegschicke, kommt er bestimmt noch pünktlich an.« Mit wenigen Schritten war sie an der Garderobe und schlüpfte in die leichte Sommerjacke, während Wendy immer noch wie versteinert auf dem Stuhl saß.

»Ich versteh das nicht …«, murmelte sie vor sich hin. »Wie konnte das passieren …«

»Darüber reden wir später. Jetzt musst du dich erst einmal um unseren geschätzten Pharmareferenten kümmern.« Janine deutete aufs Fenster, an dem in diesem Augenblick Sebastian Klotz mit geschäftigem Schritt vorbeieilte. »Der liebe Gott straft jede kleine Sünde sofort.«

»Mir bleibt heute aber auch nichts erspart«, seufzte Wendy gottergeben und stand auf.

»Wer weiß. Vielleicht sind ein paar Komplimente von unserem Herrn Klotz genau das Richtige jetzt.«

»Das sagst du nur, weil du gleich weg bist«, unkte Wendy.

»Du kannst auch gehen«, bot Janine großzügig an.

Aber ihrer Freundin war nicht nach hektischer Bewegung.

»Alles in Ordnung. Ich krieg das hier schon hin.« Die Tür öffnete sich, und sie setzte ein Lächeln auf.

Doch zunächst galt die Aufmerksamkeit des Pharmareferenten Janine, die ihm entgegenkam.

»Holla, schöne Frau, wohin des Wegs?«

»Ich muss dringend zur Post. Aber Wendy erwartet Sie bereits.«

So eine freundliche Begrüßung war Sebastian Klotz nicht gewohnt.

»Wirklich?« Seine Augen leuchteten auf. Ehe er eintrat, strich er sich die Strähnen glatt, die er jeden Morgen über die Halbglatze drapierte. Er versicherte sich des tadellosen Sitzes des braunen Cordsakkos. Dann trat er durch die Tür.

»Ich hörte, dass Sie mich bereits erwarten«, begrüßte er Wendy freundlich. Die wusste sofort, dass sie sein erwartungsvolles Gesicht Janine zu verdanken hatte und nahm sich vor, sich bei allernächster Gelegenheit zu rächen.

Doch zunächst hieß es, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Herr Klotz, Sie waren ja schon lang nicht mehr hier«, begrüßte sie ihn so freundlich wie möglich.

»Nach der letzten Abfuhr hab ich mich nicht mehr hergetraut«, gestand er. Er stellte die Aktentasche vor dem Tresen ab und lächelte sie an.

Peinliches Schweigen erfüllte den Vorraum. Verzweifelt suchte Wendy nach ein paar unverfänglichen Worten. In ihre Gedanken hinein brodelte die Kaffeemaschine.

»Lust auf einen Kaffee?«, fragte sie erleichtert.

»Sehr gern.« Wenn möglich, wurde Sebastians Strahlen noch tiefer. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ein Stück Kuchen mitgebracht.«

»Nicht nötig.« Unbemerkt war Danny Norden hereinkommen. Schon an der Statur hatte er den Pharmareferenten erkannt, der in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen vorbeikam, um Salben und Tinkturen anzupreisen und nebenbei den beiden Assistentinnen den Hof zu machen. Anfangs war Danny genervt gewesen von dem hartnäckigen Besucher, der nicht zu merken schien, dass er lästig war. Inzwischen nahm er die Besuche aber sportlich. Deshalb schwenkte er die Tüte mit Leckereien durch die Luft, die er wie fast jeden Morgen in der Bäckerei seiner Freundin besorgt hatte. »Kirschrollen, Rahmschnitten, Mandelbögen … alles, was das Herz begehrt«, pries er seine Waren an.

Verdutzt blickte Sebastian Klotz von einem zum anderen.

»So ein freundlicher Empfang! Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich schon viel früher wiedergekommen.«

Wendy verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.

»Ich hol dann mal den Kaffee«, verkündete sie und floh in die Küche.

Ermutigt sah Sebastian ihr nach.

»Aber kommen Sie bald wieder. Auf Ihren hübschen Anblick verzichte ich nicht gern.«

Um ein Haar wäre Danny geplatzt vor unterdrücktem Lachen und freute sich schon jetzt auf den schnippischen Kommentar der langjährigen Assistentin.

Doch Wendy sagte nichts und wunderte sich selbst darüber, wo ihr Widerspruchsgeist geblieben war.

*

In letzter Zeit erfreute sich Tatjana Bohdes Geschäft ›Schöne Aussichten‹ immer größerer Beliebtheit. Schon am Morgen machte die Bäckerei guten Umsatz mit Brot und Backwaren. Auch die Tische des kleinen Cafés waren fast alle besetzt. Das änderte sich auch im Laufe des Tages nicht. Frühe und späte Frühstücksgäste gaben sich die Klinke in die Hand, ehe sie von der Mittagskundschaft abgelöst wurden.

In der Backstube hatte der Auszubildende Titus alle Hände voll zu tun.

»Aus dem Weg! Die Brezen sind fertig!«, rief er seiner Chefin Tatjana zu, die zwischen dem Klinikkiosk und der Bäckerei pendelte und hier wie dort nach dem Rechten sah. In der einen Hand balancierte er ein neues Tablett mit Teigrohlingen. Der Ofen gab ein durchdringendes Signal von sich. Tatjana sah einen Schatten auf sich zukommen. Mit einem beherzten Sprung zur Seite rettete sie sich vor dem drohenden Zusammenstoß.

»Meine Güte, das ist ja lebensgefährlich hier.«

»Das ist effektive Arbeit hier.« Mit wenigen Handgriffen tauschte Titus die Tabletts, ehe er die Ofentür zustieß und die Uhr einstellte. Er griff sich an den Kopf, um die obligatorische Mütze zurechtzurücken und drehte sich zu Tatjana um.

Die musterte ihn mit schief gelegtem Kopf.

»Täusche ich mich oder hast du eine Mütze auf?« Wegen ihrer Sehbehinderung konnte sie ihn nicht genau erkennen.

»Gut aussehen in allen Lebenslagen … Du als Frau solltest das doch eigentlich wissen«, ließ die schlagfertige Antwort nicht auf sich warten. »Ich meine, es könnte ja sein, dass meine Traumfrau in die Backstube spaziert, oder?« Titus grinste.

»Ein Glück, dass das Josephine nicht gehört hat.«

Seufzend kehrte er an den Arbeitstisch zurück, wo noch mehr Teig auf ihn wartete.

»Ach, Josy … Die geht mir in letzter Zeit ehrlich gesagt ganz schön auf den Wecker.« Er nahm einen Batzen Teig aus der Schüssel. Mit einem Klatschen landete er auf dem Backbrett und wirbelte Mehl auf. »Die ist so was von eifersüchtig. Ist das eigentlich normal?«

Tatjana griff nach einem Backhandschuh. Sie pflückte die frischen Brezen vom Blech und warf sie in einen Korb, um sie später in den Verkaufsraum zu bringen.

»Entweder spürt sie, dass was nicht in Ordnung ist. Oder aber, sie ist unsicher«, tat sie ihre Meinung kund.

»Oder beides. Schätze mal, wir drehen uns im Kreis.« Mit aller Kraft bearbeitete Titus den Teig. »Wegen ihrer Unsicherheit ist sie eifersüchtig. Das nervt mich, und ich geh auf Abstand, was sie noch unsicherer macht.« Nachdenklich sah er hoch. »Wenn ich gewusst hätte, wie kompliziert Frauen sind, hätte ich die Finger davon gelassen«, prophezeite er düster.

Tatjana lachte.

»Ich glaub dir kein Wort. Im Grunde schmeichelt es dir doch, dass sie so auf dich steht«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

Titus konnte nicht anders und lachte mit ihr.

»Eins zu null für dich. Trotzdem nervt es manchmal.« Mit geschickten Fingern begann er, gleich große Brötchen aus dem Teig zu formen.

Zufrieden sah ihm seine Chefin dabei zu. Titus hatte das Zeug zu einem herausragenden Bäcker. Wenn er sich im Café genausogut anstellte, könnte sie ihm eines Tages die Geschäftsführung anvertrauen.

»Tut mir leid, wenn ich unser beziehungspsychologisches Gespräch an dieser Stelle unterbrechen muss. Aber eigentlich bin ich gekommen, um dich was zu fragen.«

»Die Geburtstagsfeier heute Mittag?« Er ahnte, worum es ging. »Keine Sorge, die Gemüsequiches sind vorbereitet, die müssen nur noch in den Ofen. Der Salat steht neben der Zitronenmousse in der Kühlung.«

Tatjana nickte anerkennend. Doch das war noch nicht alles, was sie von ihm wollte.

»Jetzt brauch ich nur noch jemanden, der beim Servieren hilft. Marla fällt überraschend aus. Fynn hat einen Magen-Darm-Infekt aufgeschnappt und kann nicht in der Krippe bleiben.«

»Und da hast du gleich an mich gedacht«, grinste Titus. Unter der Mütze war es heiß geworden. Abgenommen hätte er sie trotzdem niemals. So begnügte er sich damit, sie ein paar Mal vor und zurück zu schieben. »Also schön. Aber nur, wenn ein paar hübsche Mädels kommen …«

»Ich dachte, du wolltest der Frauenwelt entsagen …« Tatjana machte Anstalten, nach dem Korb zu greifen, doch ihr Auszubildender kam ihr zuvor.

»Ja oder nein?« Zwei kräftige Arme packten zu.

»Eine ganze Klasse von der Fachakademie für Sozialpädagogik. 99 Prozent Frauen. Ob ein paar hübsche dabei sind?« Belustigt zuckte Tatjana mit den Schultern. »Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrach …«

»Schon überzeugt!«, unterbrach Titus sie und drehte sich mit Schwung um, um den Korb mit den Brezen nach vorn in die Backstube zu bringen. Die Schlange der Kunden reichte bereits bis zur Tür, und händeringend wartete die Aushilfe auf Nachschub.

*

»Und? Schon was von Felix gehört?«

Danny Norden nutzte eine Stippvisite im Sprechzimmer seines Vaters, um sich nach dem Bruder zu erkundigen.

Daniel saß am Schreibtisch und verglich einen Befund mit den Eintragungen im Computer. Auf seinen Zweitältesten angesprochen, der sich auf eigenen Wunsch in der Kinderkurklinik des Onkels von den Folgen des Flugzeugabsturzes erholte, hob er die Augen.

»Er macht seinem Ruf als Herzensbrecher mal wieder alle Ehre«, gab er bereitwillig Auskunft. »Mario ist schon völlig verzweifelt. Sämtliche Mädels zwischen dreizehn und achtzehn drehen total durch, wenn Felix nur auf der Bildfläche erscheint.«

Unwillig schüttelte Danny den Kopf.

»Möchte mal wissen, von wem er das hat.«

Er durchbohrte seinen Vater mit Blicken.

»Von mir jedenfalls nicht.« Lächelnd hob Daniel die Hände. »Brauchst mich gar nicht so anschauen.« Schließlich kehrte seine Aufmerksamkeit zurück zu den Unterlagen. »Ich versteh das nicht. Der Befund sollte längst aufgenommen sein«, murmelte er vor sich hin. »Ist es möglich, dass Wendy das vergessen hat? Das sähe ihr gar nicht ähnlich.«

Auf die langjährige Assistentin angesprochen, vergaß Danny den Bruder fürs Erste.

»Bei mir hat sie sich auch ein paar Fehler erlaubt. Einen Termin doppelt vergeben, den Brief eines Kollegen in eine falsche Akte sortiert … Solche Sachen.« Unwillig schüttelte er den Kopf.

»Irgendwas stimmt da nicht.« Gewissenhaft, wie Wendy im Normalfall war, lag dieser Schluss nahe. Hast du eine Idee?« Sein forschender Blick ruhte auf Danny.

Der wiegte nachdenklich den Kopf.

»In der Zeit, in der du so viel wegen Felix in der Klinik warst, hat hier ganz schön der Bär ge­steppt. Und die Jüngste ist sie ja auch nicht mehr. Schon möglich, dass sie das mehr angestrengt hat, als sie und wir dachten.«

Diese Erklärung klang plausibel in den Ohren des Seniors.

»Ich denke, ich werde mal mit ihr reden«, überlegte er laut.

»Kannst du das bitte in meiner Mittagspause erledigen?« Danny schnitt eine Grimasse. »Diesen Stich ins Wespennest will ich nicht unbedingt erleben.«

»Seit wann bist du ein Feigling?« Das Blitzen in Daniels Augen verriet, dass er es nicht ernst meinte.

»Bin ich gar nicht. Aber ich finde, ich hab dir lange genug den Rücken freigehalten«, gab Danny schlagfertig zurück. Er hob die Hand zum Gruß und machte Anstalten zu gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Falls du mich suchst: Ich bin im ›Schönen Aussichten‹ und danach in der Klinik, einen Patienten besuchen.«

»Wer weiß, vielleicht komm ich später nach. Liegend. Auf eine Bahre geschnallt. Im Sondertransport«, unkte Dr. Norden senior und erntete ein schallendes Lachen.

*

Der Schulgong war noch nicht verhallt, als die Türen aufgerissen wurden und sich Ströme von Schülern auf die Flure ergossen. Die Jüngeren drängelten und schubsten der wiedergewonnen Freiheit entgegen, während sich die Älteren betont lässig gaben.

»Wir treffen uns heute alle in der Eisdiele. Kommst du auch mit?«, fragte Esther, als sie nach Schulschluss mit ihrer besten Freundin durch die Aula Richtung Ausgang strebte. »Hey, du Zwerg, bisschen Respekt vor dem Alter«, rief sie einem Mädchen nach, das sich an ihr vorbeigedrängt hatte.

Josephine schien nichts von dem Trubel um sich herum zu bemerken.

»Keine Zeit. Ich will Titus in der Bäckerei überraschen.«

Esther verdrehte die Augen.

»Seit du mit dem Typen zusammen bist, bist du zu nichts mehr zu gebrauchen«, beschwerte sie sich. Lange genug hatte sie stumm zugesehen. Spontan beschloss sie, ihrem Ärger freien Lauf zu lassen. »Kommt der nicht mal einen Tag ohne dich aus? Wenn du so weitermachst, will bald niemand mehr was von dir wissen.«

»Du bist doch nur neidisch, weil du keinen Freund hast«, fauchte Josy und ließ ihre verdutzte Freundin stehen.

Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad musste sie wohl oder übel über Esthers Vorwurf nachdenken. Er hätte auch von Titus stammen können.

Natürlich hatte Esther recht. In den drei Monaten ihrer Beziehung war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht gesehen hatte. Sie wusste, dass er sich manchmal eingeengt fühlte. Trotzdem konnte sie nicht anders. Die Angst, er könnte sie für ein paar Stunden vergessen oder ohne sie Spaß haben, brachte sie fast um den Verstand. So radelte Josephine auch an diesem Tag wieder zur Bäckerei ›Schöne Aussichten‹. Es war ein herrlicher Tag ihm Hochsommer. Allen Menschen auf der Straße malte die Sonne ein Strahlen ins Gesicht. Luftige Kleider flatterten in einer milden Brise. Vögel zwitscherten, Kinderkreischen mischte sich mit fröhlichem Lachen. Von alledem bemerkte sie nichts. Völlig fixiert auf ihr Ziel trat sie in die Pedale und erreichte schließlich atemlos und verschwitzt das Café. Sie sprang vom Fahrrad und lehnte es an die Wand. Fahrig strich sie sich durchs Haar und biss sich auf die Lippen, damit sie in schönem Rot leuchteten. Wie immer wollte sie den Hintereingang in die Backstube benutzen, als ihr schon von weitem Stimmen und Gelächter entgegenschlug. Sie spähte um die Ecke und entdeckte die lustige Gesellschaft im Hinterhof. Zwischen großen Topfpflanzen und allerlei Gartengerät, Rosenbögen und Kletterwänden standen hübsch gedeckte Tische. Mit ihrem untrüglichen Gespür hatte Tatjana hier ein kleines Gartenparadies inmitten der Großstadt geschaffen, wo sich die Gäste – allesamt weiblich – offenbar sehr wohl fühlten. Schon wollte sich Josy an der Wand vorbeidrücken, als sie ihren Freund zwischen den Frauen entdeckte. Titus hielt ein leeres Tablett in der Hand und unterhielt sich angeregt mit einer hübschen Blondine. Schlagartig brannte Josys Herz lichterloh vor Zorn. Sie überlegte nicht lange und marschierte zielstrebig auf ihn zu.

Vertieft in das Gespräch mit Anneka Norden bemerkte Titus nichts von dem Unwetter, das sich hinter ihm zusammenbraute.

»Freut mich, dich endlich mal wieder zu sehen. Kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass wir hier zusammen gearbeitet haben.«

»Ist ja auch schon über ein Jahr her.« Anneka hielt die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie sich über das Wiedersehen genauso freute wie er. »Du hast dich ganz schön verändert. Auf der Straße hätte ich dich nur wegen der Mütze erkannt. Ist dir das nicht zu heiß?«

Titus lachte und wollte zu einer Antwort ansetzen. Aber dazu kam es nicht mehr.

»Kann ich dich kurz sprechen?«

Überrascht fuhr er herum und starrte seine Freundin an.

»Du bist schon hier?«

»Allerdings.« Es war Josephine anzusehen, dass sie ihn am liebsten an Ort und Stelle in Stücke gerissen hätte. »Also, was ist jetzt? Kann ich mit dir reden?«

»Schlecht. Mordsviel los im Augenblick.« Er zeigte auf die dicht besetzten Tische.

»Für die da hattest du auch Zeit«, konterte Josy mit einem abfälligen Blick auf Anneka.

Die durchschaute die Situation sofort, schenkte Titus ein mitleidiges Lächeln und wandte sich ab. Ein Eifersuchtsdrama war das Letzte, worauf sie Lust hatte. Da amüsierte sie sich lieber wieder mit ihren Mitschülerinnen.

Titus kochte vor Zorn.

»Komm!« Ohne sich nach seiner Freundin umzudrehen, bahnte er sich einen Weg, vorbei an Tischen und Stühlen. Unterwegs nahm er Bestellungen auf und stapelte benutztes Geschirr auf dem Tablett, das er der Aushilfe in die Küche brachte. »Machst du mir bitte drei Mal Apfelschorle, ein Wasser und zwei Kaffee?«, bat er Tatjana hinter der Theke. Danny war bei ihr. Während er sein Mittagessen verspeiste, ging er ihr zur Hand.

»Schon unterwegs«, versprach er.

