Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 7

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»Nanu, bist du der neue Frühstücksdirektor?«, begrüßte Felicitas Norden ihren Mann, als sie an diesem Sonntagmorgen in die Küche kam, wo Daniel mit Wasserkocher und Frenchpress hantierte.

»Lenni sitzt am Laptop. Sie hat keine Zeit.« Daniel küsste Fee beiläufig, ehe er sich wieder dem Kaffee zuwandte. »Wie viele Löffel Kaffeepulver sind jetzt schon drin?«

Sie musterte die Glaskanne mit Kennerblick.

»Ungefähr drei.« Mit Kennerblick bemerkte Fee auch den Brotkorb, der auf der neben einem gut bestückten Tablett auf der Theke stand. Sie fischte das Randstück heraus und biss hinein. »Was macht Lenni denn am Computer?«

»Sie will das Zeitschriftensortiment ausbauen.« Lennis Lebensgefährte Oskar kam herein und griff nach dem Tablett. »Ich weiß wirklich nicht, ob das unbedingt sein muss.«

Fee folgte ihm ins Esszimmer, um ihm beim Tischdecken zu helfen.

»Die Konkurrenz schläft nicht. Tatjana will mehr Kunden in den Laden locken. Das geht nur, wenn wir ein breit gefächertes attraktives Sortiment haben«, rief Lenni aus dem Wohnzimmer, wo sie es sich auf der Couch bequem gemacht hatte.

»Also, ich bewundere Ihr Engagement. In Ihnen steckt eine talentierte Geschäftsfrau«, lobte Fee die langjährige Haushälterin.

»Breit gefächertes, attraktives Sortiment«, schimpfte Oskar vor sich hin, während er Marmelade, Käseteller und Butter auf den Tisch stellte. »Ehrlich gesagt würde ich mich lieber mit dir über das Theaterprogramm der kommenden Woche unterhalten. Oder wohin wir als nächstes in den Urlaub fahren.«

»Das ganze Jahr über Ferien … Das ist doch langweilig. Abwechslung heißt das Zauberwort«, erwiderte Lenni, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

»Ich möchte aber gern was mit dir zusammen machen.« Offenbar hatte Oskar beschlossen, dieses eine Mal zu gewinnen.

»Das tust du ja. Wir fahren gleich gemeinsam zum Kiosk. Ich hab Tatjana versprochen, dass wir beide heute den Dienst übernehmen. Die Kleine braucht mal einen Tag frei.«

Oskar dachte, sich verhört zu haben.

»So hab ich mir meinen wohlverdienten Ruhestand aber nicht vorgestellt.«

Lenni klappte den Laptop zu und gesellte sich zu ihrer Familie ins Esszimmer.

»Tja, das kommt davon, wenn man sich eine jüngere Frau als Partnerin aussucht.« Ihr kritischer Blick wanderte über den Tisch. »In der Zuckerdose ist kein Löffel. Ach, wenn man nicht alles selbst macht …« Kopfschüttelnd ging sie in die Küche, um das fehlende Stück zu holen.

Daniel kam ihr mit einer Pfanne Rühreier entgegen.

»Ich kann Fee nur recht geben. Dass Sie und Oskar sich eine Aufgabe gesucht haben, ist gut für Körper, Geist und Seele.«

»Damit hab ich nichts zu tun! Ich bin ja noch nicht mal gefragt worden.«

»Ach, Oskar.«

Tröstend legte Fee die Hand auf seine Schulter und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf den Stuhl.

»Sie haben die wichtigste Aufgabe. Nicht umsonst heißt es: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht ein starker Mann.«

Seiner Miene war anzusehen, dass sie genau die richtigen Worte gefunden hatte.

»Sagt man das?«, hakte er sichtlich besänftigt nach.

»Ich bin das beste Beispiel«, bemerkte Fee mit einem liebevollen Blick auf ihren Mann.

Inzwischen war Tochter Anneka im Esszimmer aufgetaucht. Noch im Schlafanzug setzte sie sich an den Tisch.

»Wär schön, wenn ich auch einen starken Mann hätte«, murrte sie und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein. »Noch jemand?« Sie hielt die Karaffe hoch.

»Nein, danke.« Daniel schüttelte den Kopf. »Aber du hast doch Noah.«

Sie griff nach einem Brötchen. Gleichzeitig verdrehte sie die Augen.

»Noah hat so viel Rückgrat wie ein Gummibärchen. Er macht lieber einen Spieleabend mit Freunden oder schaut stundenlang Serien im Fernsehen, als irgendwas Spannendes mit mir zu unternehmen. Wenn er denn überhaupt mal Zeit hat. Unseren Jahrestag morgen werden wir wahrscheinlich bei seinen Freunden auf dem Sofa verbringen.«

»Klingt nach richtig harmonischer Beziehung«, spottete ihr jüngerer Bruder Janni, der sich vor ein paar Minuten zu ihnen gesellt hatte.

Fee schickte ihm einen scharfen Blick.

»Noah hat einen anstrengenden Job und in seiner Freizeit wahrscheinlich keinen Bedarf mehr an Abenteuern«, nahm sie den Rettungsassistenten in Schutz und griff nach der Zeitung, die jemand auf den Tisch gelegt hatte. »Bestimmt musst du ihm nur den richtigen Vorschlag machen«, wandte sie sich an Anneka. »Wie wär’s mit einem Kinobesuch? Oder einem Konzert?«

Sie schlug die Zeitung auf und suchte die Seite mit den Veranstaltungshinweisen. »In München ist immer so viel geboten. Da findet sich sicher …« Mitten im Satz hielt sie inne. Mit einem Schlag war alle Freude aus ihrem Gesicht gewichen.

Daniel musterte sie irritiert.

»Stimmt was nicht?«

»Ilona … meine Studienkollegin Ilona Körber … Das kann doch nicht sein«, stammelte sie. »Wir haben letzte Woche noch telefoniert. Sie war Radiologin an der städtischen Klinik und brauchte Rat wegen eines schwierigen Falls.«

Unverwandt starrte sie auf die Todesanzeige. Tränen verschleierten ihren Blick. »Wir haben ausgemacht, uns endlich mal wieder zu treffen. Und jetzt ist sie tot.«

Tröstend legte Daniel die Hand auf den Arm seiner Frau. Er erinnerte sich nicht an diesen Namen.

»Ach, Feelein … Es tut mir leid. Kannte ich sie?«

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, um das Kleingedruckte der Anzeige lesen zu können.

»Ich glaube nicht. Sie war ein paar Jahre jünger als ich. Ihr Freund studierte in meinem Semester. Deshalb haben wir uns eine Zeitlang öfter gesehen und auch die eine oder andere Party miteinander gefeiert.« Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Bei dieser Gelegenheit fiel ihr auch Ilonas Bruder wieder ein. Damals hatte Eugen heftig mit ihr geflirtet.

Was wohl aus dem gutaussehenden Casanova geworden war?

Sofort schämte sie sich dieser Frage und konzentrierte sich auf den Anzeigentext. »Die Trauerfeier ist schon morgen Vormittag.«

Daniel kratzte den Rest Rührei auf dem Teller zusammen und schob ihn mit einem Stück Brot in den Mund. Er trank einen Schluck Kaffee hinterher.

»Schade. Da kann ich nicht mitkommen«, bedauerte er dann. »Ich hab einen wichtigen Termin an der Uni, den ich unmöglich absagen kann.«

»Kein Problem.« Fee winkte ab. »Es macht mir nichts aus, allein zu gehen.«

Daniel schickte ihr einen prüfenden Blick.

»Wenn du meinst …«

Sie faltete die Zeitung zusammen, legte sie beiseite und streichelte sein Gesicht mit einem Lächeln.

Ihren ursprünglichen Gedanken, nach einer Veranstaltung für Anneka und Noah zu sehen, hatte sie längst vergessen.

»Ja, das meine ich.«

*

Das Frühstück im Hause Norden war längst vorbei, als Tatjana Bohde gemeinsam mit ihrem Freund Danny am Tisch saß und das süße Nichtstun genoss.

»Ich lebe gesund!«, erklärte sie zufrieden und streckte sich wie eine Katze.

Ihr Freund Danny Norden saß ihr gegenüber. Sein fragender Blick ruhte auf dem Tisch.

»Wie kommst du drauf?« Die Frage war berechtigt. Beim besten Willen konnte er nichts Gesundes entdecken.

»Na, ich hab Nüsse gegessen. Reich an ungesättigten Fettsäuren, Eiweiß, Vitamin E …«

Endlich verstand Danny. Grinsend griff er nach dem Glas mit dunkelbrauner Füllung.

»Du meinst wohl Haselnuss-Schoko-Creme.«

»Sag ich doch: Nüsse!«

»Aber …« Er wollte zu einem Vortrag über die Auswüchse moderner Ernährung ausholen, als sie ihn mit einer ungeduldigen Geste unterbrach.

»Jetzt hol nicht schon wieder den Oberlehrer raus.« Demonstrativ steckte sie den Zeigefinger ins Glas, um ihn gleich darauf genüsslich abzulecken. »Manchmal bist du echt eine Spaßbremse.«

»Bin ich das?« Er seufzte theatralisch. »Schade! Dann hast du sicher keine Lust, heute Nachmittag mit der Spaßbremse an einer Anti-Osteoporose-Kur in der Eisdiele teilzunehmen.«

Tatjanas Augen leuchteten auf. Ehe sie aber Gelegenheit zu einer Antwort hatte, klingelte es an der Tür.

»Wer erlaubt es sich, unseren Feiertagsfrieden zu stören?«, fragte sie argwöhnisch, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Das kann eh nur für dich sein. Wahrscheinlich eine Patientin, die vor lauter Sehnsucht nach dir unter Schlaflosigkeit leidet.«

Danny schob den Stuhl zurück und stand auf.

»Wenn hier einer Grund zur Beschwerde hat, dann bin ich das«, reklamierte er. »Ich muss mich gegen so hartnäckige Konkurrenten wie Zuckerguss und Kuvertüre behaupten. Das ist nicht leicht, sag ich dir.« Er zwinkerte seiner Freundin zu, ehe er sich auf den Weg zur Tür machte. Als er sie öffnete, staunte er nicht schlecht. »Anneka! Das ist ja eine Überraschung. Hattest du etwa Sehnsucht nach mir?« Er trat einen Schritt zur Seite, um seine älteste Schwester einzulassen.

Lachend nahm sie das Angebot an.

»Nicht wirklich. Eigentlich wollte ich zu Tatjana. Ich brauche ihren weiblichen Rat.« Sie legte den Kopf schief und sah ihren Bruder an. »Wenn ich störe, komm ich wann anders wieder.«

»Nein, bleib nur. Wir sind gerade mit dem Frühstück fertig. Ich hab schon die ganze Zeit drüber nachgedacht, wie ich Jana beibringen soll, dass ich meinen Kumpels versprochen hab, Formel Eins anzuschauen.« Er beugte sich zu Anneka hinunter. »Ich hab ihr sogar schon einen Besuch in der Eisdiele vorgeschlagen. Als Wiedergutmachung, wenn ich wieder zurück bin«, raunte er ihr zu.

Statt Anerkennung erntete er nur ein spöttisches Grinsen.

»Männer! Ihr seid doch alle gleich.« Kopfschüttelnd ließ sie ihn stehen und ging voraus in den großzügigen Wohn-Ess-Bereich.

Die Begrüßung war herzlich. Als Danny seine Freundin vor ein paar Jahren vorgestellt hatte, hatte die sehbehinderte, aber taffe Tatjana die Herzen der Nordens im Sturm erobert. Und auch wenn sich das junge Paar hin und wieder zankte und kabbelte, änderte das nichts an der Verbundenheit zur übrigen Familie.

»Wie schön, dass du uns besuchen kommst. Ich kann weibliche Unterstützung brauchen.« Tatjana klopfte auf den freien Platz neben sich. »Setz dich! Ein bisschen Eiweiß und Mineralstoffe gefällig?« Sie deutete auf das Glas mit der Haselnusscreme.

Anneka lachte.

»Nein, danke, ich hatte schon Vitamine in Form von Marmelade.« Einen Kaffee nahm sie aber gern. Sie nippte an der Tasse, ehe sie auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen kam. »Ich brauch deinen Rat.«

Auf diese Gelegenheit hatte Danny nur gewartet.

»Dann stört es euch ja sicher nicht, wenn ich mal für ein, zwei Stündchen verschwinde, oder? Muss was erledigen.«

Tatjana musterte ihn aus schmalen Augen.

»Wo schaut ihr denn Formel Eins?«

Schlagartig wurde Danny rot.

»Woher weißt du das?«

»Erstens bist du ein Mann, und zweitens bin ich nicht blöd. Ich war echt schon gespannt, wie du mir deinen Plan verkaufst.« Ehe Danny etwas zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, wedelte sie mit der Hand hin und her, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. »Los, raus mit dir! Die Osteoporose-Behandlung will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.«

»Du bist ein Schatz!« Er warf ihr eine Kusshand zu.

»Wiedersehen!« Damit wandte sich Tatjana ab und konzentrierte sich auf Anneka. »Ist deiner genauso?«

Auf die Antwort konnte Danny getrost verzichten. Er griff nach seiner Jacke und machte, dass er davonkam. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, verdrehte Anneka die Augen.

»Ach, Noah!« Ihr Seufzen kam aus tiefstem Herzen. »Du hast ja bestimmt mitbekommen, dass es bei uns in letzter Zeit nicht so gut läuft.«

»Keine Sorge. Das ist normal in einer längeren Beziehung.« Tatjana schenkte sich Kaffee nach. Sie gab Milch und Zucker dazu und rührte um. »Ihr solltet mal was Aufregendes gemeinsam machen. Eine Rafting-Fahrt mit dem Schlauchboot. Oder geht in den Klettergarten, zum Bouldern. Irgendwas nicht so Alltägliches. Das schweißt zusammen und gibt einen neuen Kick.«

»Wem sagst du das?« Deprimiert starrte Anneka in ihre Kaffeetasse. »Aber wenn ich so einen Vorschlag mache, verdreht er nur die Augen und sagt, dass er schon genug Aufregung in seinem Leben hat. Spieleabende mit Freunden, Serien schauen, auch mal Formel Eins wie Danny, das scheint inzwischen sein Lebensinhalt zu sein«, schüttete sie Tatjana ihr übervolles Herz aus. »Aber morgen haben wir Jahrestag.« Sie holte tief Luft und sah die schwesterliche Freundin an. »Ich will ihn überraschen und hab einen Tisch bei unserem Lieblingsitaliener reserviert.«

»Nicht sehr aufregend, aber immerhin ein Anfang.« Tatjana machte keinen Hehl aus ihrer Meinung. »Und was kann ich da für dich tun?«

»Ich wollte dich fragen, ob du mir ein Kleid leihen kannst. Eigentlich wollte ich Mum bitte, mir zu helfen. Aber sie hat heute früh eine Todesanzeige von einer Bekannten in der Zeitung entdeckt und für so was gerade keinen Kopf.«

»Verstehe.« Tatjana nickte. »Klar helfe ich dir. Sehr gern sogar.« Unternehmungslustig hüpfte sie vom Stuhl und zog Anneka mit sich. Arm in Arm tanzten sie hinüber ins Schlafzimmer, wo sie lachend und atemlos aufs Bett fielen.

Tatjana drehte den Kopf und blinzelte die Schwester ihres Freundes aus atemberaubend blauen Augen an.

»Morgen wirst du das schönste Mädchen in ganz München sein. Noah wird sich fragen, wie er je an was anderes denken konnte. Das schwöre ich!«, versprach sie feierlich, sodass Anneka gar nicht anders konnte, als ihr zu glauben.

*

Die obligatorische Besprechung am Montagmorgen ging unspektakulär über die Bühne. Unter leisem Murmeln und Tuscheln verließ die Ärzteschar das Büro der Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch.

In sich gekehrt machte sich auch Felicitas Norden auf den Rückweg in ihre Abteilung. Ihr Stellvertreter Volker Lammers folgte ihr.

»Nanu, wo haben Sie denn heute Ihr penetrant glückliches Grinsen gelassen?«, erkundigte er sich. »Vermissen Sie endlich mal Heim und Herd? Von mir aus können Sie gern gehen. Ich komme auch ohne Sie klar.« Er sah sie herausfordernd an.

Doch der gewohnte Konter blieb aus.

»In einer halben Stunde sind Sie mich los«, erwiderte Fee und ließ ihn einfach stehen.

Lammers fühlte sich um seinen Spaß betrogen. Einen Moment lang stand er fassungslos da und starrte ihr nach. Dann heftete er sich an ihre Fersen.

»Augenblick! So geht das nicht! Sie verderben mir hier den ganzen Spaß.«

»Wenn ich mich nicht irre, bin ich nicht zu Ihrer persönlichen Belustigung angestellt.«

»Hören Sie auf damit!«, verlangte er. »Langsam mache ich mir Sorgen um Sie.«

An ihrem Büro angekommen, blieb Felicitas stehen und drehte sich zu ihm um.

»Die sind nicht ganz unberechtigt.« Sie legte den Kopf schief und sah durch ihn hindurch. »Schließlich wissen wir nie, was das Schicksal mit uns vorhat.« Ehe er einen weiteren dummen Kommentar loswerden konnte, lieferte sie die Erklärung für ihre Gedanken gleich mit. »Eine Studienfreundin ist vor ein paar Tagen plötzlich und unerwartet verstorben. Wir haben erst kürzlich telefoniert und wollten uns demnächst treffen. Heute ist die Beerdigung.«

»Oh, das tut mir leid.« Lammers‘ Bedauern schien echt zu sein. Doch auch wenn es nicht so gewesen wäre, hätte es Fee nicht gekümmert.

»Ja, mir auch«, murmelte sie. »Schon komisch. Da sind wir beruflich täglich mit Leben und Sterben konfrontiert. Aber wenn es einen aus den eigenen Reihen trifft …« Sie beendete den Satz nicht. Stattdessen kehrte sie mit ihren Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Sie atmete einmal tief durch und straffte die Schultern. »Ich denke, ich bin am frühen Nachmittag wieder.«

»Lassen Sie sich Zeit. Sie wissen ja, dass Sie sich auf mich verlassen können.«

»Eben deshalb.« Fee rang sich ein Lächeln ab und verschwand in ihrem Büro, um sich noch um ein paar Dinge zu kümmern.

*

Lenni eilte durchs Erdgeschoss und sammelte ihre Siebensachen für den Tag zusammen, als Oskar in Jogginghose und sichtlich verwirrt aus der Einliegerwohnung im Keller kam.

»Warum hast du mich denn nicht geweckt?«, fragte er und fuhr sich durch die vollen grauen Haare. Selbst in fortgeschrittenem Alter und in diesem Aufzug war er eine stattliche Erscheinung.

Lenni würdigte ihn trotzdem keines Blickes.

