Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12

Оглавление

Wie bei anderen Familien auch gab es bei den Nordens hin und wieder schlechte Tage, ohne daß sich ein plausibler Grund dafür gefunden hätte. So ein Tag schien dieser Montag im August zu werden.

Schon seit Tagen herrschte kühles Regenwetter, womit sich besonders die Kinder nicht abfinden wollten. Daran konnte selbst die Tatsache, daß sie sich auf der Insel der Hoffnung befanden, nichts ändern.

»So was Blödes, es hat ja immer noch nicht aufgehört zu regnen. Dann hat der Wetterbericht wieder nicht recht gehabt«, nörgelte Felix, als er zum Frühstück in der gemütlichen Küche des Ferienhauses erschien, das die Familie während ihres Aufenthaltes auf der Roseninsel zu bewohnen pflegte.

»Kannst du eigentlich noch

was anderes als meckern?« entgegnete sein älterer Bruder Danny schlechtgelaunt.

»Müßt ihr beiden euch immer streiten?« mischte sich Daniel gereizt ein. Er hatte schlecht geschlafen in der Nacht, weil er sich Gedanken über einen schwierigen Patienten auf der Insel machte, und sein Nervenkostüm war nicht das beste.

»Dan, bitte, wenn du dich einmischst, machst du es nur noch schlimmer«, bat Fee, doch schon diese Bemerkung war heute zuviel für ihn.

»Dann sag’ ich halt gar nichts mehr, wenn meine Meinung hier nicht erwünscht ist!« Erbost sprang er auf, warf die Serviette auf den Tisch und verließ mit einem kurzen Gruß den Raum. Die drei kleinen Kinder sahen ihm betreten nach, doch Danny konnte sich einen weiteren Angriff auf seinen Bruder nicht verkneifen.

»Da siehst du, was du ewiger Nörgler angerichtet hast!« zischte er böse. Da schlug Fee mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Jetzt reicht es aber wirklich, Danny! Das ist ja wie im Kindergarten. Ihr beiden geht jetzt zu Omi und fragt, was ihr helfen könnt. In der Küche gibt es Arbeit genug!« Mit einem zornigen Blick schaute sie ihren beiden Ältesten nach, die sich ohne ein weiteres Wort aus dem Staub machten. Ihre Mutter war selten wütend, und wenn es doch einmal so war, hielt man besser den Mund.

»Warum habt ihr denn alle so schlechte Laune?« erkundigte sich Dési vorsichtig, nachdem am Tisch einige Zeit betretenes Schweigen geherrscht hatte.

Fee seufzte. »Es gibt manchmal solche Tage, da wäre man am besten im Bett geblieben.«

»Och, das ist aber auch langweilig«, stellte Jan mit langem Gesicht fest.

»Ich mag es gar nicht, wenn gestritten wird.« Anneka saß traurig auf ihrem Stuhl. Schon ihre zarte Statur ließ ahnen, daß sie ein sehr sensibles Kind war, das sich immer alles sehr zu Herzen nahm. »Das gehört einfach zum Leben«, versuchte Fee ihre älteste Tochter zu trösten. »So wie es Sonnenschein und Wolken gibt, so gibt es in einer Familie eben viel Spaß und Freude und manchmal eben auch Ärger.«

»Du hast ja recht, Mami«, antwortete Anneka und kuschelte sich an Fee, nachdem sie eine Weile angestrengt nachgedacht hatte.

»Wenn wir uns nie streiten würden, wüßten wir auch nicht, wie schön es ist, wenn wir miteinander gut sind.«

Fee sah sie verwundert an. Manchmal erstaunte sie dieses ungewöhnliche Kind schon sehr. Mit einem Seufzer nahm sie Anneka fest in die Arme und drückte sie an sich, worauf auch die Zwillinge sofort eifersüchtig aufsprangen und sich an die geliebte Mami drängten.

»Halt, halt! Ihr erdrückt mich ja vor lauter Liebe!« Lachend umarmte sie die drei, und zumindest für einen Teil der Familie Norden war die Welt damit wieder in Ordnung.

Nachdenklich hatte sich Daniel auf den Weg zum Büro gemacht. Es nieselte leicht, doch er bemerkte es kaum. Schon tat ihm, seine heftige Reaktion leid. Er wollte gerade umdrehen, um sich mit seiner Familie zu versöhnen, als eine Schwester auf ihn zugeeilt kam.

»Herr Dr. Norden, gut, daß Sie da sind!« rief sie ihm schon von weitem aufgeregt zu. »Wir haben einen Notfall!« Atemlos blieb sie vor ihm stehen.

»Wer ist es, und was ist geschehen?« erkundigte sich Daniel.

»Eduard von Steinert. Mehr weiß ich nicht«, entgegnete Schwester Karin nur. Beide gingen schnell davon und erreichten kurze Zeit später das heimelige Haus, das das Ehepaar von Steinert seit zwei Wochen auf der Insel bewohnte.

Paula von Steinert saß wie gelähmt in einem Sessel in der Ecke des Zimmers und blickte auf das Bett, in dem ihr Mann regungslos und mit geschlossenen Augen lag. Sein Gesicht war merkwürdig friedlich, wie selten zuvor in seinem Leben. Dennoch weigerte sie sich, den Gedanken anzunehmen, der nahe lag. Statt dessen kreiste ihre Erinnerung um die Geschehnisse des Morgens. Paula war schon früh aufgestanden, wie es auch zu Hause ihre Gewohnheit war. Sie genoß es immer, die ersten Stunden des Tages ganz für sich allein zu haben und war trotz des Nieselregens hinaus an die frische Luft gegangen, um durch die graue, aber dennoch reizvolle Landschaft am See zu spazieren. »Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung«, war schon lange ihr Motto und so ließ sie sich nur selten von dieser Gewohnheit abbringen. Sie hatte sich pudelwohl gefühlt, als sie erfrischt und mit roten Wangen wieder zurückkam.

Das war nicht selbstverständlich in letzter Zeit. Paula hatte keine Affäre daraus gemacht, doch konnte sie nicht länger leugnen, daß der Schwindel und besonders die Brustschmerzen, die sie vor ein paar Wochen zum ersten Mal gespürt hatte, immer öfter und intensiver auftraten. Zuerst hatte sie von diesen Beschwerden keine Notiz genommen, da sie aber kein leichtsinniger Mensch war, hatte sie sich vorgenommen, nach dem Aufenthalt auf der Roseninsel eine gründliche Untersuchung durchführen zu lassen.

Als sie jetzt einen Blick in das Schlafzimmer warf, schlief Eduard noch immer tief und fest. Es erstaunte sie etwas, da er gewöhnlich um diese Zeit schon auf war, doch Paula machte sich zunächst keine Gedanken darüber. Eduard holte sicher nur den versäumten Schlaf nach. Er hatte am Abend zuvor ein paar Gläser über den Durst getrunken, wie so oft in letzter Zeit. Bevor er ausfallend wurde, war Paula zu Bett gegangen.

Nach einer weiteren Stunde, in der sie in ein Buch vertieft gewesen war, hatte sie doch begonnen, sich Gedanken zu machen und war an sein Bett getreten, um ihn zu wecken. Erst jetzt war ihr sein merkwürdiger Gesichtsausdruck aufgefallen, friedlich, fast heiter, aber nicht von dieser Welt. Sie hatte ihn kurz geschüttelt, um dann zum Telefon zu gehen und, äußerlich ruhig, Hilfe zu rufen. Dann hatte sie sich in den Sessel gesetzt und durch das Gesicht des Mannes hindurchgeschaut, der sie so viele Jahre lang gegängelt hatte. Ich bin frei! ging es ihr durch den Kopf und ihre Gedanken verloren sich in der Erinnerung an die Demütigungen, die sie all die Jahre stumm ertragen hatte.

»Frau von Steinert, hören Sie mich?« Eine männliche Stimme drang an ihr Ohr und durchbrach ihre Gedanken. Langsam wandte sie den Blick ab von ihrem Mann und schaute Daniel verständnislos an.

Doch dann kehrte sie in die Gegenwart zurück.

»Ja, Herr Doktor?« erwiderte sie leise und erhob sich mühsam aus dem Sessel. Sie war so sehr mit ihren inneren Bildern beschäftigt gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie Daniel zusammen mit der Schwester das Haus betreten und ihren Mann untersucht hatte, obwohl auch ihm klar war, daß hier jede Hilfe zu spät kam.

»Geht es Ihnen gut?«

»Ich weiß nicht. Mein Mann, was ist mit meinem Mann?«

»Es tut mir leid!« Mühsam kamen Daniel die Worte über die Lippen. Obwohl er diese traurige Nachricht schon oft hatte überbringen müssen, fiel es ihm immer wieder unendlich schwer. »Ich kann leider nichts mehr für ihn tun.«

»Ich weiß. Ich habe es die ganze Zeit gewußt. Aber es ist schwer, es zu glauben.«

Daniel vermeinte erstaunt, eine gewisse Erleichterung in ihrer Stimme zu hören, doch sie sprach sofort weiter. »Ich war spazieren am See, und er war ganz allein hier. Vielleicht hätte ich ihm helfen können.«

»Nicht einmal ich hätte ihm helfen können. Es muß heute nacht passiert sein.«

»Und ich lag neben ihm.«

»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, Frau von Steinert. Ich vermute, daß Ihr Mann ganz friedlich eingeschlafen ist. Vermutlich hat sein Herz einfach aufgehört zu schlagen.«

»Kann das sein?«

»Natürlich, wenn ein altes Herz müde und verbraucht ist.«

»Er hat immer zuviel Kaffee getrunken und viel zuviel geraucht. Ich habe ihm so oft gesagt, daß er besser auf sich aufpassen soll, aber er hat nie auf mich gehört.« Das entsprach den Tatsachen und überzeugte Daniel davon, daß Paula unter Schock stand.

Jetzt mischte sich Schwester Karin ein, die wortlos neben Daniel gestanden hatte. »Kommen Sie, Frau von Steinert, gehen wir eine Tasse Tee trinken. Dann können Sie reden, wenn Sie wollen«, bot sie verständnisvoll an. Es verstand sich von selbst, daß die Schwestern auf der Insel der Hoffnung auch für diesen Fall gerüstet und psychologisch geschult waren.

»Ja, vielen Dank«, erklärte sich Paula sofort einverstanden und suchte nach ihrer Jacke. Sie machte einen leicht verwirrten Eindruck, doch Karin wich nicht von ihrer Seite.

