Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Neuseeland?«, fragte Danny Norden, deutliches Missfallen in der Stimme. Er saß auf dem Balkon der Wohnung, die er sich mit seiner Freundin, der Bäckerin Tatjana Bohde teilte, und musterte seine älteste Schwester mit schmalen Augen. Es war ein herrlicher Sommerabend. Die Luft war mild, und die Straßen waren bevölkert. Von unten drangen Stimmengewirr und Musik herauf. Ein vorbeifahrender Roller machte die Illusion eines italienischen Abends perfekt.

»Wieso? Das ist doch irre!«, rief Tatjana aus der Küche, wo sie einen Vorspeisenteller vorbereitete. »Dann können wir sie besuchen. Da wollte ich immer schon mal hin.« Geschickt drapierte sie Selleriestifte in einer Kugel Gorgonzola-Creme. Tomaten-Mozzarella-Spieße, gegrilltes, eingelegtes Gemüse, Oliven und Parmesan komplettierten das leichte Abendessen. Dazu reichte sie ein Oliven-Brot, das sie extra aus der Bäckerei mitgenommen hatte. Nur sie selbst wusste, wie sie es schaffte, dass die Platte trotz ihrer Sehbehinderung aussah wie vom Feinkost-Italiener. Zufrieden mit ihrem Arrangement gesellte sie sich zu Anneka und Danny auf den Balkon und stellte Teller und Brotkorb auf den Tisch. »Wusstet ihr, dass die Neuseeländer einen Plan ausgeheckt haben, um eine vom Aussterben bedrohte Papageienart zu retten?«, fragte sie mit glänzenden Augen.

»Ich weiß, was du meinst. Ich hab eine Dokumentation über Neuseeland gesehen.« Anneka nickte mehrmals hintereinander. »Da wurde auch über die Kakapos und dieses Schutzprogramm berichtet. Wenn ich dort mein Berufsvorbereitungsjahr als Erzieherin absolviere, kann ich mir das an den Wochenenden und im Urlaub alles anschauen. Und nebenbei mein Englisch verbessern.« Sie griff nach einem Stück Sellerie, tauchte es in die Gorgonzola-Sauce und knabberte daran.

»Gibt es da keine gefährlichen Tiere?«, fragte Danny. Es war ihm anzusehen, dass er mit den Plänen seiner Schwester nicht einverstanden war. Das nahm nicht wunder, hatte sich sein Bruder Felix doch während der praktischen Pilotenausbildung in Arizona mit einem Tropenvirus infiziert und nur mit knapper Not überlebt. Seitdem hätte Danny seine Geschwister am liebsten zu Hause eingesperrt. »Irgendwelche Spinnen? Schlangen? Giftige Quallen?« Er ließ ein Salatblatt durch die Luft schwimmen, und

Anneka lachte. Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf. Sie hatte sich bereits umfassend über das Land ihrer Träume informiert.

»Es gibt eine Spinnenart, die sogenannte Katipo. Sie lebt an der Nordküste zwischen Treibholz und Gräsern. Tropenkrankheiten gibt es übrigens auch nicht.« Sie zwinkerte ihm zu.

Wohl oder übel musste Danny einsehen, dass seine Ängste unbegründet waren.

»Und wann soll es losgehen?«

»Im Oktober.«

Tatjana klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen.

»Das ist ja bald! O Mann, am liebsten würde ich gleich mitkommen. Ich wollte schon immer mal wissen, wie Regenwald riecht und das Geräusch der gigantischen Wasserfälle hören. Und die neuseeländische Küche erst … O Mann, ich beneide dich so. Du wirst sehen: So ein Auslandsaufenthalt erweitert den Horizont enorm.« Sie drückte Annekas Hand und strahlte sie an.

Im Gegensatz zu seiner Freundin war Danny noch immer alles andere als begeistert.

»Was sagen denn Mum und Dad dazu?«, stellte er eine weitere Frage. Unvermutet landete er einen Volltreffer.

Anneka senkte den Kopf.

»Denen hab ich’s noch nicht gesagt«, murmelte sie. »Ich wusste bis vor ein paar Tagen ja selbst noch nicht, dass ich das Auslandspraktikum doch machen kann. Aber jetzt, nachdem ich reinen Tisch mit Noah und Jakob gemacht hab, hält mich nichts mehr auf.«

Danny lehnte sich zurück und musterte sie mit verkniffener Miene.

»Also, ich weiß nicht. Das klingt alles viel zu perfekt, um wahr zu sein. Bestimmt gibt es auch einen Haken. Wie sieht’s zum Beispiel mit …« Er wollte gerade mit der Aufzählung beginnen, als Tatjana ihm ins Wort fiel.

»Das ist mal wieder typisch! Nur ja nichts Neues ausprobieren, es könnte ja aufregend sein«, spottete sie.

»Damit bin ich bisher gut gefahren!« Danny dachte nicht daran, auf die Herausforderung einzugehen. »Mal abgesehen davon, dass du Aufregung genug bist in meinem Leben.«

»Oh, echt? Dabei hab ich mich gerade erst warmgelaufen.« Sie zwinkerte ihm zu und schob einen Tomaten-Mozzarella-Spieß in den Mund.«

Danny schnitt eine Grimasse.

»Wenn das so ist, komm ich mit nach Neuseeland.« Er wandte er sich an seine Schwester. »Braucht der Kindergarten einen fähigen Arzt?«

Mit blitzenden Augen wiegte Anneka den Kopf.

»Der arme Dad. Du kannst ihn doch nicht auch noch verlassen. Zuerst Wendy, dann ich, und jetzt kommst du auch noch daher. Mal abgesehen von Felix, der sich im Kindersanatorium vergnügt.«

»Und dort die Teenager aufmischt, der alte Schwerenöter.« Danny schmunzelte, ehe seine Gedanken weiter eilten. »Wendy kommt ja morgen schon wieder.« Er griff nach der Flasche Bier. »Ich bin gespannt, ob sie überhaupt noch Lust auf Arbeit hat. Neulich am Telefon klang sie superentspannt.«

Tatjana winkte ab.

»Ach, sobald sie hinter dem Tresen am Schreibtisch sitzt, ist sie wieder in ihrem Element.«

»Schon möglich. Auf jeden Fall werden wir sie morgen früh mit allen Ehren begrüßen. Sie soll wissen, wie sehr wir sie vermisst haben, und wie sehr sie gebraucht wird.«

»Die Willkommenstorte steht schon im Kühlschrank. Komm ja nicht auf die Idee, was davon zu stibitzen!«, warnte Tatjana ihren Freund.

»Ich? Das würde ich niemals tun.«

»Ach, und wer hat neulich von meiner Cremefüllung genascht?« Sie durchbohrte ihn dermaßen mit Blicken, dass Danny rot wurde.

»Das hast du gemerkt?«

»Natürlich. Meine Füllungen sind immer exakt berechnet«, erklärte sie mit hoch erhobenem Zeigefinger. »Das wird ein Nachspiel haben, mein Lieber.«

Seufzend wandte sich Danny an seine Schwester.

»Das sind die Abenteuer, mit denen ich im Alltag zu kämpfen hab.«

»Selbstgewähltes Schicksal«, urteilte Anneka und zuckte mit den Schultern. Ihre funkelnden Augen verrieten sie. »Jeder ist seines Glückes Schmied. Und ich werd meins in Neuseeland suchen. Auch wenn ich euch vermissen werd.« Bei diesem Gedanken verschwand das Strahlen auf ihrem Gesicht.

Mit der ihr eigenen Sensibilität spürte Tatjana diesen Stimmungsumschwung und wirkte ihm mit ein paar lustigen Anekdoten aus dem Café ›Schöne Aussichten‹ entgegen, sodass der Abend schließlich doch noch mit guter Laune zu Ende ging.