»Den ganzen Tag hast du gestern rumgemäkelt und gedrängelt. Du hast mich so nervös gemacht, dass ich sogar eine Flasche Limonade runtergeworfen hab. Nein, danke, auf ein so eine Hilfe kann ich getrost verzichten«, meckerte sie und stopfte eine leichte Jacke in die große Tasche.

»Jetzt stell dich doch nicht so an!«, schimpfte Oskar und bückte sich nach der Packung Taschentücher, die heruntergefallen waren. »Austeilen wie ein Weltmeister, aber nichts einstecken können. Das sind mir die Richtigen.«

Mit diesem Vorwurf hatte sie nicht gerechnet.

»Warum willst du dann mit mir zusammen sein, wenn ich so schlimm bin?«, fragte sie beleidigt.

»Das muss mit meinem Hang zum Masochismus zu tun haben«, scherzte Oskar und zwinkerte ihr versöhnlich zu. »Mir gefällt deine Ehrlichkeit. Bei dir weiß ich immer, woran ich bin.«

Lennis Miene war anzusehen, dass sie noch nicht überzeugt war.

»Ich muss jetzt trotzdem los.«

»Und ich helfe dir natürlich. Bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, wenn ich weiter in den Genuss deiner Ehrlichkeit kommen will.«

»Stimmt auffallend«, erwiderte sie erbarmungslos und hastete an ihm vorbei und zurück in die Küche, wo sie ihr Portemonnaie vergessen hatte. »Aber wenn du mit willst, musst du dich beeilen. Ich hab Tatjana versprochen, mich um die Lieferung zu kümmern.«

Suchend sah sie sich um. »Wo hab ich es nur hingelegt?«

Oskar war ihr gefolgt. Er entdeckte das gute Stück und hielt es wie eine Trophäe hoch.

»Wenn ich einen Guten-Morgen-Kuss bekomme, gehört es dir.«

Lennis Augen funkelten. Blitzschnell griff sie nach dem Geldbeutel.

»Lass das! Für solche Kinde­reien hab ich keine Zeit«, herrschte sie ihn statt eines Dankes an. Sie lief an ihm vorbei und wollte die Küche schon verlassen, als sie doch ein Einsehen hatte und noch einmal zurückkehrte. In einem Anfall von Großmut hielt sie ihm die Wange hin.

Oskar überlegte kurz, ob er sich stur stellen sollte, verzichtete dann aber darauf. Diesen Machtkampf würde er auf jeden Fall verlieren.

Ein schmatzender Kuss hallte durch den Flur. Einen Moment lang lächelte Lenni ihren Galan verliebt an. Doch Oskars Glück sollte nicht von langer Dauer sein. Das Schlagen der Kirchenglocke riss sie aus ihren Gedanken.

»Was ist jetzt? Kommst du nun oder nicht.«

Oskar unterdrückte ein Seufzen.

»Ich komm später nach. Zuerst mal brauch ich einen Kaffee.«

»Gut.« Lenni war einverstanden. »Ich warte im Kiosk auf dich.« Sie wirbelte aus der Küche, und nur eine Minute später fiel die Haustür ins Schloss.

Anneka, die eben im Schlafanzug heruntergekommen war, zuckte zusammen.

»Was macht ihr denn für einen Lärm?«, fragte sie verschlafen.

Oskar sah sie fragend an.

»Nanu, junge Frau, was machst du denn noch hier? Musst du nicht zur Arbeit?«

»Ich hab heute frei genommen, weil Noah und ich doch Jahrestag haben.« Barfuß schlurfte sie durch die Küche Richtung Thermoskanne. »Ich will mich richtig hübsch machen. Umhauen soll es ihn. Dafür brauche ich Zeit.« Sie hielt die Kanne hoch. »Willst du auch Kaffee?«

»Sehr gern.« Er sah ihr dabei zu, wie sie zwei Becher einschenkte. »Wenn’s ums Hübschsein geht, könntest du dich sofort mit ihm treffen. Du siehst bezaubernd aus. Wie immer.«

Annekas Wangen färbten sich zartrosa.

»Du bist so süß.« Sie stellte den Kaffee vor ihm auf den Tresen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Wenn du jünger wärst, würde ich dich sofort heiraten.«

»Gut, dass das nicht Noah hört«, feixte er. Er trank einen Schluck und sah Anneka über den Tassenrand hinweg an. »Kann es sein, dass du nicht gerade glücklich bist?«, fragte er vorsichtig.

»Kommt ganz drauf an, wie das heute läuft. Ich habe einen Tisch beim Italiener reserviert. Als Überraschung.«

Kritisch zog Oskar eine Augenbraue hoch.

»Früher waren Überraschungen Aufgabe des Mannes.«

Anneka lachte unfroh.

»Frau sein ist heutzutage echt nicht leicht. Wir müssen denken wie ein Mann, uns geben wie eine Dame, aussehen wie ein Filmstar und arbeiten wie ein Pferd. Das ist doch irgendwie alles ungerecht«, machte sie ihrem Unmut Luft. »Noah dagegen kommt heim, jammert über den anstrengenden Arbeitstag und hat zu nichts mehr Lust.« Sie sah Oskar fragend an. »Das kann doch nicht alles gewesen sein.«

»Da geb ich dir völlig recht.« Unwillkürlich musste er an Lenni denken. Ob sie auch so über ihn sprach?

»Es kommt wohl darauf an, den goldenen Mittelweg zu finden.«

Anneka hatte die Ellbogen auf den Tresen gestützt, die Finger um den Kaffeebecher gelegt und starrte missmutig vor sich hin.

»Aber ich kann doch nicht immer nur nachgeben, damit er zufrieden ist. Er muss schon auch mal das tun, war mir Spaß macht.«

»Kompromisse schließen heißt das Zauberwort.« Oskar kannte die Lösung und fragte sich, warum man bei anderen immer klarer sah als bei sich selbst. »Wenn er partout nicht auf deine Wünsche eingehen will, ist er wohl der Falsche.«

Anneka saß neben Oskar. Sie drehte den Kopf und sah ihn von der Seite an.

»Dann ist es nicht nur eine schlechte Phase, die vorbeigeht, wie Tatjana meint?«, fragte sie vorsichtig.

Oskar wollte ihr nicht weh tun. Lügen wollte er aber auch nicht.

»Weißt du«, seufzend legte er den Arm um ihre Schultern, »manchmal entwickelt man sich einfach in verschiedene Richtungen. Das ist niemandes Schuld, keiner kann was dafür. Dann darf man sich das Leben nicht gegenseitig schwer machen, sondern muss die Konsequenzen ziehen und gehen.« Er lauschte dem Nachhall seiner Worte. »Das sind zumindest die Erfahrungen eines alten Mannes!«

Anneka hatte den Kopf wieder über die Kaffeetasse gesenkt.

»Und was ist mit Lenni und dir?« Sie schien seine Gedanken lesen zu können. »Passt ihr auch nicht zusammen?«

Über diese Frage musste Oskar nicht lange nachdenken.

»O doch. Sie ist genau das richtige Rezept, um mich auf Trab zu halten. Wer rastet, der rostet. So sagt man doch. Und für Rost bin ich eindeutig noch zu jung.«

Anneka lachte nur kurz mit ihm.

»Sag das mal Noah!«, seufzte sie dann aus tiefstem Herzen.

*

Schneller als erwartet wurde es Zeit zum Aufbruch in die schlichte Kirche am anderen Ende der Stadt. Fee kam zeitig. Sie nahm in einer der Bänke Platz und sah sich um. Hier und da entdeckte sie ein bekanntes Gesicht und grüßte matt lächelnd oder mit einem Nicken hinüber. Sie war so beschäftigt mit ihren Beobachtungen, dass sie nicht bemerkte, wie jemand neben sie auf die Bank rutschte.

»Ich hatte so gehofft, dass du kommst«, raunte ihr eine Männerstimme ins Ohr.

Zu Tode erschrocken fuhr sie herum. Selbst nach so langer Zeit erkannte sie diese Augen sofort. Schmal und grün, mit einem Stich ins Braune, überwölbt von markanten Augenbrauen.

»Eugen.«

In seinen Ohren klang ihre flüsternde Stimme fast zärtlich.

»Felicitas. Ich hatte gehofft, dass ich dich heute hier treffen würde. Wie geht es dir?«

In diesem Moment trat ein Redner vor die Trauergemeinde. Mit einem Nicken deutete Fee auf ihn und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Eugen lächelte und schwieg.

Froh um diesen Aufschub konzentrierte sie sich auf die Reden der Menschen, die ihrer Studienfreundin nahe gestanden hatten. Doch ihre Gedanken schweiften ständig ab zu Ilonas Bruder. Er saß so dicht neben ihr, dass sie seine Wärme spürte. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die gemeinsame Zeit, an die Abende bei Lagerfeuer an der Isar, die Partys im Studentenwohnheim, die Ausflüge in die Berge, Hüttennächte mit Gitarre und schiefem Gesang. Als sie einen sanften Schubs fühlte, kehrte sie blitzartig in die Wirklichkeit zurück. Die Feier war beendet. Ein Raunen und Füßescharren ging durch die Kirche, als sich die Trauergäste erhoben.

»Willst du noch bleiben?« Eugen stand neben ihr und sah freundlich auf sie hinab.

»Nein. Natürlich nicht.« Schnell erhob sich Fee und folgte ihm. Den Weg nach draußen nutzte sie für kurze Gespräche mit ehemaligen Weggefährten.

Auch Eugen unterhielt sich, schüttelte Hände und nahm ­Beileidsbekundungen entgegen. Schließlich blieb er allein draußen stehen und wartete auf Fee.

»Ich schäme mich ein bisschen, dass ich an unsere gemeinsame Zeit gedacht habe, statt den Reden zuzuhören«, gestand sie, als sie sich zu ihm gesellte.

»Ich glaube, das war ganz in Ilonas Sinn.« Eugen lächelte beruhigend. »Sie war immer für das Ehrliche, Echte.« Er nahm Fee sanft am Arm und führte sie über den Kiesweg, der von der Kirche wegführte.

»Standet ihr euch nahe? Ich meine, in letzter Zeit?«, erkundigte sie sich.

»Jeder hat sein Leben gelebt. Aber wir hatten regelmäßig Kontakt, wenn du das meinst. Und wir haben uns auch oft über früher unterhalten.«

»Was für eine schöne, unbeschwerte Zeit«, murmelte Fee versonnen. »Schade eigentlich, dass wir uns so lange nicht gesehen haben.«

Mitten auf dem Weg blieb Eugen stehen, während sie ein paar Schritte weiterging, ehe auch sie stehenblieb. Verwundert drehte sie sich zu ihm um und kam nicht umhin, ihn zu mustern. Er war groß, aber nicht mehr so schlank wie früher. Sein ehemals schmales Gesicht mit der geraden Nase hatte sich gerundet, das Grübchen im Kinn stach deutlich hervor. Die Schläfen waren grau geworden. Nur die Augen, die hatten sich nicht verändert. Sie musterten sie mit demselben Interesse wie früher.

»Hättest du mich denn sehen wollen?«, fragte Eugen in ihre Gedanken hinein. »Ich meine, eine Frau wie du ist doch sicher in festen Händen.«

»Das ist richtig.« Felicitas wollte eben von Daniel erzählen, als sie bemerkte, wie sich Eugen krümmte. »Was ist?« Mit einem Sprung war sie an seiner Seite und nahm ihn am Arm. »Ist dir schwindlig?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Im nächsten Moment lächelte er wieder.

»Schon gut. Ihr Ärzte wollt uns ja immer was anhängen. Das kenne ich von Ilona.« Er zwinkerte ihr zu. »Du bist also verheiratet? Kinder?«

Nur zu gern ließ sich Felicitas beruhigen.

»Fünf und inzwischen alle erwachsen.«

»Alle Achtung!« Eugen schickte ihr einen bewundernden Blick. »Sie sind sicher stolz auf ihre große Schwester.«

Fee lachte geschmeichelt.

»Noch immer derselbe Charmeur wie früher. Wie kommt deine Frau damit klar, dass du die Damenwelt um den kleinen Finger wickelst?«

»Ich war nie verheiratet«, gestand Eugen. Sein Blick verklärte sich. »Du warst die Einzige, mit der ich es gewagt hätte.«

Peinlich berührt lachte Fee auf.

»Aber es lief doch nie was zwischen uns.«

»Na und? Manchmal muss man seinem Instinkt folgen«, erwiderte er unbekümmert. Mit einem Lachen gab er der Situation ihre Unschuld zurück.

Inzwischen waren sie an ihrem Wagen angelangt.

»Das muss ich jetzt auch.« Fee drehte sich zu ihrem früheren Verehrer um und lächelte ihn an. »Es war schön, dich wiederzusehen.« Sie reichte ihm beide Hände.

Eugen nahm sie und sah ihr tief in die Augen.

»Hoffentlich dauert es nicht wieder so lange bis zum nächsten Mal«, tat er seinen Wunsch kund. »Außerdem wäre es mir recht, wenn du bis dahin geschieden wärst.«

Fee lachte.

»Das kann ich dir leider nicht versprechen. Daniel ist …«

Eugen verschloss ihr den Mund mit dem Zeigefinger.

»Nicht. Du willst mir doch nicht das Herz brechen.«

Der Zeitpunkt war günstig, um sich zu verabschieden.

»Mach’s gut, mein Lieber.« Einer spontanen Regung folgend stellte sich Fee auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Dann drehte sie sich schnell um und stieg ein. Sie startete den Wagen und sah in den Rückspiegel, sah, wie ihr Jugendfreund die Hand wie zum Gruß hob. Im nächsten Moment trat sie auf die Bremse. Eugen krümmte sich zusammen, stürzte zu Boden und blieb reglos dort liegen.

*

»Ich wünschte, ich wäre der Glückliche!« Pfleger Jakob stand ein Stück von Anneka entfernt und saugte sie förmlich mit Blicken auf.

An diesem Tag hatte Noah mittags frei, und sie hatte beschlossen, ihn in der Klinik zu überraschen. Nervös wanderte sie in der Notaufnahme auf und ab. Die Absätze ihrer halbhohen Schuhe klapperten.

»Wer will denn schon einen Pfleger mit so unregelmäßigen Arbeitszeiten?«, scherzte Schwester Elena und wandte sich wieder der Tochter ihrer Freundin Felicitas zu. Die schickte einen ratlosen Blick zur Tür, ehe sie beschloss, sich zu Elena und Jakob zu gesellen. »Wunderschön siehst du aus. Und dieses Kleid erst!«

Unsicher sah Anneka an sich hinab.

»Das hat Tatjana für mich ausgesucht.« Behutsam strich sie über den plissierten, altrosa Stoff. Der schlichte Schnitt umschmeichelte ihre schlanke Figur. »Gefällt es dir?«

»Es ist ein Traum. Ich bin echt gespannt auf Noahs Reaktion.«

Aus den Augenwinkeln sah Anneka einen Schatten, der draußen aus einem Notarztwagen sprang.

»Ich glaube, da kommt er«, murmelte sie. Plötzlich wurde ihre Kehle eng.

Elena packte Jakob am Arm und zerrte ihn mit sich.

»Wir haben hier nichts mehr verloren«, zischte sie, als sich die automatischen Schiebetüren öffneten und Noah zielstrebig hereinkam. Er pfiff eine fröhliche, kleine Melodie und wirkte alles andere als gestresst. Schon wollte er um die Ecke in den Aufenthaltsraum abbiegen, als er seine Freundin entdeckte.

»Anneka, das ist ja eine Überraschung!« Er kam auf sie zu, fasste sie sanft an den Schultern und küsste sie links und rechts auf die Wangen. Dann schob er sie ein Stück von sich und musterte sie. »Hübsch siehst du aus. Hast du was vor heute?«

Seine Worte schmerzten wie ein Schlag in den Magen. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und wäre davongelaufen. Doch die Worte ihrer Mutter hallten noch in ihrem Ohr.

»Er hat einen anstrengenden Job … !«

Deshalb riss sich Anneka zusammen. Sie rang sich ein zärtliches Lächeln ab und legte die Hände auf seine Brust.

»Stell dir vor: Zufälligerweise haben wir heute Jahrestag. Da dachte ich, wir könnten zum Essen gehen und danach was unternehmen.«

Noahs Miene gefror zu Eis.

»Ach du Schei … Oh, Jahrestag …« Im letzten Moment besann er sich. »Da bist du mir glatt zuvor gekommen. Ich hatte noch keine Zeit, Blumen für dich zu kaufen.« Er lächelte schief. »Deshalb hast du dich extra hübsch gemacht für mich. Du bist so süß.« Er beugte sich vor und küsste sie, diesmal auf den Mund.

Tapfer kämpfte Anneka gegen ihre Enttäuschung an. Hatte er recht? Hatte sie ihm wirklich keine Chance gegeben?

»Macht ja nichts.« Sie entschied sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Los, komm! Zieh dich um. Und dann machen wir es uns bei Enzo gemütlich.«

»Ähm, ja.« Viel zu lange sah Noah auf die Uhr. »Sag mal, könnten wir das nicht auf abends verschieben? Ich hab den Jungs versprochen, heute Nachmittag mal wieder mit ihnen Computer zu spielen.«

Anneka traute ihren Ohren nicht.

»Nicht dein Ernst, oder?«, entfuhr es ihr.

»Komm, Baby, sei nicht sauer.« Noah streckte die Hand aus, um ihr über die Wange zu streicheln.

Unsanft schlug Anneka sie weg.

»Gib’s doch zu, dass du unseren Tag vergessen hast!«, fuhr sie ihn an. »Und ich blöde Kuh mach mir tagelang Gedanken, womit ich dich überraschen könnte.«

Noah verdrehte die Augen. Er war allergisch gegen Vorwürfe.

»Ich hab ihn nicht vergessen. Wirklich nicht«, erklärte er schroff. »Aber sei doch mal ehrlich! So wichtig ist dieser Tag nun auch wieder nicht, dass wir stundenlang aufeinander hocken müssen. Ich geh heute Nachmittag zu meinen Jungs.«

Seine Stimme wurde weicher. »Dafür gehört der Abend dir, okay?«

Ehe sie widersprechen konnte, stupste er ihr auf die Nasenspitze. »Ich ruf dich an.« Dann war er verschwunden.

Anneka starrte ihm nach wie einer Erscheinung.

»Sieht nach einem durschlagenden Erfolg aus«, kommentierte Pfleger Jakob nüchtern in seinem Versteck. »Kann ich heute Nachmittag frei haben?« Er schenkte Schwester Elena sein schönstes Lächeln, gegen das sie allerdings immun war.

»Ab mit dir an die Arbeit«, wies sie ihn in die Schranken. »Oder willst du ihr ins offene Messer laufen?«

Jakob schickte der wütenden Anneka einen zweifelnden Blick.

»Na schön, dann lieber Arbeit!«, schloss er aus ihren blitzenden Blicken.

»Kluges Kerlchen«, lobte Elena, bevor sie sich auf den Weg zu Anneka machte.