»Ich bin gleich wieder da!« Titus verdrehte die Augen gen Himmel, was Tatjana auf diese Entfernung nur erahnen konnte. Bei einem Unfall erblindet, hatte sie nach Jahren durch eine Operation einen Teil ihres Augenlichts zurückbekommen. Von der völligen Blindheit geblieben waren ihr die fast mystisch geschärften übrigen Sinne, die ihre Umwelt regelmäßig in Erstaunen versetzten. So nahm es nicht wunder, dass es sein Tonfall war, der sie tiefer blicken ließ.

»Bleib nicht zu lange weg«, rief sie ihm zu. »Du weißt ja, dass ich dich brauch.«

Titus verstand diese versteckte Hilfe und lächelte.

»Gib mir fünf Minuten.« Damit verschwand er hinter dem roten Samtvorhang in der Backstube.

Josy folgte ihm mit gesenktem Kopf. Mit einem Schlag war ihre Wut verraucht.

»Also!« Titus fuhr herum. Er stemmte die Hände in die Hüften und bebte vor Zorn.

»Es tut mir leid.« Josephines Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Ihr Freund schnappte nach Luft.

»Es tut dir leid?«, wiederholte er ungläubig. »Vorgestern war die Mehllieferantin verdächtig, mich anzugraben. Gestern hast du einen Aufstand wegen einer Aushilfe für die Backstube gemacht. Heute ist es Anneka. Wenn du so weitermachst, bin ich meinen Job hier bald los. Dann hast du einen arbeitslosen Freund. Ist es das, was du willst?«

Am liebsten wäre Josy im Erdboden verschwunden.

»Natürlich nicht.« Sie war den Tränen nahe. »Aber … aber … wenn dich die Frauen ständig anmachen … Das halt ich nicht aus.«

»Träumst du eigentlich?«, schimpfte Titus. »Kein Mensch macht mich an. Wir unterhalten uns ganz normal. Du hast doch echt ein Problem!«

»Ich will dich halt nicht verlieren«, beteuerte sie. »Ich lieb dich doch.« Dieses Bekenntnis hatte noch immer gewirkt. Aber diesmal hatte Josephine den Bogen überspannt.

Titus musterte sie kalt.

»Du verwechselst da was. Das ist keine Liebe. Das ist krank.«

Aus der Bäckerei klang Dannys Ruf hinüber in die Backstube. Die Getränke warteten darauf, verteilt zu werden. Um das Grummeln im Magen fürs Erste zu beruhigen, nahm er eine Handvoll Nüsse, die in einer Schale auf der Arbeitsplatte standen. Ein paar davon warf er in den Mund.

»Du hast es gehört. Ich muss arbeiten.« Ohne seine Freundin noch eines Blickes zu würdigen, ging Titus an ihr vorbei durch den roten Vorhang. Josy blieb allein zurück, verzweifelt und ratlos, wie sie ihren neuerlichen Fehler diesmal in Ordnung bringen sollte.

*

Dr. Felicitas Norden saß an ihrem Schreibtisch in der Klinik, als sie der Notruf erreichte.

»Jugendliche Patientin mit akuter Atemnot, Husten und Erbrechen«, lautete die Information aus der Notaufnahme.

»Ich komm sofort rüber«, versprach sie und machte sich auf den Weg. In der Ambulanz traf sie auf den Freund ihrer Tochter Anneka. Der junge Rettungsassistent rollte die Patientin auf der Liege herein. »Noah!«, begrüßte Fee ihn erfreut. Zu gern hätte sie sich mit ihm unterhalten. Doch zunächst galt ihr Interesse dem Mädchen mit der Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. »Was fehlt ihr?«

»Sie heißt Melanie Platz, ist fünfzehn und klagt über stärker werdenden Husten mit weißem Auswurf. Außerdem musste sie sich in letzter Zeit öfter erbrechen. Durchfall und Atemnot sind trotz Behandlung eines Kollegen immer schlimmer geworden.«

»Wie hat er sie behandelt?«

»Mit einem Antibiotikum«, erteilte Noah die gewünschte Auskunft. »Außerdem hat er ihr einen Inhalator verschrieben.«

»Ohne der Erkrankung auf den Grund zu gehen?« Skeptisch zog Dr. Norden eine Augenbraue hoch.

Noah zuckte mit den Schultern.

»Im Augenblick hat sie sehr starke Brustschmerzen. Außerdem hat sie mir von einer Zecke erzählt, die sie vor ungefähr einer Woche auf ihrem Bauch gefunden hat.«

»Gut. Dann schauen wir sie uns mal an.« Fee hob die Hand, und Schwester Leonie eilte herbei. »Bringen Sie sie in Behandlungsraum drei. Ich bin sofort bei ihr.« Dann wandte sie sich an Noah. »Hey, dich hab ich ja schon ewig nicht mehr bei uns gesehen. Geht’s dir gut?«

»Alles bestens«, versicherte er.

Am Ausdruck in seinen Augen bemerkte Felicitas, dass er log. Sie ließ sich nichts anmerken.

»Anneka hat mir gestern erzählt, dass sie jetzt wieder öfter zu Hause sein wird«, plauderte sie munter weiter.

»Von meiner Wohnung ist der Weg in ihre neue Praktikumsstelle zu weit. Da muss sie so früh aufstehen.« Es war Noah anzusehen, dass ihm nicht wohl in der Haut war.

Bisher hatte Fee ein gutes Verhältnis zu dem langjährigen Freund ihrer Tochter gehabt, und sie hätte ihm gern ihre Hilfe angeboten. Doch im Augenblick drängte die Zeit.

»Wenn du reden willst, kannst du dich jederzeit bei mir melden«, bot sie an, ehe sie sich verabschiedete, um sich endlich um Melanie zu kümmern.

Als sie das Behandlungszimmer betrat, stockte ihr der Atem.

»Lammers! Was machen Sie denn hier?«, fragte sie erbost.

In aller Seelenruhe drehte er sich zu ihr um.

»Im Gegensatz zu Ihnen halte ich kein Schwätzchen, sondern kümmere mich um unsere Patienten.«

»Ich hab höchstens zwei Minuten … «, setzte Fee zu einer Rechtfertigung an. Im selben Moment ärgerte sie sich über sich. Warum gelang es ihm immer wieder, sie aus der Reserve zu locken? Sie hielt inne und holte tief Luft. »Gut, dann übernehmen Sie den Fall.«

»Interessiert es Sie nicht, was ich in der Zwischenzeit herausgefunden hab?«, fragte er irritierend liebenswürdig.

Fee ballte die Fäuste. Immer wieder gelang es dem ungeliebten Kollegen, sie dumm dastehen zu lassen.

»Ich werde es nachher in Ihrem Bericht lesen.« Schon wollte sie auf dem Absatz kehrt machen und in ihr Büro zurückkehren, als Lammers sie zurückhielt.

»Leider kann ich das Gör nicht übernehmen. Ich hab eine Frauenallergie.« Er lächelte wie ein Engel, als er an Fee vorbei in Richtung Tür ging. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal um. »Übrigens tippe ich auf Lungenentzündung.« Damit verließ er endgültig den Behandlungsraum.

»Na warte«, zischte Fee. »Das wirst du noch bereuen.« Sie beugte sich über das Mädchen, das mit geschlossenen Augen auf der Liege lag. Im nächsten Augenblick war Volker Lammers vergessen, und ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte ihrer Patientin.

*

Auch in der Praxis Dr. Norden war an diesem Vormittag viel los. Erst in der Mittagspause kam Janine dazu, ihre Freundin und Kollegin zur Rede zu stellen.

»Und? Wie war’s mit Herrn Klotz?« Sie stand in der Küche und schnitt Tomaten in Scheiben. Wie so oft hatten die beiden beschlossen, in der Praxis zu bleiben und dort Mittag zu essen. Bei dem schönen Wetter gab es dafür keinen angenehmeren Platz als die Terrasse des Hauses. »Habt ihr euch gut unterhalten?«

»Das war echt nicht nett von dir.« Wendy drapierte die Tomatenscheiben auf einem Bett aus Rucola und verteilte kleine Mozzarellakugeln darauf.

»Na, hör mal! Immerhin hab ich deinen Brief weggebracht«, gab Janine zu bedenken. »Und falls du findest, dass ich gemein bin: Pinguine schubsen ihre Artgenossen ins Wasser, um zu sehen, ob ein Schneeleopard lauert. DAS ist hinterhältig.«

»Ich finde das durchaus vergleichbar«, erwiderte Wendy trocken. »Nur, dass Herr Klotz nicht halb so edel ist wie ein Schneeleopard.«

Janine, die Balsamico über den Tomaten verteilt hatte, lachte prustend los.

»Eins zu null für dich«, antwortete sie endlich und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. »Hat er dir wenigstens ein paar Komplimente gemacht?« Sie stellte Teller auf den Tisch und legte Besteck dazu.

Wendy schenkte unterdessen die Gläser voll.

»Der Kosmos muss etwas Besonderes mit uns vorhaben. Sonst hätten wir uns nicht hier wiedergetroffen«, erwiderte sie mit verstellter Stimme.

Einen Moment lang starrte Janine ihre Freundin an.

»DAS hat er gesagt?« Dieser Spruch war so abgedroschen, dass sie noch nicht mal drüber lachen konnte.

»Willst du noch mehr hören?« Wendy setzte sich und nahm das Besteck zur Hand.

»Später vielleicht. Sonst vergeht mir womöglich noch der Appetit.« Sie nahm eine Scheibe Brot, brach sie auseinander und tauchte sie in die Marinade aus Balsamico und Öl. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm werden würde. Tut mir echt leid.«

Nur zu gern hätte Wendy die Entschuldigung angenommen. Doch es gab einen Grund, der dagegen sprach.

»Blöderweise ist das erst der Anfang. Der freundliche Empfang hat unserem lieben Herrn Klotz neuen Mut gemacht. Er hat darauf bestanden, mich zum Essen einzuladen.«

Vor Schreck fiel Janine das Brot aus der Hand. Dunkelbrauen Spritzer verteilten sich auf ihrem rosafarbenen Shirt. Doch sie achtete nicht darauf.

»Du hast doch hoffentlich nicht zugesagt?«

»Ich hab mich gewunden wie eine Schlange. Vergeblich.« Deprimiert sah Wendy ihre Freundin und Kollegin an. »Du siehst, du bist doch nicht besser als ein Pinguin!«

*

Während Titus die Getränke nach draußen brachte, blieb Josephine in der Backstube. Trotz der guten Vorsätze wurde sie erneut schwach und beobachtete ihren Freund durch’s Fenster. Als er das Glas vor der hübschen Blondine von vorhin abstellte, lächelte die ihn strahlend an. Schon wieder schnürte sich Josys Hals zu.

»Ich hoffe, du hast keine Schwierigkeiten bekommen«, sagte Anneka. Die Sonne blendete sie, und sie kniff die Augen zusammen. Ihre Nase kräuselte sich, und unwillkürlich schlug Titus‘ Herz schneller.

»Nein, nein, kein Stress«, versicherte er hastig. Ihr Anblick ließ seinen Atem schneller gehen. »Wir sind noch nicht lange getrennt, und irgendwie kommt Josy nicht drüber weg.« Er wusste selbst nicht so genau, warum er das sagte. Er wusste nur, dass er sich nicht dafür schämte.

»Oh, das tut mir leid.« Sofort war Annekas Gesicht voller Mitgefühl. »Das Blöde an solchen Trennungen ist ja, dass einer meistens weiter ist als der andere.« Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu ihrem Freund Noah. War es bei ihnen nicht ähnlich? In letzter Zeit fiel ihr immer öfter auf, wie langweilig ihr gemeinsamer Alltag geworden war. Als sie versucht hatte, mit ihm darüber zu reden, hatte er abgeblockt. Noah empfand völlig anders als sie und hatte nicht so recht verstanden, wovon sie überhaupt sprach. Er war zufrieden und glücklich so, wie es war. Aber sie? Was war mit ihr? Hatte sie nicht auch ein Recht auf Glück?

»Stimmt was nicht?« Titus hatte den Ausdruck in Annekas Augen bemerkt. »Ich wollte dich nicht traurig machen.« Der Hals war ihm eng geworden. Unwillkürlich fasste er sich an die Kehle.

Das Lachen ihrer Mitschülerinnen riss Anneka aus ihren Gedanken.

»Nein, nein, schon in Ordnung.« Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, als sie bemerkte, wie Titus nach Luft schnappte. »Stimmt was nicht?«

Er konnte nicht antworten, starrte sie nur aus angsterfüllten, großen Augen an. Einen Wimpernschlag später stürzte er zwischen den Tischen zu Boden.

*

»Vor allem der linke Lungenflügel hebt sich nicht wie bei Gesunden schwarz vom restlichen Brustkorb ab.«

Der Radiologe Dr. Reinhard Witt deutete auf den entsprechenden Bereich auf dem Bildschirm.«

Fee stand davor und betrachtete nachdenklich die Röntgenbilder.

»Sieht aus wie milchige Wolken.«

»Ein Hinweis auf eine beginnende Lungenentzündung«, bestätigte Dr. Witt.

»Dazu passt das Fieber der Patientin.« Sie seufzte. Nach der Einlieferung in die Behnisch-Klinik hatte sich Melanie Platz‘ Zustand verschlechtert. »Dann hat Lammers recht. Was schlagen Sie vor?« Obwohl sie einen Therapieansatz im Kopf hatte, bezog sie den Kollegen mit ein.

»Eine Antibiotikatherapie, die sich gegen die gängigsten Krankheitserreger von Lungenentzündungen richtet.«

Das war auch ihr Gedanke gewesen.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Gern geschehen. Halten Sie mich auf dem Laufenden!« Reinhard Witt lächelte die geschätzte Kollegin an und sah ihr nach, als sie das Zimmer verließ.

Auf dem Weg zu Melanie begegnete Fee ein Kollege, der Kinderarzt Götz Grabmann.

»Wohin des Wegs, schöne Frau?«, fragte er.

Obwohl sie wusste, dass das nur Spaß war, schlug ihr Herz schneller. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

»Ich hab Ihnen schon mal gesagt, dass Sie sich nicht lustig machen sollen über mich.«

»Und ich hab geantwortet, dass mir nichts ferner liegt«, erwiderte er schlagfertig. »Stört es Sie, wenn ich Sie ein Stück begleite?«

Felicitas schüttelte den Kopf.

»Ganz im Gegenteil. Ich habe eine Bitte an Sie.«

»Lassen Sie mich raten! Sie erhören mein Flehen und gehen mit mir essen?« Sein hoffnungsfroher Blick ruhte auf Fee und machte sie nervöser, als ihr lieb war.

»Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass ich eine verheiratete Frau bin?«

Mitten auf dem Flur blieb Götz abrupt stehen und wartete darauf, dass Felicitas es ihm gleichtat.

»Herrgott noch einmal, Felicia, es geht um ein Abendessen. Ich hab Ihnen kein unsittliches Angebot gemacht.« Zum ersten Mal benutzte er diesen Namen und irritierte sie damit noch mehr.

»Mein Name ist Felicitas«, wies sie ihn schroff zurecht.

Götz lächelte ebenso entwaffnend wie unbeeindruckt.

»Die italienische Form steht Ihnen aber besser. Sie ist nicht so hart, sondern weicher, weiblicher. Genau wie Sie!«

»Jetzt ist es aber genug!« Am anderen Ende des Flurs bog Volker Lammers um die Ecke. Zum allerersten Mal freute sich Fee, ihn zu sehen. Sein Auftauchen war ein guter Grund, um dieses unangenehme Gespräch zu beenden. Fee ärgerte sich nur darüber, dass ihre Stimme nicht halb so abweisend war wie beabsichtigt. »Um auf meine Bitte zurückzukommen: Wir brauchen ein großes Blutbild von Melanie Platz«, kehrte sie zum Thema zurück. »Lassen Sie auf Krankheitserreger testen und prüfen Sie, ob eine HIV-Infektion für die Atembeschwerden verantwortlich sein kann.«

Als Lammers in diesem Moment vorbeiging, schickte er den beiden Kollegen einen argwöhnischen Blick. Fee dankte dem Himmel, dass er diesmal auf eine anzügliche Bemerkung verzichtete und kommentarlos in seinem Büro verschwand.

»Alles klar, Chefin.« Götz Grabmann hatte den stummen Befehl in ihren Augen gesehen und kehrte zur gewohnten Anrede zurück. Auf keinen Fall wollte er es sich mit dieser faszinierenden Frau verderben. Seit er sie in der Klinik kennengelernt hatte, träumte er von ihr, wohlwissend, dass sie unerreichbar war.

Felicitas dagegen kehrte gedankenvoll in ihr Büro zurück. Warum fühlte sie sich von Götz Grabmanns Annäherungsversuchen geschmeichelt? Sicher, es lagen schwere Monate hinter Daniel und ihr, in denen ihre Liebe viel zu kurz gekommen war. Aber das war kein Grund, sich an den Komplimenten eines anderen zu freuen. Oder war das nach so langer Ehe ganz normal?

*

Als Titus vor aller Augen im Garten zusammengebrochen war, hatte nicht nur Josy in der Backstube aufgeschrien. Auch die Frauen draußen taten ihr Entsetzen lautstark kund. Lediglich Anneka fackelte nicht lange. Sie sprang vom Stuhl auf und kniete neben Titus nieder.

»Titus, was ist? Kannst du mich hören?« Sie klopfte ihm auf die Wange. Als er nicht reagierte, gab es nur eine Möglichkeit. Sie sprang auf und stürzte ins Café. Dabei hätte sie um ein Haar Josephine umgerannt, die aus der Backstube gelaufen kam.

»Danny! Danny, schnell. Titus!«

Alarmiert von den Rufen seiner Schwester war der junge Arzt sofort zur Stelle.

»Was ist mit ihm?«

Atemlos blieb Anneka vor ihrem Bruder stehen.

»Keine Ahnung. Er hat sich an den Hals gefasst und ist zusammengebrochen.« Sie wies mit dem Finger Richtung Hinterhof. »Draußen.«

Danny fackelte nicht lange und stürmte los. Geistesgegenwärtig schnappte sich seine Schwester die Arzttasche, die er für Notfälle in der Bäckerei deponiert hatte. Als sie draußen ankamen, kniete Josephine weinend neben ihrem Freund.

»Mein Süßer, was ist denn los? Bitte wach doch wieder auf.«

Unsanft schob Danny sie zur Seite. Er hatte keine Zeit zu verlieren.