*

Schon früh am nächsten Morgen stand Felix Norden hinter der Theke der Bäckerei in der Kinderkurklinik und half der Verlobten seines Onkels. Seine Genesung machte Fortschritte, und er langweilte sich zunehmend, sodass er beschlossen hatte, sich im Verkauf und – wenn im Geschäft nichts los war – im Büro nützlich zu machen. Seither standen Mädchen im Teenageralter Schlange in dem kleinen Laden. Und das, obwohl die Mahlzeiten in der Klinik nicht gerade mager ausfielen.

Die Chefin Marianne freute sich über den Ansturm ebenso wie über die Hilfe. Im Augenblick konnte sie Hilfe gut brauchen. Nach dem Tod des Vaters litt ihre Mutter unter depressiven Verstimmungen, was sie sehr besorgte und beschäftigte.

»Aber Mama, warum hast du das getan?«, fragte sie ins Telefon. Sie stand hinter dem Tresen in der Ecke, während Felix die Kunden bediente. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Sprossenfenster und malte Muster auf den altehrwürdigen Dielenboden. »Nadja war doch eine große Hilfe.« Während sie telefonierte, musterte sie die Kundschaft im Verkaufsraum, die fast nur aus jungen Mädchen bestand, die den Pilotenschüler anhimmelten. Zum Glück war sie diesem Alter längst entwachsen. Marianne war sicher, dass auch sie sich sofort in ihn verliebt und viele schlaflose Nächte verbracht hätte. Zwischen all den Mädchen fiel ihr ein Mann auf, der mit grimmiger Miene darauf wartete, bedient zu werden. Sie wusste, wer er war. Doch er war noch nicht an der Reihe, und so konzentrierte sich Marianne wieder auf das Telefonat. »Natürlich ist das deine Sache«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Trotzdem darf ich mir doch wohl Sorgen machen. Es geht ja nicht nur um Nadja, sondern auch um ihren Mann. Wie willst du denn jetzt ganz allein mit dem großen, alten Haus fertig werden?« Eine tiefe Falte zierte ihre Stirn, während sie in den Hörer lauschte.

Inzwischen arbeitete Felix zügig, sodass die Reihe bald an dem Mann war.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte er sich. »Der Renner sind heute unsere Kirschtaschen. Falls Ihnen der Sinn aber eher nach …«

»Die Mühe kannst du dir sparen«, unterbrach der vermeintliche Kunde ihn. Seine Stimme dröhnte durch das kleine Geschäft. »Ich muss mit der Chefin reden.«

Marianne sah wieder hoch. Sie nickte ihm zu und bat mit einer Geste um Geduld.

»Also schön, Mama. Ich muss jetzt Schluss machen. Bitte sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.« Es war ihr anzusehen, dass die Antwort wenig freundlich ausfiel. Marianne verabschiedete sich seufzend und legte auf.

Auf diesen Moment hatte der Mann vor dem Tresen nur gewartet. Gregor Holzmann war ein Lieferant und dafür bekannt, dass nicht gut Kirschen essen mit ihm war. Dummerweise bot er die feinsten Fondants, die zarteste Schokolade und ausgefallensten Backdekorationen weit und breit an. Wenn man Erfolg ihm Geschäft haben wollte, kam man an ihm nicht vorbei.

»Na endlich!«, schnauzte er sie auch prompt an.

Um keine entsprechende Antwort zu geben, atmete Marianne tief durch.

»Ich nehme an, es geht um die Rechnung«, säuselte sie lächelnd..

»Ihre blitzschnelle Auffassungsgabe ist bemerkenswert.«

Felix schickte der Verlobten seines Onkels einen raschen Blick. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten eingegriffen hätte. Mit einer versteckten Geste hielt Marianne ihn davon ab.

Sie funkelte Holzmann aus schmalen Augen an.

»Vielen Dank für das Kompliment.« Ihr Lächeln war das eines Engels. »Leider sind Sie umsonst gekommen. Ich hab sie nämlich längst bezahlt.« In ihrer Stimme lag deutlicher Triumph.

Felix wurde hellhörig, während Gregor Holzmann den Kopf schüttelte.

»Wenn das so wäre, hätte ich ja wohl kaum den Weg hierher gemacht. Das können Sie mir glauben. Ich will mein Geld. Und zwar sofort!«

Allmählich war Marianne mit ihrer Geduld am Ende angelangt. Sie stemmte die Hände in die Hüften und blitzte Holzmann an.

»Wenn Ihnen niemand beigebracht hat, wie man Kontoauszüge liest, kann ich nichts dafür«, konterte sie. Gleichzeitig spürte sie, wie sie am Ärmel gezupft wurde. Daraufhin bekam auch Felix einen wütenden Blick ab. »Schon gut, Felix, du kannst gehen. Ich brauch dich jetzt nicht mehr.«

»Aber …«

»Ich. Brauch. Dich. Nicht. Mehr!« Sie betonte jedes einzelne Wort.

Er dachte kurz nach. Er hätte Marianne diese Peinlichkeit gern erspart. Doch es half alles nichts.

»Kann ich dich kurz allein sprechen? Es dauert auch nicht lang.«

Marianne hielt große Stücke auf Felix. Nur deshalb stutzte sie.

»Hat das nicht Zeit?«

»Es geht um die Rechnung.«

Die Tortenkünstlerin, die eine Zeit lang in Tatjanas Café ›Schöne Aussichten‹ gearbeitet hatte und nicht unerheblich am Anfangserfolg beteiligt gewesen war, zögerte, ehe sie sich an Gregor Holzmann wandte.

»Einen Kaffee?«

»Wenn’s denn unbedingt sein muss …«

Marianne drehte sich zur Kaffeemaschine um und schenkte Kaffee ein. Dampf stieg aus dem Becher und ein Duft nach frisch gerösteten Bohnen. Sie stellte Milch und Zucker dazu, ehe sie Felix ins kleine Büro folgte, das im hinteren Teil der Bäckerei und Konditorei lag.

»Was gibt’s denn so Dringendes?«

Wortlos ging er zum Schreibtisch und wühlte eine Weile zwischen Rechnungen, Werbeschreiben und Kinderzeichnungen, die von kleinen Patienten stammten. Es dauerte, bis er das fand, wonach er gesucht hatte. Schließlich hielt er Marianne das Blatt Papier hin.

»Was ist das?«, fragte sie und nahm es in die Hand. Beim genaueren Hinsehen wurde sie blass. »Aber … aber ich dachte …«, stammelte sie.

»Sieht so aus, als hättest du dich getäuscht.«

»Wie kann das nur sein?« Sie ließ das Papier sinken und sah Felix an.

Der zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht hattest du vor, sie zu bezahlen, und dann ist dir irgendwas dazwischen gekommen«, mutmaßte er.

Seufzend fuhr sie sich durch das Haar, das auch an diesem Morgen ihrem Bändigungsversuch widerstanden hatte.

»Und ich führ mich so auf vor Herrn Holzmann. O Gott, ist mir das peinlich.«

Beim Gedanken daran wurde Marianne rot.

»Shit happens, wie der Engländer sagt«, grinste Felix. »Gibt Schlimmeres!« Er deutete auf die Narbe an seiner Stirn, die ihm vom Flugzeugabsturz geblieben war, ihn in den Augen der Mädchen aber nur noch attraktiver machte.

Marianne schnitt eine Grimasse.

»Stimmt schon«, räumte sie ein. »Trotzdem ist es mir unangenehm.«

»Wenn du willst, gehe ich raus und lass mich fressen«, bot Felix an.

Doch sie schüttelte den Kopf.