»Zumindest klüger als unser Herr Rettungsassistent«, bemerkte Jakob und bekam wenigstens diesmal die volle Zustimmung seiner Vorgesetzten.

*

In rasender Fahrt folgte Felicitas Norden dem Krankenwagen, den sie zu ihrem Jugendfreund Eugen Körber gerufen hatte. Mit quietschenden Bremsen hielt sie in der Einfahrt zur Notaufnahme an und sprang aus dem Wagen, um die Liege mit Eugen zu begleiten.

»Patient mit starken Schmerzen im Oberbauch und Fieber. Verdacht auf Peritonitis«, erklärte der Rettungsfahrer.

Der diensthabende Arzt Dr. Matthias Weigand war sofort zur Stelle. Blitzschnell erfasste er die Situation und verarbeitete die Informationen.

»Wir brauchen ein Labor, Röntgen und Ultraschall vom Bauchraum.«

Fee war derselben Meinung.

»Nachdem die Schmerzen in erster Linie im Oberbauch lokalisiert sind, tippe ich auf einen Defekt der Gallenblase als Ursache für die Peritonitis«, erklärte Fee, während sie neben der Liege herlief.

Matthias sah sich schnell um.

»Sie haben es gehört! Vorsichtshalber bereiten wir OP drei vor«, wies er eine Schwester an, die sofort loslief, um die Aufträge auszuführen.

Matthias und Fee blieben zurück.

»Ich komme mit in den OP«, bestimmte sie, während sie der Liege mit dem Jugendfreund nachsah.

»Du kennst den Mann?«

Zum ersten Mal, seit sie Eugen vom Gehsteig aufgesammelt hatte, ging ihr Atem langsamer. Mit hängenden Schultern stand sie da und sortierte sich.

»Ich war mit seiner Schwester befreundet. Wir haben uns heute auf ihrer Trauerfeier zum ersten Mal seit Jahren wiedergesehen.«

»Und da ist er vor Freude ­gleich zusammengebrochen«, witzelte Dr. Weigand.

Unwillkürlich musste Felicitas lächeln. Sein Galgenhumor tat ihr gut.

»Scherzkeks. Also, was ist? Lässt du mich mit rein?«

Er wiegte den Kopf.

»Jetzt warten wir erst einmal die Untersuchungsergebnisse ab. Falls ein Eingriff nötig ist, darfst du mir assistieren.«

»Wie großzügig. Ich danke Euer Gnaden.« Fee deutete einen Knicks an, und beide lachten kurz in gegenseitigem Einverständnis, ehe sie sich auf den Weg in die Radiologie machten, um möglichst schnell Ergebnisse zu bekommen.

*

Wie alles, was Tatjana in die Hand nahm, erfreute sich auch der Klinikkiosk ›Allerlei‹ rasch großer Beliebtheit. Das war nicht nur der exzellenten Qualität ihrer Waren und Speisen, sondern auch ihrem gestalterischen Geschick zu verdanken. In einer allzu schnelllebigen Welt verzichtete sie auf modernen Schnickschnack. Die orientalisch angehauchte Einrichtung des Kiosks ließ die Gäste genauso eintauchen in eine andere Welt wie der üppige Garten draußen. Unterm Glasdach, behütet von mannshohen Palmen und von exotischen Pflanzen vor neugierigen Blicken geschützt, stellte sich schnell ein Urlaubsgefühl bei den Gästen ein.

»Ich wünschte, ich wäre Gast hier!«, schnaufte Lenni, als sie die lange Schlange vor dem Tresen endlich abgearbeitet hatte. Feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und sie wirkte schon längst nicht mehr so enthusiastisch wie am Morgen.

»Du willst es ja nicht anders.« Oskar konnte den leisen Triumph in der Stimme kaum verbergen. Durch das Fenster sah er die winkende Hand eines Kunden. »Ich muss raus. Kassieren.« Er machte sich auf den Weg, und Lenni sah ihm nach, eine kleine Flasche Wasser in der Hand. Die viele Arbeit hatte sie durstig gemacht.

Wenn sie ehrlich war, hätte sie nicht gewusst, wie sie ohne seine Hilfe zurechtgekommen wäre. Bei einem Schluck Wasser überlegte sie noch, ob sie ihm das bei nächster Gelegenheit gestehen sollte, als sie eine Stimme aus ihrer Überlegung riss.

»Alles in Ordnung bei euch?«

Lenni erschrak so sehr, dass sie die Wasserflasche fallen ließ.

»Meine Güte, musst du dich immer so anschleichen?«, fauchte sie Tatjana an und betrachtete das Malheur zu ihren Füßen.

»Tut mir leid. Ich hab dich ungefähr fünf Mal angesprochen. Aber du hast einfach nicht reagiert.«

»Bestimmt hast du geflüstert. Das hör ich bei dem Lärm da draußen nicht«, behauptete Lenni vorsichtshalber. »Und natürlich ist alles in Ordnung. Warum auch nicht?« Sie wollte sich bücken, um die Scherben einzusammeln.

Doch Tatjana kam ihr zuvor. Mit Haushaltspapier trocknete sie den See zu Lennis Füßen. Dann holte sie Kehrblech und Besen unter dem Tresen hervor und kehrte alles zusammen. Ehe Lenni es sich versah, war die Bescherung beseitigt.

»Ehrlich gesagt hab ich ein ganz schlechtes Gewissen«, gestand Tatjana zerknirscht, als sie sich wieder aufrichtete. »Eigentlich solltest du ja nur ein paar Stunden pro Woche hier aushelfen. Und jetzt verbringst du ganze Tage mit Oskar im Kiosk. So war das nicht geplant.« Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um.

»Zwei Mal Cappuccino, eine Rhabarberschorle, ein Wasser und vier Stück vom Flammkuchen«, ratterte Oskar die Bestellung herunter und lächelte Tatjana an. »Du brauchst wirklich kein schlechtes Gewissen haben. Das Geschäft brummt wie ein Bienenstock, und wir haben unseren Spaß. Nicht wahr, Lenchen?« Seine Augen leuchteten vor Enthusiasmus, als er zu ihr hinübersah.

»Du hast es gehört«, erwiderte sie matt in Richtung Tatjana.

Nach einem Autounfall zunächst völlig erblindet, hatte sich Dannys Freundin eine fast mystische Sensibilität angeeignet, die die mangelnde Sehkraft bei Weitem ausglich. So spürte sie auch diesmal, dass Lennis Behauptung glatt gelogen war. Doch so lange sie leugnete, konnte Tatjana nichts für sie tun.

»Ich hätte nie gedacht, dass die Arbeit hier so viel Spaß macht«, fuhr Oskar fort. Seine Augen sprühten Funken vor Begeisterung, während er die Bestellungen, die Lenni inzwischen hergerichtet hatte, auf das Tablett stellte. Sein geschäftiger Blick fiel nach draußen. »Sieh mal einer an, wer da ist! Unsere Schönheit Anneka.« Schon an ihrer Miene konnte er ablesen, dass die Überraschung für Noah misslungen war. »Ich gehe gleich mal zu ihr.« Vorsichtig, um nur ja nichts zu verschütten, hob er das Tablett auf und machte sich auf den Weg Richtung Tür.

Tatjana sah ihm nach. Ein Verdacht keimte in ihr auf.

»Du machst das hier nur ihm zuliebe, oder?«, fragte sie weich und streichelte ihren Arm. »Du bist so ein guter Mensch.«

Augenblicklich schämte sich Lenni in Grund und Boden. Sie nuschelte eine Antwort und wandte sich mit einem gekünstelten Lächeln an den Kunden, der eben den Kiosk betrat.

*

Felicitas Norden stand der Schweiß auf der Stirn, als sie den Operationssaal in Begleitung des Kollegen Weigand verließ.

»Das war knapp!«, seufzte sie. Die Latexhandschuhe schnalzten, als sie sie von den Händen zog. Mit einem leisen Klatschen landeten sie im Abfalleimer. »Ich hätte nie gedacht, dass Eugen so instabil ist.« Mit Schrecken erinnerte sie sich an seinen Herzstillstand. Mit einiger Not war es den Ärzten gelungen, ihn zu reanimieren.

»Ich finde, wir haben unsere Sache gut gemacht.« Matthias öffnete die Schleife der OP-Haube.

»Ich hatte ganz schön Angst da drin«, gestand Fee und trat ans Waschbecken. Tröstlich warmes Wasser lief über ihre Hände.

»Ich auch. Wir haben aber keinen Fehler gemacht.«

»Hab ich auch nicht gesagt«, antwortete sie schroffer als beabsichtigt.

Matthias zog eine Augenbraue hoch und dachte kurz nach.

»Wie gut kennst du den Mann eigentlich?« Täuschte er sich, oder zuckte sie zusammen?

»Wir waren Jugendfreunde. Das habe ich doch schon mal gesagt.« Energisch drehte Felicitas den Wasserhahn ab und griff nach einem Handtuch. »Hältst du mich auf dem Laufenden?«

»Natürlich«, versprach er und sah ihr nach, wie sie den Operationsbereich verließ.

Als Felicitas auf den Flur hinaustrat, atmete sie erleichtert auf. Noch immer saß ihr der Schreck in den Gliedern. Sie sehnte sich danach, sich in ihrem Büro zu verschanzen, um ungestört nachzudenken, und machte sich auf den Weg. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr. Ausgerechnet Lammers lief ihr über den Weg.

»Da sind Sie ja wieder. Ich hab Sie schon sehnsüchtig erwartet.« Er hielt die aufgeschlagene Akte eines kleinen Patienten in den Händen. »Ich muss unbedingt mit Ihnen über die Medikation dieser Rotznase hier re … .«.

»Ich dachte, Sie kommen auch ohne mich klar«, unterbrach sie ihn so unfreundlich, dass sich selbst Volker wunderte.

»Du liebe Zeit. Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«

»Ich war auf einer Trauerfeier, schon vergessen?«, erinnerte sie ihn schlecht gelaunt. »Aber Ihnen traue ich sogar zu, dass Sie Spaß an solchen Veranstaltungen haben.« Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie ins Büro und trat ans Fenster. Das Bild von Eugen – wie er dagelegen und mit dem Tod gerungen hatte – wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Lammers zögerte kurz, beschloss dann aber, seiner Chefin zu folgen.

»Trotzdem bin ich nicht einverstanden mit der Behandlu …«

»Dann tun Sie doch, was Sie wollen!« Fee fuhr zu ihm herum und funkelte ihn wütend an. »Und jetzt verschwinden Sie gefälligst! Für Sie bin ich heute nicht mehr zu sprechen!«

Entgeistert starrte Volker Lammers seine Chefin an. Für gewöhnlich war sie diejenige, die sich um Diplomatie bemühte. Ihre knallharte Zurückweisung brachte ihn aus dem Konzept.

»Schon gut. Ich bin ja schon weg«, stammelte er.

»Zeit wird’s!«, schickte Fee ihm nach, ehe sie sich wieder zum Fenster umdrehe und hinab in den wunderschön angelegten Garten blickte. Doch das Erlebnis im OP beschäftigte sie noch immer so sehr, dass sie weder die Pracht noch ihren Triumph über den ungeliebten Stellvertreter wahrnahm.

*

Anneka Nordens Gesicht ließ erahnen, wie sie sich fühlte. Oskars Herz zog sich zusammen vor Mitgefühl, als er zu ihr an den Tisch trat.

»Ist wohl nicht so gelaufen, wie du dir das gedacht hast, was?«

Anneka schnaubte.

»Stell dir vor: Er hat unseren Jahrestag total vergessen und trifft sich lieber mit seinen Freunden zum Computerspielen«, schimpfte sie, ohne hochzusehen. »Stattdessen will er heute Abend mit mir zu Enzo gehen. Wir müssen ja nicht den ganzen Tag aufeinander hocken!«, äffte sie Noah nach. »So ein Vollidiot!« Sie ließ ihrer Wut freien Lauf.

»Im Normalfall halte ich zu meinesgleichen.« Oskar beugte sich über den Tisch und wischte mit einem feuchten Lappen über die Platte. »Diesmal muss ich dir aber uneingeschränkt recht geben.«

Endlich blickte Anneka auf. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Danke.«

»Gern geschehen.« Er zwinkerte ihr zu. »So, nachdem wir das geklärt haben, bringe ich dir jetzt was Schönes«, kehrte Oskar zu seinem üblichen, unbeschwerten Tonfall zurück. »Auf was hast du Lust? Eisschokolade mit extra viel Sahne? Oder ein Stück von Lenchens Streuselkuchen? Der toppt sogar noch den von Tatjana. Und die kann wirklich backen.«

Doch so weit war Annekas gute Laune noch nicht wieder hergestellt. Traurig schüttelte sie den Kopf.

»Nur ein Glas Wasser bitte. Wer weiß, vielleicht erbarmt er sich ja doch noch und geht heute Abend mit mir essen.« Sie legte die kleine Handtasche auf den Tisch, die Tatjana ihr zusammen mit dem Kleid geliehen hatte, und stützte die Ellbogen auf die Platte. »Warum muss eigentlich immer alles im Leben anders laufen, als man es sich vorgestellt hat?«

»Weil das Leben nun mal kein Ponyhof ist«, gab Oskar zu bedenken.

Anneka schnitt eine Grimasse.

»Sehr witzig.«

»Na schön, dann bring ich dir eben ein Glas Wasser.« Wohl oder übel musste Oskar einsehen, dass sein Charme wirkungslos war, und er ließ Anneka allein.

Auf diesen Moment hatte der stille Beobachter der Szene nur gewartet. Entgegen Schwester Elenas Warnung hatte Jakob beschlossen, sein Glück wenigstens zu probieren. Als er an den Tisch trat, war Anneka ganz in ihr Handy vertieft.

»Schöne Frau, darf ich es wagen, Arm und Geleit euch anzutragen?«, fragte er verschmitzt grinsend. »Oder hab ich dann gleich ein Messer zwischen den Rippen, wie Elena gemunkelt hat?«, fügte er hinzu, als sie überrascht hochsah.

Anneka legte den Kopf schief.

»Kennen wir uns?« Ihr langes, blondes Haar fiel zur Seite. »Irgendwo hab ich dich schon mal gesehen.«

»Ich bin Jakob, hauptberuflich Pfleger hier, nebenberuflich Student an der Filmhochschule.«

Sofort war Annekas Interesse geweckt. Ihre ungewöhnlich violetten Augen – ein Erbe ihrer Mutter Felicitas – wurden rund vor Staunen, als sie den bärtigen jungen Mann mit dem Ohrring musterte. Er sah ganz anders aus als Noah, erwachsener, männlicher.

»Echt? Warum macht man denn so was?«

Er setzte ein geheimnisvolles Gesicht auf.

»Wenn ich mich setzen darf, erklär ich’s dir.«

»Klar.«

Sie lächelte so süß, dass Oskar neue Hoffnung schöpfte. Er war mit dem bestellten Wasser auf dem Weg an den Tisch, als Jakob die Hand hob.

»Diese schöne Frau hier hat das Beste verdient, was Sie auf Lager haben.«

Mit so einer Bestellung war Oskar sichtlich überfordert.

»Spontan würde ich Champag­ner empfehlen. Aber da muss ich erst die Chefin fragen, ob wir welchen dahaben.« Er machte kehrt und eilte zurück in den Kiosk.

»Alkohol im Dienst ist doch bestimmt verboten«, mutmaßte Anneka, die den Blick gar nicht von dem schönen Mann neben sich wenden konnte.

»Ich hab Feierabend für heute.« Aus den Augenwinkeln sah Jakob, wie sich Tatjana durch die Tischreihen schlängelte. Geschickt balancierte sie ein Tablett.

»Glück gehabt!« Oskar hatte ihr von Annekas Pleite erzählt, und sie hatte nicht gezögert. »Für besondere Anlässe hab ich immer eine Flasche Prosecco in der Kühlung. Ist zwar kein Champag­ner.« Sie zwinkerte der Schwester ihres Freundes komplizenhaft zu zum Zeichen, dass sie ihre volle Unterstützung hatte. »Aber der wird meiner Ansicht nach eh überbewertet. Zum Wohl, ihr beiden.«

Jakob sah ihr kurz nach, ehe er sich wieder seiner Begleiterin zuwandte.

»Die ist echt nett. Kein Wunder, dass der Kiosk brummt, seit sie ihn übernommen hat.«

»Mein Bruder hat einen guten Geschmack«, erklärte Anneka schnell. »Tatjana ist seine Freundin.«

»Keine Sorge, das weiß ich. Außerdem wär sie mir zu alt.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich hab dir schon so viel von mir verraten. Jetzt bist du dran.« Er sah Anneka erwartungsvoll an.

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich mache gerade eine Ausbildung zur Erzieherin. Wenn ich will, kann ich mein Berufsanerkennungsjahr im Ausland absolvieren. Mein Freund ist davon allerdings weniger begeistert. Er will, dass ich in Deutschland bleibe.«

Jakob schützte Enttäuschung vor. Er reichte ihr eines der beiden Gläser und griff selbst nach dem zweiten.

»Dann sitze ich also ganz umsonst hier?«, fragte er traurig.

»Wie man es nimmt.« Lächelnd stieß Anneka mit ihm an. »Auf die Freundschaft?«

»Nein!« Entschieden schüttelte er den Kopf. »Auf diese wunderschönen Augen.«

Anneka kicherte verlegen, während die Gläser hell aneinanderklangen. Sie tranken einen Schluck. Über den Rand ihres Glases hinweg sah sie ihn an.

»Filmhochschule also. Was machst du da genau?

»Ich will Regisseur werden, und dann drehe ich eine berühmte Arztserie«, erwiderte Jakob verschmitzt.

»Regisseur« wiederholte Anneka versonnen. »Da triffst du ja bestimmt viele hübsche Mädchen, die alle dein Star werden wollen.«

»Klar gibt’s Mädels, die sich an einen ranschmeißen. Aber im Grunde ist dieses ganze Geschäft ziemlich oberflächlich. Kaum jemand interessiert sich dafür, was wirklich in dir vorgeht. Was zählt, ist der schöne Schein.« Jakob legte den Kopf schief und musterte Anneka mit einem Blick, der sie rot werden ließ. »Ich bin echt froh, dass ich mich mit dir unterhalten kann. Endlich mal ein Mädchen ohne Starallüren, mit echtem Lächeln … und was für einem!«

Anneka lachte verlegen. Doch er war noch nicht fertig. Er hatte noch eine Frage auf dem Herzen. Ihr Lächeln machte ihm Mut.

»Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«

Vor Schreck verschluckte sich Anneka an ihrem Prosecco. Sie hustete, dass ihr die Tränen kamen. Besorgt klopfte Jakob ihr den Rücken.