Daniel stand noch einen Augenblick unschlüssig im Zimmer. Dann warf er einen letzten Blick auf Eduard von Steinert, seufzte tief und machte sich dann auf den Weg, um seine traurigen Pflichten zu erfüllen. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, konnte er es kaum erwarten, wieder bei seiner Familie zu sein. Er entschuldigte sich bei seinem Schwiegervater Johannes Cornelius und versicherte, am Nachmittag wieder zur Verfügung zu stehen, bevor er das Büro verließ und eilig die Richtung zu seinem Familiendomizil einschlug.

»Feelein, es tut mir so leid«, stieß er atemlos hervor und drückte seine Frau, die gerade in der Küche zu tun hatte, zärtlich an sich. »Kannst du mir verzeihen?«

»Aber Daniel, natürlich verzeihe ich dir«, erklärte sie überrascht und schob ihn ein wenig von sich, um ihn aufmerksam zu mustern. Sie kannte ihn nun schon viele Jahre, um zu wissen, daß etwas geschehen sein mußte. »Was ist?«

»Zuerst mußt du mir versprechen, daß wir uns nie mehr im Streit trennen werden«, stieß er hervor.

»Aber ich war es doch nicht, die davongelaufen ist.« So aufgelöst hatte Fee ihren Mann schon lange nicht mehr gesehen.

»Ich bin ganz durcheinander«, gestand er daraufhin.

»Setz dich, und beruhige dich erst einmal!« Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn auf einen Stuhl und setzte sich neben ihn. Er seufzte tief, bevor er erzählte, was geschehen war.

»Wie traurig.« Tief betroffen senkte Fee den Blick.

»Du mußt wissen, wie sehr ich dich liebe und immer lieben werde, egal, was zwischen uns passiert.«

»Ich liebe dich auch, Daniel«, flüsterte sie, bevor er sie wieder in seine Arme schloß und festhielt, als wollte er sie nie mehr loslassen.

*

Ein paar Tage später mußte sich Daniel Norden schweren Herzens auf den Weg nach München machen, wo die Beerdigung von Eduard von Steinert stattfinden sollte. Johannes und seine Frau Anne waren auch dazu gebeten worden, doch diese entschuldigten sich mit gutem Grund.

Das Haus war wie fast immer ausgebucht, und sie benötigten ihre ganze Kraft, um sich den Ruhebedürftigen widmen zu können. Paula von Steinert hatte dafür vollstes Verständnis und bedankte sich bei ihrer Abreise herzlich bei den beiden. Noch immer drang die Realität nicht ganz zu ihr durch, doch als sie von ihrer Tochter Katharina und deren Mann Joachim abgeholt wurde, schaute sie nicht zurück.

»Fahr vorsichtig, Liebster!« verabschiedete sich Fee liebevoll von Daniel, und die Kinder winkten lange, bis sein Wagen verschwunden war. Gott sei Dank herrschte nicht viel Verkehr, und er kam zügig voran, so daß er überpünktlich ankam, um der Zeremonie beizuwohnen.

»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind!« Paula bedankte sich herzlich, als er ihr später die Hand reichte, um ihr sein Beileid auszudrücken. Sie machte einen erstaunlich gefaßten Eindruck, was er ihr auch sagte.

»Sie dürfen mich nicht für herzlos halten, Herr Dr. Norden«, erklärte sie leise. »Aber in meinem Alter hat der Tod seinen Schrecken verloren.« Sie verstummte und blickte zu Boden. Das war zwar die Wahrheit, doch Daniel bemerkte sofort, daß das nicht alles war. Paula von Steinert verschwieg etwas, doch dies war nicht der richtige Augenblick, um Vertraulichkeiten auszutauschen.

»Ich habe immer ein offenes Ohr für Sie«, versicherte er ihr statt dessen, und sie sah ihn dankbar an, bevor er sich verabschiedete.

»Was hast du denn mit dem Arzt besprochen?« erkundigte sich Katharina kurz darauf argwöhnisch. Schon seit ihrer Rückkehr kam ihr ihre Mutter sehr seltsam vor. Das mochte an der Trauer liegen, obwohl Paula offenbar noch keine einzige Träne um ihren Mann vergossen hatte.

»Nur das übliche, mein Kind«, gab Paula indes lapidar zur Antwort. Sie hatte den Unmut ihrer Tochter bemerkt und wollte sich auf keinen Fall in eine Diskussion verstricken lassen.

Beleidigt wandte sich Katharina ab.

»Das sieht Mutter wieder ähnlich«, beschwerte sie sich kurz darauf bei ihrem Mann Joachim.

»Was meinst du?« Verständnislos blickte er seine Frau an. Er wußte, daß es um das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht zum Besten stand und hatte auch oft etwas an Paulas Eigenheiten auszusetzen. Doch diesmal sah er keinen Grund zur Aufregung.

»Dieses Getuschel mit dem Arzt! Daniel Norden heißt er. Sie ist sogar rot geworden.«

»Na und? Er wird ihr sein Beileid ausgedrückt haben.«

»Na, ich weiß nicht«, bezweifelte Katharina argwöhnisch. »Außerdem finde ich es seltsam, daß Mutter Vater offenbar keine Träne nachweint«, fügte sie bissig hinzu.

»Wahrscheinlich hat sie es noch gar nicht richtig erfaßt, was geschehen ist. Wenn sie erst einmal zur Ruhe gekommen ist, wird auch die Trauer kommen. Außerdem scheinst du auch nicht gerade sehr ergriffen zu sein. Und er war immerhin dein Vater!« Prüfend blickte er seine Frau an, doch diese machte wutschnaubend auf dem Absatz kehrt und schenkte ihm für den Rest des Tages keine Beachtung mehr.

Auch Katja Petzold, die neunzehnjährige Tochter Katharinas und Joachims, beobachtete Paula sehr genau. Dies geschah allerdings aus einem ganz anderen Grund. Im Gegensatz zu Katharina und ihrer Mutter verstanden sich Oma und Enkeltochter um so besser, was dieser zusätzlichen Grund zur Eifersucht gab.

»Kann ich dich einmal sprechen, Oma?« erkundigte sich Katja in einem unbeobachteten Moment. Es war inzwischen später Nachmittag, und die Trauergäste verabschiedeten sich allmählich.

»Natürlich, Kind, was gibt es denn?« Wie immer freute sich Paula, wenn Katja ihre Nähe suchte und blickte sie liebevoll an.

»Geht es dir gut?« Forschend blickte sie der Oma in die Augen. Doch vor Katja hatte Paula keine Geheimnisse. Verschwörerisch blinzelte sie ihr zu.

»Es ist alles sehr anstrengend, und ich bin ein bißchen erschöpft. Ansonsten fühle ich mich nach dem ersten Schock wie befreit.«

Katja nickte verständig. »Ich kann es dir nachfühlen«, flüsterte sie, nachdem sie sich vorsichtig umgeschaut hatte.

»Wenn du morgen zu mir kommst, erzähle ich dir eine Geschichte.«

In Katjas Augen blitzte es auf. Sie liebte die Erzählungen ihrer Großmutter über alles. »Eine neue Geschichte?«

»Ja! Und eine wahre dazu!« Paula lächelte geheimnisvoll, doch als sie über die Köpfe der verbliebenen Gäste hinweg den Blick ihrer Tochter auf sich ruhen fühlte, gefror das Lächeln auf ihren Lippen.

*

Mit nachdenklicher Miene saß Bertram Maslowski an seinem Schreibtisch und studierte die Kontoauszüge seiner Firma, die er eben von der Bank geholt hatte. Sie sahen alles andere als rosig aus, denn obwohl er sich schon mehrfach von seinem vermögenden Vater Geld geliehen hatte, stand seine Firma am Rande des Konkurses. Bertram konnte sich ausrechnen, wie lange er noch durchhalten würde, bevor er einen Insolvenzantrag stellen mußte. Er haderte kurz mit sich, dann hob er den Hörer, um ein weiteres Mal mit seinem Vater zu sprechen.

»Maslowski«, meldete sich eine barsche Stimme, und Bertram nahm allen Mut zusammen.

»Hallo, Papa, ich bin es, Berti!«

»Mein mißratener Sohn! Was verschafft mir die Ehre?« fragte der Alte skeptisch.

Das war eine alles andere als ermutigende Begrüßung. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.« Bertram ließ schnell von seinem Vorhaben ab. Doch Heiner Maslowski kannte seinen Sohn gut genug.

»Seit wann interessiert dich denn mein Gesundheitszustand? Dann muß ich dir wohl sagen, warum du dich meldest. Du brauchst Geld! Aber nicht mit mir, mein Freundchen. Ich habe schon zu lange tatenlos zugesehen, wie du mein sauer verdientes Geld sinnlos zum Fenster hinauswirfst. Aber damit ist jetzt Schluß! Ich biete dir noch einmal einen Arbeitsplatz in meinem Unternehmen an, wo du wie jeder andere junge Mann auch auf redliche Art und Weise dein Geld verdienen kannst. Gib deine unsinnigen Internetgeschäfte auf, und werde endlich vernünftig!«

»Aber gerade jetzt bin ich ganz nah dran an dem ganz großen Geld. Ich brauche nur noch einmal deine Unterstützung!« bat Berti fast flehend. Doch damit stieß er bei Heiner auf taube Ohren.

»Wie oft hast du mir diese Lüge schon aufgetischt und mir den ganz großen Gewinn versprochen?« rief er erbost in den Hörer. »Wenn du Arbeit suchst, um deine Schulden zu begleichen, kannst du dich wieder melden.« Mit diesen zornigen Worten legte er auf.

Ratlos starrte Bertram auf das Telefon. Er hatte sich alles so schön vorgestellt vor einem Jahr, als er seine Internet-Auktions-Firma eröffnet hatte. Er, Bertram Maslowski, als erfolgreicher Jungunternehmer, der aus dem Schatten seines Vaters aufsteigt wie Phönix aus der Asche. Aus der Traum! Doch er war kein Typ, der sich so schnell unterkriegen ließ. Als einziger Sohn des schwerreichen Auktionärs Heiner Maslowski, war er es von klein auf gewohnt zu bekommen, was er sich wünschte. Auch diesmal würde es nicht anders sein. Entschlossen stand Bertram auf und trat vor den mannshohen Spiegel, der an einer Tür der modernen Schrankwand angebracht war, die seinem Büro die nötige Wichtigkeit verlieh. Selbstverliebt stand er vor seinem Spiegelbild und musterte die tadellose Gestalt, die ihm strahlend entgegenlächelte. Das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn und umrahmte das gut geschnittene, männlich markante Gesicht. Abgerundet wurde die Erscheinung von einer durchtrainierten Figur, die in feinstes Tuch gehüllt war. Zufrieden fuhr sich Bertram durch das Haar. Er war ein Mann, dem bisher keine Frau widerstanden hatte.