»Mach mal Platz! Ich bin Arzt.«

Gezwungenermaßen leistete Josephine dieser Anweisung Folge.

»Was ist mit ihm?«, fragte sie bebend, bekam aber keine Antwort.

»Titus, kannst du mich hören?« Unsanft klopfte Danny dem jungen Mann links und rechts auf die Wangen. »Hast du was verschluckt?« Als er keine Antwort bekam, drehte er sich zu seiner Schwester um. »Hat er Kaugummi gekaut?«

»Nein … «, setzte Anneka zu einer Antwort an, als Josy sie unterbrach.

»Er mag keine Kaugummis.«

Danny schickte ihr einen komischen Blick. Gleichzeitig griff er nach seiner Tasche.

»Ich muss intubieren«, erklärte er Anneka. Sie sah ihm dabei zu, wie er das Beatmungsgerät auspackte. Mit fliegenden Fingern versuchte er, es einzuführen. Vergeblich. »Mist! Die Luftröhre ist dicht. Ich komm nicht durch.«

»Aber … aber … Sie müssen doch was tun. Sonst erstickt er«, jammerte Josephine.

Diesmal achtete niemand auf sie. Die übrigen Gäste der Veranstaltung hatten einen Kreis um den Ort des Geschehens gebildet und hielten gebannt die Luft an.

»Ich mache einen Luftröhrenschnitt«, beschloss Danny. Er nahm ein steril verpacktes Skalpell aus der Tasche. Gerade als er es ansetzen wollte, schrie Josy entsetzt auf.

»Sie können ihm doch nicht den Hals aufschneiden!«

Vor Schreck zuckte der Arzt zusammen. Um ein Haar hätte er den Schnitt falsch gesetzt.

»Verdammt noch einmal, halt endlich die Klappe!«, schrie er Josy entnervt an.

In diesem Moment tauchte Tatjana auf. Mit entschiedenen Schritten ging sie auf das Mädchen zu, legte die Hand um ihre Schultern und machte Anstalten, sie wegzuführen.

»Der Rettungswagen ist gleich da!«, sagte sie zu noch zu ihrem Freund.

Der hatte inzwischen den lebensrettenden Schnitt gesetzt. Durch ein Plastikröhrchen bekam Titus wieder Luft. Erleichtert atmete Danny auf und lächelte Tatjana an.

»Ein Glück, dass du bist, wie du bist und nicht wie …« Mitten im Satz hielt er inne. Sein Blick flog hinüber zu Josy, die schuldbewusst den Kopf gesenkt hatte. Auch wenn er nicht weitersprach, wusste sie, dass sie gemeint war.

Tatjana dagegen war wie immer nicht um eine freche Antwort verlegen.

»Keine Sorge, ich mach das nicht umsonst«, kündigte sie an, als aus der Ferne schon das Martinshorn zu hören war, das rasch näherkam.

*

Trotz der sofort eingeleiteten Therapie verschlechterte sich Melanie Platz‘ Zustand immer weiter. Als Dr. Felicitas Norden das nächste Mal zu ihr kam, lag sie hochfiebernd im Bett. In Gedanken versunken, nahm sie nur am Rande wahr, dass Götz Grabmann neben sie trat. Diesmal ließ sein Auftauchen sie kalt.

»Und?« Sie hob nur kurz den Kopf. »Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Alles negativ. Auch keine HIV-Infektion.« Er hielt ihr die Ergebnisse vom Labor hin. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Doch anders als der Kollege nahm Fee auch davon keine Notiz. Sie überflog die Analysen. »Das gibt’s doch nicht.« Wieder beugte sie sich über Melanie und betrachtete sie eingehend. In diesem Moment klingelte das Handy in ihrer Tasche. Sie führte ein kurzes Telefonat, ehe sie sich wieder auf den Fall konzentrierte.

»Was wissen wir sonst noch über sie?«

»Ihre Mutter war vorhin hier. Wir haben uns unterhalten. Laut ihren Aussagen hat ihre Tochter keine Allergien, raucht ab und zu mal E-Shisha – was die Mama natürlich nicht gern sieht – und hat seit Kurzem ihren ersten Freund. Tropenkrankheiten können wir ausschließen. Melanie war auf Klassenfahrt in Kroatien.«

Fee hatte aufmerksam zugehört. Sie wiegte den Kopf.

»Klingt alles ganz normal. Aber irgendwo ist der Wurm drin. Wir müssen ihn nur finden.«

»Vielleicht gibt es eine Verbindung zu einem anderen Fall«, bemerkte Götz, als er das Krankenzimmer zusammen mit seiner Chefin verließ. »Ich war vorhin in der Notaufnahme, als ein junger Mann eingeliefert wurde. Er leidet auch unter Atemproblemen.«

Felicitas horchte auf.

»Klingt plausibel. Ich werde mir das mal anschauen.«

Sie dachte kurz nach.

»Sie sorgen bitte dafür, dass Melanie so schnell wie möglich ins CT kommt. Falls uns das nicht weiterbringt, kommen wir nicht um eine Bronchoskopie herum«, ordnete sie noch an, ehe sie sich auf den Weg in die Notaufnahme machte.

Wie der Zufall es wollte, lief ihr der Kollege Lammers über den Weg.

»Ach, Chefin, gut, dass ich Sie treffe«, rief er ihr schon von weitem entgegen. »Ich muss mit Ihnen über meinen Urlaub reden.«

»Urlaub?«, fragte sie hämisch zurück, ohne stehenzubleiben. »Wenn Sie sicher sind, dass die Klinik auf Sie verzichten kann, kommen Sie bitte gegen achtzehn Uhr in mein Büro. Dann sprechen wir darüber.« Sie winkte, als sie mit wehendem Kittel weitereilte.

Entgeistert starrte Lammers ihr nach.

»So spät?«

»Tut mir leid. Vorher muss ich mich um meine Patienten kümmern. Die sind wichtiger als Urlaub.« Fees schadenfrohe Stimme hallte noch über den Flur, als sie schon um die Ecke verschwunden war.

*

Doch die Freude über diesen Konter hielt nicht lange an. Felicitas Nordens Schrecken war groß, als sie sah, wer da in der Notaufnahme nervös auf und ab wanderte.

»Meine Süße! Was machst du denn hier? Ist was passiert?«

Als Anneka die Stimme ihrer Mutter hörte, fuhr sie sofort herum. Mit wenigen Schritten lief sie auf Fee zu und suchte Schutz und Trost in ihren Armen.

»Ein Glück, dass du hier bist«, seufzte sie erleichtert.

Nach ein paar Augenblicken schob Felicitas ihre älteste Tochter von sich. Sie strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht und sah sie fragend an.

»Ich dachte, du bist mit deiner Klasse bei Tatjana im ›Schönen Aussichten‹.«

»War ich auch. Aber dann ist Titus zusammengeklappt.« In knappen Worten erzählte sie, was passiert war.

Fee hörte aufmerksam zu.

»Ein Glück, dass Danny da war. Sonst wär die Sache nicht so glimpflich ausgegangen«, schloss Anneka ihren Bericht.

»Wo ist er überhaupt?« Felicitas sah sich suchend um.

»Bei Titus.«

Sie deutete auf den Behandlungsraum, den sie nicht hatte betreten dürfen.

Fee nickte.

»Ich geh mal rein und erkundige mich, was los ist. Bin gleich zurück«, versprach sie ihrer Tochter.

Damit war Anneka einverstanden. Sie sah ihrer Mutter nach.

Die klopfte kurz an und trat ein. Danny Norden und Dr. Weigand hoben die Köpfe.

»Ach, du bist es.« Danny atmete erleichtert auf. »Ich dachte schon, die verrückte Josephine hätte sich reingeschlichen.« Er sah wieder hinunter auf Titus, den Matthias inzwischen an diverse Überwachungsgeräte angeschlossen hatte.

»Die verrückte Josephine?«, hakte Fee verwundert nach.

»Titus‘ Freundin. Ein Ausbund an Eifersucht. Die hat vielleicht eine Szene gemacht, als Anneka mitgefahren ist.« Unwillig schüttelte er den Kopf.

Matthias fühlte Fees fragenden Blick auf sich ruhen. Er sah hoch und lächelte sie an.

»Dein Sohn hat gute Arbeit geleistet. Besser hätte ich die Koniotomie auch nicht machen können.«

»Zuviel der Ehre!« Danny deutete eine Verbeugung in Richtung seines Freundes an. »Ich hoffe nur, dass das Ganze kein juristisches Nachspiel hat.«

Überrascht zog Felicitas eine Augenbraue hoch.

»Was redest du da? Anneka hat erzählt, dass du Titus das Leben gerettet hast. Das ist das Einzige, was zählt.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang.« Danny schnitt eine Grimasse.

Fees Interesse konzentrierte sich auf Titus. Allmählich wurde er unruhig. Nicht mehr lange, und er würde aufwachen.

»Wie geht’s ihm?«

»Blutdruck und Puls sind wieder normal.« Dr. Weigand konnte Entwarnung geben.

In diesem Moment öffnete Titus die Augen. Sein Blick wanderte suchend umher, bis er endlich an Danny hängen blieb. Er holte Luft, um zu sprechen.

Doch der junge Dr. Norden legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

»Nicht erschrecken. Reden funktioniert noch nicht.«

Titus` Augen wurden kreisrund vor Schreck, und schnell fuhr Danny fort.

»Du bist im Café umgekippt. Hast plötzlich keine Luft mehr bekommen. Deshalb musste ich so was ähnliches wie einen Luftröhrenschnitt machen.« Er wandte sich an Fee und Matthias. »Zuerst dachte ich, er hätte was verschluckt. Einen Kaugummi oder so.«

»Da war aber nichts«, erwiderte Matthias Weigand, während er ein paar Notizen fürs Protokoll machte. »Der Notarzt vermutet einen allergischen Schock.«

Danny wiegte den Kopf.

»Ein ziemlicher heftiger Schock, wenn du mich fragst. Ohne Vorzeichen. Das ist zumindest das, was Anneka erzählt hat. Sie hat sich mit ihm unterhalten, ehe er zusammengebrochen ist.«

Matthias Weigand musterte den Freund. Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.

»Wenn sie nach ihren Brüdern gerät, wundert es mich nicht, dass Titus‘ Freundin eifersüchtig ist.«

»Wie meinst du das?«

»Ihr Nordens lasst ja bekanntlich nichts anbrennen.«

Dannys Augen blitzten auf.

»Was soll denn das schon wieder heißen? Ich bin seit Jahren in festen Händen.«

»Was dich aber nicht dran hindert, einer hübschen Schwester nachzuschauen. Leugnen ist zwecklos. Ich hab’s genau gesehen vorhin.« Lachend wich Matthias dem freundschaftlichen Schlag aus, den Danny ihm versetzen wollte.

»Kindsköpfe!« Kopfschüttelnd beugte sich Fee über Titus. »Ich wünsche dir jedenfalls gute Besserung. Anneka wartet draußen auf dich. Sie wird dich aufs Zimmer begleiten. Dann sehen wir weiter.« Sie nickte ihm freundlich zu, ehe sie sich noch einmal an die beiden jungen Ärzte wandte. »Ich hab einen Fall, der Ähnlichkeiten mit dem von Titus zu haben schien. Wenn es sich aber wirklich um einen allergischen Schock handelt, werden wir bei Melanie weitersuchen müssen.«

»Ich informiere dich, sobald ich Genaueres weiß«, versprach Matthias und nickte ihr zum Abschied zu.

*

Nachdem ihre Mutter Entwarnung gegeben hatte, wartete Anneka halbwegs entspannt darauf, dass Titus aus dem Behandlungszimmer gefahren wurde. Die Türen öffneten sich in dem Moment, in dem Josephine den Flur entlang eilte. Als sie ihren Freund blass zwischen den Laken liegen sah, stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte nur noch schneller.

»Da bist du ja! Weißt du eigentlich, was für einen Schrecken du mir eingejagt hast?«, fragte sie atemlos. »Ich bin ja so froh, dass alles gut gegangen ist. Dabei dachte ich im Café, dass es vorbei ist mit dir. Wie der Doktor das Skalpell in die Hand genommen und dir den Hals aufgeschnitten …«

In diesem Moment konnte Anneka nicht länger zuhören.

»Was redest du denn da für einen Unsinn?«, unterbrach sie Josys Redeschwall. »Danny hat einen kleinen Schnitt zwischen Ring- und Schildknorpel gemacht. Mehr nicht.«

Der Tross machte vor einem Krankenzimmer Halt. Aufmerksam, wie sie war, eilte Anneka vor und hielt die Tür auf.

Doch Josephine schenkte ihr keine Beachtung. Eifersüchtig bewachte sie Titus. Die Schwester schob das Bett an seinen Platz und prüfte den Tropf. Dann ließ sie die drei allein.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Ich geh zu dir nach Hause und hol dir alles, was du brauchst«, fuhr Josy fort, als Titus seinen Blick auf Anneka heftete und eine Schreibbewegung mach­te.

Anneka verstand. Sie kramte in ihrer Tasche nach Kugelschreiber und einem Stück Papier und reichte ihm beides. Empört sah Josy ihm zu, wie er schrieb. Doch er gab nicht etwa ihr das Blatt, sondern hielt es Anneka hin. Die las es und wurde rot, teils vor Freude, teils vor Verlegenheit.

»Lebensretterin.« Bescheiden, wie sie war, schüttelte sie den Kopf. »Der Dank gebührt Danny. Er hat dir geholfen. Außerdem war es nicht so schlimm, wie es ausgesehen hat.«

Für diesen Satz erntete sie einen wütenden Blick von Josephine.

»Wie kannst du so was sagen? Er war in Lebensgefahr!«

Anneka und Titus tauschten lächelnde Blicke.

»Wie auch immer, du sollst dich ausruhen. Das hat Dr. Weigand gesagt. Und morgen früh versuchen sie, die Ursache für den Erstickungsanfall rauszufinden«, wiederholte sie das, was ihre Mutter ihr gesagt hatte. »Wir beide gehen jetzt und lassen dich in Ruhe.« Sie winkte Josy mit sich. Doch die rührte sich nicht vom Fleck. Sie beugte sich über ihren Freund und sah ihm tief in die Augen.

»Ich bleib bei dir. Das willst du doch, oder?«

Als er den Kopf schüttelte, schnappte sie nach Luft. Schließlich musste sie einsehen, dass sie keine Wahl hatte und folgte Anneka nach draußen.

»Daran bist nur du schuld!«, fauchte sie sie auf dem Flur an.

Anneka Norden steckte die Hände in die Taschen ihres Sommerkleids und sah Josephine mit schief gelegtem Kopf an.

»Ich möchte mal wissen, was für ein Problem du mit mir hast«, sagte sie ruhig.

Josy platzte fast.

»Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass du hinter Titus her bist.«

»Findest du nicht, dass es jetzt wichtiger ist, dass er wieder gesund wird? Solche dummen Vorwürfe sind genauso kontraproduktiv, wie ihm zu erzählen, wie schlimm es wirklich um ihn stand.«

»Aber ich …«

»Du bist ausnahmsweise mal nicht die Hauptperson«, wies Anneka sie scharf zurecht. Mehr gab es nicht zu sagen. Sie drehte sich um und ging davon, sich der fassungslosen Blicke in ihrem Rücken wohlbewusst.

*

Seit Felix‘ Flugzeugabsturz hatte Dr. Daniel Norden nur noch halbtags in der Praxis gearbeitet und sich in der restlichen Zeit um seinen Sohn und den anfallenden Papierkram gekümmert. Nun arbeitete er wieder normal und stellte überrascht fest, wie schwer ihm das fiel.

»Ich könnte mich glatt an Teilzeit gewöhnen«, bemerkte er, als er nach der Sprechstunde bei seinen Assistentinnen am Tresen stand. »So ein halber Arbeitstag hat doch einen gewissen Charme.«

»Solange Sie mir weiterhin das volle Gehalt zahlen, bin ich dabei«, erwiderte Janine frech.

Wendy war da ganz anderer Meinung.

»Ich weiß nicht … Ich hätte keine Ahnung, was ich mit so viel Freizeit anfangen sollte.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Daniel aufhorchte.

»Was ist denn das für ein komisches Geräusch?«

In diesem Moment hörte es auch Wendy. Schlagartig wurde sie leichenblass.

»Ach du liebes Bisschen!« Sie sprang vom Stuhl auf und eilte hinüber ins Labor.

Gleich darauf verstummte das Brummen. Zerknirscht kehrte die langjährige Assistentin zu ihren Kollegen zurück.

»Was ist passiert?« Dr. Norden kannte sie lange genug, um in ihrer Miene lesen zu können.

Wendy wagte kaum, ihren Chef anzusehen.

»Der Sterilisator … ich hab vergessen, Wasser nachzufüllen.«

»Das war’s dann wohl«, bemerkte Janine lakonisch.

Ungerührt zuckte Dr. Norden mit den Schultern.

»Halb so wild. Ich wollte schon längst ein neues Gerät anschaffen. Aber Danny meinte, wir sollten damit warten, bis der Alte das Zeitliche segnet. Aus ökologischen wie ökonomischen Gründen.«

»Da hab ich der Ökologie ein ziemliches Schnippchen geschlagen.« Es war Wendy anzusehen, dass sie die Welt nicht mehr verstand. »In den letzten zwanzig Jahren ist mir nicht so viel passiert wie in den vergangenen Tagen. Was ist nur los mit mir?« Deprimiert sank sie auf den Schreibtischstuhl und starrte blicklos vor sich hin.

»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber könnte es sein, dass Sie überarbeitet sind?« Dr. Norden formulierte seine Frage mit Bedacht. Auf keinen Fall wollte er Wendy ärgern.

Wie befürchtet ging der Schuss nach hinten los.

»Sie denken also auch, dass ich zur Zeit nur Fehler mache?«, fauchte sie empört. »Warum schmeißen Sie mich nicht gleich raus?«

»Aber so hab ich das doch gar nicht gemeint.« Daniel schickte Janine einen hilfesuchenden Blick. »Ich wollte Ihnen was Gutes tun und vorschlagen, eine Kur zu beantragen.«

»So kann man es auch sagen«, brummelte Wendy beleidigt vor sich hin.

Doch ihre Freundin wusste, mit welchen Waffen sie sie schlagen konnte.

»Na schön! Wenn du nicht willst, dann geh ich eben«, wandte sich Janine augenzwinkernd an ihren Chef. »Ich kann eine Auszeit gut brauchen. Sie können mir doch bestimmt ein Attest ausstellen wegen meines Rückens.«

Wie geplant fuhr Wendy herum.