»Kommt gar nicht in Frage. Die Suppe, die ich mir eingebrockt hab, löffle ich auch selbst aus.« Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, holte tief Luft und verließ das Büro. Felix sah ihr nach, bereit, ihr zu Hilfe zu eilen, wenn es doch nötig sein sollte.

*

Als Dr. Daniel Norden den Wagen an diesem Morgen vor der Praxis parkte, war nicht zu übersehen, dass etwas anders war als sonst. Bunte Luftballons verzierten den Gartenzaun, ein großes Transparent war über der Tür angebracht. Aber das war nicht der einzige Grund für sein Erstaunen.

»Nanu, Herr Klotz, was machen Sie denn schon hier?«, begrüßte er den Pharmareferenten, der einen Blumenstrauß wie eine Lanze in beiden Händen vor der Brust hielt. Nur mit Mühe konnte sich Daniel ein Lächeln verkneifen. »Haben wir heute einen Termin?«

»Nein, nein, Herr Doktor«, erwiderte Sebastian und trat von einem Bein auf das andere. Zur Feier des Tages hatte er das obligatorische Cordsakko gegen ein Exemplar in lindgrün getauscht. Wieder einmal dachte Daniel, dass eine Frau seiner Kleiderwahl nur gut tun konnte. »Diesmal bin ich wegen Frau Wendel hier. Sie kommt doch heute aus der Kur zurück«, erklärte Sebastian in seine Gedanken hinein.

»Sie sind ja gut informiert.«

»Das bin ich der Dame meines Herzens schuldig«, versicherte Sebastian und lehnte die Einladung, in der Praxis zu warten, ab. »Ich finde, ich mache mich ganz gut unter dem Willkommensbanner.«

Schmunzelnd ließ Dr. Norden ihm seinen Willen und betrat den Flur. Schon jetzt wusste er, dass sich Wendys Freude über das Empfangskomitee in Grenzen halten würde.

Sie hatte gehofft, den hartnäckigen Nachstellungen des Pharmareferenten durch ihre dreiwöchige Kur ein Ende zu bereiten. Dieser Plan war ganz offensichtlich gescheitert.

Doch das vergaß Daniel Norden schnell, als er unter dem Welcome-Back-Transparent den Flur betrat. Er stutzte.

»Finden Sie das nicht ein bisschen übertrieben?«, erkundigte er sich bei Janine, die offenbar schon seit Stunden mit Vorbereitungen beschäftigt war. »Luftballons vom Garten zum Haus, das Transparent … und jetzt auch noch Blüten auf dem Boden und überall Blumenvasen …« Er musterte die Sträußlein, die Janine großzügig verteilt hatte.

»Wendy soll sehen, wie sehr ich mich freue, dass ich endlich wieder weibliche Unterstützung habe!«, erklärte sie mit Unschuldsmiene. Sie ordnete ein paar Blüten in einer Vase und sah hinüber zu Danny, der eben mit dem Fuß die Tür aufstieß. In beiden Händen balancierte er eine Tortenhaube. Seine angespannte Miene ließ erahnen, wie kostbar der Inhalt war.

»War es denn so schlimm mit uns?« Beim Eintreten hatte er ihren letzten Satz aufgeschnappt.

Die Assistentin verdrehte die Augen.

»Es hat keinen Sinn, über Männer zu jammern. Als Frau habe ich gelernt, mit dem vorhandenen Material zurecht zu kommen«, konterte sie. »Trotzdem bin ich froh, dass mich Wendy wieder unterstützt.«

»Hört euch das an!« Gerade wollte Daniel Norden zu einem Gegenangriff ansetzen, als sich die Tür erneut öffnete und ein unbekannter Herr eintrat.

»Entschuldigen Sie die Störung.« Seine Augen wanderten über die üppige Dekoration. »Haben Sie heute geöffnet?«

»Selbstverständlich.« Sofort war Daniel die Professionalität in Person. »Die Sprechstunde fängt zwar erst in einer halben Stunde an, aber wenn Sie schon mal hier sind … Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe Schmerzen«, erklärte der Unbekannte reichlich vage.

Daniel zögerte kurz, machte dann aber eine einladende Handbewegung Richtung Tresen.

»Gut. Janine gibt Ihnen das Formular für die neuen Patienten, das Sie bitte ausfüllen wollen. Ich hol Sie gleich im Wartezimmer ab.« Er nickte ihm zu und verschwand im Sprechzimmer.

Danny tat es ihm kurz darauf nach.

Joseph Wild trat an den Tresen.

»Gibt es einen Grund zum Feiern?«, erkundigte er sich, während er das Formular ausfüllte.

»Meine Kollegin kommt heute nach ein paar Wochen zum ersten Mal wieder in die Praxis.« Die Freude stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich wollte ihr einen schönen Empfang machen.«

Joseph lächelte.

»Das wird Ihnen auf jeden Fall gelingen.« Er sah sich noch einmal um. »Jemand, der so begrüßt wird, muss einfach glücklich sein.«

»Glauben Sie?« Vor Freude wurden Janines Wangen rot. Sie beugte sich vor. »Der Senior findet nämlich, dass ich maßlos übertrieben hab«, raunte sie ihm zu.

»Ich kann ja nur für mich sprechen«, erwiderte Joseph. »Und mir gefällt es.« Er lächelte so herzlich, dass Janine warm ums Herz wurde. Was für ein freundlicher Patient!

»Das ist sehr nett von Ihnen.« Sie nahm das Klemmbrett mit dem Fragebogen wieder an sich und bat ihn, im Wartezimmer Platz zu nehmen.

Wie versprochen holte Dr. Norden Joseph Wild ein paar Minuten später ab.

»Was kann ich also für Sie tun?«, fragte er, nachdem er ihm einen Platz vor dem Schreibtisch angeboten hatte.

Joseph wiegte den Kopf.

»Wissen Sie, Herr Doktor, ich komm gerade von einer Kur, die mir gar nicht gut getan hat.«

Daniel musterte den älteren Herrn mit der runden Brille und den kurz geschorenen, grauen Haaren. In Jeans, offenem Hemd und Turnschuhen machte er einen recht munteren Eindruck.

»Das tut mir leid. Was genau fehlt Ihnen denn?«, erkundigte er sich.

Als hätte Wild nur auf diese Frage gewartet, griff er sich an die Brust.

»Es ist das Herz. In meinem Alter ist das gefährlich, hab ich mir sagen lassen.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch. Eine Falte erschien auf seiner Stirn.

»Allerdings. Waren Sie deshalb auf Kur?«

»Nein, nein!« Joseph winkte ab. »Ich hatte vor ein paar Monaten einen schweren Eingriff. Aber das ist jetzt alles wieder in Ordnung.«

Daniel Norden machte sich Notizen. Aus den Informationen des Patienten wurde er nicht recht schlau.

»Verstehe!« Das war eine glatte Lüge. »Hatten Sie diese Herzbeschwerden schon öfter?«

»Immer wieder mal«, gestand Joseph Wild. Täuschte sich Daniel, oder war sein Lächeln schelmisch? »Wie das so ist im Leben. Aber diesmal hat’s mich richtig erwischt.«

»Wie meinen Sie das?«

In diesem Moment konnte Joseph nicht länger an sich halten. Sein Gelächter ließ die Wände wackeln. Dr. Norden zuckte zusammen und wartete, bis sich sein Gegenüber wieder beruhigte.

»Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass Sie noch nie verliebt waren«, fragte Wild immer noch schmunzelnd.

Endlich ging Daniel Norden ein Licht auf. Normalerweise nicht für so makabre Späße zu haben, begnügte er sich mit einem pflichtschuldigen Lächeln.