Diesmal würde ihm diese Tatsache auch geschäftlich zugute kommen. Wenn sein Vater ihm schon nicht helfen wollte, dann würde es jemand anderes tun. Und dieser Jemand war niemand anderes als Katja Petzold.

Als er an Katja dachte, vergaß Bertram für einen kurzen Moment seine fatale finanzielle Situation. Bei einer Benefizgala hatte er die Tochter aus gutem Hause vor zwei Monaten kennengelernt und sie seitdem einige Male ausgeführt. Sie war ein hübsches Mädchen mit schlanker Figur und wunderschönen rotbraunen Haaren und äußerst unterhaltend dazu. Das erleichterte die Sache ungemein, denn Bertrams eigentliches Interesse galt dem Vermögen der Familie Petzold. Er hatte die Bekanntschaft von vornherein unter diesen Voraussetzungen vertieft, und daß Katja seinem Charme bisher nicht erlegen war, machte es nur interessanter.

Sein Jagdfieber war erwacht.

*

Nichtahnend, welche Hoffnungen sie nährte, lag Katja im Bett ihres Jugendzimmers und blickte aus dem Fenster in den sommerlichen Garten. Es war schon später Vormittag, doch bis sich am Abend zuvor endlich alle Trauergäste verabschiedet hatten, war es ungewohnt spät für sie geworden.

Aber das allein war nicht der Grund, warum sie sich nicht dazu entschließen konnte, aufzustehen. Vielmehr genoß sie es, ungestört ihren Gedanken an Claudio nachhängen zu können. Claudio, der schwarzhaarige Italiener mit den glühenden Augen, den sie im Jahr zuvor im Urlaub in Rom kennengelernt und auf der Abiturfahrt vor zwei Monaten nicht ganz zufällig wiedergetroffen hatte. Seitdem bestimmte er ihre Gedanken Tag und Nacht, und wenn sie nicht telefonierten, schickten sie sich Liebesschwüre über den Computer und das Handy.

In den letzten Tagen waren seine Nachrichten spärlicher geworden, was Katja mit bangem Herzen bemerkt hatte.

Es war ihre erste Erfahrung mit der Liebe, und sie sehnte den Tag herbei, an dem sie wieder in seinen Armen liegen und alles gut sein würde.

Doch es gab noch ein Problem, mit dem Katja nicht gerechnet hatte, und dieses Problem hieß Katharina Petzold, Katjas Mutter, die in diesem Moment unangemeldet ins Zimmer kam.

»Willst du nicht endlich aufstehen?« fragte sie statt einer Begrüßung und blickte die Tochter vorwurfsvoll an. »Seit du in diesen Taugenichts Claudio verliebt bist, kann man dich zu nichts mehr gebrauchen. Du solltest lieber an deine Zukunft denken.« Nervös ordnete sie ein paar Dinge im Zimmer, und Katja verkniff sich eine anzügliche Bemerkung, die nur zu Streit führen würde.

»Übrigens ist Besuch für dich da, den du nicht allzu lange warten lassen solltest. Er ist unten im Salon.«

»Wer ist es denn?« erkundigte sich Katja, neugierig geworden.

»Dieser junge gutaussehende Mann, ich glaube, er heißt Bertram Maslowski. Ist sein Vater nicht der vermögende Aktionär?«

Katharina geriet ins Schwärmen, doch Katja verdrehte die Augen.

»Was will er hier? Ich dachte, ich hätte ihm bei unserem letzten Treffen unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß ich nicht interessiert bin. Außerdem ist er viel zu alt.«

»Das spielt doch keine Rolle. Das Wichtigste ist, daß er aus gutem Hause stammt. Ich weiß schon, daß du meine Ansichten als altmodisch empfindest, aber in dieser Hinsicht war ich mit deinem Großvater schon immer einer Meinung.«

»Ich wußte gar nicht, daß du irgend etwas gut fandest, was Opa gesagt oder getan hat«, entfuhr es Katja.

Eine schallende Ohrfeige war die Antwort.

»Sprich nicht so über meinen Vater! Er hatte auch seine guten Seiten, auch wenn er sie nicht oft gezeigt hat«, ereiferte sich Katharina. »Und jetzt steh endlich auf! Herr Maslowski wird nicht ewig warten.«

Katja überlegte kurz, entschloß sich dann aber, den Wünschen ihrer Mutter Folge zu leisten. Sie würdigte sie keines Blickes, als sie ins Bad ging und mit einem nassen Waschlappen ihre feuerrote Wange kühlte, doch das interessierte Katharina wenig. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Ihre widerspenstige Tochter würde sich mit Bertram Maslowski treffen, das war die Hauptsache. Zufrieden mit ihrem Erziehungserfolg eilte sie die breite Treppe hinunter in den Salon.

»Es tut mir leid, daß Sie so lange warten müssen, aber Katja macht sich gerade frisch nach dem Frühsport«, lächelte sie beflissen.

Fast wäre Bertram vor lauter Abscheu das Lächeln auf den Lippen gefroren, doch er machte gute Miene zum bösen Spiel.

»Das macht gar nichts, Frau Petzold. Für eine schöne Frau wartet man gern.«

»Sie sind so charmant. Darf ich Ihnen inzwischen etwas zu trinken bringen, einen Martini vielleicht?« erkundigte sich Katharina eifrig.

»Nein danke, ich trinke tagsüber nie Alkohol. Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser hätten«, antwortete Bertram nonchalant und schnippte lässig einen Flusen von seinem teuren Maßanzug.

Während sie dem Hausmädchen auftrug, das Gewünschte in den Salon zu bringen, konnte Katharina ihr Glück gar nicht fassen. Was für eine vielversprechende Verbindung für die beiden Familien stand da bevor! Sie nahm sich vor, alles dafür zu tun, daß Katja vernünftig wurde und sich den Italiener so schnell wie möglich aus dem Kopf schlug. Diese einmalige Chance durften sie sich nicht entgehen lassen.

»Hallo, Herr Maslowski, was machen Sie denn hier?« begrüßte Katja den Besucher endlich salopp, nachdem sie sich betont langsam angezogen hatte.

»Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schaue mal vorbei und bedanke mich für den netten Abend neulich.« Er lächelte gewinnend, doch Katja blickte ihn nur verständnislos an.

»Erstens ist das schon über drei Wochen her, zweitens kann ich mich nicht daran erinnern, daß er besonders nett war«, antwortete Katja verletzend.

Doch so schnell ließ sich Bertram nicht einschüchtern. In den dreißig Jahren seines Lebens hatte er viele Erfahrungen mit Frauen gesammelt, und Katja war noch zu jung, um sich ihm auf Dauer entziehen zu können. Deshalb lächelte er nun nachsichtig.

»Warum haben Sie so ein rotes Gesicht? Ah, ich vergaß, daß Sie beim Frühsport waren«, lenkte er das Gespräch in eine, wie er meinte, unverfängliche Richtung.

Verwirrt starrte Katja ihn an. Sie wollte schon eine patzige Antwort geben, als ihr einfiel, daß diese Ausrede nur von ihrer Mutter stammen konnte, die damit ihre rote Wange gerechtfertigt hatte. Da sie sich selbst nicht die Blöße geben wollte, mit neunzehn Jahren noch von ihrer Mutter geschlagen zu werden, nickte sie nur stumm.

»Welche Sportarten betreiben Sie?« fragte Bertram weiter.

»Alles Mögliche. Laufen, Biken, Beach-Volleyball. Aber am liebsten gehe ich immer noch reiten«, antwortete Katja, scheinbar ganz zahm geworden.

Bertram freute sich schon über seinen leichten Sieg. Er konnte nicht ahnen, daß Katja nur fieberhaft überlegte, wie sie ihn möglichst schnell loswerden konnte.

»Das ist ja wunderbar!« rief er enthusiastisch aus. »Sie müssen unbedingt mit mir auf das Gestüt meines Vaters kommen. Das wird Ihnen gefallen.« Diese Neuigkeit interessierte Katja allerdings tatsächlich, da sie richtiggehend pferdefanatisch war.

»Ihr Vater hat ein Gestüt?« fragte sie vorsichtig.

»Ein kleines nur, eine Art Hobbyzucht. Was halten Sie davon, wenn wir heute nachmittag zusammen ausreiten?«

Katja war hin und her gerissen, doch der Gedanke, mit Bertram allein auf weiter Flur zu sein, schreckte sie so sehr ab, daß sie der Versuchung widerstehen konnte. »Das geht nicht. Ich bin mit meiner Oma verabredet«, antwortete sie deshalb erleichtert.

»Mit Ihrer Oma? Das können Sie doch sicherlich verschieben«, entgegnete Bertram indigniert. Der Gedanke, daß er hinter einer alten Frau nachstehen sollte, gefiel ihm nicht.

»Leider nein. Mein Großvater ist gestern beerdigt worden, und es geht ihr nicht gut.«

»Mein Beileid«, heuchelte Bertram Mitgefühl, doch innerlich ärgerte er sich über die verpatzte Chance. Doch er hatte sich vollkommen im Griff. »War er krank?«

»Nein, es geschah ganz plötzlich.« Katja machte ein trauriges Gesicht. Sie sah dabei so entzückend hilflos aus, daß Bertram es bei allem Egoismus nicht länger schaffte, ihr zuzusetzen. Er beschloß, für heute den Rückzug anzutreten.

»Dann möchte ich Ihnen nicht länger lästig sein. Darf ich Sie in ein paar Tagen anrufen, damit wir uns zum Reiten verabreden?«

»Ja, gern«, willigte Katja ein, froh, ihn endlich loszuwerden. Sie ließ sich ohne Widerstreben einen Kuß auf die Hand hauchen und rief dann Elsie, das Hausmädchen, das Bertram Maslowski zur Tür brachte. Erst als die schwere Holztür ins Schloß fiel, seufzte sie erleichtert auf. Ich muß mit Oma reden, was ich tun soll, ging es ihr durch den Kopf, während sie zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufeilte, um ihrer Mutter zu entgehen. Doch Katharina war wie ein Luchs. Auch sie hatte die Tür gehört und war sofort herbeigeeilt, um die Neuigkeiten zu erfahren.