»Das ist Betrug! Mal abgesehen davon, dass du mir erst gestern erzählt hast, wie gut es dir zur Zeit geht. Ich dagegen kann momentan kaum schlafen, obwohl ich jeden Abend todmüde bin. Ständig geht mir irgendwas im Kopf rum. Abschalten ist ein Fremdwort geworden.« Im Normalfall verlor Wendy kaum ein Wort über ihre Befindlichkeit, und Jammern war schon gar nicht ihr Ding. Umso aufschlussreicher war das Geständnis, das ihr unbeabsichtigt über die Lippen kam. Als sie die vielsagenden Blicke ihrer Kollegen bemerkte, hielt sie inne. Plötzlich war es ihr unangenehm, so viel von sich preisgegeben zu haben. »Hört nicht auf eine verwirrte, alte Frau.« Krampfhaft versuchte sie, die Situation ins Lächerliche zu ziehen.

»Von wegen alte Frau!«, widersprach Janine energisch. »Du bist eine der fetzigsten Mittfünfzigerinnen, die ich kenne. Aber der Chef hat recht. Du brauchst eine Auszeit. Warum wehrst du dich so dagegen, auf Kur zu gehen?«

»Wie willst du Küken die ganze Arbeit hier allein schaffen? Am Ende komme ich gut erholt zurück, und dann bist du reif für die Insel.«

Dieser Einwand war berechtigt. Aber Daniel Norden wäre nicht er selbst gewesen, wenn er darüber nicht schon nachgedacht hätte.

»Ich werde Jenny fragen, ob sie mir eine fähige Dame ausleihen kann.«

»Die meinen Job dann so gut macht, dass ihr mich nicht zurückhaben wollt«, erwiderte Wendy und ärgerte sich über die Tränen, die ihr in die Augen stiegen.

Janine bemerkte es und zupfte ein Tuch aus der Box am Schreibtisch. Die Sorgen ihrer Freundin und Kollegin waren so lächerlich, dass sie nicht anders konnte, als sie auf den Arm zu nehmen.

»Die Gefahr besteht allerdings«, scherzte sie. »Aber du kannst zumindest sicher sein, dass dich einer nicht vergessen wird.« Sie deutete aus dem Fenster.

»Mach dich nur lustig über mich«, beschwerte sich Wendy halb lachend, halb weinend. Ihre Augen folgten dem Fingerzeig. Gleich darauf stöhnte sie auf. »O nein, bitte nicht! Sag, dass das nicht wahr ist. Dass ich Wahnvorstellungen habe …«

»Leider nicht.« Daniel kam nicht umhin, die schreckliche Wahrheit zu bestätigen.

In Erwartung der Verabredung mit Wendy marschierte Sebastian Klotz vor dem Fenster auf und ab. Zur Feier des Tages hatte er seinen besten schwarzen Anzug angezogen. Wie eine Lanze trug er einen Strauß dunkelroter Rosen vor sich her.

»Er sieht aus, als wollte er Sie direkt zum Standesamt bringen.«

Wendy sah ihren Chef hilfesuchend an.

»Wohin wollten Sie mich auf Kur schicken?«

Daniels Miene erhellte sich.

»Das heißt, Sie sind einverstanden?«

»Aber nur, wenn Sie mich auf direktem Weg zum Bahnhof bringen.«

Janine lachte.

»Nicht nötig. Ich geh raus und red mit ihm. Bis zu deiner Abreise lässt er dich in Ruhe. Versprochen.«

Wendys Augen wurden schmal vor Argwohn.

»Was willst du ihm erzählen?«

Darüber musste Janine einen Moment nachdenken. Der Zufall kam ihr zu Hilfe, als draußen ein Mann mit Hund an Sebastian vorbei ging. Die Miene, mit dem er dem Gespann nachsah, sprach Bände.

»O, ich werde ihm sagen, dass du deine deutsche Dogge noch vom Sitter abholen musst und deshalb später zu eurem Rendezvous kommst. Mit Hund, versteht sich.« Ihre Augen blitzten vor Vergnügen, als sie um den Schreibtisch herumlief, um umgehend zur Tat zu schreiten.

»Aber … das ist eine Lüge …«, murmelte Wendy kraftlos. An der Tür drehte sich Janine noch einmal zu ihr um.

»Das ist meine Wiedergutmachung dafür, dass ich dir diese Suppe eingebrockt hab.« Ihre Stimme war warm.

»Aber …«, wollte Wendy dazwischengehen. Vergeblich.

»Und mach dir keine Sorgen: Ich komm sowieso nicht mehr in den Himmel. Dann macht so eine kleine Flunkerei auch nichts mehr aus.« Mit diesen Worten wirbelte Janine zur Tür hinaus, um ihren Worten Taten folgen zu lassen.

*

»Irgendwann bring ich ihn um.« Fee Nordens Stimme hallte durch den Hausflur.

Daniel wusste sofort, wen sie damit meinte. Schmunzelnd gesellte er sich zu ihr.

»Lammers ist es nicht wert, dass du wegen ihm die besten Jahre deines Lebens hinter Gittern verbringst.« Er schloss sie in die Arme und küsste sie.

Täuschte sie sich oder waren seine Küsse weniger leidenschaftlich als sonst?, schoss es Fee spontan durch den Kopf. Diesen Gedanken verscheuchte sie aber sofort wieder.

»Woher weißt du, wen ich meine?«

Daniel wollte mit ihr ins Wohnzimmer gehen, doch Fee zog einen Abstecher in die Küche vor.

»Na ja, immerhin kenne ich dich schon seit ein paar Jahren.« Er lehnte sich an die Theke und sah seiner Frau dabei zu, wie sie die Deckel hob und in die Töpfe spähte. »Was hat er sich denn diesmal geleistet?«

»Ach, im Grunde geht es immer um dasselbe.« Mit spitzen Fingern fischte sie ein Brokkoliröschen aus dem Topf und steckte es in den Mund. »Er will mich aus der Klinik ekeln, damit er meinen Job bekommt.« Das zweite Röschen tauchte sie in die Käsesauce, ehe sie es aß. Verzückt schloss sie die Augen. »Köstlich. Diese Sauce bekommt nur Lenni so hin. Wo steckt sie eigentlich schon wieder? Ich seh sie nur noch, wenn sie im Klinikkiosk arbeitet.«

Daniel ging zum Kühlschrank und nahm zwei Flaschen heraus.

»Auch ein Bier?« Fee nickte, er schloss die Tür wieder und machte sich auf die Suche nach einem Öffner. »Wenn ich mich recht erinnere, hat Oskar sie in den Olympiapark ins Freilichtkino eingeladen.« Er schloss eine Schublade und öffnete eine andere. »Wo ist denn der Flaschenöffner hin?«

Zielstrebig griff Felicitas ins Regal und reichte ihm das Gewünschte.

»Wie lange wohnst du eigentlich schon in diesem Haus?«, fragte sie aufreizend.

Daniel schnitt eine Grimasse. Bewaffnet mit einer Tüte Salzstangen folgte Fee ihm auf die Terrasse. Grillen zirpten, eine Amsel sang ihr Abendlied, und die laue Luft roch nach Sommer. Doch Fee konnte die Stimmung nicht genießen.

»Ich war mein ganzes Leben lang noch nicht im Freilichtkino«, murrte sie und ließ sich auf das Loungesofa fallen, das die Terrasse in ein zweites Wohnzimmer verwandelte.

Daniel setzte sich zu ihr.

»Ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl?«

Felicitas wusste selbst nicht, warum sie sich über diese Frage ärgerte.

»Ich dachte, du kennst mich so gut.« Ihre Antwort fiel schroffer aus als beabsichtigt.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, stieß Daniel mit ihr an und trank einen Schluck aus der Flasche.

»Offenbar doch nicht. Deine Laune ist noch schlechter, als ich dachte. Geht es wirklich nur um Lammers?«, fragte er forschend und ein bisschen besorgt. Die schwere Zeit, die hinter ihnen lag, hatte Spuren hinterlassen, deren Ausmaß er noch nicht abschätzen konnte.

Auf diese Frage hatte Fee keine Antwort.

»Erzähl mir was von Felix«, verlangte sie deshalb.

Ihr Mann haderte kurz mit sich, beschloss aber dann, nicht länger in sie zu dringen.

»Es scheint ihm ziemlich gut zu gehen. Nur Mario hat seine liebe Not.«

»Warum?« Fee beugte sich vor und zog ein paar Salzstangen aus der Packung.

»Offenbar knüpft er nahtlos an seine Karriere als Herzensbrecher an und verdreht allen Mädels den Kopf. Natürlich ist er völlig unschuldig.«

Trotz ihrer schlechten Laune musste Felicitas lachen.

»Alles andere hätte mich gewundert.« Sie knabberte an einer Salzstange und steckte sie schließlich ganz in den Mund. Dabei sah sie ihren Mann forschend an. »Von wem er das nur hat?«

»Von mir jedenfalls nicht«, entfuhr es Daniel. Im selben Moment bemerkte er das Funkeln im Blick seiner Frau, und er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Ich bin dir seit Jahren treu ergeben.«

»Ich dir etwa nicht?« Ihre Stimme war scharf.

Allmählich schwand auch seine gute Laune.

»Das hoffe ich zumindest.«

Fees Augen wurden schmal.

»Was soll das heißen?«

»Denkst du, mir fällt nicht auf, wie du dich jeden Tag hübsch machst für die Klinik?« Eigentlich hatte Daniel diese Beobachtung für sich behalten wollen. Aber er war auch nur ein Mensch.

»Seit wann ist es ein Verbrechen, wenn man gut aussehen will?« Obwohl sie nichts getan hatte, fühlte sich Fee schuldig.

Daniel atmete ein paar Mal tief durch. Auf keinen Fall wollte er die Auseinandersetzung eskalieren lassen.

»Feelein, ich bin doch nicht dumm«, erwiderte er sanft. »Ich weiß doch auch, dass du diesen neuen, gutaussehenden Kollegen hast. Wie heißt er gleich? Grabberg?«

»Du meinst Götz Grabmann.« Felicitas fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Er ist sehr charmant zu mir.«

»Kein Wunder.« Daniel dachte nicht lange nach. Er stand auf und setzte sich zu seiner Frau auf die Couch. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Du bist ja auch die begehrenswerteste Frau unter Gottes Sonne.« Seine Stimme war rau. »Jeden Morgen, wenn ich neben dir aufwachen darf, danke ich dem Himmel für mein Glück. Und jeden Abend bitte ich darum, dass es noch lange so bleiben möge.« Ehe sie etwas erwidern konnte, strich er ihr eine hellblonde Strähne aus der Stirn. Als er sich über sie beugte, sah er ihr tief in die Augen. Ihre Blicke tauchten ineinander ein, vermischten sich und wurden eins wie ihre Lippen, während er sie so leidenschaftlich küsste, dass sich all ihre Zweifel in Luft auflösten.

*

Wenn ein Patient so krank war, dass eine Überweisung in die Klinik nötig geworden war, kümmerte sich Danny Norden auch dann noch um ihn. Genau wie sein Vater hatte es sich der Arzt zur Gewohnheit gemacht, in diesem Fall morgens schon vor Beginn der Sprechstunde in der Behnisch-Klinik nach dem Rechten zu sehen. Guter Dinge betrat er das Zimmer von Titus Kern.

»Hallo Sportsfreund«, begrüßte er den jungen Mann.

Als Titus Anstalten machte zu antworten, wackelte Danny mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum.

»Sprechen strengstens verboten!«, mahnte er. »War die Nacht okay?«

Titus war folgsam und begnügte sich mit einem Nicken.

»Freut mich. Ich hab vorhin Dr. Weigand getroffen. Er hat die Kollegen angewiesen, heute ein paar Untersuchungen zu machen, um herauszufinden, was das gestern gewesen sein könnte. Außerdem hab ich gute Nachrichten. Die Schwellung in deinem Hals ist zurückgegangen. Die Kanüle kann gezogen werden. Wenn du willst, übernehme ich diesen Jo …«

In seine Worte hinein öffnete sich die Tür. Ein Strahlen huschte über Titus‘ Miene.

Neugierig, wer den jungen Mann so erfreute, drehte sich Danny um.

»Anneka! Was machst du denn schon hier?«, fragte er, sichtlich überrascht.

»Hey, Bruderherz. Das nenn ich ja mal eine herzliche Begrüßung.« Lachend drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Dann wandte sie sich Titus zu. »Na du, wie geht’s dir heute?«

Schon wieder hatte der junge Mann die Mahnung des Arztes vergessen und wollte antworten. Danny kam ihm zuvor.

»Wenn du kurz draußen wartet, könnt ihr euch gleich richtig unterhalten.« Er deutete auf die Kanüle im Hals seines Patienten.

Anneka sah Titus fragend an.

»Willst du?«

Eifriges Nicken war die Antwort. Nur ein paar Minuten später konnte sie ins Zimmer zurückkehren.

»Aber nur Flüstern. Und nicht zu lange!«, mahnte Danny, ehe er sich verabschiedete.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, setzte sich Anneka auf die Bettkante.

»Puh, bin ich froh, dich heute so zu sehen. Du hast mir gestern einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen, weil ich mir solche Sorgen um dich gemacht hab.«

Titus antwortete nicht. Er begnügte sich damit, sie anzustarren.

Schließlich wurde es Anneka zu bunt.

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Das Lächeln auf Titus‘ Gesicht wurde tiefer. Er winkte Anneka zu sich heran.

»Dir würde ich sogar zuhören, wenn du mir die Wettervorhersage auf chinesisch vorlesen würdest«, krächzte er flüsternd.

Anneka lachte.

»Zumindest hast du deinen Humor nicht verloren.«

»Ich hab sogar ein Geschenk bekommen«, verkündete er geheimnisvoll und griff nach ihrer Hand.

In Annekas Bauch begannen Schmetterlinge zu flattern. Gleichzeitig musste sie an Noah denken. Schnell zog sie die Hand wieder weg.

»Was denn?«

Titus schien sich nicht weiter daran zu stören.

»Du bist hier bei mir.« Unverwandt sah er sie aus seinen schönen Augen an.

Ihre Knie wurden weich. Es war ein Glück, dass sie saß, sonst wäre sie einfach umgefallen.

»Ich finde dich auch gut«, gestand Anneka leise und starrte Löcher in die Bettdecke. Endlich warf sie den Kopf in den Nacken und stellte sich der Herausforderung. »Aber ich hab einen Freund. Und du hast eine Freundin«, ließ sie durchblicken, dass sie die Wahrheit kannte.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Beide waren so vertieft in das Gespräch gewesen, dass sie die Schritte auf dem Flur nicht gehört hatten. Vor Schreck schoss Anneka hoch und fuhr herum.

»Dachte ich es mir doch!« Niemand anderer als Josephine stand da und funkelte sie wütend an. »Das hier ist mein Freund, falls es dich interessiert.«

Anneka überlegte kurz, wie sie reagieren sollte. Sie sah kurz hinüber zu Titus. Dann gab sie sich einen Ruck.

»Ich wollte sowieso gerade gehen. Schönen Tag euch beiden.«

*

Als Fee an diesem Morgen im Begriff war, in die Klinik zu fahren, wollte sie sich wie immer in letzter Zeit die Lippen schminken. Sie beugte sich zum Spiegel und setzte den Stift an, als sie plötzlich innehielt. Die Erinnerung an die vergangene leidenschaftliche Nacht zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Guten Morgen, du begehrenswerte Frau«, begrüßte sie ihr Spiegelbild. »Das hast du doch gar nicht nötig. Die Liebe ist das beste Make-up der Welt.« Sie schraubte den Lippenstift wieder zu und stellte ihn weg. Schwungvoll griff sie nach der Handtasche, wirbelte einmal um die eigene Achse und tanzte aus dem Haus. Unterwegs lachte die Sonne vom tiefblauen Himmel mit Felicitas um die Wette. »Heute kann mir nichts und niemand die gute Lauen verderben. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« Sie parkte den Wagen auf dem Parkplatz und lief leichtfüßig durch den Seiteneingang, direkt in die Arme von Götz Grabmann.

»Hoppla, Felicia!« Er fing sie auf und hielt sie einen Moment zu lange fest. Ihr süßes Parfum stieg ihm in die Nase. Doch das war es nicht, was ihm den Kopf verdrehte. »Mein Gott, Sie sehen ja noch schöner aus als gestern. Wie machen Sie das nur?«

Behutsam löste sich Fee aus der Umarmung.

»Ganz einfach. Ich werde von dem Mann meiner Träume geliebt!«, verkündete sie strahlend, winkte ihm und lief weiter.

Durchaus ein bisschen neidisch auf Daniel Norden sah Götz ihr nach.

Die nächste Begegnung war nicht halb so erfreulich. Volker Lammers war in dem Moment um die Ecke gebogen, als Fee in den Armen des Kollegen lag.

»Fragt sich Ihr Mann eigentlich nicht, wo Sie die ganze Nacht stecken?«, sprach er sie an, als sie um die Ecke bog.

Erschrocken zuckte Felicitas zurück.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte sie so kühl und beherrscht wie möglich.

Lammers zuckte mit den Schultern.

»Wenn Sie sich lieber in fremden Betten rumtreiben und Ihre Patienten ihrem Schicksal überlassen …«

»Was reden Sie da?« Die Sorge um Felix hatte Fees Nervenkostüm dünn gemacht. Daran konnte auch eine leidenschaftliche Nacht in den Armen ihres Mannes nichts ändern. »Ich bin immer erreichbar.«

»Offenbar hat ›immer‹ für Sie eine andere Bedeutung als für mich.«

Genervt verdrehte Felicitas die Augen. Kaum eine Viertelstunde alt, geriet ihre Überzeugung ins Wanken.

Ihre gute Laune war auf dem Rückzug. Sie griff in die Tasche und kramte darin herum, bis sie das Mobiltelefon gefunden hatte. »Hier!« Sie hielt es ihm vor die Nase. »Sehen Sie selbst.«

Dr. Lammers tat ihr den Gefallen. Und grinste.

»Ich seh aber nichts.«

Fee drehte das Gerät zu sich herum. Das Display war schwarz und blieb es auch, nachdem sie in paar Tasten gedrückt hatte. Volker Lammers weidete sich an ihrer Verzweiflung.