»Daher weht also der Wind.« Er sah sein Gegenüber fragend an. »Sie haben sich also verliebt. Aber ich verstehe immer noch nicht, was ich in dieser Angelegenheit für Sie tun kann?«

»Ehrlich gesagt gar nichts«, gestand Joseph. »So wie Anne mir von ihrer Arbeit, ihrem Chef und ihren Kollegen vorgeschwärmt hat, musste ich Sie unbedingt kennenleren. Außerdem stimmt irgendwas mit ihrer Handynummer nicht. Da scheint ein Zahlendreher drin zu sein. Im Internet habe ich nur Ihre Adresse gefunden. Deshalb dachte ich, ich komme einfach mal her und sehe mich um.«

Daniel hatte aufmerksam zugehört und schüttelte schließlich den Kopf.

»Anne?«, wiederholte er. »Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Hier arbeitet keine Anne.«

Als hätte jemand das Licht ausgeknipst, erlosch das Strahlen auf Joseph Wilds Gesicht.

»Nicht?«

Wie ein Hohn klang in diesem Moment Jubel und ein großes Hallo durch die Praxis. Die Jubelrufe waren bis ins Sprechzimmer zu hören.

Daniel dachte kurz nach, wie er die Situation retten konnte. Im nächsten Augenblick gab er sich einen Ruck und stand auf.

»Kommen Sie! Wenn ich Sie schon enttäuschen muss, lade ich Sie wenigstens auf Kaffee und Torte ein.«

Zögernd kam Wild der Einladung nach.

»Gibt es was zu feiern?«

»Unsere allseits geschätzte Kollegin Wendy ist heute zum ersten Mal nach ihrer …« Daniel hielt inne und sah ihn an.

»Ja?«

Bevor Dr. Norden Gelegenheit zu einer Antwort hatte, klopfte es, und Wendy steckte den Kopf herein.

»Hallo, Chef, melde mich gehorsamst zum Dienst zurück«, erklärte sie mit einem Lachen in der Stimme. »Ich würde mich freuen, wenn Sie uns bei Kaffee und Torte Gese …« Mitten im Satz hielt sie inne und starrte den zweiten Mann im Zimmer an, den sie eben erst entdeckt hatte. »Joseph? Was machst du denn hier?«

*

Nicht nur Wendy, sondern auch Felicitas Norden erlebte an diesem Morgen eine Überraschung. Als sie in die Klinik kam, um ihren Dienst anzutreten, kam ihr ein junger Patient in Begleitung seines Vaters entgegen. Sie hatte Robin erst am Abend zuvor aufgenommen. In ein Streitgespräch vertieft, bemerkten die beiden sie nicht. Fee sah ihnen kurz nach und beschloss, auf direktem Weg zu ihrem Stellvertreter zu gehen, der die Nachtschicht gehabt hatte.

»Warum ist mir Robin Querndt gerade auf dem Flur entgegengekommen?«, fragte sie. Ihre Fäuste waren geballt. Solange ihr Verdacht nicht begründet war, wollte sie nicht ungerecht sein.

Mit lang ausgestreckten Beinen saß Volker Lammers am Schreibtisch. Zum Frühstück hatte er sich eine Butterbreze aus Tatjanas Kiosk besorgt.

»Ich wünsche Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen«, erinnerte er sie freundlich an ihre guten Manieren.

Fee stemmte die Hände in die Hüften.

»Das wird sich noch rausstellen. Also, was ist mit Querndt?«

Seufzend erhob sich Lammers und ging hinüber zum Sideboard, wo eine Kanne stand.

»Auch einen Kaffee?«, fragte er statt einer Antwort. Felicitas schüttelte den Kopf. Er schenkte sich in aller Seelenruhe ein, gab Milch und Zucker in die Tasse und rührte enervierend langsam um. Doch sie tat ihm nicht den Gefallen, ihre Ungeduld zu zeigen. Sie wartete, bis er sich mit der Tasse in der Hand zu ihr umdrehte.

»Also?«

»Ich hab den kleinen Baron von Münchhausen entlassen«, erwiderte er.

Damit hatte Fee gerechnet.

»Ohne ihn vorher gründlich durchgecheckt zu haben?«

Lammers grinste.

»Wer hat hier einen Stall voller Kinder? Sie oder ich?«, fragte er. »Nur zu Ihrer Info: Der Rotzlöffel schreibt heute eine Matheschulaufgabe. Ausgerechnet in diesem Fach ist er keine Leuchte. Deshalb macht er blau. Dass Sie das nicht durchschauen, wundert mich wirklich.«

Fee schnappte nach Luft.

»Eine Schulaufgabe ist für Sie Grund genug, ihn zu verdächtigen?«

Lammers kehrte an den Schreibtisch zurück. Er schob ein paar Unterlagen hin und her, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.

»Zu Ihrer Info: Er war nicht zum ersten Mal bei uns.« Er hob die umfangreiche Krankenakte hoch. »Atemnot, Migräne, unerklärliche Bauchkrämpfe. Allesamt Beschwerden, die man nicht nachweisen kann.«

»Na und?« Fee dachte nicht daran, klein beizugeben. »Und was, wenn ihm diesmal wirklich was fehlt?«

Lammers maß sie mit undurchdringlichem Blick. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Kein Wunder, dass Ihre Söhne solche Weicheier sind«, seufzte er dann. »Können einem leid tun. So unvorbereitet in die harte Welt geworfen zu werden …« Ein Zungenschnalzen begleitete sein Kopfschütteln. »Nur Ihre Tochter … diese Anneka … die hat ehrlich Biss. Wie sie neulich ihre beiden Verehrer vorm Kiosk abgekanzelt hat … Alle Achtung, das hatte Stil! Kann sie aber unmöglich von der Mutter haben«, fügte er im nächsten Atemzug hinzu.

Felicitas wollte eben zu einem Konter ansetzen, als ihre Tochter den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Was ist mit mir?«, fragte Anneka und lächelte freundlich in die Runde. »Einen wunderschönen guten Morgen übrigens.«

»Sogar bessere Manieren als die Mutter hat sie«, grinste Lammers und grüßte zurück.

Doch Fee beachtete ihn nicht.

»Anneka, was machst du denn hier?«

»Ich muss was für den Kindergarten besorgen. Da dachte ich, ich komm mal vorbei. Hast du einen Moment Zeit? Ich muss mit dir reden.«

»Hui, das klingt aber ernst.«

»Na ja.« Mit einem verlegenen Blick auf Lammers wackelte Anneka mit dem Kopf.

Fee verstand sofort. Sie drehte sich zu ihrem Stellvertreter um.

»Wir sprechen uns noch«, verkündete sie und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

»Das ist leider so sicher wie das Amen in der Kirche«, schickte Lammers ihr nach. »Außer Sie entschließen sich, sich endlich anständig um Ihre Kinder zu kümmern. Die armen Kleinen …« Er seufzte. »Müssen schon in die Klinik laufen, um die Mama überhaupt zu Gesicht zu bekommen.«

Doch Fee beachtete ihn nicht. Sie verdrehte die Augen und fasste ihre Tochter sanft am Ellbogen, bevor sie das Zimmer verließ.

»Meine Güte«, stöhnte Anneka auf dem Flur. »Der ist ja noch schlimmer, als ich dachte.«

»Und das eben war noch harmlos«, ergänzte Fee und legte den Arm um die Schultern ihrer ältesten Tochter. »Aber jeder Gedanke an ihn ist einer zuviel. Sag mir lieber, was ich für dich tun kann. In letzter Zeit sehen wir uns ja kaum noch.« Obwohl Felicitas sich dagegen wehrte und Volker sich darüber hinaus ständig widersprach, hinterließ seine Gehirnwäsche langsam Spuren. War sie wirklich so eine Rabenmutter?