»Und?« rief sie Katja hinterher.

»Was und?« fragte diese kalt zurück.

»Was wollte er?«

»Du kannst zufrieden sein, Mam, wir werden zusammen ausreiten.« Katjas Stimme hallte schrill im Treppenhaus wider, doch Katharina bemerkte es nicht. Sie war zufrieden mit dem Ergebnis dieses Besuchs.

»Das ist ja wunderbar. Entschuldige übrigens die Ohrfeige, Kleines. Aber manchmal bringst du mich einfach zur Weißglut«, setzte sie versöhnlich hinzu, doch Katja schnaubte nur verächtlich und warf die Tür ihres Zimmers hinter sich ins Schloß.

*

Es war bereits früher Nachmittag, als sich Daniel endlich auf den Rückweg machen konnte. Zuvor hatte er die Gelegenheit für einen Besuch in der Praxis genutzt, um nach dem Rechten zu sehen. Obwohl er täglich mit seinem Vertreter Severin Baumgartner telefonierte, wollte er sich doch selbst Gewißheit über den reibungslosen Ablauf des Praxisalltags verschaffen. Das hatte nichts damit zu tun, daß er Dr. Baumgartner nicht vertraute, sondern vielmehr mit seinen eigenen Schwierigkeiten, seine Praxis in fremde Hände zu geben. Als er sich vergewissert hatte, daß alles zum Besten stand, fuhr er zufrieden nach Hause, doch wenn er ehrlich war, nagte es doch ein wenig an ihm, daß seine Patienten so gut mit Severin auskamen, obgleich dieser ihm versichert hatte, daß sie sich täglich nach ihm erkundigten.

Dann war Daniel nach Hause gefahren, um Lenni endlich mitzunehmen, die es vorgezogen hatte, die ersten Wochen der Ferien allein dazubleiben und die Ruhe zu genießen. Doch jetzt hatte sie genug von der ungewohnten Stille im Haus, das von oben bis unten gründlich geputzt in neuem Glanz erstrahlte. Erleichtert setzte sie sich auf den Beifahrersitz, während Daniel ihre beiden Koffer einlud, bevor sie sich gemeinsam auf den Weg zur Roseninsel machten, wo sie bereits sehnsüchtig erwartet wurden.

»Daniel, wie schön, daß du wieder da bist!« rief Fee schon von weitem, als er den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte und Lenni beim Aussteigen behilflich gewesen war. Bevor sie geheiratet hatten, war es ihr Schicksal gewesen, immer wieder für Wochen getrennt zu sein. Doch seit ihrer Ehe versuchten sie das so gut wie möglich zu vermeiden. Auch hatte sie viel über seine leidenschaftlichen Worte nachgedacht und flog ihm überglücklich in die Arme.

»Hallo, meine Geliebte«, raunte er ihr ins Ohr und vergrub sein Gesicht in ihren blonden Haaren.

»Hurra, Lenni ist auch dabei!« riefen Dési und Jan fröhlich und liefen an ihren Eltern vorbei auf die gute Seele des Hauses Norden zu. »Jetzt sind wir endlich wieder komplett. Urlaub macht gar keinen richtigen Spaß, wenn du allein zu Hause sitzen mußt«, erklärte Dési ernst und kuschelte sich an Lenni.

»Ich hatte nicht viel Zeit zum Sitzen«, erwiderte diese glaubhaft, doch sie lächelte dabei.

»Aber warum denn, wir waren doch gar nicht da«, bemerkte Dési in kindlichem Unverständnis, was die Umstehenden mit fröhlichem Gelächter quittierten. Auch Felix und Danny waren dabei, doch sie machten einen eher betretenen Eindruck.

»Na, meine Söhne, was habt ihr auf dem Herzen?« erkundigte sich Daniel gutgelaunt, als er es bemerkte.

»Wir möchten uns bei dir für unser albernes Benehmen entschuldigen«, erklärte Felix heiser, und Danny stimmte nickend zu.

»Ja, manchmal benehmen wir uns wirklich wie die Kindergartenkinder«, fügte er hinzu.

»Du benimmst dich wie ein Kindergartenkind, wolltest du sagen«, ereiferte sich Felix sofort.

»Du doch genauso!« Danny gab seinem jüngeren Bruder einen Knuff in die Seite.

Fee seufzte.

»Ich glaube, ich muß euch beide wieder in die Küche schicken. Die Strafe hat noch nicht die gewünschte Wirkung gehabt.«

»O nein, bitte nicht wieder Kartoffeln und Karotten schälen!« riefen Danny und Felix wie aus einem Mund.

»Dann reißt euch jetzt besser mal zusammen!« gab Daniel ihnen lächelnd einen guten Rat.

Da Lenni schon mit den Zwillingen auf dem Weg zu ihrer Unterkunft war, gefolgt von dem jungen Zivildienstleistenden Holger, der bereitwillig ihr Gepäck trug, gingen auch Daniel und Fee zu ihrem Haus.

»Wie war es denn?« erkundigte sich Fee mitfühlend.

»Eine Beerdigung ist nie eine schöne Sache. Allerdings scheint sich Herr von Steinert nicht allzu großer Beliebtheit erfreut zu haben.«

»Wie kommst du darauf?« Fee war verwundert, denn zumindest als Gast auf der Insel war er weder unangenehm aufgefallen noch in irgendeiner Form ausfallend geworden.

»Die ganze Familie Petzold schien nicht sonderlich erschüttert über den Verlust zu sein. Offenbar war Herr von Steinert so eine Art Familientyrann, zumindest konnte ich das einigen Gesprächsfetzen entnehmen, die zu mir durchgedrungen sind.«

»Tragisch, wenn ein Leben endet, bevor man in Frieden auseinandergehen kann.«

»Vielleicht hatte Eduard von Steinert gar kein Interesse daran, mit seiner Familie Frieden zu schließen. Aber was auch immer geschehen sein mag, eigentlich will ich es gar nicht wissen«, gab Daniel unumwunden zu.

»Es gibt wirklich lohnendere Dinge, als sich darüber Gedanken zu machen. Zum Beispiel daran zu arbeiten, daß uns selbst so etwas nie geschieht.«

»Ich hoffe, von solch einer Tragödie sind wir weit entfernt.« In tiefem Einverständnis lächelten sie sich an und genossen den Rest des Tages im Kreise ihrer Lieben.

*

Paula von Steinert saß in ihrem geliebten Ohrenbackensessel und hielt eine Stickarbeit in den Händen. Mit einem Mal ließ sie den Stoff sinken und horchte angstvoll in sich hinein. Ihr Herz schien plötzlich zu rasen wie nach einer großen Anstrengung. Heftige Schmerzen raubten ihr den Atem, und Paulas Hände umklammerten die Armlehnen des Sessels. Trotz der aufsteigenden Panik versuchte sie ruhig zu bleiben. Es dauerte nur ein paar Minuten, die Paula wie Stunden vorkamen, doch endlich fand das Herz zu seinem gewohnten Rhythmus zurück. Ebenso schnell, wie der Anfall gekommen war, ging er vorüber. Paula atmete ein paarmal erleichtert tief ein und aus. Sie mußte unbedingt einen Termin beim Arzt machen und erhob sich vorsichtig aus dem Sessel, um zum Telefon zu gehen. Gerade in diesem Moment hörte sie einen Wagen den gekiesten Weg zu ihrem Haus herauffahren. Abgelenkt von ihren gesundheitlichen Problemen ging sie ans Fenster und warf einen Blick aus dem Fenster. Erfreut erkannte sie das Auto von Katja, die ihren Besuch angekündigt hatte.

Es blieb Paula noch Zeit, einen prüfenden Blick auf den liebevoll gedeckten Kaffeetisch zu werfen, bevor sie durch den Flur zur Haustür ging und erwartungsvoll den gepflegten Gartenweg hinabschaute.

»Da bist du ja, Kind«, begrüßte sie ihre Enkeltochter lächelnd, und die von vielen kleinen Fältchen umrahmten wasserblauen Augen strahlten vor Freude. Nur die wächserne Blässe ihres Gesichts ließen die Qualen erahnen, die sie eben durchgemacht hatte.

»Wie geht es dir, Oma?« fragte Katja, nachdem sie Paula liebevoll umarmt hatte und sie mit einem prüfenden Blick musterte.

»Ein bißchen müde bin ich, aber sonst geht es mir ganz gut«, wich Paula verlegen aus, denn sie wollte Katja keine Sorgen bereiten. »Ich habe heute morgen damit begonnen, Eduards Sachen zu sichten und zu sortieren. Du weißt ja, er war ein Sammler und hat niemals auch nur eine Zeitung weggeworfen.«

»Du kannst es wohl gar nicht erwarten, ihn ganz und gar aus dem Haus zu haben«, bemerkte Katja anzüglich, doch im Gegensatz zu ihrer Mutter nahm Paula ihr diese Bemerkung nicht übel.

»Du formulierst es etwas drastisch, aber im Grunde hast du recht«, antwortete sie ehrlich. »Das erste Mal in meinem Leben bin ich frei. Frei, das zu tun, was ich möchte, ohne daß jemand hinter mir steht und immer alles besser weiß. Kannst du nicht verstehen, daß das wie eine Befreiung für mich ist?«

»Warum um alles in der Welt warst du dann so lange Zeit mit ihm verheiratet?« Katja konnte es nicht begreifen.

»Das gehört zu der Geschichte, die ich dir erzählen möchte. Aber zuerst trinken wir eine Tasse Kaffee und essen Kuchen. Ich hab’ Bienenstich gemacht, den magst du doch so gern.«

»Lecker, genau das, was ich jetzt brauche.«

Paula hakte sich bei Katja ein, und gemeinsam gingen sie durch den Flur in das Wohnzimmer, das gleichzeitig als Eßzimmer diente. Paula war es seinerzeit gelungen, Eduard davon zu überzeugen, daß ein Sofa unnötig wäre und statt dessen ein großer Tisch angeschafft wurde, an dem die ganze Familie Platz hatte. Der Bequemlichkeit diente eine Sitzecke im Erker, der nebenbei einen bemerkenswerten Blick auf den bezaubernden Garten bot. Katja war jedesmal überwältigt von dem Anblick.