»War das ein Ja?«, fragte er, als sie sich endlich wieder gefangen hatte. Dabei sah er so hoffnungsvoll aus, dass sie es nicht fertig brachte, ihm einen Korb zu geben. Im Grunde war dieser Jakob genau die Medizin, die ihr wundes Herz jetzt brauchte. Wenn der Himmel sie schon schickte, warum sollte sie sie dann ablehnen?

*

Dr. Matthias Weigand hielt sein Versprechen und rief seine Kollegin Felicitas Norden an, um sie über den Zustand ihres Jugendfreundes auf dem Laufenden zu halten.

»Herr Körber ist vor ein paar Minuten aufgewacht. Wenn du willst, kannst du zu ihm gehen.«

Sie bedankte sich und machte sich umgehend auf den Weg. Diesmal begegnete sie Lammers glücklicherweise nicht.

Als sie vor Eugens Tür stand, trat sie nicht sofort ein. Stattdessen fuhr sie sich durchs Haar und biss sich auf die Lippen, damit sie rot leuchteten. Erst dann drückte sie die Klinke herunter.

Als er Fee erkannte, verzog sich Eugens blasses Gesicht. »Meine Lebensretterin«, kräch­zte er.

Doch davon wollte sie nichts wissen. Kopfschüttelnd trat sie ans Bett.

»Das hat der Kollege Weigand übernommen.« Sie setzte sich ans Bett und nahm seine Hand. »Du hattest eine hochgradig entzündete Gallenblase, die dir eine Bauchfellentzündung beschert hat.«

»Was heißt das genau, Frau Doktor?«

»Durch die Entzündung wurde die Wand der Gallenblase porös und hat eine lebensbedrohliche Reaktion hervorgerufen«, erklärte sie so leicht verständlich wie möglich. »Du musst in letzter Zeit schreckliche Qualen gelitten haben.«

»Das waren so anfallartige Schmerzen, die immer wieder verschwunden sind, wenn ich zum Arzt gehen wollte«, gestand Eugen.

Fee lächelte.

»Angst vorm Arzt«, stellte sie eine Diagnose.

»Wie früher. Das weißt du doch.«

»Und ob.«

Sie lachte bei der Erinnerung an Ilonas Schilderungen.

»Einmal hat dich deine Schwester schon morgens mit Wodka abgefüllt, um dich im Anschluss zum Zahnarzt zu bringen.«

»Wirklich?« Eugen mimte Verwunderung. »Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

»Kein Wunder. Du warst ja sternhagelvoll.«

Die beiden sahen sich an und lachten. Im selben Moment verzog Eugen vor Schmerz das Gesicht.

»Aua! Das tut weh!«

»Kein Wunder.« Fee streichelte tröstend seine Hand. »Du musst dich auch noch schonen. Abgesehen von der medikamentösen Behandlung hast du eine schwere Operation hinter dir.«

»Ich werde tun, was du mir verordnest«, erwiderte Eugen ergeben. »Damit ich dir noch möglichst lange erhalten bleibe. Aber nur, wenn du Interesse daran hast.«

»Was redest du denn da?«

Entrüstet schüttelte Felicitas den Kopf. »Natürlich!« Sein durchdringender Blick war ihr unheimlich, und sie beschloss, den Besuch zu beenden. »Jetzt verordne ich dir erst einmal ein paar Stunden Schlaf. Ich komme später wieder«, versprach sie und stand auf.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Eugens Blicke verfolgten sie.

»Schlafen hab ich gesagt!« Sie zwinkerte ihm zu und verließ endgültig das Zimmer.

*

Als Dr. Daniel Norden an diesem Abend nach Hause kam, kam ihm seine Frau im Flur entgegen, in der einen Hand ein Geschirrtuch, in der anderen ein Weinglas.

»Einen wunderschönen guten Abend, mein Liebster.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und bot ihm ihre Lippen.

Daniel küsste sie irritiert.

»Nanu, hab ich irgendwas vergessen? Unseren Hochzeitstag? Deinen Geburtstag? Ein Jubiläum?«

»Jeder Tag mit dir ist ein Feiertag. Weißt du das denn nicht?«

»In letzter Zeit haben wir das beide wohl öfter mal vergessen.« Er hängte das Sakko an den Haken, zog die Schuhe aus und folgte seiner Frau ins Wohnzimmer. »Soll ich fragen, wie die Trauerfeier war?« Er musterte den Tisch, auf dem eine entkorkte Flasche Rotwein und eine Schüssel mit Knabbergebäck warteten.

Fee stellte das zweite Glas dazu.

»Nicht nötig. Es gibt nicht viel zu erzählen.« Um es nicht unnötig kompliziert zu machen, erwähnte sie Eugen erst gar nicht. »Lass uns lieber den Abend genießen. Alle unsere Vögelchen sind ausgeflogen. Janni spielt mit einem Freund Computer, Dési ist mit einem Verehrer im Kino, und Anneka und Noah sind beim Essen.«

»Klingt vielversprechend.« Da­niel streckte die Arme aus und zog seine Frau zu sich auf die Couch. Lachend ließ sie sich fallen und küsste ihn, ehe sie Wein einschenkte und ihm das Glas reichte.

»Danny hat mich übrigens gefragt, ob ich mal Lust habe, mit ihm Fußball zu schauen«, erklärte er, nachdem er mit ihr angestoßen hatte.

»Klar, warum nicht? Ich finde, das ist eine gute Idee«, stimmte sie sofort zu. »Wenn ihr schon so hart zusammen arbeitet, solltet ihr auch Spaß haben. Nur heute Abend nicht. Da will nämlich ich Spaß mit dir haben.«

»Du bist ein Schatz. Darf ich mich vorher ein bisschen ausruhen?« Bevor Fee antworten konnte, legte er den Kopf in ihren Schoß und machte es sich bequem.

»Alles, was du willst.« Sie nippte an ihrem Wein und massierte nebenbei seine Schläfe.

Genüsslich schloss Daniel die Augen und wollte gerade sanft entschlummern, als ihn das schrille Klingeln des Telefons aus den Träumen riss.

»Ich geh schon.« Seufzend rappelte sich Fee von der Couch hoch und ging hinaus in den Flur, wo der Apparat auf einer Kommode stand. »Noah, das ist ja eine Überraschung«, hörte Daniel sie sagen. Er stopfte sich ein Kissen in den Nacken und griff nach der Schale mit Erdnüssen. Nebenbei lauschte er auf die Stimme seiner Frau. »Anneka? Ich dachte, die ist bei dir. Sie hat gestern so was erwähnt, aber da hatte ich anderes im Kopf.« Kurzes Schweigen folgte. »Probier’s doch mal auf dem Handy. Ach, das hat sie ausgeschaltet. Komisch. Wenn ich was von ihr höre, sag ich dir Bescheid, in Ordnung?«

Daniel hörte, wie Fee sich von Noah verabschiedete. Wenig später kehrte sie zu ihm ins Wohnzimmer zurück.

»Stell dir vor: Anneka hatte eine Verabredung mit Noah zum Essen und hat ihn versetzt.«

Mit untergeschlagenem Bein setzte sie sich auf die Couch und bettete den Kopf ihres Mannes wieder in ihren Schoß. Das Telefon hatte sie vorsichtshalber mitgebracht.

»Er wird ihr schon einen Grund gegeben haben«, mutmaßte Daniel. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte er weder Lust, sich aufzuregen, noch sich einzumischen.

»Wer könnte wissen, wo sie steckt?«, dachte sie laut nach und starrte den Apparat an, als wüsste er die Antwort.

»Am besten, du fragst Tatjana. Da war Anneka doch gestern noch«, gab Daniel ihr einen Tipp.

»Gute Idee.« Fee wählte die Nummer. Das Telefonat dauerte nicht lang.

Als sie auflegte, war ihr Gesicht voller Mitgefühl.

»Geschieht ihm ganz recht«, schimpfte sie ärgerlich.

Daniel rollte sich auf die Seite und schickte ihr einen fragenden Blick. Nun war er doch neugierig.

»Was hat er angestellt?«

»Noah hat nur die halbe Wahrheit gesagt«, erwiderte Fee grimmig. »Er hat den Jahrestag vergessen und es vorgezogen, den Nachmittag mit seinen Jungs zu verbringen. Das Essen hat er kurzerhand auf heute Abend verschoben.«

»Wie mutig von ihm.« Daniel schnitt eine Grimasse. »Das würde ich nie wagen.«

»Weil du ein kluger, lebenserfahrener Mann bist.« Fee legte das Telefon weg und beugte sich über ihn. »Du weißt, wann man sich um eine Frau kümmern sollte und sie nicht leichtfertig der Konkurrenz überlässt.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»Anneka ist mit einem anderen unterwegs?«

»Mit Jakob. Ich kenne ihn. Netter junger Mann. Er hat eine Pflegerausbildung an der Klinik gemacht. Jetzt hat er eine Festanstellung und studiert nebenher an der Filmhochschule in München.«

»Wie passt denn das zusammen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist er einfach ein vielseitig interessierter Mensch mit einer sozialen Ader.«

»Oder aber, seine Eltern bestanden auf einer soliden Basis, bevor er in der schillernden Filmwelt den Boden unter den Füßen verliert«, brachte Dan einen weiteren Gedanken ins Spiel.

»Auch möglich.«

»Wie auch immer passt er mit dieser Einstellung perfekt zu unserer Tochter«, lächelte Daniel, ehe er seine Frau zu sich hinab zog, um sich so um sie zu kümmern, dass sie gar nicht auf die Idee kam, auch nur einen Gedanken an einen anderen zu verschwenden.

*

Das Licht im Restaurant war gedimmt, eine Kerze stand auf dem Tisch zwischen Jakob und Anneka. Sie saßen einander gegenüber und lächelten sich an.

»Ich bin echt beeindruckt«, gestand sie. »Auf der einen Seite bist du sozial total engagiert. Auf der anderen vergisst du aber auch dich und deine Träume nicht. Das ist voll cool.«

»Na ja … Vielen Dank.« Jakob freute sich über das Kompliment. Gleichzeitig machte es ihn verlegen. »Du bist ja auch ziemlich taff. Die Verantwortung, die du als Erzieherin übernehmen musst, ist schon enorm. Mal abgesehen von deinen armen Nerven. Ich könnte das nicht … Den ganzen Tag mit kreischenden, schreienden, ungezogenen Gören verbringen.«

»Man gewöhnt sich an alles.« Anneka drehte das Glas in den Händen. »Und ich hab ja auch noch ein Ziel. Später will ich mal in Richtung Traumatherapie für Jugendliche gehen. Die Psyche hat mich schon immer interessiert.« Sie spürte, wie Jakob seine Hand auf die ihre legte. Eine Geste, die ihr Herz berührte. Genau wie seine warme Stimme, als er fragte:

»Und wo bleibst du bei all dem?«

Diese Frage hatte ihr Noah noch nie gestellt.

»Ich?« Darüber musste Anneka zuerst nachdenken. »Ich würde wirklich gern ins Ausland gehen. Meine Einrichtung hat eine Partnerschaft mit einem Kindergarten in Auckland. Das würde mich schon reizen …«

»Neuseeland!« Unwillkürlich begannen Jakobs Augen zu glänzen. »Ich hab neulich eine Reportage gesehen. Die Natur dort ist einzigartig. Da leben Tierarten, die gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Und die Neuseeländer haben sensationelle Artenschutzprogramme auf die Beine gestellt …« In seiner Begeisterung griff er auch noch nach ihrer zweiten Hand … »O Mann, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich sofort da hingehen.«

Anneka starrte ihn fasziniert an. Wieder musste sie an Noah denken. Der hatte diese Gelegenheit mit einer müden Geste abgetan.

»Was willst du denn ganz allein da?«, hatte er gefragt. »Ich hab keine Lust, ein langes Jahr auf dich zu warten.« Damit war das Thema für ihn und somit auch für Anneka erledigt gewesen. Bis sie in Jakobs leuchtende Augen blickte.

»Du hast recht, vielleicht sollte ich noch einmal drüber nachdenken«, räumte sie ein, als ihr Blick auf die Uhr an der Wand hinter Jakob fiel. »Ach du liebe Zeit, schon so spät!« Erschrocken entzog sie ihm ihre Hände. »Ich muss los!« Sie sprang vom Stuhl auf und schlüpfte in die Jacke. Dann blieb sie am Tisch stehen und sah zu ihm hinunter. »Vielen Dank für diesen wunderschönen Abend. Ich hab mich schon lang nicht mehr so gut unterhalten.«

Bedauernd erhob sich Jakob. Auge in Auge standen sie sich gegenüber.

»Ich wünschte, er wäre noch nicht vorbei«, raunte er ihr zu, während er eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht strich.

Anneka schluckte.

»Ich auch«, gestand sie leise und wand sich vor Verlegenheit. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, aus Angst davor, schwach zu werden. Stattdessen starrte sie ein Loch in seine Brust. »Aber es geht nicht anders. Immerhin hab ich ja auch noch einen Freund. Auch wenn’s nicht unbedingt gut läuft zwischen uns. Deshalb will ich fair sein. Nicht nur zu ihm. Auch zu dir.«

»Verstehe.« Jakob rang sich ein Lächeln ab. »Du bist ein tolles Mädchen.« Er beugte sich vor und wollte ihr einen Abschiedskuss auf die Wange geben, als ein Kellner eine Gabel fallen ließ. Klappernd fiel das Besteck zu Boden. Anneka zuckte zusammen. Sie drehte den Kopf ein winziges Stück zur Seite, und Jakobs Lippen trafen die ihren. Im ersten Moment erstarrte sie, konnte der Versuchung aber nicht lange widerstehen. Magisch angezogen von diesem weichen Mund, dem ganzen betörenden Mann, küsste sie ihn zurück. Er löste sich sanft von ihr, sie lächelten sich an. Auf einmal waren alle Zweifel wie fortgeblasen. Anneka hob den Kopf. Diesmal war sie es, die ihn küsste.

Im Anschluss musterte Jakob sie mit einer Mischung aus Verlangen und Zurückhaltung.

»Weißt du denn, was du da tust?«, fragte er heiser und legte die Arme um ihre Schultern.

Die Antwort war ein weiterer Kuss. Diesmal blieben keine Fragen offen.

*

Zunächst konnte Dr. Daniel Norden das Geräusch nicht einordnen, das ihn im Morgengrauen weckte. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sein Handy war, das unbarmherzig vor sich hin klingelte. Bedauernd blickte Daniel hinab auf die schlafende Frau in seinem Arm. Er küsste Fee sanft auf die Stirn, ehe er sich aus ihrer Umarmung stahl. Mit dem Telefon in der Hand schlich er aus dem Zimmer.

»Matthias, bist du aus dem Bett gefallen?«, fragte er, während er die Treppe hinunterging.

»Schön wär’s! Leider war ich gar nicht erst drin.« Die Stimme des Kollegen klang müde. »Heute Nacht war die Hölle los.«

»Kein Wunder. Es ist Vollmond.« Daniel stand im düsteren Wohnzimmer am Fenster und blickte hinaus in den Garten, der vom ersten Tageslicht beschienen wurde. Ein blasser Mond starrte gespenstisch hinab auf die Erde.

»An so was glaub ich nicht.«

»Bestimmt rufst du mich nicht an, um mit mir über astronomische Phänomene und ihre Auswirkungen auf die menschliche Psyche zu diskutieren«, mutmaßte Daniel und wandte sich vom Fenster ab.

»Stimmt auffallend.« Matthias lachte kurz auf. »Ich soll dir schöne Grüße von einem deiner Patienten sagen. Arno Müller ist Zeitungsausträger und heute früh mit dem Fahrrad gegen eine Laterne gefahren. Er besteht darauf, dass du seine gebrochene Nase einrichtest. Von mir will er sich partout nicht anfassen lassen. Ich hab alles versucht.«

Erleichtert atmete Dr. Norden auf. Er hatte mit Schlimmerem gerechnet.

»Ich wusste ja gar nicht, dass ich so einen Fan habe«, erwiderte er. »Sag ihm, dass ich in einer Viertelstunde da bin.«

»Bei der Gelegenheit kannst du bei Tatjana in der Backstube vorbeifahren und ein paar frische Brezen mitbringen. Nach der Nacht hab ich mir eine Belohnung verdient«, erklärte Matthias noch, ehe er sich verabschiedete und Daniel sich daran machte, sein Versprechen einzulösen.

Zwanzig Minuten später tauchte er in der Notaufnahme auf. Als er den Kollegen Weigand fand, schwenkte er die Tüte aus der Backstube wie eine Trophäe über dem Kopf hin und her. Ein Leuchten erhellte Matthias‘ übernächtigtes Gesicht.

»Der Retter in der Not!«, begrüßte er Daniel und winkte ihn mit sich. Gemeinsam wanderten sie durch die Notaufnahme, in der es um diese Uhrzeit ruhig war. Die meisten Dramen spielten sich bis kurz vor Morgengrauen ab. »Zeit für einen Kaffee?«

»Ich seh zuerst nach meinem Patienten.«

»Herr Müller ist eingeschlafen.« Matthias blieb neben einer Tür stehen und hob den Zeigefinger. Dr. Norden lauschte. Tatsächlich drang lautes Schnarchen auf den Flur.

»Klingt, als zersägt er einen ganzen Wald«, grinste Daniel. »Bestimmt ist seine Frau froh, wenn er mitten in der Nacht das Haus verlässt«, mutmaßte er amüsiert und folgte Dr. Weigand in den Aufenthaltsraum. Verführerischer Kaffeeduft zog durchs Zimmer.

Zielstrebig ging Matthias auf die Schränke zu und nahm zwei Tassen und Teller heraus. Im Kühlschrank fand sich ein Stück Butter und eine angebrochene Packung Milch.

»Nicht gerade ein First-Class-Frühstück, aber immerhin.« Sie setzten sich an den Tisch und ließen sich Butterbrezen und Kaffee schmecken, während sie über dies und das plauderten.

»Wenn Fee mich so sehen würde, wäre sie sicher sauer«, bemerkte Dr. Norden launig und biss in seine Breze. »Sie wollte mich nicht gehen lassen.«

Matthias verdrehte die Augen. Mit zunehmender Verzweiflung war der gutaussehende Single auf der Suche nach einer Frau.

»Musst du mir dauernd unter die Nase reiben, wie schön es sein kann zu zweit?«, fragte er halb im Scherz, halb ernst. Ehe Daniel etwas erwidern konnte, fuhr er fort. »Apropos Fee. Sie wird sich freuen zu hören, dass ihr Jugendfreund die Nacht gut überstanden hat.« Er beugte sich vor, um ein weiteres Stück Butter zu nehmen. »Herr Körber hatte wirklich Glück im Unglück. Wenn Fee ihn nicht zufällig auf dieser Trauerfeier aufgesammelt hätte, wäre er heute mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr am Leben.« Matthias biss von der Breze ab.

Diese Zeit brauchte Daniel, um die Neuigkeit zu verdauen und sich zu fragen, warum seine Frau ihm nichts von diesem Erlebnis erzählt hatte.