»Sag bloß, dieser Typ hat dir ein schlechtes Gewissen gemacht?« Anneka erriet ihre Gedanken. »Mensch, Mum, lass dir doch von dem nichts einreden. Du bist die beste Mami der Welt«, versicherte sie energisch und nicht ganz uneigennützig. »Und was solltest du denn die ganze Zeit zu Hause tun? Wir sind längst erwachsen und gehen unserer eigenen Wege. Sogar Lenni flieht vor der Einsamkeit und arbeitet freiwillig im Klinikkiosk«, ergriff sie Partei für ihre Mutter. »Der ist doch nur neidisch, weil du so eine tolle Familie hast und er ganz allein dasteht.«

Fees Herz ging auf vor Erleichterung und Liebe.

»Das hast du schön gesagt. Du glaubst gar nicht, wie froh mich solche Worte machen.« Sie waren am Büro angelangt, und sie ließ ihrer Tochter den Vortritt.

»Wenn du willst, sage ich dir das jeden Tag. Solange ich in Neuseeland bin, leider nur per Telefon. Aber das macht ja nichts.« Der letzte Satz war Anneka so herausgerutscht. Mit erschrockenem Gesicht ließ sie sich auf das Sofa in der Besucherecke plumpsen und wagte es nicht, hochzusehen.

Fee legte den Kopf schief.

»Wann bist du denn in Neuseeland? Machst du Urlaub?«, hakte sie nach. »Davon weiß ich ja noch gar nichts?«

»Deshalb bin ich gekommen«, sagte Anneka und spielte mit dem Ring an ihrem Finger. »Ich habe ein Angebot von einem Kindergarten in Auckland. Da kann ich mein Berufsvorbereitungsjahr absolvieren.«

Fee, die zwei Gläser Wasser geholt hatte, ließ sich auf einen der beiden Sessel gegenüber der Couch fallen.

»Du willst nach Neuseeland? Ein ganzes Jahr?« Sie starrte Anneka mit offenem Mund an.

In der regte sich Widerstand.

»Ja und? Was ist daran so schlimm?«, fragte sie mit einem Anflug von Trotz.

»Nichts … Aber … so weit weg? Und dann gleich so lange?« Endlich erinnerte sich Felicitas wieder an die Gläser in ihren Händen und stellte sie auf den Tisch.

Dankbar für diese Unterbrechung nahm Anneka eines davon. Das Wasser war kühl und prickelte auf ihrer Zunge.

»Ich bin ja nicht aus der Welt, Mum«, erklärte sie dann. »Heutzutage hat man doch so viele Kommunikationsmöglichkeiten. Und ihr könntet mich ja auch mal besuchen«, redete sie auf ihre Mutter ein. »Dann machen wir eine Tour durch Neuseeland. Tatjana und Danny sind auch dabei.«

Fee fiel von einer Überraschung in die nächste.

»Die beiden wissen schon Bescheid?«

Diesmal war es Anneka, die ein schlechtes Gewissen bekam.

»Ich war gestern Abend bei ihnen und hab’s erzählt«, gestand sie leise.

Fee griff nach ihrem Wasser.

»Und? Was sagt Danny dazu?« Über den Rand des Glases sah sie ihre Tochter an.

»Er ist nicht begeistert«, musste Anneka zugeben.

»Wundert dich das?« Felicitas seufzte. »Nach allem, was wir in den vergangenen Monaten mit Felix durchgemacht haben … Erst der Flugzeugabsturz, dann die Chagas-Krankheit …«

»In Neuseeland gibt es keine Tropenkrankheiten«, fiel Anneka ihr ins Wort. »Und für den Absturz kann ich doch nichts. Soll ich jetzt mein Leben lang auf Abenteuer verzichten, nur weil meinem Bruder so was Blödes passiert ist? Für das er noch nicht mal was kann?« Selten sprach sie mit so lauter und energischer Stimme.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Fee. »Du sollst dein Leben führen, wie es dir gefällt. Trotzdem wird deinem Vater der Gedanke noch weniger gefallen als mir.«

»Schon möglich.« Anneka warf den Kopf in den Nacken. »Aber bist du denn wenigstens auf meiner Seite?«

Diese Frage brachte Fee in Bedrängnis.

»Natürlich bin ich das. Aber Dan verstehe ich auch«, seufzte sie aus tiefstem Herzen.

Anneka stellte ihr Glas auf den Tisch und erhob sich. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr Plan, zuerst ihre Mutter gewogen zu stimmen und dann mit Fees Hilfe Daniel zu überzeugen, war ganz offensichtlich gescheitert.

»Dann wirst du dich wohl entscheiden müssen«, erklärte sie und marschierte aus dem Büro, bevor Felicitas überhaupt wusste, wie ihr geschah.

*

Im Gegensatz zu Joseph Wild – er strahlte übers ganze Gesicht – schien Wendy nicht halb so erfreut darüber zu sein, ihn so unvermutet wiederzutreffen. Blitzschnell erfasste Dr. Daniel Norden die Situation und beschloss, die Notbremse zu ziehen.

»Wie schön, Sie wiederzusehen.« Er begrüßte seine langjährige Assistentin mit einer Umarmung. Dann wandte er sich an seinen Patienten. »Da Sie sich offenbar kennen, schlage ich vor, wir feiern alle gemeinsam Wendys Rückkehr.« Ohne eine Antwort abzuwarten, bugsierte er seine Assistentin nach draußen. Strahlend folgte Joseph den beiden vor an den Tresen, wo Janine schon mit Kaffee und Torte wartete. Den Pharmareferenten Sebastian Klotz hatte sie bereits versorgt und sah den anderen Gästen erwartungsvoll entgegen.

»Ein Glück, dass ich vorgesorgt und extra viel Kaffee gekocht habe«, lobte sie ihre vorausschauende Organisation. »Und die Torte ist ja groß genug für alle.« Sie reichte Wendy einen Teller, ehe sie sich auch um das Wohl der anderen kümmerte. »Und? Wie war’s auf der Kur?«, fragte sie nebenbei.

Ohne es zu ahnen, spielte sie Dr. Norden mit ihrer geschäftigen Betriebsamkeit in die Hände. Auch Wendy war ihr offensichtlich dankbar dafür.

»Es war wunderbar«, erwiderte sie. »Ich könnte mich glatt dran gewöhnen, den ganzen Tag verwöhnt zu werden.« Als sie Sebastian Klotz‘ Miene sah, wusste sie, dass dieser Satz ein Fehler gewesen war. Schnell fuhr sie fort. »Ich meine natürlich mit Mineralbädern, Massagen und Sport.«

»Klingt gut. Ich glaub, ich werde auch eine Kur beantragen«, beschloss Danny und schob eine große Gabel Torte in den Mund.

Wendy legte den Kopf schief.

»Die Diät habe ich noch nicht erwähnt, oder?«, fuhr sie schelmisch lächelnd fort. »Ich hab drei Wochen lang nur von Salat und Gemüse gelebt.«

Danny riss die Augen auf.

»Niemals. Dann verzichte ich auf Massagen, Bäder und Co.«

Lachend wandte sich Daniel an Wendy.

»Danke, Sie haben mir eben das Leben gerettet. Ohne den Junior könnte ich die Praxis bald zusperren.«

»Gern geschehen.« Wendy zwinkerte ihrem Seniorchef zu und trank einen Schluck Kaffee.

Die entstandene Stille nutzte Joseph Wild, um endlich zu Wort zu kommen.

»Was für eine großartige Überraschung, dich ausgerechnet hier wiederzusehen.«

Wendy zuckte zusammen. Über der launigen Unterhaltung hatte sie seine Anwesenheit fast vergessen.

»Was machst du eigentlich hier in der Praxis?«, stellte sie eine berechtigte Frage.