»Wie schaffst du es nur, dieses riesige Grundstück so zu pflegen?«

»Eduard hat mir einiges an Arbeit abgenommen«, gestand Paula. »Eine seiner wenigen guten Seiten«, fügte sie verbittert hinzu. »Vor allen Dingen das Rasenmähen. Ich hatte schon einmal daran gedacht, einen Gärtner für die schweren Arbeiten kommen zu lassen, aber davon wollte Edi nichts hören. Vielleicht setze ich diesen Plan jetzt in die Tat um.«

»Das solltest du wirklich tun. Mama und Paps werden dir keine große Hilfe sein. Sie rühren schon in ihrem eigenen Garten keinen Finger und überlassen alles einer großen Gärtnerei.«

»Ehrlich gesagt will ich auch nicht von einer Abhängigkeit in die nächste geraten.«

»Kommst du denn allein zurecht?« fragte Katja besorgt. Obwohl ihre Oma für ihr fortgeschrittenes Alter noch gut drauf war, wie sie es selbst gern formulierte, würde sich der Alltag vielleicht doch nicht als so einfach erweisen, wie sie es sich ausmalte.

Doch Paula war ein realistischer Mensch und hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht.

»Ich weiß es nicht«, gestand sie ehrlich. »Ich habe beschlossen, mir eine Art Probezeit zu geben, so ungefähr zwei Monate. Wenn ich in dieser Zeit bemerke, daß ich Probleme mit dem Alleinsein habe oder mir die Arbeit über den Kopf wächst, werde ich das Haus aufgeben und in ein Pflegeheim gehen.«

»Was willst du?« Katja riß vor Erstaunen die Augen weit auf.

»Ist das denn so ungewöhnlich?«

»Du hast doch genügend Geld, um dir eine Hausangestellte zu leisten.« Das war nichts Außergewöhnliches für Katja, denn sie selbst war mit Angestellten aufgewachsen. Ein Leben ohne Elsie war für sie undenkbar.

»Ach weißt du, eigentlich ist es mir unangenehm, jemanden für mich arbeiten zu lassen, während ich untätig daneben sitze und zuschaue. Da ist mir meine Lösung doch die liebste.«

»Und du könntest das alles hier aufgeben?« Katja ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, der altmodisch aber gemütlich eingerichtet war. Da sich Eduard nicht für solche Nebensächlichkeiten wie Einrichtung und Haushalt interessiert hatte, konnte man überall die Hand von Paula erkennen, die Blumen über alles liebte und nicht davor zurückschreckte, Stoffmuster und Farben aller Art miteinander zu kombinieren, so daß am Ende etwas ganz Persönliches daraus entstand. Katja hatte den besonderen Geschmack ihrer Großmutter schon immer geliebt, und das Herz tat ihr weh bei dem Gedanken, dieses verwinkelte Haus mit den vielen Erkern und dem kleinen Türmchen einmal nicht mehr besuchen zu können.

»Davon kann gar keine Rede sein«, beruhigte sie Paula jedoch sofort. »Du sollst es haben. Natürlich nur, wenn du möchtest. Außerdem ist es ja noch nicht soweit, und ich habe noch ein bißchen Zeit. Möchtest du noch ein Stück Kuchen?«

Katja klappte den Mund vor Erstaunen auf und wieder zu. Was Paula da so nebenbei erwähnt hatte, war schon immer ihr Kindheitstraum gewesen, den sie jedoch nie zu äußern gewagt hatte. »Ja, natürlich möchte ich«, erklärte sie stotternd. Und: »Nein, danke, kein Stück Kuchen mehr«, ergänzte sie sogleich. Doch Paula überging die Verwirrtheit ihrer Enkeltochter. Denn jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihr gehütetes Geheimnis lüften würde. Niemand anderer als Katja sollte erfahren, unter welchen unglücklichen Voraussetzungen die Ehe zwischen ihr und Eduard von Steinert vor sechsundvierzig Jahren geschlossen worden war.

»Ich war ein junges Mädchen von neunzehn Jahren und unsterblich verliebt«, begann sie und lehnte sich mit einem versonnenen Gesichtsausdruck in ihrem Sessel zurück.

»In Eduard?« fragte Katja gespannt.

»Wo denkst du hin! Trotz oder vielleicht wegen meiner altmodischen Erziehung zog es mich schon immer hin zu den ungewöhnlichen Menschen, zu den Außenseitern. Maler, Schriftsteller, Komponisten! Ich fand das Leben dieser Menschen so spannend im Vergleich zu meinem. Auf einer Party, so sagt man doch heute, die ich heimlich mit einer Freundin besuchte, lernte ich Clemens Haygen kennen, den vielversprechenden Sprößling einer Künstlerfamilie. Er war bestimmt acht Jahre älter als ich und imponierte mir enorm.«

»Warum denn?« fragte Katja gebannt.

»Er sah nicht etwa besonders gut aus, aber er hatte ein offenes, sympathisches Gesicht und eine lässige Art. Offenbar gefiel ich ihm auch. Ich war damals ein hübsches, blondes Mädchen mit den blauesten Augen weit und breit. Statt mir große Komplimente zu machen, holte er seinen Skizzenblock hervor und skizzierte mich. Es war nur eine einfache Zeichnung, trotzdem war die Ähnlichkeit verblüffend. Er hat sie mir geschenkt, nicht ohne vorher ein Datum und einen Treffpunkt darauf zu schreiben.«

»Hast du die Zeichnung noch?«

»Leider nicht. Sie ist Eduard eines Tages zufällig in die Hände gefallen und er hat sie mit einem verächtlichen Blick ins Feuer geworfen.«

»Bist du ihm nicht sofort an den Hals gesprungen?« Katja war entsetzt.

»Nichts hätte ich lieber getan als das«, gestand Paula seufzend. »Aber dann hätte ich mein Geheimnis preisgegeben, und das wollte ich nicht.«

»Was geschah weiter? Hast du dich mit Clemens getroffen?«

»Natürlich! Wir verstanden uns auf Anhieb gut und hatten Gesprächsstoff für Stunden. Nach der ersten Verabredung sahen wir uns, so oft es ging. Aber immer nur heimlich. Meine Eltern durften nichts davon erfahren, denn zu der damaligen Zeit schickte es sich nicht für ein Mädchen aus gutem Hause, sich mit einem Künstler zu treffen.«

»Keine Sorge, das ist heute noch genauso.«

»Wie bitte?« Paula traute ihren Ohren nicht. »Ich dachte, ihr wachst völlig zwanglos und unbeschwert von solchen Dingen auf.«

»Oma, ich bitte dich, du solltest Mam doch am besten kennen.«

»Ach ja, deine Mutter. Sie ist ihrem Vater sehr ähnlich, obwohl sie es nicht wahrhaben will. Aber je älter sie wird, desto weniger kann sie es leugnen. Eines Tages wird sie genauso verbiestert und verhärmt sein wie Eduard.«

»Das dauert nicht mehr lange. Aber wie geht deine Geschichte weiter?«

»Wo war ich stehengeblieben?« Paula grübelte einen Moment. »Ach ja, die heimlichen Treffen. Es kam, wie es kommen mußte, Clemens und ich wurden von meiner Mutter erwischt. Ausgerechnet, als wir uns das erste Mal küßten. Starr vor Schreck nahm sie mich an der Hand und zog mich hinter sich her nach Hause. Als ich mich umwandte, stand Clemens an derselben Stelle. Er sagte kein Wort, doch seinen Blick werde ich nie vergessen.« Paula zögerte einen Moment, bevor sie weitersprechen konnte. »Daheim mußte ich meinen Eltern Rede und Antwort stehen. Sie waren außer sich vor Zorn, daß sich ihre Tochter, die Alleinerbin eines Millionenunternehmens, heimlich mit einem Maler traf. Obwohl ich an mehreren Abenden hörte, wie Clemens bei meinem Vater vorsprechen wollte, sah ich ihn nie wieder. Ich wurde kurz darauf für sechs Wochen zu Verwandten aufs Land geschickt, bis meine Eltern einen geeigneten Bräutigam für mich gefunden hatten.

»Eduard von Steinert«, sagte Katja tief betroffen. »Es tut mir so leid, Oma, das habe ich nicht gewußt. Kein Wunder, daß du froh bist, ihn endlich los zu sein.«

»Wenn er mich wenigstens gut behandelt hätte, wäre mein Schicksal für mich leichter zu ertragen gewesen. Aber selbst das war mir nicht vergönnt. Mein Leben mit Edi war ein einziger Kampf. Die einzige Genugtuung, die ich mir verschaffen konnte, war die Tatsache, daß er nichts von meiner heimlichen Liebe wußte. Das war der einzige Bereich, auf den er keinen Einfluß hatte.«

»Haben deine Eltern nichts gesagt?«

»Nein, meine Eltern haben das Geheimnis mit ins Grab genommen, und ich habe Clemens in meinem Herzen verschlossen. Dort ist er bis heute.«

»Und du hast nie versucht, ihn wiederzusehen?« fragte Katja ungläubig.

»Ach, Kind, ich bin ein realistischer Mensch. Sieh mal, Clemens war acht Jahre älter als ich, also siebenundzwanzig. Zu der damaligen Zeit waren die Männer in diesem Alter längst verheiratet und hatten Kinder. Ich war mir sicher, daß sich Clemens bald trösten würde. Außerdem hatte ich einen Ehemann, der fünfzehn Jahre älter war als ich und eifersüchtig über mich wachte.«

»Und er? Hat er versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen?«

»In den ersten Jahren unserer Ehe war das unmöglich. Eduard und ich haben einige Zeit im Ausland verbracht, bevor wir hierher zurückkamen. Wenn Clemens in dieser Zeit versucht hat, mich zu finden, so hätte ich es nie erfahren.«

»Weißt du, was aus ihm geworden ist?« Katja wirkte unendlich traurig, und Paula wunderte sich sehr, warum ihre Enkelin so betroffen war.

»Vor einigen Jahren habe ich zufällig einmal den Ausstellungskatalog einer Kunsthalle in die Hände genommen. Darin abgebildet war ein immer noch interessanter, älterer Herr neben seinen Werken. Es war Clemens Heygen.«

»Er hat also tatsächlich Erfolg mit seinen Bildern gehabt. Warum nur hat er keine Chance von deinen Eltern bekommen?«

»Künstler hatten damals ein anderes Image als heute. Sie wurden als Tagediebe betrachtet, als arbeitsscheu und lernfaul. Nicht so wie heute, wo bereits die Studenten an der Kunstakademie zahlreiche Bewunderer haben.«

Zwischen den beiden Frauen entstand ein langes Schweigen, das Katja schließlich durchbrach.