»Ich versteh das nicht. Der Akku war doch noch gar nicht leer«, murmelte sie. Was sie auch versuchte, das Mobiltelefon gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Schließlich gab sie ihre Versuche auf und konzentrierte sich auf den ungeliebten Kollegen. »Also, was ist heute Nacht passiert, dass Sie mich erreichen mussten? Die Sehnsucht war’s ja wohl kaum.«

»Nicht ich hatte Sehnsucht nach Ihnen, sondern die Kollegen von der Nachtschicht. Ihre Patientin Melanie Platz hat ein akutes Lungenversagen erlitten. Nachdem Sie nicht erreichbar waren, hat man mich geholt. Nur für den Fall, dass Sie sich wieder übergangen fühlen. Ich habe eine Lungenspülung angeordnet. Das Ergebnis der Analyse steht noch aus. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich brauche dringend einen Kaffee.« Er deutete eine Verbeugung an und ließ sie mitten auf dem Flur stehen.

Felicitas verzichtete darauf, ihm wütende Blicke hinterher zu schicken. Sie hastete in ihr Büro, zog einen Kittel über das bunt geblümte T-Shirt und machte sich auf den Weg ins Schwesternzimmer. Wie erwartet, traf sie dort ihre Freundin Elena.

»Gut, dass du da bist«, begrüßte sie sie atemlos. »Kannst du mir bitte sagen, was heute Nacht los war?«

Die Schwester musterte sie mit merkwürdigem Blick.

»Melanie Platz musste intubiert und beatmet werden. Ich selbst war nicht hier. Die Kollegen haben es mir heute früh erzählt.«

Sie hielt inne und kämpfte ganz offensichtlich mit sich. Noch immer war Fees inneres Leuchten zu sehen. Elena winkte die Freundin zu sich. »Sag mal, stimmt es, dass du heute Nacht bei Grabmann warst?«, raunte sie ihr ins Ohr. Schockiert fuhr Felicitas zurück.

»Bist du jetzt auch übergeschnappt?«

Unschuldig zuckte Elena mit den Schultern.

»Lammers hat heute Nacht offenbar so eine Vermutung geäußert. Und du weißt ja, wie so eine Klinik ist. Ein schwarzes Brett ist verschwiegen dagegen.«

»Dieser Mistkerl!«, zischte Fee. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Der scheut vor nichts zurück, um mich von der Klinik zu vergraulen.«

Schwester Elena kannte das Problem. Wäre Volker Lammers nicht ein derart begnadeter Kinderchirurg gewesen, hätte die Klinikchefin Jenny Behnisch nicht gezögert und ihn gefeuert. So aber musste die übrige Belegschaft sehen, wie sie mit ihm auskam.

»Du darfst dir einfach keine Blöße geben. Keine Schwäche zeigen und schon gar keinen Fehler erlauben.« Das war der einzige Rat, den Elena ihrer Freundin geben konnte. »Und jetzt bring ich dich zu Melanie. Komm.«

*

Die Tür schloss sich hinter Anneka, und das junge Paar war allein.

Josephine drehte sich zu ihrem Freund um. Engelsgleich lächelnd trat sie ans Bett.

»Guten Morgen, mein Süßer. Du schaust ja schon viel besser aus. Und dieses Kehlkopfding bist du auch wieder los.« Wie zuvor Anneka setzte auch sie sich auf die Bettkante. »Schau mal, was ich dir mitgebracht hab. Deine Lieblingsmütze. Ohne fühlst du dich doch nicht wohl.«

Bis jetzt war Titus nicht aufgefallen, dass er keine trug. Er nahm sie und legte sie achtlos auf das Nachtkästchen.

Josy zog eine Schnute.

»Willst du sie nicht aufsetzen? Mit schaust du viel cooler aus.«

»Ich hab aber jetzt keinen Bock auf Coolsein«, fuhr er sie unvermittelt an.

Josephine zuckte zurück. Schon wollte sie wieder auf Anneka herumhacken. Doch sie wollte Titus nicht verlieren. Nur deshalb riss sie sich zusammen.

»Schon gut. War nicht böse gemeint«, entschuldigte sie sich und wechselte schnell das Thema. »Mein Vater meinte, dass dich deine Chefin als billige Arbeitskraft ausnutzt. Das ist doch das Letzte, wenn du auch noch servieren musst. Kein Wunder, dass du zusammenklappst. Wenn du willst, besorgt Dad dir eine andere Lehrstelle …«

Entgeistert fuhr Titus hoch.

»Spinnst du? Tatjana ist die coolste Chefin überhaupt«, entfuhr es ihm. Er konnte noch nicht laut sprechen und klang deshalb nur halb so ärgerlich wie beabsichtigt.

Trotzdem kämpfte Josy fast sofort mit den Tränen.

»Ich hab’s doch nur gut gemeint.«

Schicksalsergeben sank er wieder in die Kissen.

»Schon okay, das weiß ich ja.« Er unterdrückte ein genervtes Seufzen. »Ich will erst einmal abwarten, was bei den Untersuchungen rauskommt«, krächzte er weiter, als es kurz klopfte und gleich darauf und Dr. Weigand herein kam.

»Sorry für die Störung!« Unwillkürlich passte er seine Sprache an das jugendliche Alter des Patienten an. »Ich muss dir ein paar Fragen stellen.«

Überrascht sah Titus hoch.

»Was ist los?«

Matthias redete nicht lange um den heißen Brei herum.

»Die Kollegen aus dem Labor haben herausgefunden, dass du gestern offenbar doch einen allergischen Schock erlitten hast. Deshalb muss ich wissen, ob du so was schon mal hattest. Bitte denk nach! Das ist wichtig.«

Titus sah ihn verwundert an.

»Nein. Noch nie!« Er schüttelte den Kopf.

Plötzlich packte Josephine ihn am Arm.

»Hast du mir nicht neulich mal von früher erzählt, als du ein Kind warst? Du hattest einen Erstickungsanfall wegen ein paar Nüssen. Deine Mutter musste dich in die Klinik bringen. Gestern hast du auch Nüsse gegessen. Ich hab dir zugeschaut.«

Überrascht sah Titus hinüber zu seiner Freundin.

»Stimmt, du hast recht«, erwiderte er langsam. Er drehte sich wieder zu Matthias Weigand um. »Aber das hab ich immer wieder mal gemacht … also Nüsse gegessen … und es ist nie was passiert.«

»Ein Körper ist keine Maschine. Es kann gut sein, dass du Nüsse in kleinen Portionen verträgst. Kritisch wird es nur, wenn du zu viel davon erwischt. Und das ist offenbar gestern passiert.«

»Daran ist nur deine Chefin schuld. Wenn du Zeit gehabt hättest zum Essen, wär das nicht passiert!«, entfuhr es Josephine.

Entgeistert fuhr Titus zu ihr herum.

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Was redest du eigentlich die ganze Zeit für Müll?«

Überrascht über die aggressive Stimmung im Zimmer, ging Matthias Weigand schnell dazwischen.

»Entscheidend ist, dass wir die Ursache jetzt gefunden haben.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Josy vom Bett aufsprang und schluchzend aus dem Zimmer lief.

Titus‘ harsche Worte hatten das Fass schließlich und endlich zum Überlaufen gebracht.

»Weiber!«, zischte er, als die Tür krachend hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Matthias lachte nur darüber. Was hätte er auch sagen sollen? Dann beugte er sich über seinen Patienten, um die Wunde am Hals zu begutachten.

»Dann wollen wir mal sehen, ob der Kollege Norden ordentlich gearbeitet hat«, scherzte er, während er die Narbe begutachtete und den Hals abtastete.

Mit Sorge bemerkte Titus, wie das Lachen aus dem Gesicht des Arztes verschwand.

»Was ist?«

»Oh, nichts. Reine Routine. Wir müssen noch eine Ultraschallaufnahme machen, um ganz sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist.« Matthias stand auf und rang sich ein Lächeln ab. »Ich schick dir eine Schwester, die dich abholt.«

»Aber nur eine hübsche.« Titus zwinkerte ihm zu. »Damit sich der Ärger auch lohnt.«

*

»Einen wunderschönen guten Morgen, die Damen und der Herr«, grüßte Dr. Daniel Norden fröhlich in die Runde der Kollegen.

Danny stand mit einer Tasse Kaffee am Tresen. Er drehte sich zu seinem Vater um und musterte ihn aus schmalen Augen.

»Sieh mal einer an! Schon mal was davon gehört, dass der frühe Vogel den Wurm fängt?« Demonstrativ sah er auf die Uhr.

»Je später der Tag, desto schöner die Gäste!«, konterte Daniel gut gelaunt und legte einen Stapel Prospekte vor Wendy auf die Theke.

Schlagartig verpuffte ihre gute Laune.

»Ich dachte schon, du machst deine Drohung wahr und arbeitest nur noch halbtags«, fuhr Danny fort.

»Wenn Wendy aus der Kur zurück ist, werde ich mal drüber nachdenken«, erwiderte der Senior mit einem Funkeln in den Augen.

Sein Sohn sah ihn verwundert an. Im selben Moment bemerkt er das Leuchten in Daniels Gesicht.

»Sag mal, hast du irgendwas genommen? Oder bist du frisch verliebt?«

»Ich hatte heute Morgen einen hervorragenden Kaffee, wenn du diese Art von Drogen meinst. Und ja, ich bin tatsächlich verliebt«, beantwortete Daniel die Fragen bereitwillig. »Und zwar in deine Mutter«, fügte er vorsichtshalber hinzu, um ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Verzückt verdrehte Janine die Augen.

»Hach, wie schön! Und das nach so vielen gemeinsamen Jahren«, seufzte sie. »So was will ich auch irgendwann mal sagen können.«

»Fehlt nur eine winzige Kleinigkeit. Du hast keinen Mann«, erklärte Wendy erbarmungslos.

Unsanft landete Janine wieder auf dem harten Boden der Realität.

»Vielen Dank für die Erinnerung.« So was aus dem Mund ihrer Freundin! Sie konnte es nicht glauben.

Doch da hatte Wendy schon nach einem der Prospekte gegriffen.

»Sie können es ja offenbar kaum erwarten, mich loszuwerden«, murmelte sie missmutig.

Danny und Daniel tauschten vielsagende Blicke.

»Ganz im Gegenteil, liebe Wendy. Ich möchte, dass Sie sich so gut wie möglich erholen, damit Sie uns noch lange erhalten bleiben«, versicherte der Senior.

Ihr war anzusehen, dass sie ihm nicht glaubte.

Unterdessen hatte Janine beschlossen, nicht nachtragend zu sein. Sie griff nach einem Flyer und faltete ihn auf.

»Das hier sieht ja toll aus!« Verzückt betrachtete sie die Bilder. »Hier, das Restaurant … der Garten … und die Wellnesslandschaft erst …« Eine Idee schoss ihr durch den Kopf. »Sagt mal: Was haltet ihr davon, wenn wir alle zusammen einen Ausflug machen und Wendy dort besuchen?«

»Gute Idee! Und ich komme mit!«

Wie vom Blitz getroffen, fuhr die gesamte Belegschaft der Praxis Dr. Norden herum und starrte den Mann an, der unbemerkt hineingekommen war. Zufrieden mit der Wirkung seiner Worte sah Sebastian Klotz von einem zum anderen. Trotz des warmen Wetters trug er das obligatorische Cordsakko.

»Herr Klotz, was machen Sie denn hier?« Es war Daniel, der sich als erster von seiner Überraschung erholte.

Der Pharmareferent nahm diese Frage als Einladung und trat näher.

»Ich leide doch unter einer Tierhaarallergie und habe gestern erfahren, dass die liebe Frau Wendy eine deutsche Dogge besitzt. Deshalb musste ich unsere Verabredung leider absagen.«

Janine schickte ihrer Kollegin einen triumphierenden Blick, und Wendy atmete heimlich auf.

»Das tut mir natürlich sehr leid«, bekundete Dr. Norden sein Mitgefühl. »Aber ich bin sicher, ein Mann wie Sie findet bald eine andere Dame …«

»Davon kann keine Rede sein!«, unterbrach Sebastian Klotz ihn entschieden. »Ich bin doch kein Schwächling, der sich von solchen Problemen abschrecken lässt.«

Daniel schwante Übles. Wendy erging es nicht anders. Das erkannte er an ihrem entsetzten Blick.

»Aber … «, wollte er widersprechen.

Der Pharmareferent ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan und nachgedacht.« Er schenkte seiner Angebeteten ein strahlendes Lächeln.

Wendy und Janine hielten die Luft an, während Danny verzweifelt versuchte, nicht in haltloses Lachen auszubrechen.

»Haben sie eine Lösung gefunden?«, erkundigte sich Dr. Norden pflichtschuldig.

Sebastian strahlte von einem Ohr zum anderen.

»Und ob. Es gibt doch diese Hyposensibilisierung. Bis jetzt hatte ich keinen Grund dafür. Aber für Frau Wendy nehme ich diese Strapazen gern auf mich.«

In diesem Augenblick konnte sich Wendy nicht länger zurückhalten.

»Ich habe keinen Hund, Herr Klotz. Das war nur eine Ausrede, weil ich nicht mit Ihnen essen gehen wollte.«

Totenstille breitete sich in der Praxis aus. Alle warteten gespannt auf Sebastians Reaktion. Er legte den Kopf schief und sah sie an.

»Dann muss ich diese Behandlung nicht machen lassen?«, fragte er.

Wendy schüttelte den Kopf.

»Nein.«

Im nächsten Augenblick lächelte er schon wieder.

»Das ist ja prima! Und wenn Sie nicht mit mir essen gehen wollen, machen wir eben was anderes zusammen.«

*

Mit angespannter Miene saß Dr. Matthias Weigand neben der Liege und führte den Schallkopf über den Hals seines Patienten. Unverwandt starrte er auf den Monitor. Allmählich war Titus das hartnäckige Schweigen des Arztes unheimlich.

»Was ist denn los, Doc? Spucken Sie’s schon aus! Was haben Sie in meinem Goldkehlchen gefunden?«

Seufzend machte Dr. Weigand eine letzte Aufnahme. Dann riss er ein paar Blatt von der Papierrolle und wischte Titus‘ Hals ab.

»Auf jeden Fall etwas, was dort nicht hingehört.«

»Und was?«

Noch wollte Matthias sich nicht festlegen. Solange es sich nur um einen Verdacht handelte …

»Um das herauszufinden, muss ich eine Biopsie machen. Natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist.«

»Ich kann’s kaum erwarten.« Um die Angst unter Kontrolle zu behalten, rettete sich Titus in seinen Galgenhumor.

Damit machte er auch dem Arzt das Leben leichter. Matthias lachte.

»Schön, dass du es so sportlich nimmst. Dann bekommst du jetzt von mir eine örtliche Betäubung. Wenn die wirkt, führe ich eine Biopsienadel bis zur Schilddrüse und entnehme ein wenige Gewebe, das wir zur Untersuchung ins Labor schicken. In ein paar Stunden wissen wir mehr.«

Titus schnitt eine Grimasse.

»Klingt spannend. Worauf warten Sie noch? Schießen Sie los!«

Dr. Weigand holte eine Schwester zur Unterstützung. Gemeinsam führten sie die Punktion durch und brachten Titus im Anschluss in sein Zimmer.

»Gut gemacht! Jetzt hast du erst einmal ein paar Stunden Ruhe vor uns«, versprach der Arzt. »Zeit, dich auszuruhen.«

Er nickte seinem tapferen Patienten zu und verließ das Zimmer. Auf dem Flur begegnete ihm Josephine. Sofort wusste er, dass sein frommer Wunsch nach Ruhe nicht in Erfüllung gehen würde.

Titus hatte die Augen kaum geschlossen, als es zaghaft klopfte. Sofort musste er an Anneka denken, und die Müdigkeit war wie weggeblasen. Umso größer war die Enttäuschung, als er sah, wer tatsächlich hereinkam.

»Mensch, Josy, kannst du mich endlich mal in Ruhe lassen? Ich bin krank.« Er drehte sich weg und schloss demonstrativ die Augen.

Zerknirscht trat sie ein und kam ans Bett. Eine Weile sagte sie nichts. Jedes Wort, das sie sich vorher zurecht gelegt hatte, schien plötzlich unpassend zu sein.

»Es tut mir leid, dass ich mich heute schon wieder so aufgeführt hab«, murmelte sie schließlich.

»Du sagst es! Schon wieder«, erwiderte Titus, ohne auch nur zu blinzeln.

Dass sie überhaupt eine Antwort bekam, machte Josephine Mut. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Ihr zärtlicher Blick streichelte sein Gesicht. Sie wollte ihn küssen, als er sie unsanft zurückstieß.

»Lass das!«

Vor Schreck stolperte sie einen Schritt nach hinten und wäre um ein Haar gestürzt.

»Titus!« Josephines Lippen bebten. »Aber … aber …«

Mit einem Mal war er hellwach und starrte sie zornig an.

»Wann begreifst du eigentlich, dass es total krank ist, wie du dich aufführst? Bist eifersüchtig auf Anneka, fällst über Tatjana her. Was kommt als nächstes? Willst du Danny vielleicht noch Vorwürfe machen, dass er mir das Leben gerettet hat?«

Josephine hatte sich wieder gefangen. Sie blitzte zornig zurück.

»Warum nicht? Eine Operation mitten im Hinterhof! Das war lebensgefährlich! Nur weil er der Bruder deiner Angebeteten ist, hat er noch lange nicht das Recht, dich in Gefahr zu bringen.«

»Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?« Titus konnte es nicht glauben. »Danny hat mir das Leben gerettet.«

Wie immer, wenn ihr Freund ihr Paroli bot, bekam es Josephine mit der Angst zu tun.

»Dafür bin ich ihm ja auch dankbar«, fuhr sie etwas sanfter fort. »Trotzdem …«

»Nichts trotzdem!« Titus‘ Hand fuhr durch die Luft und schnitt ihr das Wort ab wie ein Schwert. Er atmete schwer. Obwohl er diesmal keine Nüsse gegessen hatte, wurde ihm die Kehle eng. »Ich hab einfach genug von dem Theater.« Mit einem Schlag war seine Wut verraucht. Sein Blick ruhte matt auf Josy. »Es ist aus, Baby.«

Wie versteinert stand Josephine vor ihm und starrte ihn an. Ihre Unterlippe begann zu beben.

»Du machst Schluss? Aber du bist krank!«

»Auffallend richtig.«

»Und trotzdem?«

»Trotzdem. Gerade deshalb. Was weiß ich.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich weiß nur, dass ich dich und dieses Getue nicht mehr aushalte. Es ist vorbei. Schluss. Aus.«

»Aber …« Mit aller Macht stemmte sich Josy gegen diese Entscheidung.