»Ich bin hier wegen meiner Herzprobleme.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Das Herz? Ist es was Schlimmes?«, entfuhr es ihr. Genau wie ihr Chef zuvor verstand sie erst zu spät, was Joseph wirklich damit meinte.

Er lachte so aufreizend, dass ihre Wangen flammend rot wurden.

»Jetzt nicht mehr«, räumte er ein und lächelte sie verliebt an. »Darf ich darauf hoffen, dass du etwas Zeit für einen Restaurantbesuch oder eine Stadtführung findest?« Er hatte kaum ausgesprochen, als ein lautes Schnauben zu hören war.

Die ganze Zeit hatte Sebastian Klotz still in einer Ecke gestanden und den Worten des Konkurrenten gelauscht. Angesichts dieses Vorstoßes konnte er nicht länger an sich halten.

»Was bilden Sie sich eigentlich ein?«, fuhr er Joseph Wild so schroff an, dass der zurückzuckte. »Platzen hier rein und verlangen so mir nichts, dir nichts eine Verabredung von Frau Wendel? Das könnte Ihnen so passen!«

Am liebsten hätte sich Wendy in Luft aufgelöst, als er allen Mut zusammen nahm und zwischen sie und Joseph trat.

»Bevor sie mit Ihnen ausgeht, ist sie mir eine Verabredung schuldig«, verlangte er. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten mit dem Fuß aufgestampft hätte wie ein kleines Kind. »Immerhin habe ich die ganze Zeit auf sie gewartet.«

Unwillkürlich hielten Daniel, Danny und Janine die Luft an.

Joseph musterte den Pharmareferenten von oben bis unten. Inzwischen hatte er sich von dem Schreck erholt. Sein Blick sprach Bände.

»Soso, haben Sie das?«, fragte er seelenruhig.

Sebastian holte Luft, um zu antworten, als Wendy entschieden dazwischen ging.

»Moment mal«, fauchte sie. »Ich glaube, ich kann immer noch selbst entscheiden, mit wem ich mich wann verabrede. Das gilt für Sie beide.« Ihr Blick funkelte vor Zorn, als sie zu ihrer Kurbekanntschaft herumfuhr. »Und du, Joseph, hast noch lange nicht das Recht, so mit meinem Bekannten zu sprechen.« Sie sah auf die Uhr. »Übrigens beginnt die Sprechstunde in ein paar Minuten. Deshalb ist die Feier an dieser Stelle beendet. Meine Herren.« Mit vielsagender Miene deutete sie auf die Tür. Während Sebastian Klotz nach einem Grund suchte, noch länger zu bleiben, lenkte Joseph sofort ein.

»Es tut mir aufrichtig leid, dich so in Bedrängnis gebracht zu haben. Bitte verzeih.« Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich von allen Anwesenden und zog sich zurück.

Als die Tür leise hinter ihm ins Schloss gefallen war, klatschte Sebastian in die Hände.

»Endlich sind wir diesen Westentaschencasanova los«, bemerkte er. »Das haben Sie gut gemacht, Annemarie.«

Wendy traute ihren Ohren kaum. Wutschnaubend drehte sie sich zu ihm um.

»Für Sie immer noch Frau Wendel!«, zischte sie. »Im Übrigen gilt meine Aufforderung auch für Sie.« Sie ging persönlich zur Tür und hielt sie auf. »Raus!«

Sebastian Klotz zögerte kurz. Dann straffte er die Schultern und folgte ihrer Anweisung.

»Sie haben recht. Höchste Zeit für meinen Termin in der städtischen Klinik.« Geschäftig ging er an ihr vorbei. »Wir sehen uns heute Abend. Ich hole Sie ab.« Dann war er verschwunden.

Kopfschüttelnd wandte sich Wendy an ihre Kollegen.

»Ich glaub, ich bin reif für eine Kur«, stöhnte sie und sank unter dem Gelächter ihrer Mitarbeiter auf ihren Schreibtischstuhl.

*

Wie jeden Vormittag machte Mario Cornelius auch an diesem Tag einen Abstecher in die Bäckerei seiner Verlobten Marianne. Doch anders als sonst begrüßte sie ihn nicht mit fröhlicher Miene und einem frechen Spruch auf den Lippen. Ganz im Gegenteil servierte sie ihm sichtlich deprimiert ein Stück Apfelkuchen zum Kaffee.

»Mein Auftritt vor Holzmann war dermaßen peinlich, das kannst du dir nicht vorstellen. Dabei war ich felsenfest davon überzeugt, die Rechnung bezahlt zu haben.« Sie blieb vor ihm stehen und schüttelte den Kopf. »So was passiert mir doch sonst nicht.« Nachdem sie den Teller vor ihm abgestellt hatte, zückte sie einen feuchten Lappen, um über die drei übrigen Tische zu wischen, die sie für Gäste in einer Ecke des kleinen Verkaufsraums aufgestellt hatte.

In erster Linie versorgte Marianne die Kurklinik mit Kuchen, Gebäck und Torten. Nebenbei frönte sie ihrer großen Leidenschaft, der Tortenkunst. Nach Kundenwunsch zauberte sie fantasievolle Motivtorten in allen erdenklichen Farben und Formen. Vom Prinzessinnenschloss bis zu originalgetreuen Porträts der Beschenkten war nichts unmöglich. Doch selbst für ihre aktuelle Bestellung – eine Tennisschläger-Torte für einen jungen Patienten – hatte sie im Augenblick keinen Sinn. »Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.«

Mario steckte eine Gabel voll Apfelkuchen in den Mund. Genüsslich schloss er die Augen.

»Wenn ich fett werde, bist nur du dran schuld.« Er seufzte, ein Lächeln auf dem Gesicht. »Und was deine Vergesslichkeit momentan angeht: Ich denke schon, dass du weißt, woran’s liegt.«

Marianne trocknete den letzten Tisch, ehe sie zu ihrem Verlobten zurückkehrte.

»Du hast recht«, gab sie zögernd zu. »Stell dir vor: Mama hat heute früh kurzerhand ihre Haushälterin samt Ehemann rausgeworfen.«

Mario zog eine Augenbraue hoch.

»Warum das denn?«

»Sie hat sie im Verdacht, einen Seidenschal gestohlen zu haben, den Papa ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Dabei bin ich ganz sicher, dass er in irgendeiner Schublade steckt.« Gedankenverloren sah sie durch Mario durch. »Am liebsten würde ich sofort hinfahren und nachsehen.«

»Und warum tust du es nicht?«

»Aber ich kann doch hier unmöglich …«

»Marie!« Marios Stimme war zärtlich, als er den Arm um die Hüfte seiner Verlobten legte und sie auf seinen Schoß zog. »Für mich bist du unersetzlich.« Er küsste sie sanft auf die Wange. »Aber die Bäckerei bricht nicht gleich zusammen, wenn du mal ein paar Stunden nicht hier bist.«

»Ich weiß.« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Dummerweise geht es nicht nur um ein paar Stunden. Wenn Mama ganz allein ist, braucht sie jemanden, der öfter nach ihr sieht.«

Mario griff nach einer von Mariannes krausen Haarsträhnen und spielte gedankenverloren damit.

»Wir haben doch Felix. Der kann Büro und Verkauf übernehmen, wenn du nicht hier bist. Und für die Backstube organisiere ich dir eine Aushilfe aus der Bäckerei in der Stadt.« Er lächelte sie an. »Na, wie klingt das?«

Marianne lächelte zurück.

»Schon viel besser«, seufzte sie und lehnte sich an ihn. »Was täte ich nur ohne dich?«

»Zumindest müsstest du weniger backen.« Grinsend rieb sich Mario den leicht gewölbten Bauch. »Hast du noch ein Stück von diesem unglaublichen Kuchen? Ich brauch dringend noch mehr Nervennahrung, bevor ich mich wieder mit den Quälgeistern rumschlage.«

»So schlimm zur Zeit?« Marianne rutschte von seinem Schoß und erfüllte den Wunsch nach einem zweiten Stück Apfelkuchen.