Sollte er mit Matthias darüber sprechen?

Er entschied sich dagegen, zumal es langsam Zeit wurde, sich um den glücklosen Zeitungsausfahrer zu kümmern, wenn er nicht zu spät zur Sprechstunde kommen wollte.

»Ja, manchmal hat das Schicksal ein Einsehen«, wich er auf einen Allgemeinplatz aus.

Er steckte das letzte Stück der Breze in den Mund, leerte den Kaffee und stand auf. »Dann wollen wir Herrn Müller mal aus seinen Sägewerksträumen wecken.«

»Stört dich nicht, wenn ich noch hierbleibe?«, fragte Matthias und griff nach der Tüte aus Tatjanas Bäckerei.

Insgeheim gratulierte sich Dr. Norden, dass ihm der Kollege nichts angemerkt hatte.

»Kein Problem. Vor dir hat er ja eh Angst.« Er lächelte Weigand zu und verließ den Aufenthaltsraum. Die Tür war noch nicht hinter ihm ins Schloss gefallen, als das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.

*

Mutterseelenallein saß Fee in der Küche am Tresen und trank ihren Morgenkaffee, als sie sah, wie Noah den Gartenweg hinauf lief. Schlagartig hatte sie ein schlechtes Gewissen, war er doch am vergangenen Abend völlig in Vergessenheit geraten.

»Guten Morgen, Noah. Tut mir leid, dass ich mich gestern nicht mehr gemeldet habe«, entschuldigte sie sich noch an der Tür. »Aber ich habe nichts von Anneka gehört. Willst du einen Kaffee mit mir trinken? Meine liebe Familie schläft noch, ich bin ganz allein.«

Noah folgte ihrer Einladung hereinzukommen, schlug den Kaffee aber aus.

»Ist sie denn hier?«, erkundigte er sich und schickte einen Blick Richtung Treppe.

Diese Frage überraschte Fee.

»Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung«, musste sie gestehen, machte aber auch keine Anstalten nachzusehen. Im Grunde kam ihr Noah gerade recht, um ihm auf den Zahn zu fühlen. »Sag mal«, begann sie und kehrte in die Küche zurück.

Noah warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick die Treppe hinauf, ehe er ihr folgte.

»Was denn?«

»Ihr beiden hattet doch gestern Jahrestag, nicht wahr?«

Sie setzte sich an den Tresen und sah ihn fragend an. Noah dagegen blieb stehen. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher als ein Loch im Boden, in das er verschwinden konnte.

»Jaaaa, schooon«, erwiderte er gedehnt. »Sie wollte mich überraschen. Aber ich hab’s echt vergessen und schon was mit meinen Kumpels ausgemacht.« Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Nervös wippte er auf den Schuhsohlen vor und zurück. »Dafür wollte ich am Abend mit ihr weggehen. Aber dann ist Anneka nicht gekommen.«

»Ehrlich gesagt kann ich sie verstehen.« Fee war keine dieser Mütter, die ihre Kinder durch eine rosarote Brille betrachten. Sie fand beileibe nicht alles gut, was ihre Tochter tat. Doch diesmal war sie uneingeschränkt auf Annekas Seite. »Weißt du, sie hat tagelang darüber nachgedacht, womit sie dich überraschen könnte. Hat sich extra einen Tag freigenommen, sich ein Kleid von Tatjana geliehen. Und dann muss sie nicht nur feststellen, dass du nicht an euren Ehrentag gedacht hast, sondern bekommt auch noch einen Korb«, rechtfertigte sie ihre Meinung.

Betroffen senkte Noah den Kopf. All das hatte er nicht gewusst.

»Tut mir echt wahnsinnig leid. Aber jetzt kann ich’s leider nicht mehr ändern.« Nachdenklich starrte er auf den Boden. »Du findest, dass sich sie vernachlässige, oder?«

Felicitas stellte die Kaffeetasse zurück auf den Tresen und musterte ihn forschend.

»Ehrlich gesagt schon. Anneka ist eine junge Frau, die sich geliebt fühlen und mit ihrem Partner was erleben möchte.«

»Aber mein Job …« Angesichts von Fees Kopfschütteln hielt er inne. »Was?«

»Annekas Arbeit ist auch kein Zuckerschlecken. Den ganzen Tag mit kleinen Kindern … Das kann einem den letzten Nerv rauben.«

Abwehrend hob Noah die Hände. Wohl oder übel musste er einsehen, dass er diesen Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte.

»Ich mach’s wieder gut, versprochen!«, versprach er, diesmal mit etwas mehr Nachdruck. »Glaubst du, sie freut sich, wenn ich sie auf ein Wochenende einlade?« Fee wollte schon begeistert zustimmen, als er fortfuhr. »In Köln findet eine große Spielemesse statt. Da könnten wir zusammen hinfahren.«

Felicitas seufzte.

»Ich glaube nicht, dass du sie damit vom Hocker reißt.« Sie dachte kurz nach. »Wenn es unbedingt Spiele sein müssen, dann mach doch mit ihr einen Ausflug in den Europa-Park. Bestimmt findet ihr dort Sachen, die euch beiden Spaß machen.«

»Europa-Park?«, wiederholte Noah gedehnt. »Ich weiß nicht. Da ist mir zu viel Trubel.«

Mit jedem Satz verstand Fee ihre Tochter besser. Im Lauf der Zeit schien sich Noah tatsächlich in eine Schlaftablette verwandelt zu haben.

»Wenn du Anneka nicht verlieren willst, musst du ihr auch mal ein Stück entgegenkommen«, gab sie zu bedenken, als sie aufstand und ihre Tasse in den Geschirrspüler räumte. Es wurde Zeit, die Frühschicht in der Klinik anzutreten. Noah sah ihr dabei zu. »Eine gute Beziehung lebt vom Nehmen UND Geben.«

»Okay, ich denk mal drüber nach«, erwiderte er sichtlich unentschlossen und folgte ihr in den Flur.

»Tu das! Und jetzt muss ich dich leider rauswerfen. Ich muss gleich zur Arbeit.«

Noah warf einen letzten Blick auf die Treppe.

»Und Anneka?«

»Wird sich bei dir melden.« Fee nickte ihm zu und schob ihn mit sanfter Gewalt zur Tür.

Als sie endlich wieder allein war, seufzte sie auf, ehe sie ins Bad eilte und sich den letzten Schliff für den Tag verpasste.

*

Während Noah unverrichteter Dinge durch die Gegend lief, lag Anneka in Jakobs Armen. Die Morgensonne tauchte ihr Gesicht in goldenes Licht, sodass er den verliebten Blick nicht von ihr lösen konnte. Damit machte er sie verlegen.

»Langsam muss ich echt aufstehen. Sonst komm ich noch zu spät zur Arbeit«, murmelte sie. Beide wussten, dass das nur ein Vorwand war. Trotzdem widersprach er nicht. Sie schälte sich aus der Decke und verschwand im Bad.

Jakob blieb im Bett liegen und sah ihr dabei zu, wie sie zurückkehrte und sich anzog. Als sie sich über ihn beugte, um sich von ihm zu verabschieden, hielt er sie fest.

»Und? Wie geht’s jetzt weiter zwischen uns?«

Über diese Frage hatte sie selbst die halbe Nacht nachgedacht.

»Ich hab immer noch einen Freund«, erwiderte sie leise und senkte den Kopf. »Mit dem muss ich wohl zuerst reden, bevor ich über alles Weitere nachdenken kann.« Sie küsste ihn schnell, ehe sie sich mit sanfter Gewalt aus seinem Griff löste.

»Werde ich dich wiedersehen?« Diese Frage brannte wie Feuer in Jakobs Herz.

Am liebsten hätte sich Anneka in seine Arme geworfen und sich dort vor dem Rest der Welt versteckt, bis die Zeit das Problem gelöst hatte.

»Bestimmt«, erwiderte sie. »Und wenn’s nur ist, um Lebwohl zu sagen.« Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wandte sich ab und stürzte aus dem Zimmer und aus der Wohnung hinaus auf die Straße. Die freundliche Morgensonne empfing sie. Die Wärme auf der Haut war tröstlich, und langsam beruhigte sich Anneka.

»Alles wird gut. Alles wird gut.« Wie ein Mantra murmelte sie diese drei Worte vor sich hin, bis sie schließlich vor dem Kindergarten stand. Sie drückte gegen die Tür und fand sie verschlossen. »Kein Wunder, ist ja auch noch viel zu früh.« Anneka drehte sich um und fuhr erschrocken zurück. Ein mannshoher Schatten hatte sich zwischen sie und die Sonne geschoben. »Noah, bist du völlig übergeschnappt?« Sie presste beide Hände auf ihr wild schlagendes Herz.

»Tut mir leid.« Betreten machte er einen Schritt zurück. »Ich war bei deinen Eltern, aber Fee wollte nicht nachsehen, ob du zu Hause bist. Da dachte ich mir, ich warte einfach hier auf dich.« Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wo kommst du her?«

»Ich …« Vor ein paar Minuten war Anneka noch wild entschlossen gewesen, ihrem Freund reinen Wein einzuschenken. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, stellte sie fest, dass das nicht so einfach war, wie sie es sich vorgestellt hatte. »Ich hab gestern Abend zufällig einen alten Freund getroffen. Wir waren beim Essen und haben was getrunken. Deshalb wollte ich nicht mehr heimfahren.« Das war wenigstens nur eine halbe Lüge. Trotzdem staunte Anneka über Noahs Arglosigkeit.

»Kluges Mädchen.« Das Lob kam von Herzen. »Ich hab gestern auf dich gewartet. Aber ich versteh schon, dass du sauer warst. Immerhin hab ich dir die Überraschung vermasselt.«

Es war dieser Gleichmut, der Anneka reizte.

»Auffallend richtig«, gab sie scharf zurück. »Ich hab mir viele Gedanken gemacht, wie ich dich überraschen könnte …«

»Deine Mutter hat’s mir erzählt.«

Annekas Augen wurden schmal.

»Manchmal hab ich das Gefühl, dass du mit Mum mehr redest als mit mir.«

»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Noah matt, musste aber insgeheim zugeben, dass sie recht hatte. »Was hältst du davon, wenn wir beide nächstes Wochenende wegfahren? Nur wir zwei?«

Anneka musterte ihn argwöhnisch. So ein Vorschlag sah ihm gar nicht ähnlich. War es möglich, dass die Lektion vom vergangenen Tag Früchte trug? Oder steckte etwa ihre Mutter dahinter?

»Wo willst du denn hin?«

»Wie wär’s mit Europa-Park?«

Anneka überlegte kurz. Das war zwar nicht die Art von Abenteuer, von der sie träumte, aber immer noch besser als ein Fernsehabend zu Hause.

»Klingt gut«, räumte sie zögernd ein. Sie legte den Kopf schief und musterte ihn, während sie über die Monate nachdachte, die sie zusammen verbracht hatten. Nach den aufregenden Anfängen war nicht mehr viel passiert in ihrer Beziehung. Allzu schnell hatten sich die rosigen Wolken verzogen, und der Alltag war eingekehrt. Wie ein altes Ehepaar!, ging es ihr durch den Sinn. War es möglich, das Ruder noch herumzureißen? Und vor allen Dingen: Wollte sie es überhaupt noch?

Noah dagegen wertete Annekas Zustimmung als Versöhnung. Er legte die Hände um ihre Schultern und zog sie an sich. Als er sie küssen wollte, wich sie ihm aus. Doch er bemerkte es nicht. Zu sehr war er in Gedanken schon mit der Planung der Reiseroute beschäftigt.

»Das wird super!«, freute er sich. »Was hältst du davon, wenn wir eine richtige kleine Deutschland-Rundreise machen? Zuerst fahren wir von München nach Köln und am nächsten Tag auf dem Rückweg nach Rust.«

Im Kopf rechnete er die Kilometer nach.

»Bisschen viel für ein Wochenende. Meinst du, du bekommst nächsten Freitag frei? Dann ist es entspannter.«

Anneka verstand kein Wort.

»Was willst du denn in Köln?«, fragte sie verständnislos.

»Da ist doch die ›Gamescom‹, diese Wahnsinns-Spielemesse.« Noahs Augen leuchteten vor Begeisterung. »Deine Mutter meinte, dass man in einer Beziehung Kompromisse schließen muss. Deshalb fahren wir zuerst auf die Messe und danach in den Europa-Park.« Zufrieden mit dieser Lösung strahlte er sie an und wunderte sich, dass Anneka ihn energisch wegdrückte.

»Du bist ja noch verstrahlter, als ich dachte!«, schimpfte sie. Die Empörung funkelte in ihren Augen.

»Aber …«, wollte Noah widersprechen.

Doch da hatte sich Anneka bereits umgedreht und stürmte davon. Mit hängenden Schultern blieb er zurück und fragte sich, was er jetzt schon wieder falsch gemacht hatte.

*

Als der Wecker klingelte, grunzte Lenni nur und drehte sich auf die andere Seite.

Oskar dagegen war schon länger wach und hatte nur auf diesen Augenblick gewartet.

»Lenchen, bist du wach?« Er drehte sich zu ihr und rüttelte sie sanft an der Schulter.

»Hmmm«, brummte sie nur, gab aber sonst kein Lebenszeichen von sich.

»Ich hab eine tolle Idee gehabt, über die ich unbedingt mit dir reden muss«, fuhr er ungerührt fort.

»Später.«

»Aber später haben wir keine Zeit mehr.« Oskar warf einen Blick auf die Uhr. »Wir müssen jetzt aufstehen, sonst kommen wir zu spät.«

»Ich bin aber müde. Außerdem tut mir jeder Knochen im Leib weh.«

Diese Aussage aus dem Mund von Lenni war mehr als überraschend, zumal sie beim Thema Kiosk bisher die treibende Kraft gewesen war.

Oskar schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

»Das wird schon wieder, wenn du erst aufgestanden bist«, erklärte er ungerührt. »Sag mal, was hältst du davon, wenn wir diese neuartigen Obst- und Gemüsesäfte anbieten? Smoothies heißen die Dinger. Das wird bestimmt der Renner.«

Endlich drehte sich Lenni zu ihm um. Ihr Gesicht sprach Bände.

»Was willst du eigentlich? Wir können uns doch jetzt schon kaum retten vor lauter Gästen.«

Dass von ihr keine Begeisterungsstürme zu erwarten waren, wusste Oskar. Aber dass sie jegliche Zustimmung vermissen ließ, verwunderte ihn dann doch.

»Moment mal!«

Er sah sie fragend an. »Du warst doch diejenige, die mir zu wenig Hilfe vorgeworfen hat. Jetzt engagiere ich mich, und dann ist es auch wieder nicht recht.« Seufzend stand er auf und machte sich auf den Weg ins Bad. »Versteh einer die Frauen«, murmelte er unterwegs.

»Du solltest mir Arbeit abnehmen und keine neue machen«, schimpfte sie hinter ihm her.

Oskar steckte den Kopf noch einmal durch die Tür.

»Wer hat denn gestern nach Zeitschriften gesucht, um das Sortiment zu vergrößern, damit mehr Kunden in den Laden kommen?«

»Das is doch ganz was anderes«, schnaubte Lenni beleidigt.

»Ach ja? Das musst du mir nachher unbedingt erklären.« Er wollte nicht schon am Morgen einen Streit provozieren. Deshalb schluckte er seine Enttäuschung herunter. »Bleib ruhig noch ein bisschen liegen. Ich bringe dir gleich Kaffee ans Bett.«

Doch Lenni stand der Sinn nicht nach Versöhnung. Beleidigt saß sie im Bett und verschränkte die die Arme vor dem Körper.

»Du hast es ja glücklich geschafft, mich ganz aufzuwecken. Dann kann ich meinen Kaffee auch selbst kochen.«

»Meiner ist aber besser als deiner. Schon vergessen?«, erinnerte Oskar sie an einen ihrer versöhnlichen Momente, in denen sie ihm tatsächlich ein Kompliment gemacht hatte. Doch auch dieser Kommentar schien falsch gewesen zu sein. Sie sah aus, als wollte sie das Kissen nach ihm werfen. Deshalb verschwand er schnell, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Als er aber zehn Minuten später ins Schlafzimmer zurückkehrte, wurde er von schnaufendem Atmen empfangen. Lenni war wieder eingeschlafen.

*

Noch bevor Fee Norden an diesem Morgen in ihre Abteilung ging, machte sie einen Abstecher zu Eugen Körber. Sie klopfte an und lauschte. Als sie keine Antwort bekam, öffnete sie leise die Tür. Mit geschlossenen Augen lag er im Bett. Als er die Schritte wahrnahm, blinzelte er. Im nächsten Moment strahlte er wie die Sonne persönlich.

»Welch edler Glanz in meiner Hütte!«

Er streckte die Hand nach ihr aus.

Fee nahm sie und setzte sich auf die Bettkante.

»Wie geht’s dir, du alter Charmeur?«

»Das ›alt‹ hab ich überhört.« Er schmunzelte. »Vorhin dachte ich, ich sterbe. Aber jetzt fühle ich mich lebendig wie selten zuvor. Muss an dir liegen.«

Verlegen wich Fee seinem Blick aus. Obwohl er lächelte, lag ein seltsamer Ernst in seinen Augen, der ihr Angst machte. Sie konzentrierte sich lieber auf die Aufzeichnungen der Nachtschwester.

»Das sieht ja ganz gut aus.«

Eugen wurde ernst.

»Du musst mir keine Märchen erzählen.« Seufzend ließ er ihre Hand los und starrte hinüber an die andere Wand. »Ich will wissen, wie es um mich steht. Du brauchst mich nicht schonen. Hast du ja noch nie getan.«

»Eugen!«, erwiderte Fee streng und stand auf. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Zwischen uns war nie was.«

»Für mich schon. Und als ich dann das mit dir und diesem Norden gehört hab, ist für mich eine Welt zusammengebrochen.

»Ich habe dir nie Hoffnungen gemacht«, erklärte Felicitas entschieden. »Dazu warst du mir viel zu unstet. Die halbe Uni hat über deine amourösen Abenteuer getuschelt.«

Er wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er die Gedanken wie lästige Fliegen verscheuchen.

»Schon gut. Reden wir über was anderes. Wie viel Zeit bleibt mir noch?«

Fee kehrte zurück auf die Bettkante. Dieses Thema war ihr wesentlich angenehmer.

»Du wirst wieder gesund.«

»Das heißt, ich kann Pläne schmieden?«, fragte Eugen freudig überrascht.

»Das ist sogar wichtig. Wenn du ein Ziel vor Augen hast, beschleunigt das den Heilungsprozess.«

Ein anderer Gedanke kam ihr in den Sinn. »Gibt es eigentlich jemanden, den wir informieren sollen, dass du hier bist? Freunde? Familie?«

»Nein.« Eugen schüttelte den Kopf. »Kein Mensch vermisst mich.« Er seufzte. »Na ja, selbst schuld. Wer von einer Blüte zur nächsten fliegt und Verantwortung scheut, hat wohl nichts anderes verdient.«

Diese einsichtigen Worte rührten an Fees Herz.