»Ich will jetzt meine Ruhe haben.«

Sie zögerte noch einen Moment. Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Als die Tür hinter ihr leise ins Schloss fiel, atmete Titus auf.

*

»Ein Tumor? Bist du sicher?« Danny Norden saß am Schreibtisch, den Hörer am Ohr, und starrte blicklos auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand.

»Ich hab Ultraschall gemacht und eine Biopsie. Es gibt keinen Zweifel.«

Es fiel Matthias Weigand nicht leicht, diese Neuigkeit zu überbringen.

Doch Danny war sein Freund. Er war es ihm schuldig.

»Bösartig?«

»Ja.«

Danny fuhr sich über die Augen.

Die Diagnose Krebs war immer schrecklich. Sie einem jungen Menschen überbringen zu müssen, aber noch viel schlimmer.

»Hast du es ihm schon gesagt?«, fragte er und wunderte sich über den Tumult im Flur.

Gleich darauf wurde seine Tür aufgerissen, und Josephine stürmte hinein, dicht gefolgt von Janine.

»Halt, warten Sie! Sie können da nicht einfach reingehen!«

Doch da stand Josy schon vor seinem Schreibtisch, die Hände kämpferisch in die Hüften gestemmt. Sie starrte Danny an. Der hielt immer noch das Telefon ans Ohr.

»Titus‘ Freundin ist hier. Kann ich dich gleich zurückrufen?«, fragte er.

»Klar. Aber sag ihr nichts. Sie hat keine Ahnung.« Mit diesen Worten überließ Matthias den Freund seinem Schicksal.

Danny legt auf. Sein erstes Interesse galt der Assistentin.

»Schon gut, Janine. Alles in Ordnung. Ich kümmere mich drum.«

»Aber das Wartezimmer ist voll«, erwiderte sie trotzig. Es widerstrebte ihr, vor diesem Gör klein beizugeben.

Dr. Norden junior verstand sie. Gleichwohl vergaß er auch Titus nicht. Noch wusste er nicht, dass der mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte er, nachdem Janine murrend das Feld geräumt hatte.

»Sie sind ein Verbrecher!«, fauchte sie ihn unvermittelt an.

Unwillkürlich musste Danny lächeln.

»Wie bitte?«

»Sie haben meinen Freund in Lebensgefahr gebracht. Diese hirnrissige Operation im Garten war doch überhaupt nicht nötig. Wahrscheinlich hat Ihre Schwester ihm irgendwas gegeben, damit er ohnmächtig wird. K.O.-Tropfen oder so.« Atemlos hielt sie inne.

Danny musterte sie kopfschüttelnd.

»Hübsche Idee. Und glaub mir: Ich wäre gottfroh, wenn es nur um irgendwelche Tropfen gehen würde.«

Diese Antwort brachte Josephine aus dem Konzept.

»Wie … wie meinen Sie das?«

»Das darf ich dir leider nicht sagen.«

Das Mädchen rang mit sich. Sollte sie dem Arzt Glauben schenken? Sie entschied sich dagegen.

»Das ist doch bestimmt wieder so ein mieser Trick, um abzulenken. Aber darauf fall ich nicht rein.« Sie warf den Kopf in den Nacken und starrte Danny herausfordernd an. »Ich geh jetzt zu meinem Vater. Der wollte von Anfang an die Polizei informieren. Wegen Titus hab ich ihn davon abgehalten. Aber jetzt, nachdem er mit mir Schluss gemacht hat, ist mir alles egal.« Sie schluchzte auf, ehe sie sich umdrehte und aus dem Sprechzimmer floh.

Danny lehnte sich zurück und sah ihr durch die offene Tür nach. Die ganze Szene wäre zum Lachen gewesen, wenn sie nicht so einen tragischen Hintergrund gehabt hätte. Endlich stand er auf, um die Tür zu schließen, und kehrte an den Schreibtisch zurück. Er schuldete Matthias einen Rückruf. Die Patienten im Wartezimmer mussten sich noch ein wenig gedulden.

*

Als Anneka Norden den Notarztwagen vor der Tür stehen sah, erschrak sie sich zu Tode. Sie verfiel in Laufschritt und kam keuchend zu Hause an. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie mehrere Anläufe brauchte, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken.

»Lenni? Oskar? Ist alles in Ordnung?«, rief sie durch den Flur.

»Anneka! Kindchen!« Alarmiert von der aufgeregten Stimme tauchte Lenni in der Esszimmertür auf. Offenbar kam sie aus dem Garten. Sie hielt eine Gartenschere in der Hand, und ihre Bluse war erdig. »Was ist denn mit dir los?«

Als sie ihre Ersatzomi gesund und munter vor sich sah, wäre Anneka am liebsten in Tränen ausgebrochen. Sie stürzte in Lennis Arme und drückte sie an sich. Auch bei ihr hatte Felix‘ Unfall Spuren hinterlassen. Es würde noch lange dauern, bis die seelischen Wunden verheilt waren und die Gelassenheit zurückkehrte.

»Ein Glück. Ich dachte, euch ist was passiert. Der Krankenwagen draußen …«

Lenni schob sie von sich und sah sie verwundert an.

»Das ist doch das Dienstfahrzeug von deinem Freund.«

Einen Moment lang starrte Anneka sie entgeistert an.

»Ach, Noah, stimmt ja. Den hab ich total vergessen.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Lenni sie am Arm packte.

»Psst. Nicht so laut. Das wird ihn nicht gerade freuen.« Sie deutete in Richtung Terrasse. »Er sitzt draußen und wartete auf dich. Wirkt ziemlich unglücklich, wenn du mich fragst. Oskar versucht gerade, ihn mit seinen dummen Witzen aufzuheitern.« Auf dem Weg durchs Haus schüttelte sie missbilligend den Kopf. »Männer haben schon einen komischen Sinn für Humor.«

In diesem Moment hallte Noahs Lachen durch den Garten, Oskar wieherte dazu.

Anneka schnitt eine Grimasse.

»Offenbar sind sie alle gleich.« Mit diesen Worten trat sie hinaus auf die Terrasse.

Schlagartig verstummte Noahs Lachen. Als er seine Freundin sah, sprang er auf und lief ihr entgegen. Zuerst schien es, als wolle er sie in die Arme schließen. Doch dann entschied er sich anders und blieb vor ihr stehen.

»Hi.« Seine Miene versprach Ärger.

»Hi.« Anneka legte den Kopf schief. »Was machst du denn hier?«

»Nachdem du nicht mehr zu mir kommst, muss ich wohl dich besuchen, wenn ich dich sehen will.«

»Sorry, ich hab momentan viel um die Ohren.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen beiläufigen Kuss auf die Wange. Dann ging sie an ihm vorbei, begrüßte Oskar, ehe sie die Tasche auf die Loungecouch warf und sich daneben fallen ließ. »Ganz schön heiß heute.«

Mit einem Blick erfasste Oskar die Situation.

»Lenchen, ich hab Hunger. Kommst du mit mir rein, was essen?«

»Du bist doch alt genug, um dir selbst … «, setzte sie zu einem Konter an, als sie seinen vielsagenden Blick bemerkte. »Da fällt mir ein: Ich hab einen Heringssalat gemacht. Den musst du unbedingt probieren. Komm.« Sie winkte ihn mit sich.

Gleich darauf war das junge Paar allein.

Anneka lachte künstlich.

»Die zwei sind einfach der Hammer.«

»Ganz im Gegensatz zu uns«, erwiderte Noah düster und setzte sich in den Sessel gegenüber der Couch. »Was war denn heute in der Klinik los?«

Anneka durchbohrte ihn mit Blicken.

»Was soll schon losgewesen sein?«

»Angeblich ist ein Mädel durch die Klinik gelaufen und hat wie ein Rohrspatz auf dich und Danny geschimpft.« Die nächsten Worte fielen ihm nicht leicht. Aber er musste die Wahrheit wissen. »Sag mal, zwischen ihrem Freund und dir … Läuft da was?«

Anneka schluckte. Um Zeit zu gewinnen, beugte sie sich vor und schenkte ein Glas von Lennis selbstgemachter Limonade ein.

»Wie kommst du auf so was?«, stellte sie eine Gegenfrage.

»Es war nicht zu überhören, was das Mädel so alles vom Stapel gelassen hat.«

Anneka stellte das Glas zurück auf den Tisch und sah ihren Freund an. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.

»Ob du’s glaubst oder nicht: Aber zwischen mir und Titus läuft gar nichts.«

Doch Noah wollte sich nicht beruhigen lassen.

»Noch nicht«, entfuhr es ihm. »In der Klinik wird zumindest getratscht. Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass du mich zum Spott meiner Kollegen machst?«

Allmählich hatte Anneka genug von den Anschuldigungen.

»Schon möglich, dass sich Titus Chancen bei mir ausrechnet«, erwiderte sie schroff. »Aber ich hab ihn niemals ermutigt. Und was sich deine Kollegen alles ausdenken, wenn sie sich langweilen, hab ich nicht in der Hand.«

Wohl oder übel musste Noah ihr recht geben. Er haderte mit sich, wem er glauben sollte. Verlegen spielte er mit einem Kugelschreiber, der auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen gelegen hatte.

»Stimmt schon«, räumte er kleinlaut ein, als ihm ein anderer Gedanke in den Sinn kam. »Aber hast du ihm das auch gesagt? Ich meine, dass er keine Chancen bei dir hat.«

Diesmal war es Anneka, die verlegen wurde.

»Noch nicht. Aber ich tu’s noch heute Abend. Versprochen.« Noahs Anblick rührte an ihr weiches Herz. Plötzlich tat er ihr leid. Einem Impuls folgend stand sie auf und setzte sich neben ihn auf die Sessellehne. »Hast du Lust, heute Abend mit den anderen einen Spieleabend zu machen?«

Fast sofort leuchteten Noahs Augen auf. Doch gleich darauf verschwand es wieder.

»Aber das magst du doch nicht.«

»Normal nicht«, räumte Anneka ein. »Aber heute hab ich voll Lust dazu. Also? Was ist?«

Endlich war Noah überzeugt. Er sprang auf und schloss sie in die Arme.

»Ich hab doch gewusst, dass alles in Ordnung ist bei uns«, raunte er ihr ins Ohr.

Während sie ihn umarmte, hatte Anneka fast ein schlechtes Gewissen. Gleichzeitig hoffte sie, dass diese Notlüge kein Nachspiel haben würde.

*

»Die Lungenschleimhaut ist gereizt. Mehr nicht. Keime konnten im Labor auch nicht festgestellt werden.« Ratlos saß Felicitas Norden im Büro ihres Stellvertreters Dr. Lammers. Verbunden durch das gemeinsame Interesse an der Medizin saßen sie wie normale Kollegen friedlich am Tisch. Immer wieder gingen sie den Fall Melanie Platz durch, zerpflückten jede Kleinigkeit. Worin lag die Ursache für den schlechten Zustand der jungen Frau? Die Ratlosigkeit machte Volker Lammers fast zahm.

»Praktisch alle üblichen Krankheitserreger scheiden aus«, dachte er laut nach. »Sonst hätte die Patientin auf eine der Behandlungen reagiert.«

»Oder es wäre uns gelungen, einen Erreger nachzuweisen«, ergänzte Felicitas. Seufzend lehnte sie sich zurück. »Bleiben also nur zwei Möglichkeiten: Ein von Zecken übertragenes Bakterium, das solche Probleme hervorruft. Oder eine Virusinfektion, die sie von ihrem Freund aufgeschnappt hat.«

Lammers grinste.

»Sie sollten sich in acht nehmen, dass Sie sich nicht bei Grabmann anstecken. Wie würden Sie so was Ihrem Mann erklären?«

Sofort spürte Fee, wie die Wut wieder in ihrem Magen brodelte.

»Zum Glück muss ich mir darüber keine Sorgen machen«, erwiderte sie mühsam beherrscht.

»Natürlich nicht. Grabmann ist ja Mediziner und wird Vorsorge getroffen haben«, ätzte Volker weiter.

Fee sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.

»Ist Ihr Leben so langweilig, oder warum sorgen Sie sich so rührend um mich?«

Ehe er Gelegenheit zu einer Antwort hatte, konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit. Noch einmal blätterte sie durch Melanies Akte, die inzwischen deutlich an Umfang zugenommen hatte.

»Einige der Symptome scheinen tatsächlich zur Tularämie zu passen«, murmelte sie vor sich hin. »Andere aber gar nicht.« Fee seufzte.

»Wir werden also weiter nach dem Auslöser suchen müssen.«

Ausnahmsweise war Lammers diesmal einer Meinung mit seiner Chefin. Er erhob sich.

»Ich schau mir das Gör noch einmal an. Die Mutter überlass ich Ihnen.«

Felicitas packte die Unterlagen zusammen und stand ebenfalls auf.

»Ich dachte, Sie haben eine Frauenallergie.« Diesen zynischen Kommentar konnte sie sich beim besten Willen nicht verkneifen.

»Hab ich auch. Deshalb nehm ich das kleinere Übel.« Wie fast immer war Dr. Lammers nicht um eine schlagfertige Antwort verlegen.

Felicitas beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Sie nickte ihm zu und verließ das Büro, um zu Melanies Mutter zu gehen, die in einem der Aufenthaltsräume auf sie wartete. Als sie die Ärztin sah, sprang sie vom Stuhl auf.

»Wissen Sie endlich, was meiner Tochter fehlt?« Saskia Platz war eine sympathische, vernünftige Frau, die großes Vertrauen in die Kunst der Ärzte setzte. Nichtsdestotrotz wurde sie langsam nervös.

»Wir konnten die Möglichkeiten eingrenzen.« Felicitas Norden machte kein Geheimnis aus dem Ergebnis des Gesprächs mit Lammers. »Jetzt sind es nur noch zwei: Eine Infektion, übertragen durch den Zeckenbiss. Oder aber wir haben es mit einem Virus zu tun.«

Saskia Platz hatte aufmerksam zugehört.

»Wie viele Virenarten gibt es, auf die Mellis Symptome passen?« Damit traf sie den Nagel auf den Kopf.

»Genau das ist unser Problem«, musste Dr. Norden zugeben. »Wir suchen fieberhaft … Es tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten für Sie habe.«

»Mir auch. Wir sorgen uns sehr um Melli. Besonders schwer ist es für ihren neuen Freund.« Als Saskia Platz an Patrick dachte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Er löchert uns, wann er Melli endlich besuchen darf.«

»Wenn er gesund ist, spricht nichts dagegen.« Fee war froh, zumindest diesmal eine positive Antwort geben zu können. »Es tut ihr bestimmt gut, ihn zu sehen.«

Saskia wirkte überrascht.

»Sind Sie sicher? Ihr Kollege hat genau das Gegenteil behauptet.«

Fee musste nicht nachdenken, um zu wissen, um wen es sich handelte.

»Dr. Lammers ist ein sehr vorsichtiger Kollege und will kein Risiko eingehen«, nahm sie ihn in Schutz, um dem guten Ruf der Klinik nicht zu schaden. »In diesem Fall kann ich aber guten Gewissens grünes Licht geben.«

Ihre Erklärung klang plausibel. Nur zu gern ließ sich Saskia Platz überzeugen.

»Patrick wird sich freuen, wenn ich ihm das später erzähle.« Damit verabschiedete sie sich von der Chefin der Pädiatrie und machte sich auf den Nachhauseweg.

Felicitas Norden sah ihr kurz nach. Sie überlegte, ob sie Lammers zur Rede stellen sollte, entschied sich aber dagegen. Es gab sinnvollere Dinge, auf die sie ihre Energie verwenden konnte.

*

Schwester Rebecca strich die Bettdecke glatt und betrachtete zufrieden ihr Werk.

»So, jetzt ist alles wieder in Ordnung.« Sie drehte sich zu ihrem Patienten um, der am Tisch am Fenster saß und missmutig vor sich hinstarrte. Titus‘ Miene gab ihr zu denken. »Stimmt was nicht?«

»Ach, ich mach mir Sorgen wegen der Biopsie.« Sein Seufzen kam aus tiefster Seele.

Behutsam fasste sie ihn am Arm und führte ihn zurück zum Bett.

»Das war zu deiner eigenen Sicherheit und hat noch lange nichts zu bedeuten.« Sie half Titus ins Bett und deckte ihn zu.

»Und was, wenn die Ärzte doch was finden?«, fragte er skeptisch.

»Dann bist du hier in den besten Händen.« Sie hatte kaum ausgesprochen, als es kurz klopfte und Dr. Norden junior hereinkam.

Bei seinem Anblick spannte sich jede Faser in Titus‘ Körper an. Schwester Rebecca verabschiedete sich, und Danny schloss die Tür hinter ihr.

Ein Blick genügte, und Titus wusste, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

»Du schaust nicht so aus, als ob du gute Nachrichten hättest. Los, raus mit der Sprache!«, verlangte er. »Was ist los mit mir?«

Seufzend setzte sich Danny auf die Bettkante. Es fiel ihm schwer, Titus in die Augen zu sehen.

»Im Normalfall warten wir noch den Befund der eingehenden Untersuchung ab«, erwiderte er langsam. »Aber in der Regel bestätigt der nur die ersten Ergebnisse.« Er hielt inne. Alle Worte, die er sich vorher zurecht gelegt hatte, schienen plötzlich falsch zu sein. Aber gab es einen richtigen Weg, um so eine Nachricht zu überbringen? »Nach dem, was die Biopsie ergeben hat, müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei dem Knoten in deiner Schilddrüse um ein Karzinom handelt.«

Titus erstarrte. Es war offensichtlich, dass er versuchte zu erfassen, was Danny ihm gerade gesagt hatte.

»Du darfst jetzt nicht die Fli … «, setzte der junge Arzt zu einem Trost an.

Doch Titus schüttelte nur den Kopf.

»Ich will allein sein.«

Danny zögerte.

»Sicher?«

»Ja.«

So blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Wunsch seines Patienten Folge zu leisten. Er stand auf und verharrte noch einen Augenblick vor dem Bett. In sich gekehrt saß Titus halb aufrecht da, den starren Blick auf die Wand gegenüber gerichtet. Schließlich verließ Danny das Krankenzimmer. Mit gesenktem Kopf wanderte er den Flur hinunter, als er hastige Schritte hörte.

»Danny, da bist du ja!« Atemlos machte Anneka vor ihrem Bruder Halt. »Ich hab gehört, wie sich zwei Schwestern über Titus unterhalten haben …« Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Als Danny nichts sagte, holte sie Luft. »Er weiß es schon?«

»Ich hab’s ihm gerade gesagt.«

»Der Ärmste. Ich muss sofort zu ihm.« Sie wollte sich an ihrem Bruder vorbei drängen, als sie seinen festen Griff an ihrem Arm spürte.