»Ich kann es dir so gut nachfühlen, Oma. Mir geht es ähnlich, wie es dir damals ergangen ist«, erklärte sie leise.

»Erzähl es mir, mein Kind. Solange ich lebe, werde ich zu verhindern wissen, daß dir dasselbe Los zuteil wird wie mir«, forderte Paula ihre Enkeltochter grimmig auf.

»Er heißt Claudio und ist Italiener«, begann Katja stockend.

»Moment, laß mich weitererzählen«, bat Paula. »Du hast ihn auf dem Münchener Marienplatz kennengelernt, als er dich nach dem Weg zum Hofbräuhaus fragte. Ihr habt euch wiedergesehen und ineinander verliebt. Und jetzt steht deine Mutter Kopf vor Sorge, daß du schwanger werden und unter deinem Stand heiraten könntest.«

Paulas leidenschaftliche Ausführung entlockte Katja ein Lächeln.

»Also, das mit dem Hofbräuhaus stimmt nicht, ich hab’ ihn letztes Jahr in Rom kennengelernt und bei der Abifahrt vor zwei Monaten wiedergesehen.«

»Rein zufällig, versteht sich«, schloß Paula augenzwinkernd.

»Nein, natürlich nicht.«

»Das war doch nur ein Scherz. Denk nicht, nur weil ich inzwischen eine alte Schachtel bin, verstehe ich nichts mehr von der Liebe. Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt, und außerdem habe ich eine blühende Phantasie. Du bist doch nicht schwanger?«

»Aber Oma, wie soll man denn durchs Telefon schwanger werden?«

Trotz aller Sorgen mußte Katja laut lachen.

»Schön, wenn du wieder einmal lachst, mein Engel«, stellte Paula zärtlich fest. »Das habe ich in letzter Zeit wirklich vermißt.«

»Wenn ich dich nicht hätte«, raunte Katja und kuschelte sich eng an ihre Großmutter.

»Und ich dich nicht! Nicht auszudenken. Wir stünden beide ziemlich auf verlorenem Posten, nicht wahr? Aber jetzt schmieden wir beide einen Plan, wie wir deine Eltern austricksen.

Was sagte eigentlich dein Vater dazu?«

»Paps hält sich aus solchen Sachen raus. Ich glaube, Mam geht ihm ziemlich auf die Nerven. Aber das Schlimmste hab’ ich dir noch gar nicht erzählt«, erklärte Katja leise.

Paula zuckte zusammen.

»Was ist noch?«

»Ich habe einen steinreichen Verehrer, den sich Mam offenbar als Schwiegersohn auserkoren hat.«

»O Gott, ist es tatsächlich möglich, daß sich solche Geschichten wiederholen?«

»Keine Bange, ich werde schon dafür sorgen, daß das nicht geschieht«, antwortete Katja auf einmal entschlossen. Eine Idee war ihr durch den Kopf geschossen. »Und wenn ich abhauen muß...«

»Das wirst du schön bleiben lassen. Davonlaufen ist feige. Nur wer sich seinen Problemen mutig stellt, bringt es im Leben zu etwas.«

Aufmunternd nickte Paula ihrer geliebten Katja zu. »Wir schaffen das schon! Aber jetzt sollten wir uns um das Kaffeeschirr und das Abendbrot kümmern. Es dämmert schon.«

Überrascht stellte Katja fest, daß ihre Oma recht hatte. Die Zeit war dahingeflogen, und durch das geöffnete Fenster wehte der frische Abendwind herein. Folgsam erhob sich Katja, um das Geschirr in die Küche zu bringen. Wenn ihr Opa auf einer Geschäftsreise gewesen war, hatte sie sich oft spontan entschlossen, bei Paula zu übernachten. So hielt sie es auch an diesem Abend, und die beiden hatten reichlich Zeit, über Katjas Zukunft zu sprechen. Doch nicht nur darüber dachte Katja nach. Sie hatte einen Gedanken im Kopf, den sie jedoch für sich behielt. Paula sollte noch nichts davon erfahren. Doch auf das überraschte Gesicht, das ihre Oma machen würde, wenn ihr Plan Erfolg hatte, freute sie sich jetzt schon.

*

Clemens Heygen wanderte durch sein Haus am Starnberger See und betrachtete sinnend ein Frauenportrait, das an exponierter Stelle direkt über dem modernen Sofa hing. Es zeigte ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren und unglaublich blauen Augen, das lachend in einer Blumenwiese stand. Das Bild hatte etwas Altmodisches und wollte nicht so recht zu dem modernen Ambiente des Raumes passen, doch gerade dieser Kontrast machte den Reiz aus.

»Du hast sie bis heute nicht vergessen, nicht wahr?« Die Stimme seines Sohnes Paul riß ihn aus seinen Gedanken.

»Ich frage mich oft, was aus ihr geworden ist. Und ich mache mir Vorwürfe«, antwortete Clemens heiser, ohne sich umzudrehen.

»Warum das denn?«

»Ich hätte mehr um sie kämpfen müssen«, seufzte er bedrückt. »Vielleicht wäre unser beider Leben dann glücklicher verlaufen.«

»Es ist gekommen, wie es kommen mußte. Komm schon, alter Knabe, du darfst nicht mit deinem Schicksal hadern«, versuchte Paul Clemens aufzumuntern, was ihm mit seiner saloppen Bemerkung tatsächlich gelang.

»Wirst du wohl nicht so frech sein zu deinem Vater«, lachte dieser nun. »Selbst die Erziehung meines einzigen Sohnes ist mir völlig mißlungen«, fuhr er dann in gespielter Verzweiflung fort.

»Das verbitte ich mir«, nahm Paul seinen scherzhaften Ton auf.

»Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme keine Drogen. Meine Ausbildung zum Bildhauer habe ich erfolgreich absolviert und verdiene mein eigenes Geld. Was bitte ist daran mißraten?«

»Ich gebe mich ja schon geschlagen.« Clemens hob lachend die Hände zum Zeichen seiner Kapitulation. »Bringst du mir Leinwand aus der Stadt mit?«

»Juckt es mal wieder in deinen Fingern?«

»Ich muß Paula malen, wie ich sie mir heute vorstelle.« Wieder wandte er sich dem Bildnis über dem Sofa zu.

»Mir scheint, heute ist es wieder besonders schlimm«, folgerte Paul seufzend.

»Es gibt einfach solche Tage, die mich besonders an sie erinnern«, entschuldigte sich Clemens.

»Warum rufst du sie nicht einfach an? Es kann doch nicht so schwer sein herauszufinden, wie sie heißt und wo sie wohnt.«

»Ihr jungen Leute stellt euch alles so einfach vor. Soll ich nach sechsundvierzig Jahren einfach vor ihrer Tür stehen, so als wäre nichts geschehen?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das geht nicht.«

»Was hast du denn zu verlieren?« erkundigte sich Paul verständnislos. Er hatte diese Diskussion schon viele Male geführt, immer ohne Ergebnis.

»Das verstehst du nicht«, wehrte Clemens unwillig ab, um gleich darauf das ihm unangenehme Gespräch in eine andere Bahn zu lenken.

»Was ist mit meiner Leinwand?«

»Es kann aber spät werden heute. Nach der Arbeit besuche ich noch Mutsch.«

»Sag deiner Mutter einen schönen Gruß von mir.«

»Wird gemacht. Bis dann!« Paul klopfte seinem Vater freundschaftlich auf die Schulter und warf ihm einen aufmunternden Blick zu.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, lächelte Clemens zufrieden. Nachdem er Paula seinerzeit verloren hatte, war Paul das größte Geschenk gewesen, das er erhalten hatte, und er war unendlich dankbar dafür, daß ihm Elisabeth, seine ehemalige Lebensgefährtin und Pauls Mutter, auch nach der Trennung freundschaftlich verbunden geblieben war. So hatte es keine Probleme bei der Betreuung des Jungen gegeben, und Vater und Sohn waren sich nie fremd geworden. Doch dann wanderten seine Gedanken wieder zu Paula. Hätte er sich auch von ihr getrennt? Wie wäre sein Leben mit ihr verlaufen? Nur eines war sicher. Seine berufliche Laufbahn wäre in einer erfüllten Liebesbeziehung nicht halb so erfolgreich gewesen. Jetzt befand Clemens sich am Ende seiner Karriere. Nur noch selten verspürte er, so wie heute, das Jucken in den Fingern, das ihn dazu zwang, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, um seine inneren Bilder auf die Leinwand zu bannen. Sollte er Pauls Rat endlich annehmen und versuchen, seinem beständigen Leid, das durch die Trennung von Paula leise aber hartnäckig in ihm schwelte, ein Ende machen? Sollte er versuchen, sie zu finden? Doch was, wenn es nicht gelingen würde? Wenn sie, was das Schlimmste überhaupt wäre, ihn ganz vergessen hatte? Bei diesem Gedanken fühlte sich Clemens nicht wohl in seiner Haut und beschloß, diesen Plan einer reiflichen Prüfung zu unterziehen, falls er ihn tatsächlich in die Tat umsetzen sollte.

*

Die Zeit verging, ohne daß Bertram Maslowski sein Versprechen eingelöst hätte, und Katja vergaß ihn bald über ihrem Vorhaben. Mit Feuereifer machte sie sich daran, alle Informationen über Clemens Heygen zu sammeln, die sie finden konnte. Da er es inzwischen zu einem gewissen Ruhm gebracht hatte und Kenner seine Werke sehr schätzten, war es ein Leichtes, viel über seinen Werdegang zu erfahren. Katja frohlockte, als sie in einem alten Ausstellungskatalog nachlesen konnte, daß Heygen einen Sohn hatte, aber nicht verheiratet war.

Schwieriger gestaltete sich die Suche nach der Adresse, doch Katja war erfinderisch genug, um auch daran nicht zu scheitern. Da sie herausgebracht hatte, in welchem Stadtteil von Starnberg Clemens Heygen lebte, setzte sie sich eines Tages kurzerhand in den Zug, um dorthin zu fahren. Trotzdem war es ein schwierigeres Unterfangen, als sie gedacht hatte. Erst nach Stunden des Umherwanderns fand sie ein hinter hohen Sträuchern verborgenes, unscheinbares Haus mit großen Fenster. Um ein Haar wäre sie in Jubel ausgebrochen, als sie auf einem silbernen Türschild den Namen Heygen las, doch schnell machte die Freude einer gewissen Anspannung Platz. Katja überlegte einen Moment. Ihre Gedanken waren immer nur bis hierher gegangen.