»Es ist nie zu spät, sein Leben zu ändern«, versprach sie fast feierlich. »Du bist immer noch ein sehr attraktiver Mann.«

Sein Blick verklärte sich, als er unwillkürlich die Hand ausstreckte. Ehe Felicitas ahnte, was er vorhatte, spürte sie Fingerspitzen über ihre Wange streicheln.

»Du solltest nicht mit dem Feuer spielen«, sagte er rau.

Abrupt stand Fee auf. Seine Avancen waren ihr unangenehm.

»Ich muss los. Wir sehen uns später.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

Eugen lag in seinem Bett und sah ihr nach.

»Ja, lauf nur weg«, murmelte er vor sich hin. »Du wirst mir trotzdem nicht widerstehen können.« Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. »Bisher hab ich noch jede bekommen, die ich wollte. Und du wirst meine letzte sein.« Mit diesem tröstlichen Gedanken schloss er die Augen. Als eine Schwester ein paar Minuten später nach ihm sah, schlief er tief und fest, ein seliges Lächeln auf den Lippen.

*

Seit ihre Freundin und Kollegin auf Kur war, hatte Janine Merck in der Praxis Dr. Norden alle Hände voll zu tun. Sie nahm Daten von Patienten auf, wechselte Verbände, assistierte bei Behandlungen, bediente und pflegte medizinische Gerätschaften und übernahm Verwaltungs- und Abrechnungsaufgaben. Nebenbei nahm sie Pakete und Päckchen entgegen, spendete Trost und Zuspruch und stand ihren Chefs mit Rat und Tat zur Seite. Derart verwöhnt gesellte sich Danny an diesem Morgen in einer Pause zu ihr an den Tresen und sah ihr dabei zu, wie sie ein Formular ausfüllte.

»Kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte sie, ohne hochzustehen. Stattdessen öffnete sie die oberste Schublade ihres Schreibtisches und suchte nach dem Praxisstempel.

»Kaffee wäre schön. Außerdem wüsste ich gern, was mit meinem Vater los ist.«

Überrascht blickte Janine nun doch auf.

»Mache ich den Eindruck, als hätte ich noch Zeit für Küchendienst und psychologische Betrachtungen?«, fragte sie spitz. Angesichts des Chaos‘, das um sie herum herrschte, war diese Frage berechtigt.

»Schon gut.« Beschwörend hob Danny die Hände. »Soll ich ein Beruhigungsmittel bringen? Wir haben da was schönes Neues, das ich gern ausprobieren würde …« Geistesgegenwärtig duckte er sich, als eine Papierkugel auf ihn zuflog. Im selben Moment tauchte sein Vater hinter ihm auf.

Daniel Norden hatte keine Chance. Das Geschoss traf ihn mitten auf die Nase. Er stieß einen ärgerlichen Ruf aus. Vor Schreck schlug Janine die Hand auf den Mund.

»Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid«, rief sie und sprang vom Stuhl auf, um ihrem Chef zu Hilfe zu eilen. Gleich darauf stellte sie erleichtert fest, dass nichts passiert war.

»Im nächsten Leben sollten sie Basketball-Profi werden«, empfahl er ihr. »Oder Rugby. Ihre Wurfkraft scheint enorm zu sein.«

»Hat was mit Stressabbau zu tun«, erklärte sie und kehrte an den Schreibtisch zurück. »Hier geht’s drunter und drüber.«

Erst jetzt dachte Daniel Norden wieder an die Aushilfe, die er bei Dr. Behnisch angefordert hatte.

»Wollte Jenny nicht eine Assistentin schicken?«, erkundigte sich.

»Die hustet wie ein ganzer Kindergarten. Da hab ich dankend auf Hilfe verzichtet.«

»Ich würde Ihnen ja gern Urlaub versprechen, wenn Wendy wieder da ist. Aber dann kommen wir vom Regen in die Traufe«, dachte Dr. Norden laut über einen Ausgleich nach.

Doch Janine winkte ab.

»Schon in Ordnung. Solange ich Sie ab und zu mit Papierbällen bewerfen darf …«

Sie zwinkerte ihm zu und beugte sich wieder über ihre Arbeit.

Daniel lachte kurz auf. Doch die Freude erreichte seine Augen nicht. So beschloss Danny, ihn zur Rede zu stellen.

»Hast du mal einen Augenblick Zeit?« Er winkte ihn mit sich ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihm.

»Was gibt’s?«, erkundigte sich der Senior. »Eine unklare Diagnose? Ein schwieriger Patient?«

»Ein ungewöhnlich stiller Vater«, erklärte Danny grinsend.

»Na, hör mal. Das klingt ja, als wäre ich sonst ein Plappermaul.« Der Versuch, mit einem Scherz von seiner Stimmung abzulenken, scheiterte gründlich.

»Dad!« Danny zog eine Augenbraue hoch. »Mir kannst du nichts vormachen.«

Daniel setzte sich auf die Tischkante und verschlang die Finger ineinander. Er dachte kurz nach.

»Eigentlich gehört es sich nicht, dass ein Vater mit seinem Sohn über solche Themen spricht.« Es war ein letzter Versuch, dem Geständnis zu entgehen.

Er misslang.

»Dann bin ich halt jetzt nicht dein Sohn, sondern dein Vertrauter und Partner.«

Seufzend gab sich der Senior geschlagen.

»Also schön. Es geht um deine Mutter«, gestand er zögernd. »Seit Felix‘ Unfall und dieser unglaublich schweren Zeit haben wir uns voneinander entfernt. Manchmal weiß ich einfach nicht mehr, woran ich bei ihr bin.«

Dieses Geständnis überraschte Danny dann doch ziemlich.

»Wie kommst du denn auf so eine Idee?« Fast musste er lachen. »War das nicht früher genau umgekehrt?«

»Stimmt.« Daniel schnitt eine Grimasse. Er erinnerte sich gut an die Zeiten, in denen ihm die Frauen nachgestiegen waren und Fee kaum eine ruhige Minute gehabt hatte. Ein ganzes Leben schien seither vergangen zu sein, die Karten waren neu gemischt. Als er daran dachte, verging ihm das Lachen. »Na ja, zum einen ist da dieser neue Kollege … Götz Grabmann heißt er. Seit er in der Klinik ist, macht sie sich jeden Morgen besonders hübsch …«

Danny schickte seinem Vater einen ungläubigen Blick.

»Nicht dein Ernst, oder?«

»Was?«

»Deshalb machst du dir Sorgen? Da hätte ich bei Tatjana keine ruhige Minute mehr, so viele Männer, wie sie bei der Arbeit trifft.«

»Ist ja schon gut.« Ärgerlich winkte Daniel ab. »Das ist noch nicht alles. Matthias hat mich heute früh in die Klinik zu einem Patienten gerufen. Dabei hat er mir von Eugen Körber erzählt. Er ist ein Jugendfreund eurer Mutter. Sie hat ihn auf der Trauerfeier gestern wiedergesehen. Nachdem er mit einer Bauchfellentzündung zusammengebrochen ist, hat sie dafür gesorgt, dass er in die Klinik gebracht wird.«

»Ja und?« Danny verstand das Problem nicht.

»Obwohl sie darauf bestanden hat, bei der Operation zu assistieren, hat sie mir am Abend kein Wort davon erzählt.« Daniel hielt inne und musterte seinen Sohn forschend. »Findest du das nicht merkwürdig?«

Nachdenklich wiegte der Junior den Kopf, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte und ihn ablenkte.

»Janine, was gibt’s?«, fragte er nach einem Blick auf die Nummer in den Hörer.

»Noah ist hier. Er will mit dem Senior sprechen.«

»Oh.« Danny sah zu seinem Vater hinüber und zog eine Augenbraue hoch. »Aufstand der Frauen im Hause Norden?!?«

Janine lachte.

»Vielleicht haben sie ja allen Grund dazu.«

»Was soll denn das …«, wollte Danny einen scherzhaften Streit vom Zaun brechen, als er die Geste seines Vaters bemerkte. Ganz folgsamer Sohn kam er dem stummen Wunsch nach. »Schicken sie ihn rein.«

*

Als Tatjana Bohde gegen Mittag in den Kiosk kam, wunderte sie sich nicht schlecht. Wie immer summte und brummte es im Geschäft wie in einem Bienenstock. An der Theke hatte sich eine lange Schlange gebildet. Einen Moment stand sie still und ließ die Stimmung auf sich wirken, nahm jede Schwingung auf, die ihr zuflog.

»Du liebe Zeit, was ist denn hier los? Und wo steckt Lenni?« Auch diesmal ließ sie ihre Sensibilität nicht im Stich.

Oskar reichte dem Kunden das Wechselgeld und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, ehe er Tatjanas Frage beantwortete.

»Zu Hause, im Bett.«

Tatjana erschrak.

»Ist sie krank?«

»Müde«, erwiderte er und wandte sich an den nächsten Kunden. »Einen Augenblick bitte. Ich muss schnell kassieren.« Er war schon auf dem Sprung nach draußen, als Tatjana ihn davon abhielt.

»Das übernehme ich.« Kurzerhand nahm sie ihm die Kellnerbörse ab und ging hinaus in den Garten. Routiniert übernahm sie die Bedienung der Gäste, nahm Bestellungen auf, kassierte ab und brachte Speisen und Getränke nach draußen. Zu zweit gelang es ihnen, das Chaos zu bändigen. Der Strom der Besucher ebbte ab, und ein wenig Ruhe kehrte ein.

»Jetzt erzähl doch mal. Warum ist Lenni nicht gekommen?«, wollte sie von Oskar wissen, als sie gemeinsam an einem der Tische unter Palmen saßen.

Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ehrlich? Ich hab keine Ahnung.« Er zuckte mit den Schultern und steckte das Tuch wieder ein. »Zuerst hat sie sich bei mir beschwert, dass ich ihr nicht helfen will. Jetzt interessiere ich mich fürs Geschäft und bringe Ideen ein, und dann mache ich plötzlich zu viel Arbeit«, seufzte er aus tiefstem Herzen. »Egal, was ich tue, ich kann’s ihr einfach nicht recht machen.«

Tatjana hatte aufmerksam zugehört. Die Schilderung überraschte sie nicht.

»Wahrscheinlich hat sich die liebe Lenni selbst überschätzt mit der vielen Arbeit im Kiosk, kann es aber weder vor sich noch vor dir eingestehen. Und dass du das alles auch noch spielend wegsteckst, ärgert sie doppelt.«

»Aber das tu ich doch gar nicht«, stöhnte Oskar verzweifelt. »Du hast ja gesehen, was heute hier los war. Am liebsten würde ich sechs Wochen in Urlaub gehen.«

Tatjana lachte belustigt auf.

»Ihr zwei seid mir schon solche Herzchen.« Schnuppernd hob sie die Nase. »Ich lass mir was einfallen!«, versprach sie noch, ehe sie sich suchend umsah. Das Parfum, das ihr um die Nase wehte, kam ihr sehr bekannt vor.

»Aber verrat mich bitte nicht. Sonst erlebe ich den nächsten Morgen nicht«, bat Oskar sie augenzwinkernd.

»Versprochen!«, erwiderte sie, ehe sie sich Anneka zuwandte, die todunglücklich an den Tisch getreten war.

*

Den ganzen Vormittag lang war Fee Norden gut beschäftigt gewesen, sodass es ihr mühelos gelang, den Gedanken an Eugen zu verdrängen. In der Mittagspause meldete sich aber ihr schlechtes Gewissen, und sie beschloss, bei ihm vorbeizuschauen.

»Störe ich?«, fragte sie an der Tür.

Eugen saß halb aufrecht im Bett und blickte hoch. Er hatte gewusst, dass sie zurückkommen würde. Obwohl er sich nicht besonders gut fühlte, gelang es ihm, seinen Triumph zu verbergen.

»Allerdings. Ich wollte gerade eine Runde Golf spielen gehen«, scherzte er.

Lächelnd trat Fee ans Bett.

»Du hast es schon immer verstanden, mich zum Lachen zu bringen.«

Sie sah ihn forschend an. »Aber sag mal: Stimmt was nicht? Du bis ziemlich blass.« Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Überwachungsgeräte. »Und deine Werte sind auch nicht gerade berauschend. Hast du Schmerzen?«

Nie im Leben hätte Eugen zugegeben, dass sie recht hatte.

»Das ist allein deine Schuld. Du machst mir das Herz schwer.« Er lehnte sich zurück und musterte sie wieder mit diesem Blick, der ihr schon am Morgen Angst gemacht hatte. Fast bereute sie es, ihrem schlechten Gewissen nachgegeben und gekommen zu sein. Doch jetzt war es zu spät, und Davonlaufen war nicht ihr Ding. »Weißt du, was ich mich manchmal frage?« Geschickt lenkte er vom Thema ab. Der Plan ging auf.

Fee schluckte.

»Was denn?«, hakte sie tapfer nach.

Eugen wandte den Blick ab und ließ die Gedanken schweifen.

»Ob ich glücklicher geworden wäre, wenn es mir gelungen wäre, mich für eine Frau zu entscheiden, statt ständig auf der Jagd zu sein.« Er richtete die Augen auf Felicitas. »Wenn ich kein solcher Schürzenjäger gewesen wäre, hättest du dich dann für mi …« Mitten im Satz brach er ab. Sein Gesichtsausdruck war fast verwundert, als er blinzelte, ehe sein Kopf kraftlos zur Seite kippte. Im ersten Augenblick dachte Fee, er spielte ihr ein Theater vor. Als die Überwachungsgeräte Alarm schlugen, wusste sie, dass es ernst war.

»Um Gottes willen, Eugen! Hörst du mich? Komm zurück!« Sie beugte sich über ihn und klopfte ihm auf die Wangen. Vergeblich. Mit fliegenden Fingern drückte sie auf den Notknopf. Dann machte sie sich an die Reanimation.

Wenig später stürmte Matthias Weigand herein. Er fand Fee über den Patienten gebeugt. Die Szene wirkte befremdlich. Erst beim näheren Hinsehen sah er, dass sie den Patienten beatmete. Als sie die Anwesenheit des Kollegen bemerkte, richtete sie sich auf.

»Atemstillstand.«

Matthias Weigand zögerte nicht. Sekunden später stürzte eine Schwester herein und brachte die dringend benötigte Beatmungsmaske. Fee stülpte sie Eugen übers Gesicht, den starren Blick auf die Geräte gerichtet. Die Sekunden dehnten sich wie Stunden. Endlich entspannte sich ihre Miene. »Er atmet wieder.« Die Erleichterung forderte ihren Tribut. Schwach vom überstandenen Schreck legte sie die Arme um Matthias Weigands Hals und vergrub das Gesicht in seinem Kittel.

*

»Wegen Mum würde ich mich an deiner Stelle mal entspannen!« Diesen weisen Rat gab Danny Norden seinem Vater, bevor er sich diskret zurückzog, um Noah das Feld zu überlassen.

»Was kann ich für dich tun?«, begrüßte Dr. Norden den Freund seiner Tochter und musterte ihn aufmerksam. Die dunklen Ringe unter Noahs Augen zeugten von der schlaflosen Nacht, die er verbracht hat.

Der junge Mann antwortete nicht sofort. Mit den Händen in den Hosentaschen wanderte er im Sprechzimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Daniel stehen.

»Ich glaub, ich hab alles falsch gemacht, was geht«, seufzte er schließlich.

»Eine Glanzleistung war das mit eurem Jahrestag jedenfalls nicht«, musste Daniel zugeben.

»Ich weiß. Das hat mir Fee heute auch schon gesagt.«

»Du warst bei ihr?«

»Ich hab Anneka gesucht. Deshalb war ich bei euch zu Hause. Sie hat heute Nacht bei einem Freund übernachtet.«

Ratlos zuckte Daniel mit den Schultern.

»Meine Tochter ist erwachsen und mir keine Rechenschaft schuldig«, klärte er seinen Besucher auf.

»Ich weiß.« Noah setzte den rastlosen Marsch fort. »Auf jeden Fall hab ich vor dem Kindergarten auf sie gewartet und ihr vorgeschlagen, mit mir ein Wochenende wegzufahren.«

»Und?« Daniel blickte auf Noahs Rücken. Inzwischen stand er am Fenster und sah hinaus.

Als er sich umdrehte, war seine Miene ratlos.

»Ich hab ihr einen Kompromiss vorgeschlagen. Gamescom in Köln und dann Europa-Park in Rust. Und weißt du, was sie gemacht hat?«

»Du wirst es mir gleich erzählen.«

»Sie hat mich stehen gelassen.«

Das wunderte Daniel nicht. Trotzdem ließ er sich Zeit mit einer Antwort. Nur jetzt kein falsches Wort. Um Zeit zu gewinnen, bot er Noah einen Platz in der Besucherecke an und schenkte zwei Gläser Wasser ein. Dann setzte er sich zu ihm und nahm ihn ins Visier. Inzwischen hatte er beschlossen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

»Wahrscheinlich hat Anneka schon so viele Zugeständnisse in deine Richtung gemacht, dass sie was anderes von dir erwartet hat.«

Noah sah ihn mit großen Augen an.

»Zugeständnisse? Echt?« Seine Verwunderung war nicht gespielt. »Dabei dachte ich, dass in unserer Beziehung alles in Ordnung ist.«

Dr. Norden lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.

»Offenbar hat sie eine andere Sicht auf die Dinge als du.«

»Aber warum hat sie denn nichts gesagt?« Wie ein Häuflein Elend saß Noah vor Daniel und haderte mit seinem Schicksal.

»Vielleicht hat sie das, aber du hast ihr nicht zugehört. Oder sie nicht verstanden. Könnte das sein?«

»Ja … Nein … Ach, ich weiß doch auch nicht.« Noah raufte sich die Haare. »Wahrscheinlich bin ich doch nicht der Richtige für sie.« Er seufzte abgrundtief. »Obwohl sie mir das Gefühl gegeben hat, ich wär’s.«

Nachdenklich drehte Daniel das Glas in den Händen. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie sich Zurückweisung anfühlte. Selbst, wenn es schon lange her war. Er hätte dem jungen Mann gern Mut gemacht, wusste aber gleichzeitig, dass er das weder konnte noch durfte.

»Weißt du, Menschen verändern sich. Wenn es gut läuft, gehen sie in die gleiche Richtung. Wenn nicht, laufen sie in verschiedene Richtungen.« Bei diesen Worten fühlte er sich wie sein eigener Großvater.

»Und wie finde ich raus, ob wir immer noch das gleiche wollen?«, fragte Noah deprimiert.

Diese Frage erheiterte Daniel fast.

»Am besten, indem du mit ihr redest. Und zuhörst«, erwiderte er. »In aller Ruhe.«

Noah ließ sich den Rat durch den Kopf gehen. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper und er stand auf.