»Sag mal, täusche ich mich oder empfindest du mehr für ihn, als es … sagen wir mal … deiner Beziehung zu Noah gut tut?«

Anneka starrte Danny an. Es war offensichtlich, dass sie nach einer Antwort suchte.

»Ich … ich glaube, Titus hat sich in mich verliebt«, gestand sie endlich. »Ich hab auch schon mit Noah drüber geredet und ihm versprochen, mich klar zu ihm zu bekennen. Das wollte ich gerade machen. Aber dann hab ich das Gespräch der Schwestern mitbekommen.« Sie sah Danny flehentlich an. »Das ist doch sicher nicht der richtige Moment, Titus so was zu sagen?«

»Das ist wirklich ein Problem in dieser Situation«, musste er zugeben.

Anneka haderte mit sich. Schließlich traf sie eine Entscheidung.

»Titus braucht mich jetzt. Ich geh zu ihm.« Sie drückte Danny einen Kuss auf die Wange und eilte grußlos weiter.

Vor Titus‘ Zimmertür blieb sie noch einmal stehen. Sie atmete tief durch, ehe sie klopfte und eintrat.

Im ersten Moment hatte Titus gefürchtet, dass Josephine zurückgekommen war. Als er aber Anneka erkannte, huschte ein Leuchten über sein Gesicht.

»Welch Licht in meiner dunklen Hütte«, scherzte er und brachte Anneka damit fast zum Weinen.

»Du bist der Wahnsinn, weißt du das?«, fragte sie gerührt. Sie setzte sich auf die Bettkante und griff nach seiner Hand. »Immer einen dummen Spruch auf den Lippen. Egal, wie scheiße die Situation ist.«

Titus sah hinunter auf ihre ineinander verschlungenen Hände. Mit einem Mal wurde er ernst.

»Dann weißt du es schon? Ich meine, das mit meiner Krankheit?«

»Und das mit Josy auch. Aber nicht von Danny«, versicherte sie vorsichtshalber. »Er dürfte mir gar nichts sagen von wegen ärztlicher Schweigepflicht und so.« Auf keinen Fall sollte ein falscher Verdacht auf ihren Bruder fallen. »Ich hab zufällig gehört, wie sich zwei Schwestern über dich unterhalten haben. Stimmt es, dass mit Josy Schluss ist?«

»Was die Schwestern so alles wissen.« Er grinste.

»Scheint so, als hätte Josephine kein Geheimnis aus ihrer Wut auf dich gemacht. Sie ist laut schimpfend durchs Krankenhaus gelaufen.« Anneka zögerte. »Weiß sie von deiner Krankheit?«

Titus schüttelte den Kopf.

»Wenn’s nach mir geht, erfährt sie’s auch nicht. Ich komm schon klar.«

»Bist du sicher?«

Er zögerte.

»Ich weiß, dass ich eine schwere Zeit vor mir hab.« Endlich sah er sie an und konnte sogar ein bisschen lächeln. »Aber wenn du bei mir bist, hab ich viel weniger Angst.«

Anneka schluckte.

»Das … das freut mich.« Sie wand sich vor Verlegenheit.

Titus bemerkte es nicht. Er war so mit sich selbst beschäftigt, dass er ungeniert fortfuhr.

»Weißt du, als ich dich neulich im ›Schönen Aussichten‹ wiedergesehen hab … wow, da war plötzlich was zwischen uns … Ich kann’s gar nicht richtig erklärten. Dein Anblick hat mich einfach umgehauen.«

Anneka lachte gequält auf.

»Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie entzog ihm ihre Hände und stand auf. Sie wusste: Das war der Moment, in dem sie ihm die Wahrheit sagen musste. In ihrer Not trat sie ans Fenster und sah hinaus.

»Was ist?« Titus sah ihr misstrauisch nach.

»Ich … ich … Ach, ich musste nur gerade an deine Behandlung denken«, wich sie seiner Frage aus. »Weißt du schon, wie es weitergeht?« Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn aus sicherer Entfernung.

Verwirrt über diesen plötzlichen Themenwechsel schüttelte Titus den Kopf.

»Wahrscheinlich eine OP, Bestrahlung, vielleicht Chemo. Was die Ärzte sich halt alles Lustiges ausdenken bei Krebs.« Er schnitt eine Grimasse, wurde aber gleich wieder ernst. »Ehrlich gesagt will ich gar nicht so genau drüber nachdenken. Hauptsache, du lässt mich nicht im Stich.« Er musterte sie aus schmalen Augen. »Das tust du doch nicht, oder?«

Anneka schluckte. Nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf und kam zurück ans Bett.

»Natürlich nicht«, versprach sie. »Aber jetzt muss ich los. Noah wartet auf mich.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn schnell auf die Wange. Dann lief sie aus dem Zimmer, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.

*

Einer spontanen Eingebung folgend nutzte Daniel Norden die Mittagspause, um seiner Frau in der Klinik einen Besuch abzustatten. Auf dem Weg in Fees Büro traf er auf Volker Lammers.

»Sieh mal einer an. Der gehörnte Ehemann«, begrüßte der ihn im Vorbeigehen. »Mein aufrichtiges Beileid. Obwohl ich Ihre Frau ja verstehen kann. Grabmann ist schon ein leckerer Happen.« Er winkte Daniel und war gleich darauf um die Ecke verschwunden.

Irritiert sah Dr. Norden ihm nach, ehe er weiterging. Er grüßte nach links und rechts und wunderte sich. Täuschte er sich oder wichen ihm die Kollegen aus? Obwohl er um Lammers‘ perfide Art wusste und das Vertrauen in seine Frau groß war, wurde er misstrauisch.

»Weißt du, was dein lieber Kollege mir gerade gesteck … «, wollte er fragen, als er Fees Büro betrat. Mitten im Satz hielt er inne. Der Schreibtisch war leer. Kurzerhand beschloss er, im Schwesternzimmer nachzufragen. »Elena, gut, dass du hier bist. Weißt du, wo Fee steckt?«

Schwester Elena hob den Kopf.

»Oh, Daniel.« Schlagartig musste sie an das Gerücht denken, das Lammers eifrig verbreitete. War es Daniel schon zu Ohren gekommen? Über diesen Überlegungen wurden ihre Wangen rot. »Das ist ja eine nette Überraschung. Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, wo Felicitas steckt.« Hoffentlich nicht bei Grabmann!, dachte sie im Stillen und schickte ein Stoßgebet in den Himmel. »Versuch’s doch mal auf Station.«

»Mach ich, danke.« Unverrichteter Dinge verabschiedete sich Daniel und setzte seine Suche fort.

Lange musste er sich nicht umsehen. Schon von Weitem hörte er Fees Lachen. Es kam aus einem Behandlungszimmer. Die Tür war halb offen.

Daniel konnte der Versuchung nicht widerstehen und spähte hinein. Da war seine Frau. Sie saß auf der Kante einer Behandlungsliege. Götz Grabmann stand vor ihr. Beide lachten und bemerkten ihn nicht.

»Ich hoffe, ich störe nicht!« Daniels Versuch, unbeschwert zu klingen, misslang gründlich.

Wie von der Tarantel gestochen, schoss Fee von der Liege hoch.

»Dan! Was machst du denn hier?«

Dr. Grabmann fuhr herum.

»Kollege Norden!«

Bebend vor Zorn stand Daniel in der Tür.

»Da staunt ihr, was?«, stieß er grimmig durch die Zähne. Schlagartig wusste Fee, dass er Lammers begegnet war. Ihr war klar: Um ein Unglück zu verhindern, musste sie handeln. Jetzt. Sofort. Sie drängte sich an Grabmann vorbei und ging auf ihren Mann zu.

»Allerdings.«

Mit einem Mal war ihre Stimme weich, das Lächeln auf ihren Lippen verführerisch. »Aber das ist ja eines der Dinge, die ich so an dir liebe. Dass du es fertig bringst, mich immer wieder zu überraschen.« Demonstrativ legte sie die Hände um seinen Nacken und küsste ihn, bis ihm die Luft wegblieb.

Peinlich berührt sah Götz Grabmann zu Boden.

»Tja, ich geh dann mal. Will nicht stören. Wir sehen uns später.« Seine Stimme hallte noch im Zimmer nach, als er schon zur Tür hinaus war.

Schelmisch lächelnd löste sich Felicitas von ihrem Mann.

»Und? War das Liebesbeweis genug?«

Schuldbewusst spielte er mit einer Strähne ihres Haars.

»Tut mir leid. Aber als Lammers mir das mit Grabmann auf dem Flur gesteckt hat, ist eine Sicherung bei mir durchgebrannt.«

Das Lächeln auf Fees Lippen verzerrte sich.

»Na warte, das wird er noch bereuen …«

Zu ihrer großen Überraschung schüttelte Daniel den Kopf.

»Energieverschwendung!«, erinnerte er seine Frau und nahm ihr Gesicht in die Hände. »Da fällt mir was viel Besseres ein.« Er küsste sie noch einmal lange und zärtlich. Als sie sich voneinander lösten, stellte er zufrieden fest, dass sie wieder lächelte.

Während sie ihn sinnend betrachtete, kehrten ihre Gedanken zu ihrer Arbeit zurück.

»Sag mal, wenn du schon mal hier bist, könnte ich dir eigentlich Melanie Platz vorstellen. Du weißt schon: Das Mädchen mit den unerklärlichen Atemwegsproblemen.« Spontan hatte Felicitas beschlossen, ihren Mann zu Rate zu ziehen.

Daniel sah auf die Uhr.

»Eine halbe Stunde hab ich noch.«

Demonstrativ händchenhaltend machten sich die beiden auf den Weg.

»Vielleicht hast du ja eine zündende Idee, was ihr fehlen könnte. Lammers und ich tappen im Dunkeln.«

Sie erreichten das Krankenzimmer gleichzeitig mit einem jungen Mann.

Er wollte offenbar auch zu Melli.

»Hallo!«, grüßte Fee und sah ihn forschend an. »Ich bin Dr. Felicitas Norden. Melanies behandelnde Ärztin. Und das hier ist mein Mann.«

Sie hielt dem jungen Mann die Hand hin.

»Mein Name ist Patrick Franzke«, erwiderte der den Gruß wohlerzogen. »Ich bin Mellis Freund. Ihre Mama hat mir gesagt, dass ich sie endlich besuchen darf. Da bin ich gleich gekommen.«

Daniel Norden trat einen Schritt vor. Sein Blick hing an der Lippe des jungen Mannes.

»Sofern du gesund bist.« Er deutete auf die verkrustete Stelle.

Patrick lachte verlegen.

»Sie meinen diesen blöden Herpes. Den bekomm ich immer, wenn ich mich aufrege.«

Fee legte den Kopf schief.

»Hast du das öfter?«

»In letzter Zeit schon«, gestand der junge Mann. Vor Nervosität leuchteten seine Wangen in schönstem Rot, und er wusste nicht, wo er hinsehen sollte. »Melli ist meine erste Freundin.«

»Herpes Simplex«, murmelte Felicitas. Unvermittelt packte sie ihren Mann am Arm. »Das ist die Lösung! Melanie hat sich mit dem Herpes Simplex Virus angesteckt.«

Zunächst war Daniel skeptisch.

»Dann wäre es aber ein außergewöhnlich schwerer Krankheitsverlauf«, gab er zu bedenken.

Doch Fee wollte sich nicht beirren lassen.

»Vielleicht war ihr Immunsystem vorher schon geschwächt. Immerhin ist sie auch frisch verliebt. Medizinisch gesehen kann sich das wie eine Krankheit auswirken. Ich muss sofort ins Labor. Die müssen das untersuchen! Komm!«, forderte sie Daniel atemlos auf und war schon auf dem Sprung.

Ehe ihr Mann ihr folgte, drehte er sich noch einmal zu Patrick um.

»Wenn du recht hast, bekommst du einen Orden!«, versprach er. Dann drehte auch er sich um und verfiel in Laufschritt, um Fee noch einzuholen.

*

Nach der Flucht aus der Klinik lief Anneka den ganzen Nachmittag ziellos in der Stadt herum. Die verfahrene Situation, ihr Verhältnis zu Noah, Titus‘ Krankheit: All das drohte sie zu überfordern. Irgendwann hielt sie inne, müde vom vielen Laufen, und sah sich um.

»Anneka, das ist ja nett, dich mal wieder zu sehen.«

Überrascht drehte sie sich um und stellte fest, dass sie zufällig direkt vor der Praxis gelandet war.

Wendy hatte eine Tüte Müll entsorgt und stand am Tonnenhäuschen, das über und über mit Efeu bewachsen war. »Wie geht’s dir denn?« Zur Begrüßung umarmten sich die beiden. Wendy strich der Tochter ihres Chefs eine Strähne aus dem Gesicht. »Und jetzt sag bloß nicht ›gut‹. Ich seh dir an, dass was nicht stimmt.«

Anneka schnitt eine Grimasse.

»Du kennst mich ziemlich gut.«

»Und schon mindestens dein halbes Leben lang«, erwiderte Wendy und kehrte zurück in die Praxis. »Lass mich raten: Geht es um einen Mann?«

Anneka folgte ihr.

»Genau gesagt um einen Verehrer, den ich loswerden muss.« Die Arzttochter ließ sich auf Janines Stuhl fallen und sah Wendy forschend an. »Du schaust aber auch nicht gerade fröhlich drein.«

Die langjährige Assistentin nickte.

»Klingt so, als hätten wir beide das gleiche Problem.« Zum Glück musste auch Sebastian Klotz arbeiten, sodass sie an diesem Tag bisher von ihm verschont geblieben war. Doch schon jetzt ahnte sie, dass das Glück nicht von Dauer sein würde. Allein der Gedanke an ein Wiedersehen jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Zum Glück gehe ich demnächst auf Kur. Dann löst sich das Problem hoffentlich von selbst. Aber apropos Männer: Wenn du deinen Vater besuchen willst, muss ich dich leider enttäuschen. Der ist in der Klinik.«

»Und Danny?«, fragte Anneka.

»Seine letzte Patientin für heute ist gerade gegangen. Wenn du willst, ruf ich schnell durch. Dann kannst du sicher gleich zu ihm gehen.

Wendy irrte sich nicht, und zwei Minuten später begrüßte Danny seine Schwester mit einer Umarmung.

»Hattest du schon wieder Sehnsucht nach mir?«, scherzte er gut gelaunt. »Ach, ich liebe es, wenn mir hübsche Mädchen nachlaufen.«

Anneka ließ sich auf den Chefsessel hinter seinem Schreibtisch fallen und rollte mit den Augen.

»Hast recht. Allzu oft passiert dir das ja bestimmt nicht«, platzte sie heraus und lachte über sein Gesicht. »Sorry, das war leider eine Steilvorlage.«

»Schon gut.« Ganz großer Bruder beschloss Danny, großzügig zu sein.

Er nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz, schlug die Beine übereinander und sah Anneka fragend an. »Noch ein Ratschlag gefällig?«

Sie saß ihm gegenüber und starrte auf Tatjanas Bild auf dem Tisch.

»Ich weiß einfach nicht, was das mit Titus werden soll«, gestand sie schließlich.

»Dachte ich es mir doch.« Danny beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. »Bist du dir denn wirklich sicher, dass er sich in dich verliebt hat?«

Mit dieser Frage hatte Anneka nicht gerechnet.

»Er behauptet es zumindest.«

»Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass sich Titus in einer Ausnahmesituation befindet? Er steht unter Schock. Denk doch nur mal nach! Zuerst der Erstickungsanfall, der mit einem Luftröhrenschnitt in der Klinik endet. Dann der Krach mit Josephine und schließlich die Diagnose Krebs. Den Menschen möchte ich sehen, der danach noch klar denken kann.« Während Danny sprach, ließ er seine Schwester nicht aus den Augen.

Annekas Miene sprach Bände.

»So hab ich das noch gar nicht gesehen«, gestand sie kleinlaut. Sie wusste nicht, ob sie traurig oder erleichtert sein sollte.

»Ich weiß«, erwiderte Danny sanft. »Ich als weiser, alter Mann mach dir einen Vorschlag. Bevor du dir über deine Gefühle den Kopf zerbrichst, verschaff dir doch erst einmal Klarheit über seine.«

»Und wie soll ich das bitteschön tun?«, fragte sie ratlos.

»Die Antwort kennst du selbst.«

Seine Stimme war genauso weich wie das Lächeln auf seinen Lippen.

Eine Weile saß Anneka schweigend da. Endlich holte sie tief Luft und stand auf.

»Also gut.« Sie ging zu Danny und umarmte ihn. »Dann mach ich mich mal auf den Weg.«

»Braves Mädchen«, lobte er sie und brachte sie zur Tür. Dort stand er und sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. Er hatte sich eben wieder an den Schreibtisch gesetzt, als das Telefon klingelte. Es war Matthias Weigand von der Klinik.

»Du musst kommen. Schnell!« Mehr sagte er nicht.

*

»Ich glaub, ich träume.« Zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher saß Esther vor der Eisdiele im Schatten, als sie ihre Freundin Josephine entdeckte.

»Hast du dich verlaufen?«, fragte ein Freund neben ihr und erntete sofort einen unsanften Stoß in die Rippen.

»Lass sie in Ruhe«, schimpfte Esther. »Ich bin froh, dass sie da ist.« Sie stand auf und lief ihrer besten Freundin entgegen. »Josy, super, dass du hier bist!«

Die beiden Mädchen umarmten sich, ehe sie Arm in Arm an den Tisch zurückkehrten. Erst als sie sich gesetzt hatten, bemerkte Esther, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist los? Du schaust so traurig aus.«

Betreten starrte Josephine auf ihre Füße, die in Flipflops steckten.

»Titus ist in der Klinik. Er hat Schluss gemacht«, murmelte sie. Sie hatte genug Zeit gehabt, um nachzudenken. »Diesmal hab ich’s echt übertrieben.«

»Du Ärmste!« Mitfühlend legte Esther den Arm um ihre Schultern. »Was fehlt ihm denn?«

»Irgendeine Allergie.« Mit knappen Worten berichtete Josephine, was passiert war. »Und jetzt will er mich nicht mehr sehen«, schloss sie schuldbewusst.