Unschlüssig stand sie vor dem Tor, doch dann gab sie sich auf einmal einen Ruck, strich sich das Haar glatt und drückte entschlossen auf den Klingelknopf. Nichts geschah. Schon wollte sie sich, halb enttäuscht, halb erleichtert, abwenden, als die Sprechanlage zu knacken begann.

»Hallo, wer ist da?« fragte eine jugendliche Stimme, unterbrochen von heftigem Rauschen.

»Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Katja Petzold. Ich bin die Enkelin von Paula von Steinert.«

»Und was wollen Sie?« Pauls Stimme klang ungeduldig. Katja hatte ihn aus seiner Arbeit gerissen, was ihn immer ärgerlich machte.

»Ich möchte mit Clemens Heygen sprechen. Es ist sehr wichtig.«

»Das sagt jeder. Er ist nicht da. Soll ich was ausrichten?«

Katja wollte schon enttäuscht abwehren, als Paul plötzlich einlenkte. »Sagten Sie vorhin Paula?« fragte er etwas freundlicher noch einmal nach.

»Ja.« Katja war verwirrt.

»Bitte warten Sie einen Moment. Ich bin sofort bei Ihnen!« Auf einmal war er aufgeregt wie ein Teenager bei seiner ersten Verabredung. Die Enkeltochter von Paula war hier und suchte nach Clemens. Paul konnte sein Glück gar nicht fassen. Er suchte hektisch nach seinen Slippern, denn er hatte barfuß am Schreibtisch gesessen, um an einem Entwurf für eine Skulptur zu arbeiten, schlüpfte ungelenk hinein und hastete durch den Garten zum Tor.

Dort stand Katja und nestelte nervös an ihrer Handtasche. Als sich ihre Blicke trafen, blieb er wie angewurzelt stehen. Auch ihr stockte der Atem. Es war ein magischer Moment, und beide starrten sich an, gefangen in einem Zauber. Doch der Augenblick verging, und Paul fand zuerst seine Stimme wieder.

»Bitte, kommen Sie herein«, bat er galant und musterte sie fasziniert, während er ihr die Tür aufhielt.

»Vielen Dank«, antwortete Katja, die sich plötzlich sehr schüchtern fühlte.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe allerdings nur Wasser und Wein.«

»Ein Glas Wasser wäre nett. Ich wandere schon seit Stunden in dieser Gegend herum.«

»Hatten Sie keine Adresse?« Paul hantierte in der Küche, und Gläser klirrten.

»Nein, ich konnte leider nur den Stadtteil ausfindig machen, in dem Herr Heygen wohnt. Allerdings hatte ich mir die Suche nicht ganz so schwierig vorgestellt.«

»Paps liebt es, sich zu verstecken. Er haßt die Öffentlichkeit und hütet sein Privatleben wie seinen Augapfel.«

»Deshalb ist auch die Adresse nicht herauszubekommen. Ich habe alles ausprobiert, auch übers Internet, aber vergebens«, erzählte Katja, die langsam ihre Scheu verlor. Neugierig musterte sie den sympathischen Mann, der ihr ein Glas Wasser mit Eiswürfeln reichte. Er hatte kurze braune Haare, und seine dunklen Augen blitzten fröhlich. Unbewußt verglich sie ihn mit Claudio und mußte sich eingestehen, daß ihm dieses gewisse Etwas fehlte, das sie an Paul sofort angesprochen hatte.

»Sie Ärmste. Aber so habe ich wenigstens das Vergnügen, Sie persönlich kennenzulernen. Warum suchen Sie Paps?« kam er nun auf den Grund von Katjas Besuch zu sprechen.

»Das ist eine lange Geschichte«, gestand sie seufzend.

»Wir haben Zeit. Clemens kommt nicht vor morgen früh zurück.«

»Solange wollte ich aber gar nicht bleiben«, gestand Katja lachend.

Das Eis war endgültig gebrochen. Fasziniert von ihrem Lachen sah Paul sie an. Es wäre aber schön, dachte er bei sich, doch er hielt sich zurück.

*

Als Katja einige Stunden später das Hegensche Haus verließ, war beiden klar, daß nichts mehr so sein würde wie vorher. Paul küßte sie zum Abschied auf beide Wangen, und sie errötete.

»Ich kann dich leider nicht fahren. Mein Wagen ist in der Reparatur, und Clemens ist mit seinem unterwegs«, erklärte er bedauernd.

»Kein Problem. Jetzt kenne ich den Weg ja«, lächelte sie beruhigend.

»Ich melde mich bei dir, sobald ich mit ihm gesprochen habe. Aber werde nicht unruhig, es kann eine Weile dauern«, raunte er ihr verschwörerisch zu.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gespannt ich bin«, gestand Katja aufgeregt.

»Ich finde, die Vorzeichen könnten nicht besser sein«, entgegnete Paul vielsagend und blickte ihr tief in die Augen. Obwohl beide kein Wort über die Gefühle gesprochen hatten, die sie bewegten, hatte Katja sofort verstanden. Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht und Paul sah ihr lange hinterher, als sie die Straße zum Bahnhof hinunterwanderte.

*

Bertram Maslowski war viel zu sehr damit beschäftigt, den drohenden Konkurs seiner Firma abzuwenden, um auch nur einen Gedanken an Katja zu verschwenden. Durch sein eloquentes Auftreten bei der Bank konnte er jedoch einen erneuten Zahlungsaufschub erreichen, was ihm die Dringlichkeit seiner Verbindung zu Katja Petzold wieder in Erinnerung rief. Diese wähnte sich schon in Sicherheit vor seinen Nachstellungen, als eines Nachmittags das Telefon klingelte. Sie stürzte freudig zum Apparat, da sie immer noch auf ein Zeichen von Paul wartete, der sich bisher nicht gemeldet hatte. Doch sie wurde bitter enttäuscht.

»Ach, Sie sind es!« entgegnete sie auf Bertram Maslowskis Gruß mit unverhohlener Abscheu.

Du kleines Biest, dachte dieser bei sich, doch er ließ sich seine Verstimmung nicht anmerken. »Ich wollte Sie an unsere Verabredung erinnern. Wir wollten das Gestüt meines Vaters besichtigen. Haben Sie heute nachmittag schon was vor?«

Katja war zu überrumpelt, um eine schlagfertige Antwort oder gar eine glaubwürdige Ausrede parat zu haben. »Ja, nein, äh...«, stammelte sie unsicher, und er freute sich über ihre offensichtliche Verwirrung.

»Dann ist es also ausgemacht! Ich hole Sie um drei Uhr ab.« Bevor Katja noch etwas entgegnen konnte, hatte er bereits aufgelegt. Laut schimpfend knallte sie den Hörer auf die Gabel, als ihre Mutter in die Diele trat.

»Aber Schätzchen, was ist denn? Hat dir dein Claudio eine Abfuhr erteilt?«

»Das geht dich gar nichts an«, entgegnete Katja patzig.

»Das ist ja ungeheuerlich! Ich glaube, die viele Freizeit bekommt dir nicht. Ich werde mich mal nach einem Auslandsaufenthalt für dich umsehen!« Katharina war empört über das ungehörige Benehmen ihrer Tochter.

»Rom wäre schön!« entgegnete diese sarkastisch, um sich keine Blöße zu geben. Ihre Bekanntschaft mit Paul und ihr gemeinsames Vorhaben waren ihr Geheimnis, das sie hütete wie einen kostbaren Schatz. Doch Katharina hatte genug gehört. Wutschnaubend drehte sie sich um und warf die Tür hinter sich zu.

Pünktlich um drei Uhr klingelte es, und Elsie öffnete die Tür. Katharina war gleich herbeigeeilt, um den Besucher zu begrüßen und war entzückt, daß es sich dabei um Bertram Maslowski handelte.

»Herr Maslowski, was verschafft uns die Ehre?« fragte sie und setzte ihr süßestes Lächeln auf.

»Hat Ihnen Ihre Tochter nicht erzählt, daß sie heute mit mir verabredet ist?« entgegnete Bertram in gespielter Verwunderung.

»Ach, natürlich, wie konnte ich das vergessen?« rief Katharina aus, um sich keine Blöße zu geben.

»Sie scheinen keinen guten Kontakt zu Katja zu haben«, stellte Bertram boshaft fest. Es bereitete ihm ein teuflisches Vergnügen, Frau Petzold aus der Fassung zu bringen, so sehr verachtete er diese gekünstelte Person.

»Wie kommen Sie denn darauf?« fragte sie auch sogleich. Doch noch bevor er antworten konnte, hörten sie beide, wie Katja die Treppe heruntersprang, was Bertram mit leisem Bedauern und Katharina erleichtert zur Kenntnis nahm.

»Gehen wir!« sagte sie statt einer Begrüßung und streifte ihre Mutter mit einem vernichtenden Blick, während sie sich bei Bertram unterhakte und sich zu seinem nagelneuen Cabriolet führen ließ.

»Wo ist denn Ihre Kratzbürstigkeit geblieben?« erkundigte sich dieser anzüglich lächelnd, als er ihr die Wagentür aufhielt.

»Machen Sie sich keine Hoffnungen. Es geht mir einzig und allein darum, dieses Haus so schnell wie möglich zu verlassen.«

»Gefällt es Ihnen nicht?« Erstaunt betrachtete Bertram die efeuumrankte Fassade des ehemaligen Jagdschlößchens. Es war zwar keine pompöse Villa, strahlte jedoch eine gewisse Art von Eleganz und Würde aus, die nur solchen Häusern zueigen war.

»Sie verstehen mich nicht«, erklärte Katja ungeduldig. »Es geht um meine Mutter, nicht um das Haus. Fahren Sie endlich los, bevor ich es mir anders überlege.«

Bertram hatte schon einen zurechtweisenden Kommentar auf den Lippen, besann sich dann jedoch, als er an Katjas Vermögen dachte.

»Wie Mademoiselle wünschen«, ergab er sich statt dessen sanftmütig, während Katja ihn mißtrauisch musterte. Er wendete das Cabrio und drückte das Gaspedal durch, so daß der Motor aufheulte.

*

Katharina starrte den beiden nach. Maslowskis unverhohlene Abscheu verletzte sie, doch letztendlich ging es hier nur ums Geschäft.

Mit einem bitteren Lächeln drehte sie sich um und ging zurück ins Haus, wo Elsie gerade telefonierte.

»Nein, es tut mir leid, Katja hat das Haus gerade verlassen«, teilte sie dem Anrufer mit.