»Zumindest so schlimm, dass ich jedes Mal staune, wie frech manche kranken Kinder sein können. Nicht auszudenken, wie die sich erst benehmen, wenn sie gesund sind.« Mario dachte kurz darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber solange du mich so gut versorgst, halte ich durch. Versprochen.«

Marianne stellte den Teller vor ihn hin und beugte sich über ihn, um ihn zu küssen. Ihr krauses Haar fiel über beide Gesichter.

»Keine Angst! An meiner Seite kann ein Mann vielleicht verrückt werden.« Sichtlich getröstet, zwinkerte sie ihm zu. »Aber verhungern muss er mit Sicherheit nicht.«

*

Dr. Daniel Norden hatte die ersten Patienten behandelt, als ihn ein Notruf aus dem Gymnasium ereilte, der ihn sehr wunderte.

»Robin Querndt? Aber den hab ich doch gestern Abend mit Verdacht auf Appendizitis in die Behnisch-Klinik geschickt«, erwiderte er, nachdem die Lehrerin ihm den Vorfall kurz geschildert hatte. »Die Anzeichen waren eindeutig. Holen Sie einen Krankenwagen. Ich rufe in der Klinik an und sage Bescheid, dass er nicht wieder entlassen wird.« Seine Miene sprach Bände, als er das Telefonat beendete, um gleich im Anschluss die Nummer seiner Frau in der Klinik zu wählen.

»Lammers«, meldete sich eine unerwartete Stimme.

»Hier spricht Norden«, antwortete er kurz angebunden. »Ich möchte meine Frau sprechen.«

»Sie hat ihr Telefon offenbar umgestellt. Wahrscheinlich ist sie im OP«, erwiderte Volker. »Kann ich Ihnen helfen?«

Daniel überlegte nicht lange.

»Es geht um einen Patienten, Robin Querndt. Ich hab den Jungen gestern Abend mit Verdacht auf Appendizitis in die Klinik geschickt. Heute ist er mit massiven Beschwerden in der Schule zusammengebrochen. Wer hat seine Entlassung zu verantworten?«

»Das war ich«, gestand Lammers ohne Zögern. »Der Lügenbaron schreibt heute eine Mathe-Schulaufgabe, der er mit dieser Ausrede entgehen wollte. Ich war es, der ihn durchschaut und ihm die Suppe gründlich versalzen hat.«

»Ach ja?« Einmal mehr verstand Dr. Norden seine Frau. »Seltsam, dass er hoch fiebert und sich pausenlos erbricht. Ich habe die Lehrerin angewiesen, ihn sofort in die Klinik zu schicken. Und wehe, Sie weisen ihn ein zweites Mal ab …«

»Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich!« Lammers schnalzte mit der Zunge. Niemand durfte so mit ihm sprechen. Schon gar nicht der Ehemann seiner ungeliebten Chefin. Augenblicklich sann er auf Rache. »Wenn Sie sich daheim auch so aufführen, ist es kein Wunder, dass Ihre Frau Überstunden macht und Ihre Kinder in Scharen aus dem Haus rennen«, erklärte er bedeutungsschwer.

Wie beabsichtigt, war Daniel irritiert.

»Wie meinen Sie das?«

Lammers lachte. Er wusste, dass er ihn an der Angel hatte.

»Schon okay. Sie müssen sich nicht vor mir zieren. Es hat sich längst rumgesprochen, dass Ihre Anneka demnächst für ein Jahr nach Neuseeland geht. Klug von der Kleinen. Ist ja eh die meiste Zeit allein daheim.« Nie im Leben hätte er verraten, dass er das Gespräch zwischen Mutter und Tochter belauscht hatte.

Die Worte fühlten sich an, als hätte Daniel aus den Nichts heraus eine Faust in den Magen bekommen.

»Anneka ist kaum zu Hause, weil sie arbeiten geht«, erinnerte er Lammers. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er sich jede Einmischung verbat. Gleichzeitig haderte er mit sich. Sollte er zu erkennen geben, dass ihm diese Pläne neu waren?

»Hab ich Ihnen schon erzählt, dass ich mal ein paar Monate dort gearbeitet hab?«, fuhr Volker launig fort. »Das war eine großartige Erfahrung. Ich finde, es schadet nicht, wenn man mal über den Tellerrand schaut. In Bezug auf Menschenkenntnis, Toleranz und Reife hat mich dieses Erlebnis ein ganzes Stück weitergebracht.«

»Sie hätten noch eine Weile bleiben sollen«, entfuhr es Daniel.

Lammers horchte auf.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Na, Menschenkenntnis, Toleranz, Reife … diese Eigenschaften sind bei Ihnen ja durchaus noch ausbaufähig.«

Dr. Lammers lachte. Es klang wenig belustigt.

»Schon gut, lassen Sie Ihre Enttäuschung ruhig an mir aus. Ich wär auch sauer, wenn meine Tochter mir so wichtige Entscheidungen nicht persönlich mitteilte. Andererseits sind Sie und Ihre Frau an diesem Verhalten selbst schuld. Wer sich so wenig um seine Brut kümmert, muss sich nicht wundern.«

Inzwischen hatte sich Daniel Norden nicht nur von seinem Schrecken erholt. Er zweifelte auch daran, dass Anneka tatsächlich nach Neuseeland gehen wollte. Die Falten auf seinem Gesicht glätteten sich.

»Vielen Dank für Ihre Einschätzung. Im Übrigen hätte es Ihren Fähigkeiten mit Sicherheit gut getan, den Rest Ihres Lebens im Ausland zu verbringen«, erwiderte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Aber zum Glück sind Ihre chirurgischen Qualitäten davon ja nicht betroffen. Übrigens müsste Robin Querndt jeden Moment bei Ihnen eintreffen. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sich diesmal adäquat um ihn kümmern würden.« Ohne Volker Lammers noch einmal zu Wort kommen zu lassen, beendete er das Telefonat. Gleich im Anschluss versuchte er, zuerst seine Frau und dann Anneka auf dem Handy zu erreichen. Doch beide Male ging nur der Anrufbeantworter dran, und so musste er sich wohl oder übel bis später gedulden.

*

Anneka wollte gerade die Tür des Cafés ›Schöne Aussichten‹ öffnen, als ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Mit einem »Pfft!« Steckte sie es wieder ein und betrat die Bäckerei mit dem angeschlossenen Café.

Tatjana stand hinter dem Tresen und wischte mit einem feuchten Lappen über die Theke. Der erste Ansturm war vorbei, und es war noch etwas Zeit, bis die Mittagsgäste über ihre Köstlichkeiten herfallen würden. Als die Schwester ihres Freundes eintrat, hob sie noch nicht einmal den Kopf.

»Willst du nicht rangehen, Anneka?«, fragte sie und wandte sich ab, um die Kaffeemaschine einzuschalten.

Die Arzttochter stutzte, ehe sie an den Tresen trat.

»Das ist Dad. Auf den habe ich gerade keine Lust«, murrte sie und machte keinen Hehl aus ihrer schlechten Laune. »Und woher weißt du eigentlich, dass ich es bin? Manchmal glaube ich, dass du in Wirklichkeit ganz gut sehen kannst.«

Statt sich über diesen Verdacht zu ärgern, lachte Tatjana auf.

»Du musst mit Danny verwandt sein. Der denkt das auch immer mal wieder.« Die Kaffeemaschine zischte und brodelte. »Aber ich sage euch was: Aus euch spricht nur der Neid, dass ihr nicht halb so sensibel seid wie ich.«

Die Doppeldeutigkeit dieser Botschaft blieb Anneka nicht verborgen.