»Na ja, irgendwie kann ich ihn ja verstehen«, musste Esther wohl oder übel zugeben. »Kletten sind nie cool. Würd mir umgekehrt genauso gehen.« Sie nippte an ihrer Eisschokolade und leckte sich den Sahnebart von den Lippen. »Hey, jetzt mach nicht so ein Gesicht. Wirst sehen, wenn’s ihm besser geht, meldet er sich bestimmt wieder.« Esther hielt ihrer Freundin das Glas hin. »Willst du einen Schluck?«

Josy schüttelte den Kopf.

»Wenn diese blöde Anneka nicht wär, gäb’s vielleicht noch eine Chance. Aber so …« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als sich ein Schatten vor die Sonne schob.

»Die blöde Anneka muss mit dir reden.« Niemand anderer als die Arzttochter stand vor dem Tisch und lächelte auf die Schülerinnen herab.

Josephine starrte sie an wie eine Erscheinung.

»Was machst du denn hier? Und wie hast du mich gefunden?«

Anneka zuckte mit den Schultern.

»War nicht so schwierig. Ich kenn zufällig ein paar Jungs aus deiner Schule. Die haben mir verraten, wo ihr nachmittags immer steckt.« Während sie sprach, klingelte dumpf ihr Handy in der Tasche. Sie zog es heraus und wunderte sich.

»Hey, hast du zur Abwechslung mal Sehnsucht nach mir?«, scherzte sie. Doch das Lachen verging ihr sofort. »Waaaaas?«, fragte sie entgeistert. »Okay, ich bin in zehn Minuten da.« Sie wollte auflegen, doch vor Aufregung zitterten ihre Finger so sehr, dass sie nicht gleich die richtige Taste fand.

Josephine starrte sie misstrauisch an.

»War das etwa Titus?«

»Das war mein Bruder, der Arzt. Titus muss notoperiert werden. Los, komm! Er braucht dich jetzt!« Anneka winkte Josephine und lief los.

Doch Josy rührte sich nicht vom Fleck. Wie versteinert saß die Schülerin da und starrte der Konkurrentin nach.

»Ich weiß gar nicht, was du hast. Die ist doch ganz nett«, mischte sich Esther ein. »Worauf wartest du noch?«

Das wusste Josy selbst nicht.

»Halt, ich komm mit!«, schrie sie Anneka aus Leibeskräften nach, sprang auf und sauste los wie der Wind.

*

Als Danny Norden im OP ankam, lief der Betrieb bereits auf Hochtouren.

In Windeseile zog er sich um und stieß dann zum OP-Team rund um seinen Freund Dr. Matthias Weigand.

»Was ist passiert?«, fragte er, nachdem der Assistenzarzt den Platz für ihn geräumt hatte.

»Zuerst klagte Titus über Atembeschwerden. Daraus wurde akute Atemnot, dann folgte blutiger Husten. Ich musste ihn intubieren«, erklärte Matthias, ohne vom Operationsfeld aufzusehen. »Gut, dass du so schnell kommen konntest.«

Als Danny lächelte, kräuselte sich die Haut um seine Augen.

»Stell dir vor, in einer 30er-Zone ist einer mit 70 hinter mir hergefahren. Mit Blaulicht. Auffälliger geht’s ja wohl nicht«, scherzte er augenzwinkernd und beugte sich über den schlafenden Titus.

Matthias lachte.

»Hör auf mit dem Unsinn, sonst wackel ich noch«, warnte er. »Gib mir lieber mal eine Klemme. Und dann die Schere.«

Danny griff nacheinander nach den gewünschten Instrumenten und reichte sie ihm.

Eine Weile war nichts zu hören außer dem Piepen der Überwachungsgeräte. Endlich atmete Dr. Weigand auf.

»Na bitte. Da haben wir den Übeltäter. Bringen Sie das sofort in die Pathologie«, forderte er eine Schwester auf, die sich umgehend auf den Weg machte.

»Wahnsinn, wie schnell diese Dinger nach innen wachsen. Das war höchste Zeit«, murmelte Danny.

»Im Grunde kann Titus froh sein, dass er diesen Allergieanfall hatte«, gab Matthias zurück. »Sonst hätten wir den Tumor nie entdeckt. Früher oder später wäre der Junge einfach erstickt.« Er stöhnte leise, als er sich aufrichtete und die Hände in den schmerzenden Rücken presste. »Ich glaub, ich werde alt!«, stellte er unwillig fest. »Das war’s. Machst du zu?«

»Klar«, erklärte sich Danny Norden sofort bereit. »Sonst bin ich ja ganz umsonst gekommen.« Er zwinkerte seinem Freund und Kollegen zu und machte sich an die Arbeit.

*

Fee Norden saß an ihrem Schreibtisch und diktierte Befunde, als es klopfte.

»Die Tür ist doch offen«, antwortete sie, ohne aufzusehen.

»Ich will Sie auf keinen Fall inflagranti erwischen.«

Nun hob Felicitas doch den Kopf. »Lammers, wer sonst.« Seufzend legte sie das Gerät beiseite und lehnte sich zurück. »Mein Mann ist schon weg. Sie können also unbesorgt reinkommen.« Sie deutete auf den Stuhl vor dem Tisch. »Bitte, setzen Sie sich.«

»Danke. Ich hab nicht vor, Ihre Gesellschaft länger als nötig zu genießen.«

»Da sind wir ja zufällig mal einer Meinung. Was kann ich für Sie tun?«

Auf diese Frage schien Dr. Lammers nur gewartet zu haben.

»Ich war vorhin im Labor. Dort hat man mir gesagt, dass Sie die Platz auf Herpes Simplex untersuchen lassen.« Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Stimmt auffallend. Ich warte jeden Moment auf die Ergebnisse.«

»Das ist doch lächerlich!« Er stand vor dem Schreibtisch und starrte auf Felicitas hinunter. »Das Labor mit solchen blödsinnigen Ideen zu beschäftigen.«

»Ich tue nur meine Pflicht als Ärztin«, erwiderte sie ungerührt.

»Und ich möchte mal wissen, bei welcher Lotterie Sie Ihren Doktor-Titel gewonnen haben«, schimpfte Volker Lammers ungehalten.

Felicitas wusste, dass er nur auf einen Angriff von ihr wartete. Auf eine Schwäche, auf die er sich gnadenlos stürzen konnte. Diesen Gefallen wollte sie ihm unter keinen Umständen tun.

»Im Spiel des Lebens«, konterte sie, als in diesem Moment Johanna Reber aus dem Labor hereinkam.

Bei Lammers‘ Anblick zuckte sie zurück.

Schnell wandte sie sich an Felicitas Norden.

»Frau Dr. Heimerl schickt mich.«

Fee winkte sie herein.

»Kommen Sie. Ich beiße nicht.«

»Sie nicht, aber …« Johannas unsicherer Blick eilte hinüber zu Volker Lammers. Sie hatte ihn schon öfter im Labor erlebt und sich rasch eine eigene Meinung gebildet.

Felicitas‘ Lachen klang eine Spur schadenfroh. Es gab doch noch Gerechtigkeit auf der Welt.

»Keine Angst. In diesem Zimmer stehen Sie unter meinem persönlichen Schutz«, versprach sie, ehe sie auf die Unterlagen in ihrer Hand deutete. »Was ist bei der Untersuchung rausgekommen?«

»Ach so, ja.« Verlegen gab die junge Laborantin die Akte weiter.

Unter Volker Lammers neugierigen Blicken blätterte Fee einen Moment lang vor und zurück. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.

»Vielen Dank! Wenn ich noch was brauche, rufe ich Frau Heimerl an.«

Johanna war sichtlich erleichtert, gehen zu dürfen, und war im nächsten Moment verschwunden.

»Und? Was ist? Spannen Sie mich nicht so auf die Folter!«, verlangte Dr. Lammers, als sie wieder unter sich waren.

Überlegen lächelnd stand Fee auf und kam um den Schreibtisch herum. Vor dem Kollegen blieb sie stehen und sah ihm in die Augen.

»Wissen Sie, was ich mich gerade frage?«

»Bin ich Hellseher?«, ätzte er zurück.

»In welcher Lotterie Sie Ihren Schein in Diagnostik gewonnen haben.« Sie drückte Lammers die Unterlagen in die Hand und verließ das Zimmer, um umgehend ein antivirales Medikament bei Melanie Platz anzuordnen.

*

Als Anneka die Klinik in Begleitung von Josephine erreichte, war die Operation noch in vollem Gang.

»Ihr könnt drüben im Aufenthaltsraum warten. Wenn es Neuigkeiten gibt, sag ich Bescheid«, erklärte Schwester Nadine und deutete auf eine halb geöffnete Tür schräg gegenüber dem OP-Bereich. »Ich hab gerade frischen Tee und Kaffee nachgefüllt. Und Gebäck ist auch noch da. Das müsst ihr unbedingt mal probieren. Wirklich lecker!«

»Ich krieg keinen Bissen runter«, prophezeite Josy düster, als sie dem Rat der netten Schwester folgten.

»Mir geht’s genauso«, stimmte Anneka zu. Jetzt, da es nichts mehr zu tun gab, kroch ihr die Angst in den Nacken. Sie trat ans Fenster und sah hinunter in den schönen Garten, der in voller Pracht grünte und blühte. Patienten und Besucher schlenderten allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen über die gekiesten Wege. Zwei Kinder standen sich auf einer Wiese gegenüber und schwangen ein Seil. Ein drittes sprang lachend darüber. Angesichts dieses längst vergessenen Kinderspiels musste auch Anneka lächeln. Doch es sollte ihr gleich wieder vergehen.

»Warum hast du mich überhaupt geholt?«, fragte Josephine. Mit dieser Frage hatte Anneka längst gerechnet. Langsam drehte sie sich um und sah ihre vermeintliche Konkurrentin an. Josy war zwei, drei Jahre jünger als sie. Ein Mädchen auf dem Weg zur Frau. Mit Sommersprossen auf der Stupsnase und klugen, blauen Augen, die unter dem dunklen Pony geheimnisvoll hervorstachen. Mit einem Mal verstand Anneka, warum sich Titus in sie verliebt hatte. Nun bekam sie die Gelegenheit, sich seiner Gefühle würdig zu erweisen.

»Weil ich glaube, dass er dich jetzt mehr braucht denn je. Er ist sehr krank und hat eine schwere Zeit vor sich. Eure Liebe kann ihm helfen, das alles zu überstehen. Vorausgesetzt natürlich, du willst das.«

Josys Augen weiteten sich vor Angst.

»Was fehlt ihm denn?«

Anneka schüttelte den Kopf.

»Das muss er dir schon selbst sagen. Ich hab’s auch nur durch Zufall erfahren.«

Josephine kaute auf der Unterlippe.

»Was, wenn er keinen Bock mehr auf mich hat?«

»Dann hast du es wenigstens versucht.« Unwillkürlich musste sie an Dannys Worte denken. »Aber ich glaube, deine Chancen stehen nicht schlecht. Titus befindet sich in einer Ausnahmesituation. Da kommt es schon mal vor, dass man Entscheidungen trifft, die man im Normalfall nie getroffen hätte.« Als ihr Bruder ihr diese Worte gesagt hatte, war es schwer gewesen. Doch jetzt fühlte es sich auf einmal leicht und richtig an. Die Krise hatte offenbar nicht nur Titus in große Verwirrung gestürzt. Unwillkürlich musste Anneka lächeln. »Nur Mut. Das wird schon wieder.« In diesem Augenblick wusste sie, dass ihre Mission erfüllt war. Einer spontanen Regung folgend umarmte sie Josephine. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür.

»Wohin willst du?«, rief das Mädchen ihr nach.

Anneka drehte sich noch einmal um.

»Zu meinem Freund. Wir haben eine Verabredung zum Spieleabend.« Sie sahen sich an und brachen gleichzeitig in Lachen aus.

»Klingt spannend«, stellte Josephine fest.

»Finde ich auch.« Anneka zwinkerte ihr zu. »Sag Titus schöne Grüße von mir.« Ein letztes Lächeln voller Verbundenheit, und dann war Josy allein mit sich und ihren Gedanken und guten Vorsätzen. Dank Anneka gab es eine neue Chance für sie und Titus, und sie wollte aus ihren Fehlern lernen und ihren Teil dazu beitragen, dass ihre Liebe eine Zukunft hatte.

*

»Du kannst jetzt zu ihm.« Schwester Nadine hatte ihr Versprechen gehalten und winkte Josephine mit sich. »Er ist vor ein paar Minuten aufgewacht. Wundere dich nicht, wenn er nicht mit dir redet. Das ist normal nach solchen Eingriffen. Falls ihr Hilfe braucht, sagst du einfach einer Schwester Bescheid.« Sie half Josy in einen sterilen Kittel und setzte ihr eine Haube auf. »Hübsch siehst du aus«, scherzte sie.

»Wahrscheinlich trennt er sich direkt von mir, wenn er mich so sieht.«

Über diese Befürchtung konnte Nadine nur lachen.

»Im Augenblick hat er ganz andere Sorgen«, versprach sie. »Und ich bin ganz sicher, dass die Freude darüber, dich zu sehen, alles andere überwiegt.« Sie wollte Josephine schon in den Wachraum schicken, als ihr noch etwas einfiel. »Ach ja, und bitte keine Krisengespräche am Krankenbett. Aufregung ist das Letzte, was der junge Mann jetzt brauchen kann.«

»Ich geb mir Mühe«, versprach Josy feierlich und trat durch die Tür.

Titus lag gleich am Eingang in einem Bett. Durch Wandschirme war es von den anderen Patienten getrennt. Er schien zu schlafen. Vor Aufregung schlug Josephine das Herz bis zum Hals.

»Hallo, Titus«, sagte sie leise.

Er öffnete die Augen und musterte sie eine gefühlte Ewigkeit, ohne die geringste Regung zu zeigen. Mit jeder Minute sank Josys Mut, und sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als das Wunder doch noch geschah: Titus lächelte.

Dieses kleine Zeichen gab ihr neuen Auftrieb.

»Danny und Anneka haben gesagt, dass ich unbedingt kommen soll.«

Schüchtern stand sie neben seinem Bett und wagte kaum, ihn anzusehen. »Dabei weiß ich ja noch nicht mal, ob du mich überhaupt noch sehen willst.« Ihre Stimme war rau vor Aufregung. Sie räusperte sich, ehe sie fortfuhr. »Ich erzähl dir, dass ich dich liebe, aber dann vertrau ich dir nicht und mach dir ständig Vorwürfe.« Josy konnte seinem Blick nicht länger standhalten und senkte den Kopf. Verlegen kaute sie auf ihrer Unterlippe, als sie spürte, wie er nach ihren Fingern tastete und schließlich ihre Hand nahm. »O, Titus, ich hab’s jetzt endlich kapiert. Ich versprech dir, dass ich mich nicht mehr so blöd benehmen werde. Wir müssen uns nicht jeden Tag sehen. Jeder von uns soll auch noch ein eigenes Leben haben, damit wir nicht irgendwann mal aus Langeweile einen Spieleabend veranstalten.«

Da er nicht sprechen konnte, schnitt er eine Grimasse. Josy kicherte, ehe sie wieder ernst wurde.

»Ich hab in den letzten Tagen wirklich viel über uns nachgedacht … na ja, eigentlich mehr über mich«, gestand sie. »Über meine blöde Eifersucht …«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Danny Norden kam herein. Als er Josy sah, lächelte er und nahm sich vor, seiner Schwester bei nächster Gelegenheit zu ihrer Entscheidung zu gratulieren.

»Schön, dich zu sehen.« Er nickte ihr freundlich zu, ehe er an Titus‘ Bett trat. »Na, wie geht’s dir, Sportsfreund?«

Der hielt die Hand hoch und zeigte mit Mittel- und Zeigefinger ein V.

»Das bedeutet Sieg«, übersetzte Josephine die Zeichensprache.

»Vielen Dank, aber so alt bin ich noch nicht.« Danny lachte und wollte sich wieder an seinen Patienten wenden, als Josy ihn davon abhielt. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen, was sie unbedingt loswerden musste.

»Ich will mich noch entschuldigen für meinen Auftritt in der Praxis«, murmelte sie zerknirscht und wagte es kaum, ihren Freund anzusehen. Was mochte Titus nur von ihr denken, wenn er das erfuhr? Aber es nützte nichts. Wenn sie eine echte Chance haben wollte, musste sie in den sauren Apfel beißen und reinen Tisch machen. »Es war ziemlich blöd von mir, mit einem Anwalt zu drohen. Mein Vater hat mich ausgelacht und gesagt, dass ich endlich erwachsen werden soll.«

»Da hat er nicht so unrecht«, gab Danny freundlich, aber bestimmt zurück.

»Ich weiß es ja. Und ich gelobe wirklich Besserung. Das hab ich auch schon Titus gesagt. Nicht wahr?« Sie schickte ihrem Freund einen flehenden Blick.

Sein Lächeln war Antwort genug, und erleichtert atmete Josephine auf.

»Er wird in der nächsten Zeit ein bisschen wortkarg sein«, warnte Danny schmunzelnd.

»Das ist mir alles egal«, erklärte Josy innig. Sie beugte sich über ihren Freund. »Hauptsache, du wirst wieder gesund.«

»Dafür stehen die Chancen überraschend gut.« Danny Norden war auch gekommen, um seinen Patienten über die Prognose zu informieren. »Ich hab vorhin die Ergebnisse aus dem Labor bekommen. Der erste Verdacht hat sich entgegen allen Erwartungen nicht bestätigt.«

Zum Zeichen seiner Erleichterung stieß Titus ein tiefes Seufzen aus. Josephine musterte ihn mit Tränen in den Augen.

»Dann muss ich dich eigentlich nur noch eines fragen.« Sie sah hinunter auf ihre ineinander verschlungenen Finger. Die ganze Zeit hatte Titus ihre Hand nicht losgelassen. War das ein gutes Zeichen? Sie musste es herausfinden. Jetzt. Sofort. »Gibst du uns noch eine Chance? Darf ich dir beweisen, dass ich mich wirklich ändern kann?« Ihre leise Stimme zitterte. Sie wagte kaum zu atmen, als sie spürte, wie sich eine Hand in ihren Nacken legte und sie nach unten zog.

Als sich die Lippen der beiden zu einem innigen Versöhnungskuss fanden, wandte sich Danny ab und schlich aus dem Zimmer. Das, was er noch zur Behandlung zu sagen hatte, konnte bis morgen warten. Auch für ihn wurde es Zeit, endlich nach Hause zu gehen. Plötzlich sehnte er sich danach, der Frau seines Herzens wieder einmal zu zeigen, wie sehr er sie liebte und brauchte.

Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman

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