»Also gut. Einmal versuch ich’s noch. Vielen Dank für deinen Rat.« Er nickte zu Daniel hinunter und lief aus dem Zimmer, ehe der Arzt überhaupt Gelegenheit hatte aufzustehen. Daniel blieb noch einen Moment sitzen. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu seiner Frau. Die Vorstellung, Fee könnte ihn verlassen, war schrecklich. Er wollte nicht in Noahs Haut stecken.

*

Verzweifelt saß Anneka bei Oskar und Tatjana vor dem Kiosk und starrte auf den Holztisch. Die Windlichter aus Glas waren gefüllt mit Sand und Muscheln. Fehlte nur noch Meeresrauschen, dann war die Urlaubsstimmung perfekt. Doch dafür hatte die Arzttochter im Augenblick keinen Sinn.

»In Beziehungen gibt es nun mal nicht nur Sonnenschein, sondern auch Streit«, versuchte Oskar, ihr Mut zu machen. »Das siehst du ja an Lenchen und mir. Aber wenn man es zusammen schaffen will, dann geht das auch.«

Er legte seine Hand auf die ihre und drückte sie.

Anneka wandte ihm ihr unglückliches Gesicht zu.

»Und was, wenn man nicht weiß, ob man noch will?« In ihren Augen glitzerten Tränen.

Tatjana hatte sich inzwischen ihre ganz eigenen Gedanken gemacht.

»Weißt du denn, was du überhaupt willst?«, stellte sie eine berechtigte Frage, über die Anneka erstaunlicherweise nicht nachdenken musste.

»Ich will frei sein, jung, was erleben. Und nicht jetzt schon als Teil eines alten Ehepaares enden. Das ist mir dann doch zu wenig.«

»Liebst du Noah denn noch?«, fragte Oskar.

»Liebe?« Anneka seufzte und angelte eine Muschel aus dem Glas. »Keine Ahnung. Vielleicht hänge ich auch nur an ihm. Aus Gewohnheit.« Sie starrte die Muschel in ihren Händen an, als könnte sie darin die Antwort lesen. »Ich meine, er war meine erste Liebe. Das ist schon was Besonderes.«

Ungerührt zuckte Tatjana mit den Schultern.

»Wenn du mich fragst, wird die erste Liebe hoffnungslos überbewertet. Oder was sagst du dazu, Oskar?«

»Wie? Was?« Irritiert fuhr er zu ihr herum. »Die erste Liebe … warte mal, da muss ich mal überlegen.« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Das war Angelika. Die hübsche blonde Angelika … Oder hatte sie braune Haare … Na, so was.« Verwirrt sah er die beiden Frauen am Tisch an. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Tatjana lachte.

»So viel zum Thema erste Liebe.«

Anneka lachte mit ihr, aber nur kurz.

»Na schön«, seufzte sie dann. »Nehmen wir an, ich versuche es mit Jakob. Den kenne ich kaum. Was, wenn ich nach einer Weile feststelle, dass Noah doch der Richtige war?«

»No risk, no fun«, erwiderte Tatjana und spitzte die Ohren. Obwohl sie die Gäste schemenhaft erkannte, verließ sie sich doch lieber auf ihr ausgezeichnetes Gehör. Die vielen Stimmen, gepaart mit Fußgetrappel, verrieten ihr, dass mehrere neue Gäste darauf warteten, bedient zu werden. »Du wolltest doch Abenteuer erleben.« Sie zwinkeret Anneka zu und stand auf, um sich an die Arbeit zu machen.

»Warte, ich helfe dir!«, rief Oskar ihr nach und machte Anstalten, ihr zu folgen.

Tatjana hinderte ihn daran. Ein freches Grinsen spielte um ihren großen Mund.

»Nicht nötig. Erzähl du lieber Anneka von deinen Erfahrungen mit Frauen. Vielleicht weiß sie dann, was zu tun ist.« Damit ließ sie die beiden allein.

Ratlos saß Oskar am Tisch und dachte nach.

»Meine Erfahrungen mit Frauen«, grummelte er vor sich hin. »Ich hab sie alle geliebt, so viel steht fest. Und bei jeder dachte ich: Das ist sie, die große Liebe. Die eine, die für immer hält.« Er lauschte dem Nachhall seiner Stimme und nickte.

Anneka sah ihn an.

»Bei Lenni auch?«

»Natürlich auch bei Lenchen!«, erklärte Oskar mit Nachdruck. »Ich glaube, das ist das ganze Geheimnis: Wenn man nicht mit vollem Herzen bei der Sache ist, hat es keinen Zweck.«

Diese Worte ließ sich Anneka gründlich durch den Kopf gehen. Plötzlich beugte sie sich zu Oskar und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Danke, du hast mir sehr geholfen.« Mit einem Fingerzeig auf die Uhr stand sie auf. »Ich muss zurück zur Arbeit.«

Oskar sah ihr nach, wie sie sich an Stühlen und Tischen vorbeischlängelte.

»Und? Wie wirst du dich entscheiden?«, rief er ihr neugierig nach.

Doch entweder hörte sie ihn nicht mehr oder sie tat nur so. Jedenfalls blieb sie ihm eine Antwort schuldig, und er blieb unverrichteter Dinge zurück.

*

Nicht ahnend, dass seine Tochter Anneka die Klinik gerade am Haupteingang verließ, betrat ihr Vater sie durch einen der Seiteneingängen. Er wollte die Mittagspause dazu nutzen, seinen Patienten Arno Müller zu besuchen. Gerade war er im Begriff, das Zimmer zu betreten, als sich die Tür öffnete und eine Schwester herauskam.

Beim Anblick des Arztes legte sie den Zeigefinger auf die Lippen.

»Er schläft.«

»Oh.« Gemeinsam mit ihr ging er zum Schwesternzimmer. »Wie geht’s ihm?«

»Die Nase haben Sie perfekt hinbekommen. Den Rest müssen wir abwarten. Wenn sich bis morgen keine Anzeichen einer Gehirnerschütterung zeigen, kann er heimgehen.«

»Gut.« Daniel nickte zufrieden. »Bitte informieren Sie mich, falls sich sein Zustand überraschend verändert.«

»Natürlich.« Die Schwester – er kannte sie nicht ­– lächelte ihn freundlich an. »Kann ich sonst noch was für Sie tun, Herr Dr. Norden?«

»Nein, danke.« Er wunderte sich kurz darüber, dass sie seinen Namen kannte, fragte aber nicht nach. Er verabschiedete sich und ging davon. Während er überlegte, was er mit der gewonnenen Zeit anfangen sollte, führten ihn seine Schritte geradewegs in die Abteilung, auf der Eugen Körber der Genesung entgegen schlummerte.

Als er bemerkte, wo er unbewusst gelandet war, machte er sich auf die Suche. Ohne eine Schwester oder einen Kollegen um Rat zu fragen, ging er von Tür zu Tür und studierte die Namen der Patienten, die auf kleinen Schildern daneben standen. Als er Eugen Körbers Namen las, zögerte er nur kurz. Er fühlte sich wie ein Verräter, konnte sich aber nicht zurückhalten und trat leise ein. Was er hier wollte, das wusste er selbst nicht so genau.

Als Eugen die Tür hörte, öffnete er schlaftrunken die Augen.

»Herr Doktor …« Verwirrt glitt sein Blick durchs Zimmer. »Ich lebe ja noch.«

Daniel Norden griff nach der Patientenakte und verschaffte sich einen Überblick. Das, was er zu lesen bekam, überraschte ihn.

»Sie können von Glück sagen, dass Frau Dr. Norden bei Ihnen war, als Sie kollabiert sind.«

Als er Fees Namen nannte, huschte ein Leuchten über Eugens Gesicht.

»Sie ist mein Schutzengel. Ich weiß gar nicht, wie ich ihr danken soll.«

Die Eifersucht schnürte Daniel den Magen zu.

»Das ist nicht nötig. Sie hat nur ihre Arbeit gemacht.« Er legte die Akte zurück auf den Ablagetisch am Fußende des Bettes. Er steckte die Hände in die Taschen seiner weißen Jeans. »Kennen Sie Frau Dr. Norden eigentlich gut?«

»Ja.« Eugens Züge verklärten sich. »Aber das ist lange her. Heute könnte ich mich verfluchen, dass ich meine Chance damals nicht ergriffen habe. Der Mann, der sie bekommen hat, ist ein Glückspilz.« Plötzlich meinte Daniel, einen grimmigen Zug um Eugens Mund zu sehen. »Aber noch ist nicht aller Tage Abend.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Dr. Norden misstrauisch.

Eugen lachte rau und heftete den Blick auf Daniel.

»Ich bitte Sie. Das Schicksal hat dafür gesorgt, dass wir uns ein zweites Mal begegnen. Das soll nicht umsonst gewesen sein.«

Daniel Norden schluckte die ärgerliche Bemerkung herunter.

»Das klingt so, als würde sie Ihnen viel bedeuten«, sagte er stattdessen.

»Ich komme mir vor, als wäre ich wieder ein Teenager.« Amüsiert schüttelte Eugen den Kopf. »Grausam ist das, sag ich Ihnen.«

In diesem Moment hatte Daniel Norden zwei Möglichkeiten. Entweder er gab sich zu erkennen und provozierte eine Auseinandersetzung, die dem Patienten in seinem labilen Zustand mit Sicherheit geschadet hätte. Oder aber er zog sich unerkannt zurück.

Nach kurzem Hadern entschied er sich für Letzteres.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Er nickte Eugen zu und trat den Rückzug an.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als er in Laufschritt verfiel. Um ein Haar übersah er den Kollegen Weigand, der auf dem Weg zum Patienten Körber war.

»Um Gottes willen, Daniel. Pass doch auf! Unsere Betten sind alle belegt. Da ist kein Platz mehr für mich.«

Doch der blieb noch nicht einmal stehen.

»Tut mir leid!«, rief er im Weitereilen. »Kommt nicht wieder vor.«

Matthias Weigand stand da und sah ihm aus schmalen Augen nach. Es war nicht schwierig, eins und eins zusammen zu zählen und er beschloss, gleich nach dem Besuch bei Eugen mit Fee zu sprechen. Ein Unwetter war im Anmarsch, und er wollte alles in seiner Macht stehende dafür tun, um die Schäden so gering wie möglich zu halten.

*

Der Mittag war vorbei, und allmählich wurde es ruhiger im Kiosk. Heimlich sah Tatjana auf die Uhr. In ihrem Café ›Schöne Aussichten? warteten der Lehrling Titus und ihre Angestellte Marla wahrscheinlich händeringend auf ihre Rückkehr.

»Glaubst du, du schaffst es jetzt allein?«, fragte sie Oskar, als sie energische Schritte hörte, die sie sofort einordnen konnte.

»Er muss es nicht allein schaffen. Jetzt bin ich ja da!«, erklärte Lenni und stellte demonstrativ ihre Handtasche auf den Tresen. »Seht mal, was ich mitgebracht habe.«

Oskar und Tatjana starrten sie gleichermaßen an.

»Aber ich hab dir doch einen Zettel geschrieben, dass du daheim bleiben und dich ausruhen sollst«, erwiderte Oskar.

»Ausruhen? Papperlapapp.« Ungeduldig wedelte Lenni mit der Hand durch die Luft. »Jetzt schaut doch mal her!«, wiederholte sie ihre Forderung mit Nachdruck. Sie öffnete die Tasche und zauberte ein Gerät hervor, das Ähnlichkeit mit einem Standmixer hatte.

Tatjana umfasste es und ließ ihre Hände daran hinab gleiten.

»Wozu brauchen wir denn einen Mixer?«, fragte sie verständnislos.

In diesem Moment fiel es Oskar wie Schuppen von den Augen.

»Das ist ein Smoothie-Maker!« Er sah Lenni verdutzt an. »Ich dachte, das wäre dir zu viel Arbeit.« Im Gegensatz zu Tatjana bemerkte er, wie ihre Wangen flammend rot wurden.

»Ach was. Das musst du falsch verstanden haben.«

Schon lag Oskar ein Widerspruch auf den Lippen. Um sie vor Tatjana nicht bloßzustellen, verzichtete er aber darauf.

Tatjanas fragender Blick wanderte von einem zum anderen.

»Was habt ihr denn damit vor?«

Ehe Lenni antworten konnte, übernahm Oskar das Wort.

»Lenchen hatte die tolle Idee, frische Smoothies anzubieten. Du weißt schon, diese modernen Drinks aus püriertem Obst und Gemüse. Das wird bestimmt der Renner bei unseren Kunden.«

»Und kommt ihrer Gesundheit zugute«, ergänzte Lenni im Brustton der Überzeugung.

»Tolle Idee!« Tatjanas Stimme war voller Anerkennung. »Könnte glatt von mir stammen.«

Am liebsten hätte sie die neue Maschine gleich an Ort und Stelle ausprobiert. Doch die Zeit drängte.

»Seid mir nicht böse, aber ich muss jetzt wirklich los. Aber morgen probiere ich einen Smoothie, versprochen.« Sie umarmte die beiden und drückte jedem einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Lenni und Oskar blieben allein zurück. Betreten drehte sie sich zu ihm um.

»Danke, dass du mich nicht vorgeführt hast.« Sie streckte die Hand aus und streichelte ihm über die Wange. Angesichts dieser seltenen Zärtlichkeit ging Oskar das Herz auf.

»Warum sollte ich das tun?«, fragte er heiser. »Ohne dich wäre mir das nie eingefallen. Du inspirierst mich. Deshalb ist die Idee genauso deine wie meine.«

Lenni lächelte zärtlich.

»Das hast du schön gesagt.« Doch der weiche Moment verging so schnell, wie er gekommen war. »Und jetzt ab mit dir! Wir müssen die Tafel ändern. Heute haben wir Trauben-Spinat-Smoothie im Angebot.« Entschieden packte sie die Maschine wieder ein und drückte sie Oskar in die Hand. Der fügte sich klaglos in sein Schicksal. Lenni war die ultimative Herausforderung und stellte sein Durchhaltevermögen immer wieder auf die Probe. Doch eines war gewiss: Langweilig würde es nie mit ihr werden.

*

Felicitas saß am Schreibtisch und versuchte, Befunde zu diktieren. Doch es war wie verhext. Wieder und wieder versprach sie sich und war dankbar, als es klopfte. Selbst Lammers wäre ihr in diesem Moment gelegen gekommen. An ihm hätte sie ihre schlechte Laune abreagieren können. Doch es war der Kollege Weigand, der ihrer Aufforderung folgte und eintrat.

»Matthias!« Ein müdes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich zurücklehnte. »Wie geht’s unserem Sorgenkind?«, fragte sie in der Annahme, Eugen sei der Grund seines Besuchs. Seine Antwort überraschte sie.

»Ich war nicht bei ihm. Das hat jemand anderer erledigt.«

Fee runzelte die Stirn.

»Ach ja? Und wer?«, fragte sie unsicher.

Matthias sah sie mit schief gelegtem Kopf an.

»Täusche ich mich, oder hast du ein schlechtes Gewissen?«, stellte er eine Gegenfrage, während er sich auf die Schreibtischkante setzte.

»Wie meinst du das?«

Matthias lächelte.

»Wir beide kennen uns ja schon eine Weile. Mir ist aufgefallen, dass du irgendwie verändert bist, seit dieser Eugen Körber in der Klinik ist.«

Fee schluckte, hielt seinem Blick aber tapfer stand.

»Schon möglich. Er macht mich nervös«, gestand sie offen.

»Offenbar nicht nur dich«, erwiderte Matthias ernst. »Es war Daniel, der ihm heute einen Besuch abgestattet hat.« Er hielt kurz inne und sah sie forschend an. »Es geht mich ja nichts an. Aber könnte es sein, dass sich dein Mann Sorgen macht?«

Fee war sichtlich überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Daniel? Aber warum denn? Er hat überhaupt keinen Grund dazu.«

»Schaut ganz danach aus, als ob er das anders sieht.«

Felicitas nahm sich Zeit, um nachzudenken. Schließlich stand sie auf, und auch Matthias rutschte von der Tischkante.

»Ich denke, es wird Zeit, dass ich mal eine klare Ansage mache.« Ihre Augen funkelten.

Ein gutes Zeichen, wie Weigand befand.

»Eine hervorragende Idee.« Er reckte den Daumen der rechten Hand hoch, ehe er gemeinsam mit seiner Freundin und Kollegin das Büro verließ. An einer Ecke trennten sich ihre Wege.

»Danke für den Tipp!« Fee lächelte den Freund und Kollegen an und winkte ihm zum Abschied. Dann eilte sie zielstrebig davon, um ihr Vorhaben umgehend in die Tat umzusetzen.

*

An diesem Nachmittag wurden die Kinder schon früh aus dem Kindergarten ›Alte Linde‹, abgeholt, in dem Anneka ihr Praktikum absolvierte.

»Wunderbar! Ein paar zusätzliche freie Stunden lasse ich mir gern gefallen«, erklärte die Leiterin. »Dann sperren wir zu und genießen das schöne Wetter.« Sie nickte in die Runde ihrer Mitarbeiterinnen. »Viel Spaß beim Baden, oder was auch immer Sie mit den geschenkten Stunden vorhaben.«

Gut gelaunt packten die Kolleginnen zusammen und machten sich lachend und plaudernd auf den Nachhauseweg. Nur Anneka war still und in sich gekehrt. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie eine schwierige Aufgabe zu lösen, die sie so schnell wie möglich angehen wollte. Noch auf dem Weg zur U-Bahnstation verabredete sie sich mit Jakob. Er hatte Dienst und bat um ein Treffen im ›Allerlei‹. Das war gefährlich. Noah hatte die Nachmittagsschicht und konnte sie jederzeit in der Klinik entdecken. Doch dieses Risiko musste sie eingehen, wenn sie sich Klarheit verschaffen wollte.

So kam es, dass sie eine halbe Stunde später wieder an einem der Tische vor dem Kiosk saß.

»Nanu, du kannst dich heute ja gar nicht von uns trennen«, begrüßte Oskar sie freudig.

Doch Anneka war nicht in Plauderlaune. Sie hatte Jakob entdeckt, der zielstrebig auf sie zukam. Oskars Augen folgten ihrem starren Blick. Er verstand sofort und zog sich diskret zurück.

Als sich Jakob zu Anneka an den Tisch setzte, war er sichtlich zerrissen. Einerseits freute er sich über das unverhoffte Wiedersehen. Andererseits wusste er nicht, was ihn erwartete.

»Hallo, schöne Frau!« Er beugte sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Schön dich zu sehen. Wie geht’s dir?«

Anneka sah ihn nur kurz an. Dann senkte sie den Kopf und starrte auf ihre Hände, die ineinander verschlungen auf dem Tisch lagen.

»Das versuche ich gerade herauszufinden«, gestand sie leise.