»Wahrscheinlich hast du sogar recht«, murmelte sie. »Tut mir leid.«

»Alles gut.« Tatjana stellte ein großes Glas Latte Macchiato auf den Tresen. »Geh schon mal rüber. Ich komme gleich zu dir.« Mit einem Nicken des streichholzkurzen Blondschopfs deutete sie hinüber ins kleine Café.

Anneka stellte keine Fragen mehr und suchte sich einen kleinen Tisch in der Ecke. Während sie wartete, bewunderte sie wieder einmal die fantasievolle Einrichtung des Cafés, die bei der silbernen Metalldecke mit gehämmerten Ornamenten begann, sich über bunt zusammengewürfelte Tische und Stühle bis hin zur ständig wechselnden Dekoration erstreckte. An den Wänden hingen Bilder junger, noch unbekannter Künstler, in jeder Ecke standen Skulpturen. Egal, wie oft man das Café auch besuchte: Wo man hinsah, gab es Neues zu entdecken und zu kaufen. Das war neben den Köstlichkeiten aus Tatjanas Backstube ein weiterer Grund für die Beliebtheit des kleinen Cafés.

Die Ablenkung kam Anneka gerade recht, und sie war völlig versunken in ihre Betrachtungen, als Tatjana ein Tablett auf den Tisch stellte.

»Raus mit der Sprache!« Sie ließ sich auf das kleine Sofa gegenüber fallen. »Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«

Diese Frage konnte Anneka nicht sofort beantworten.

»Woher weiß du eigentlich immer, was deine Gäste gerade brauchen?« Mit großen Augen bestaunte sie den riesigen Windbeutel, aus dem die watteweißen Sahnefüllung, vermischt mit dunkelroter Kirschsauce, hervorquoll.

»Das ist mein Job.« Tatjana zwinkerte Anneka zu. »Aber ich verrate dir ein Geheimnis: Bisher kenne ich niemanden, der meinem Windbeutel widerstehen konnte.«

»Wundert mich nicht.« Anneka leckte einen Klecks Sahne vom Finger, den sie vom Teller stibitzt hatte. Ihre Miene war schon nicht mehr so düster wie noch am Anfang. Genau wie ihr Tonfall.

Tatjanas Gesicht strahlte Zufriedenheit aus.

»Schön! Jetzt, da wir das geklärt haben, können wir uns dem Grund für deine schlechte Laune zuwenden. Lass mich raten: Du hast mit deinen Eltern über deine Pläne gesprochen.«

Inzwischen hatte Anneka es aufgegeben, sich zu wundern.

»Stimmt auffallend. Ich war bei Mum. Wie Danny schon vermutet hat: Das hätte ich mir echt sparen können.« Sie schob ein Stück Windbeutel in den Mund und kämpfte mit der üppigen Sahnefüllung.

»Was hat sie denn gesagt?«

»Kamf fu fir ja fenken«, nuschelte sie und trank einen Schluck Milchkaffee. Im Anschluss zählte sie die Argumente ihrer Mutter auf. »Sie ist auf Dads Seite. Manchmal finde ich die Loyalität glücklicher Paare richtig ätzend.«

Lächelnd legte Tatjana den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.

»Du unterschätzt unser Geschlecht«, machte sie ihre schwesterliche Freundin auf die Tatsachen aufmerksam. »Natürlich ist deine Mutter loyal. Aber sie hat auch ihren eigenen Kopf und ist imstande, ihre Vorstellungen durchzusetzen.« Sie musterte Anneka mit durchdringendem Blick. »Du solltest ein bisschen Geduld haben. Fee wird deinen Dad überzeugen! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Annekas Augen waren schmal geworden.

»Woher weißt du das?«

»Wollen wir wetten?« Glucksend hielt Tatjana ihr die rechte Hand hin.

»Um was?«

»Um einen Besuch im besten Café von Auckland.«

»Einverstanden!« Lachend schlug Anneka ein, und während sie den Rest des Windbeutels aufaß, wunderte sie sich, wohin ihre schlechte Laune so schnell verschwunden war.

*

Gegen Mittag parkte Marianne Hasselt den Wagen vor dem Haus, das ihre Mutter bewohnte, seit sie denken konnte. Ein Teppich aus Efeu bedeckte die Mauern. Von den Fensterläden blätterte die Farbe ab. Die zahllosen Sprossenfenster blickten schläfrig auf die ruhige Nebenstraße. Eine Weile blieb Marianne im Wagen sitzen und betrachtete ihr früheres Zuhause.

Wie immer hatte die Fahrt hierher eine Stunde gedauert. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Marianne sie zwei Mal pro Woche auf sich genommen, um nach dem Rechten zu sehen und ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten. Trotzdem klopfte ihr Herz vor Aufregung und Sorge. Statt dass Emilie den Verlust langsam verarbeitete und sich an ihr neues Leben gewöhnte, schien alles immer nur noch schlimmer zu werden. Doch es nützte alles nichts. Marianne gab sich einen Ruck und stieg aus. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Als sie auf den runden Klingelknopf drückte, spitzte sie die Ohren. Es dauerte einen Moment, bis die Holzstufen innen knarrten und ächzten. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet. Sie quietschte in den Angeln. Dieses Geräusch passte zu der Gestalt, die dahinter erschien. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Gespenst denn mit einem menschlichen Wesen.

Als Marianne ihre Mutter in der fleckigen Kittelschürze und mit den wirren Haaren sah, musste sie einen Schrei unterdrücken. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

»Hallo, Mama! Wie geht’s dir?«

Kein Zeichen der Freude, nicht die leiseste Überraschung über den unerwarteten Besuch zeichnete sich auf Emilies Gesicht ab.

»Wie soll’s mir schon gehen?«, fragte sie schulterzuckend und wandte sich ab.

Marianne zögerte kurz. Dann folgte sie ihr.

»Du bist ja gar nicht richtig angezogen.« Als Werner noch lebte, hatte ihre Mutter stets auf ihr Äußeres geachtet. Hosenanzüge und schicke Kostüme waren an der Tagesordnung gewesen. Selbst nach seinem Tod hatte sie die alte Angewohnheit noch eine Weile aufrecht erhalten. Die Veränderung war schleichend vor sich gegangen, wie Marianne in diesem Augenblick feststellte. Wie hatte sie dieses Alarmsignal nur übersehen können?

Emilie blieb stehen und sah an sich hinab.

»Was stimmt nicht mit meiner Kleidung?«, fragte sie. »Wenn es dir nicht passt, musst du wieder gehen.«

»Nein, nein, alles gut. Ich hab mich nur gewundert. Natürlich kannst du tun, was du willst.«

Inzwischen waren sie in der Küche angelangt. Nichts hatte sich seit Mariannes letztem Besuch verändert. Die Zeile mit Hochschränken, Spüle und Herd auf der einen Seite, gegenüber das alte Büffet. An der Wand vor dem Fenster der Tisch mit den beiden Stühlen. Einer davon war jetzt meistens leer. Sein Anblick schnitt Marianne tief ins Herz. Aber sie ließ sich nichts anmerken.

»Hast du keine Arbeit heute oder warum bist du heute hier?«, fragte Emilie wenig freundlich in die stummen Betrachtungen ihrer Tochter hinein. »Dein letzter Besuch ist erst acht Tage her.«

»Oh … Ich … ich dachte, ich schau mal vorbei, ob ich dir zur Hand gehen kann. Jetzt, nachdem Nadja und ihr Mann weg sind.«

Emilie machte sich am Wasserkocher zu schaffen.

»Wenn ich Hilfe brauch, hol ich mir jemanden«, erwiderte sie und schaltete das Gerät ein. »Auch einen Tee?«

Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman

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