»Wer ist dran?« flüsterte Katharine, neugierig geworden.

Elsie hielt den Hörer zu, um ihr Auskunft zu geben.

»Der Freund von Katja, Claudio Martelli. Er ruft aus Rom an.«

In Katharinas Augen blitzte es verräterisch, als sie die Hand nach dem Hörer ausstreckte. »Überlassen Sie mir das!« lächelte sie verschlagen.

Elsie tat, wie ihr geheißen war und kehrte an ihre Arbeit zurück.

»Gut, daß ich Sie am Apparat habe. Herr Martelli, wenn ich nicht irre?« begrüßte Katharina Petzold den Anrufer mit ihrer süßesten Stimme.

»Ah, Sie müssen Katjas Mutter sein!« tönte eine sympathische junge Stimme in gebrochenem Deutsch an ihr Ohr.

»Ganz recht. Es tut mir leid, daß Katja nicht selbst mit Ihnen sprechen kann, aber sie ist mit ihrem Lebensgefährten unterwegs, um ein Gestüt zu besichtigen. Sie wissen ja sicher, daß Katja ganz pferdenärrisch ist.« Das Schweigen am Ende der Leitung verriet ihr, daß ihre Worte die gewünschte Wirkung nicht verfehlten.

»Herr Martelli, sind Sie noch dran?«

»Ja, natürlich«, kam die heisere Antwort.

»Stimmt etwas nicht?«

»Katja ist mit ihrem Lebensgefährten weggefahren?«

»Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, daß sie sich demnächst verloben wird?«

»Nein, aber ich habe etwas geahnt. Sie ist so merkwürdig in letzter Zeit.« Claudio versagte die Stimme.

»Es tut mir leid, wenn ich ein Geheimnis ausgeplaudert habe. Aber Sie werden sicher verstehen, daß ich schon so aufgeregt bin wegen den bevorstehenden Feierlichkeiten«, überspielte Katharina ihre eigene Überraschung.

»Ja, ja, natürlich. Meine herzlichsten Glückwünsche, Frau Petzold.« An dem Klicken in der Leitung erkannte Katharina, daß Claudio aufgelegt hatte. Zufrieden, aber dennoch verunsichert, legte sie den Apparat beiseite, in der Gewißheit, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben. Katja hatte die gerechte Strafe für ihre Unverschämtheiten bekommen, und der italienische Nichtsnutz war mit diesem einfachen, aber wirkungsvollen Trick ausgeschaltet. Nun würde einer Verbindung mit dem Hause Maslowski nichts mehr im Wege stehen. Oder doch? Was verheimlichte Katja nicht nur ihr, sondern auch Claudio?

*

Nach einer halsbrecherischen Fahrt hielt Bertrams Cabrio vor dem Gestüt Gut Hildenstein. Katja war ganz weiß im Gesicht, als sie mit zitternden Knien ausstieg.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Bertram vergnügt und betrachtete seine Begleitung mit einem schadenfrohen Lächeln.

Es dauerte eine Weile, ehe sie antworten konnte. Haßerfüllt starrte sie ihn an. »Sind Sie verrückt geworden? Ich bin tausend Tode gestorben vor lauter Angst.«

»Sie werden sich schon noch an das herrliche Gefühl des Nervenkitzels gewöhnen, wenn Sie erst einmal öfter mit mir unterwegs waren«, lächelte er von oben herab.

»Das können Sie sich abschminken. Keinen Fuß setze ich mehr in dieses Höllengefährt«, erklärte Katja resolut.

»Sie möchten also zu Fuß nach Hause gehen?«

»Falls es Ihnen entfallen sein sollte: es gibt Taxen, die gegen Bezahlung Gäste befördern.«

»Recht so, zeigen Sie es meinem nichtsnutzigen Sohn nur!« ertönte plötzlich eine sonore Stimme, und die beiden wandten sich erstaunt um. Sie hatten nicht bemerkt, daß Heiner Maslowski seit geraumer Zeit hinter ihnen stand und ihren Disput spöttisch lächelnd verfolgt hatte.

Wütend starrte Bertram seinen Vater an. »Seit wann gehört Lauschen hier zum feinen Ton?« erkundigte er sich und konnte seine Stimme nur mühsam zügeln.

»Seit wann erschreckt man hübsche junge Damen mit halsbrecherischen Autofahrten?« gab Heiner kühl zurück, ohne auf Bertrams Vorwurf einzugehen.

»Vielleicht hat es ihr gefallen?«

»Sie sieht nicht danach aus. Aber ich bin unhöflich.« Heiner trat einen Schritt näher, gab Katja freundlich lächelnd die Hand.

»Heiner Maslowski, angenehm«, begrüßte er sie.

»Katja Petzold. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, gab sie zurück und meinte es durchaus ehrlich. Heiner war ihr auf den ersten Blick sympathisch, und sie lächelte ihn gewinnend an, was Bertram zornig zur Kenntnis nahm.

»Doch nicht etwa die Tochter von Joachim Petzold, dem bekannten Verleger?« erkundigte sich Heiner indes überrascht. Es war ungewöhnlich, daß sich Bertram für eine Frau mit diesem Format entschieden hatte.

»Genau die! Aber über einen mangelnden Bekanntheitsgrad können Sie sich auch nicht beschweren«, gab sie schlagfertig zurück.

»Alle Achtung! Sie sind nicht auf den Mund gefallen«, lächelte Heiner wohlwollend, doch heimlich warf er seinem Sohn einen warnenden Seitenblick zu. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, was für ein Interesse dieser an einer vermögenden Frau wie Katja hatte, zumal sie nicht im entferntesten dem Typ Frau entsprach, den Bertram gewöhnlich bevorzugte.

»Wenn du nichts dagegen hast, zeige ich Katja jetzt das Gestüt. Sie interessiert sich für Pferde und wir wollen gemeinsam ausreiten.« Bertram gab sich betont zurückhaltend, um keinen Streit zu provozieren.

Er wollte unter allen Umständen vermeiden, daß sein Vater ausfallend wurde und Dinge sagte, die Katja auf keinen Fall zu Ohren kommen durften.

»Natürlich habe ich nichts dagegen. Aber vielleicht dürfte ich Ihnen vorher eine kleine Erfrischung anbieten? Es kommt nicht oft vor, daß ich in meinem Alter die Gesellschaft einer derart jungen, intelligenten Frau genießen darf«, entgegnete Heiner galant.

»Nein danke, das ist nicht nötig, Vater«, beeilte sich Bertram zu versichern, doch Katja widersprach ihm.

»Ja, gern. Dann können Sie mir vielleicht ein wenig von den Pferden erzählen, die Sie hier züchten.«

»Dann wollen wir mal!« Heiner lächelte seinen Sohn überlegen an, bevor er Katja seinen Arm bot, die sich gutgelaunt unterhakte. Der Nachmittag schien eine überraschende Wendung zu nehmen, was sie amüsiert zur Kenntnis nahm.

Zähneknirschend folgte Bertram den beiden, während er fieberhaft überlegte, wie er seinen Vater unauffällig loswerden konnte, um Katja endlich in seinen Bann ziehen zu können. Noch nie war er auf eine Frau gestoßen, die sich ihm derart hartnäckig widersetzt hatte. Doch dann besann er sich und entschloß sich dazu, seinen Vater genau zu beobachten, der sofort Zugang zu der jungen Frau gefunden hatte.

*

Bertram gähnte ausgiebig. Bereits seit einer Stunde saßen sie zu dritt im klimatisierten Wohnraum des Gutes, und immer noch unterhielten sich Katja und Heiner angeregt über Pferde. Es zeigte sich, daß sich die Verlegertochter intensiv mit diesem Thema beschäftigt hatte, und Heiner konnte über ihr Hintergrundwissen nur staunen. Als eine kurze Gesprächspause entstand, nutzte Bertram jedoch sofort die günstige Gelegenheit.

»Es tut mir leid, wenn ich euch unterbreche, aber ich denke, die Temperaturen sind jetzt gerade richtig für einen Ausritt, Katja«, wandte er sich an seine Begleiterin.

»Ich würde gern eines Ihrer schönen Tiere reiten«, wandte sich Katja sofort begeistert an Heiner, der viel von seinen Zuchterfolgen berichtet hatte.

»Es ist mir eine Ehre, meine Pferde einer so erfahrenen Reiterin anzuvertrauen«, antwortete dieser und erhob sich. »Ich werde Toni Bescheid sagen, daß er Ramirez und Alba satteln soll.«

»Sie kommen nicht mit?« Enttäuschung spiegelte sich auf Katjas Gesicht.

»Leider nein. Ich bekomme nachher Besuch. Außerdem denke ich, daß ich Ihre Aufmerksamkeit schon zu lange beansprucht habe«, erklärte er mit einem Seitenblick auf Bertram, bevor er nach draußen ging, um mit dem Stallburschen zu sprechen.

»Sie haben einen sehr charmanten Vater. Leider scheint er nicht sehr viel Einfluß auf Ihre Erziehung gehabt zu haben«, bemerkte Katja sarkastisch.

»Warum haben Sie eigentlich eine so schlechte Meinung von mir?«

»Sie tun nicht viel dafür, um den Ruf zu widerlegen, der Ihnen vorauseilt.«

»Es paßt nicht zu Ihnen, daß Sie Gerüchten Glauben schenken«, gab Bertram schlagfertig zurück, und zum ersten Mal hatte Katja keine Antwort parat.

»Sie haben recht«, gestand sie leise.

In diesem Moment kam Heiner zurück.

»Hat Bertram Sie beleidigt?« erkundigte er sich scharf.

»Nein, keineswegs«, antwortete Katja schnell und stand auf. »Ich möchte mich vor dem Ausritt noch ein wenig frisch machen, wenn Sie erlauben.«

»Aber selbstverständlich. Das Bad ist am Ende des Ganges.«

Schnell verließ Katja den Raum. Sie hatte nur eine Ausrede gebraucht, um ihre Verlegenheit zu überspielen und einen Moment allein sein zu können. Bevor sie sich auf den Weg zum Badezimmer machte, lehnte sie sich an die kühle Steinmauer und atmete tief durch. Gedämpft drangen die Stimmen von Vater und Sohn zu ihr durch, und nach kurzem Zögern legte sie ihr Ohr an die Wand, um besser hören zu können. Es war nicht ihre Art zu lauschen, doch in diesem Fall konnte sie der Versuchung nicht widerstehen.

Familie Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman

Подняться наверх