»Oh!« Das war nicht die Antwort, auf die Jakob gehofft hatte. »Kann ich dir dabei irgendwie behilflich sein?«

»Ich weiß nicht.« Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Ich muss eine Entscheidung treffen und weiß nicht, welche.« Auf dem Weg hierher hatte sie beschlossen, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Sie hob den Kopf und sah Jakob tapfer in die Augen. »Weißt du, Noah war meine erste Liebe. Ich bin schon eine Weile mit ihm zusammen, kenne ihn in- und auswendig.«

»Glücklich bist du aber nicht«, warf Jakob ein, dem die Schilderung über seinen Konkurrenten sichtlich missfiel.

»Nein.« Seufzend schüttelte Anneka den Kopf. »Deshalb konnte das mit dir ja überhaupt passieren. Wenn eine Beziehung in Ordnung ist, verliebt man sich nicht einfach so.«

Ein warmes Lächeln huschte über Jakobs Gesicht. Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest.

»Immerhin weißt du, dass du in mich verliebt bist«, erklärte er warm. »Das ist doch schon mal eine wichtige Erkenntnis.«

Anneka war anderer Ansicht.

»Aber sie hilft mir nicht gerade weiter«, erwiderte sie. »Ich sitze total zwischen den Stühlen …«

Ihr Anblick rührte an Jakobs liebeskrankes Herz. Er zog ihre Hände an seinen Mund und bedeckte sie mit kleinen Küssen.

Lenni und Oskar beobachteten das Paar aus der Ferne. Sie bemerkten etwas, wofür weder Anneka noch Jakob im Moment Augen hatten. Noah hatte die Szene betreten, seine Freundin an einem der Tische entdeckt und steuerte geradewegs auf sie zu.

»Au weia, das sieht nach Ärger aus!«, murmelte Oskar.

»Na los, geh dazwischen!«, fuhr Lenni ihn an und wollte ihn nach vorn schieben.

Doch Oskar setzte sich entschieden zur Wehr.

»Kommt überhaupt nicht in Frage! Das müssen die jungen Leute schon selbst regeln.« Er drehte sich zu seinem Lenchen um und musterte sie streng. »Oder würdest du wollen, dass ich mir Hilfe hole, wenn du mich mal wieder anmaulst.«

Im ersten Moment war sie völlig konsterniert.

»Ich maule dich doch nicht an!«, widersprach sie im nächsten Moment entrüstet und konzentrierte sich schnell wieder auf Noah, der sein Ziel inzwischen erreicht hatte.

»Hände weg von meiner Freundin!« Seine wütende Stimme tönte durch die Halle. Ehe Anneka begriff, was geschah, packte er Jakob von hinten am Kragen und riss ihn vom Stuhl.

Der fuhr zu herum und umklammerte seine Oberarme. Wie zwei schnaubende Stiere standen sich die beiden gegenüber.

»Ich schätze, das kann ›deine‹ Freundin selbst entscheiden«, schnauzte Jakob zurück, während sie miteinander rangelten.

»Du zerstörst nicht meine Beziehung!«, keuchte Noah. Der Pfleger war gut trainiert und kein einfacher Gegner. Vor Anstrengung traten ihm feine Schweißperlen auf der Stirn.

Jakob lachte auf.

»Welche Beziehung denn?«

Mit diesem Satz brachte er Noah endgültig aus der Fassung. Mit einer geschickten Drehung, die er bei seiner Ausbildung gelernt hatte, um sich aus der Umklammerung eines in Panik geratenen Menschen zu befreien, wollte er Jakob überraschen.

Der Plan ging nicht auf. Geistesgegenwärtig klammerte sich sein Konkurrent fest, sodass sie beide zu Boden gingen. Ineinander verschlungen wälzten sie sich zwischen Tischen und Stühlen.

Fassungslos und umringt von Gästen stand Anneka davor und sah ihnen dabei zu.

»Seid ihr eigentlich total übergeschnappt?«, schrie sie. »Hört sofort auf damit!«

Doch weder Jakob noch Noah hörten auf sie. Verbissen kämpften sie miteinander. Den Grund für ihre Auseinandersetzung schienen sie längst vergessen zu haben. Endlich zeugten eilige Schritte davon, dass Rettung im Anmarsch war. Volker Lammers hatte sich eine von Tatjanas er­frischenden Limonen-Quarktaschen holen wollen, als er Zeuge der Keilerei wurde. Beherzt ging er dazwischen. Er packte die beiden Streithähne kurzerhand am Schlafittchen und zerrte sie auf die Beine.

»Der Kindergarten ist gleich neben der Pädiatrie!«, fauchte er. »Oder soll ich euch gleich in die Psychiatrie einweisen?« Zornig starrte er von einem zum anderen.

»Schon gut. Lassen Sie mich los!« Ohne den wütenden Blick von Noah zu wenden, machte sich Jakob mit einem Ruck frei. »Schätze mal, der Kleine hat begriffen, wer der Boss ist.« Er drehte sich zu Anneka um und wollte ihre Hand nehmen. »Komm, Baby, wir gehen.«

Energisch zog sie den Arm weg. Ihr herablassender Blick strafte sie beide.

»Ihr zwei tut mir echt leid.« In gespieltem Mitleid schüttelte sie den Kopf. »Neid und Eifersucht sind schon schlimme Krankheiten«, fuhr sie fort. »Ich wünsch euch gute Besserung!« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon, sich der fassungslosen Blicke in ihrem Rücken wohl bewusst.

Mit dieser Reaktion imponierte sie sogar Volker Lammers.

»Alle Achtung. Das Kind muss adoptiert sein. Das passt gar nicht in diese Familie«, murmelte er grinsend, während er seinen ursprünglichen Plan in die Tat umsetzte und den Kiosk betrat.

Die beiden Streithähne standen noch immer draußen.

»Aber Anneka, wo willst du denn hin?«, rief Noah ihr hilflos nach. Seine Wut war verraucht, und er wirkte wie ein Schuljunge, dem das Pausenbrot geklaut worden war.

Wohl oder übel musste Jakob lachen. Es klang abfällig.

»Was denkst du denn? Sie hat die Schnauze voll von uns Kindergartenkindern, und ich kann’s ihr noch nicht mal verdenken.« Er sah so aus, als hätte er Noah am liebsten den Hals umgedreht. »Daran bist nur du schuld, du Trottel.« Er ballte die Fäuste, drehte sich dann aber um und marschierte davon.

Auch Noah schlich wenig später über den Flur zurück in die Notaufnahme, und die Versammlung löste sich auf. Lenni und Oskar wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.

»Unsere Kleine. Wer hätte das gedacht!«, erklärte Oskar, sichtlich zufrieden mit Annekas Entscheidung. Zu seiner großen Überraschung widersprach Lenni nicht. Diesmal war sie einer Meinung mit dem Mann ihres Herzens. Ihre vergnügte Miene verriet es ihm.

*

Vor Eugen Körbers Krankenzimmer angekommen, musste Fee innehalten, um sich zu sammeln. Sie stand noch vor der Tür, als sie leise Stimmen hörte. Sie kamen aus dem Schwesternzimmer. Unwillkürlich spitzte sie die Ohren.

»… war Dr. Norden hier«, sagte eine Frau. »Den würd ich auch nicht von der Bettkante stoßen.«

»Ich weiß nicht … der wär mir zu alt«, erwiderte eine andere. Nur mit Mühe konnte Fee ein Glucksen unterdrücken.

»Ach, Quatsch! Auf alten Fahrrädern lernt man das Fahren!« Die Schwester kicherte wie ein Teenie. »Und ihm würd’s sicher auch Spaß machen, so lange, wie der schon mit seiner Frau zusammen ist. Das muss doch langweilig sein.«

Das wollen wir doch erst einmal sehen!, ging es Felicitas durch den Sinn. Sie beschloss, dass sie genug gehört hatte, und konzentrierte sich wieder auf ihr eigentliches Vorhaben. Mit einem kurzen Klopfen trat sie ein.

Als Eugen die Jugendfreundin erblickte, lächelte er strahlend.

»Mein Schutzengel! Wie schön!« Doch Fee tat ihm nicht den Gefallen, sein Lächeln zu erwidern. »Gefällt dir Lebensretterin besser?«, versuchte er es noch einmal.

»Keines von beiden. Ich hab nur meine Arbeit gemacht.« Ohne es zu wissen, benutzte sie dieselbe Begründung wie ihr Mann. »Ich muss mit dir reden.« Statt sich wie sonst an sein Bett zu setzen, blieb Felicitas am Fußende stehen und legte die Hände auf die Umrandung.

Eugen wurde ernst. Er richtete sich auf und sah sie besorgt an.

»Das klingt aber nicht gut.« Seine Augen wurden schmal. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn an früher. »Diesen Blick kenne ich. So hast du mich schon mal angeschaut. Damals, als du deinen Mann kennengelernt hattest und dich von mir verabschiedet hast.«

»Deshalb bin ich auch jetzt hier«, erwiderte Felicitas mit fester Stimme.

Eugen schnaubte unwillig.

»Du willst also wirklich bei diesem Kerl bleiben?«

Seine Verwunderung amüsierte und überraschte Fee gleichermaßen.

»Entschuldige mal, ich hatte nie vor, ihn zu verlassen. Ich liebe Daniel. Heute noch genauso wie damals. Oder nein«, widersprach sie sich selbst. »Heute noch viel mehr. Nach all dem, was wir zusammen erlebt und durchgestanden haben …«

Abwehrend hob Eugen die Hand.

»Bitte erspare mir die Details«, unterbrach er sie ungehalten.

Seine Augen schossen wütende Blitze. »Ich versteh dich nicht. Da treffen wir uns nach so vielen Jahren wieder, ich lege dir mein Herz zu Füßen, biete dir an, noch einmal ganz von vorn anzufangen … eine neue Liebe mit all ihren Versprechen, Verlockungen … mit Herzklopfen und Schmetterlingen im Bauch. Und du? Was machst du?«

Er redete sich immer mehr in Rage.

»Du entscheidest dich für die routinierte Langeweile.« Ein spöttisches Lächeln zuckte um seinen Mund. »Ich hatte dich für unkonventioneller gehalten.«

Doch wenn er gedacht hatte, Felicitas‘ Überzeugung damit ins Wanken zu bringen, irrte er wieder einmal gewaltig.

»Siehst du! Deshalb wird aus uns niemals ein Paar«, erklärte sie lächelnd. »Dir ist ja schon langweilig, wenn es für mich erst anfängt, spannend zu werden.«

»Ach was! Das redest du dir nur ein!« Eugen wollte ihre Meinung partout nicht gelten lassen. »Du hast es ja noch nicht mal probiert.«

Allmählich wurde Felicitas ärgerlich.

»Wozu?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Im Gegensatz zu dir bin ich glücklich.«

Mit einem Stöhnen ließ Eugen sich zurück in die Kissen fallen. Sie war die erste Frau seit langem, die ihm widerstehen konnte. Diese Schmach war schwer zu verkraften.

»Du gehst jetzt besser«, befahl er ihr, ohne sie anzusehen.

Mit diesem Vorschlag war Fee mehr als einverstanden. Schließlich hatte sie noch ein zweites und weitaus wichtigeres Gespräch zu führen. Sie wandte sich ab und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte sie sich noch einmal um.

»Ich wünsche dir trotzdem alles Gute!«, sagte sie noch. Einen Augenblick lang wartete sie auf eine Antwort. Doch Eugens Stolz stand ihm im Weg. Beleidigt presste er die Lippen aufeinander und starrte demonstrativ in die andere Richtung. Als die Tür kurz darauf leise hinter Fee zufiel, schloss er stöhnend die Augen. Konnte es sein, dass sein Charme nicht mehr wirkte?, fragte sich Eugen und beschloss, sich so schnell wie möglich an einer der hübschen Schwestern zu probieren.

*

Das Gespräch mit Eugen Körber war nicht dazu angetan, Dr. Daniel Norden zu beruhigen. Unverrichteter Dinge war er in die Praxis zurückgekehrt. Obwohl er seinen Beruf liebte, forderte die Sprechstunde am Nachmittag seine ganze Selbstdisziplin. Doch schließlich verließ der letzte Patient des Tages die Praxis. Gleich darauf folgte er ihm mit wehenden Fahnen.

»Bis morgen!«, rief er Janine zu, ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Sie stand an den großen Schubladen und sortierte die Patientenkarten ein. Sehnsüchtig sah sie ihrem Chef durch das Fenster nach.

»Ach, muss Liebe schön sein«, murmelte sie und fragte sich, ob sie je so eine Beziehung zustande bringen würde wie das Ehepaar Norden. Sie ahnte nicht, dass der Haussegen momentan in Schieflage geraten war.

Das erklärte auch das mulmige Gefühl, als Daniel den Wagen seiner Frau vor der Tür entdeckte. Gab es einen Grund dafür? Ging es ihm wie Noah, der dachte, dass alles in Ordnung war, obwohl die Beziehung längst in Stücken vor ihm lag? Bei diesem Gedanken wurde Daniel schlecht, und mit klopfendem Herzen machte er sich auf die Suche nach Fee.

»Du bist ja schon daheim«, begrüßte er sie, als er sie im Garten gefunden hatte.

Felicitas lag auf einer Liege und genoss die letzten Strahlen der Abendsonne.

Die Ruhe hatte sie dazu genutzt, sich die Worte zurechtzulegen, die sie ihrem Mann sagen wollte.

Zum Schutz vor der tiefstehenden Sonne hielt sie die Hand über die Augen und blinzelte ihn geblendet an.

»Ich hab auf dich gewartet.« Mit dem, was dann geschah, hatte sie nicht gerechnet.

»Bitte, Fee, verlass mich nicht.«

»Wie bitte?« Vor Schreck setzte sie sich kerzengerade auf und starrte ihren Mann an wie einen Außerirdischen. »Warum sollte ich das tun?«

Selten zuvor war Daniel so erleichtert gewesen. Die Spannung fiel von ihm ab, und er atmete auf.

»Na, wegen Eugen«, seufzte er. »Matthias hat mir gesagt, dass du ihn auf Ilonas Trauerfeier getroffen und dafür gesorgt hast, dass er in die Klinik kommt.«

Fee Augen wurden schmal.

»Ach, von ihm hast du das. Hätte ich mir ja denken können.« Ihr Tonfall war beunruhigend.

Daniel ließ sich auf einen Stuhl fallen und betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf.

»Wie meinst du das?« Er versuchte, sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen.

Doch Fee durchschaute ihn sofort. Trotzdem blieb sie hart.

»Du kannst aufhören mit dem Versteckspiel. Ich weiß, dass du bei Eugen warst.« Sie schnitt eine Grimasse. »Übrigens auch von Matthias.«

»Dieser Verräter!«, versuchte Daniel zu scherzen. In Wahrheit wünschte er sich aber ein Loch in der Erde, in das er verschwinden konnte.

Fee stellte die Füße auf den Boden und strich das leichte Sommerkleid glatt, das sie nach der Arbeit angezogen hatte.

»Wieso vertraust du mir nicht?« Endlich gelang es ihr, die Fragen zu stellen, die sie sich zurecht gelegt hatte.

Daniel zögerte kurz. Dann stand er auf und setzte sich neben sie auf die Liege. Sie ächzte gefährlich.

»Noah war heute bei mir in der Praxis.«

»Ach, bei dir auch?«, fragte sie verwundert.

Er nickte.

»Er hat mir von seinem Versuch erzählt, die Beziehung zu Anneka zu retten. Im Verlauf des Gesprächs sagte er, dass für ihn immer alles in Ordnung war. Dass sie ihn verlassen will, kommt für ihn wie aus heiterem Himmel.«

Mit wachsender Verwunderung lauschte Fee dem Bericht ihres Mannes.

»Und da ziehst du gleich Parallelen zu uns?« Damit hatte sie nicht gerechnet. »Wie kommst du auf so was?«

»Dazu braucht man nicht besonders viel Fantasie.«

Er schnitt eine Grimasse. Wenn er ehrlich war, verstand er sich selbst nicht mehr. Auch wenn sie ihn streng ansah, leuchtete eine unerschütterliche Liebe in Fees Augen. Wie hatte er nur blind sein können für dieses untrügliche Zeichen? Und dennoch … »Du kannst nicht leugnen, dass uns die schwere Zeit mit Felix ziemlich zugesetzt hat. Kaum war das überstanden, hat dir Grabmann schöne Augen gemacht. Und dann taucht auch noch Eugen auf …«

Unwillig schüttelte sie den Kopf.

»Was denkst du denn? Eugen war nie eine Konkurrenz für dich«, versicherte sie mit Nachdruck. »Übrigens genauso wenig wie Grabmann.«

»Warum hast du Körber dann nicht erwähnt?«

»Weil er völlig unwichtig ist.«

»Hat er dir etwa nicht den Hof gemacht?«, platzte Daniel heraus.

Einen Moment lang starrte Fee ihren Mann an. Dann brach sie in haltloses Gelächter aus.

Er sah sie konsterniert an.

»Was denn? Was ist daran so lustig?«

Es dauerte einen Moment, bis sich Fee so weit beruhigt hatte, dass sie antworten konnte.

»Wenn ich jeder Frau, die dir während unserer Ehe nachgestiegen ist, einen Besuch abgestattet hätte, wäre ich heute noch beschäftigt«, erwiderte sie immer noch lachend und erzählte ihm von der Unterhaltung der beiden Schwestern, deren Zeugin sie unfreiwillig geworden war.

Als er das hörte, blitzten Daniels Augen auf.

»Das haben sie gesagt?« Geschmeichelt legte er den Arm um Fee. »Eigentlich kannst du schon ein bisschen stolz sein auf deinen Mann. Findest du nicht?«

Entrüstet schnappte Fee nach Luft.

»Das glaub ich jetzt nicht«, empörte sie sich. »Und was ist mit dir? Du könntest auch stolz sein, dass mich andere Männer attraktiv finden.«

»Bei dir ist das doch ganz was anderes«, verteidigte sich Daniel, als die Liege ein weiteres, gefährliches Ächzen von sich gab.

Ehe es sich die beiden versahen, machte es ›ratsch‹, der Stoff riss, und sie landeten unsanft auf dem Boden.

Nach dem ersten Schreck sahen sich Daniel und Fee an und brachen in albernes Gelächter aus. Es war ein befreites Lachen, das mit einem tiefen Blick in die Augen endete. Als Anneka ein paar Minuten später auf die Terrasse trat, um ihren Eltern von ihren Neuseeland-Plänen zu erzählen, fand sie sie in inniger Umarmung wieder. Derart beschäftigt mit sich selbst und ihrer Leidenschaft, die auch nach so vielen Jahren noch lichterloh brannte, hatten die beiden die Welt um sich herum vergessen. Unwillkürlich musste Anneka an Noah denken. Auch sie hatten sich einmal so begehrt. Doch anders als bei ihren Eltern waren diese Zeiten ein für alle Mal vorbei, und ohne den leisesten Anflug von Wehmut kehrte Anneka zur Landkarte in ihrem Zimmer zurück.

Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman

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