Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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Erschöpft ließ sich Isabel Rosner aufs Bett fallen. Sie hatte einen anstrengenden Tag in der Universität hinter sich, an der sie im sechsten Semester Tiermedizin studierte. Doch auch der Abend würde ihr keine Erholung bieten. Sie hatte einen neuen Job als Bedienung im Calimero angenommen, einem kleinen Bistro in der Innenstadt, in dem vorwiegend Studenten verkehrten. An diesem Abend sollte sie ihre Feuerprobe bestehen, und da sie noch nie bedient hatte, war es ihr entsprechend unbehaglich.

Isabel warf einen Blick auf die Uhr und stand seufzend auf. Es blieb ihr grade noch Zeit für eine erfrischende Dusche an diesem heißen Spätnachmittag Ende Juli, bevor sie zur Arbeit aufbrechen mußte. Während sie den kühlendenWasserstrahl genoß, dachte sie darüber nach, daß sie sich dringend einen Arzttermin bei Dr. Norden, ihrem Hausarzt, besorgen mußte. Schon seit einiger Zeit fühlte sie sich merkwürdig kraftlos und mußte sich zu jeder Anstrengung aufraffen, was normalerweise nicht ihre Art war. Isa, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, war es gewohnt, sich viel zu bewegen.

Sie joggte gern früh am Morgen durch die Isarauen, doch in letzter Zeit war sie selbst dazu zu erschöpft. Morgen rufe ich an und mache einen Termin, dachte sie entschlossen und fühlte sich gleich etwas besser.

Nachdem sie ausführliche Körperpflege betrieben hatte, ging sie in das Schlafzimmer ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines unattraktiven Wohnblocks. Es war eine einfache Unterkunft, und es fehlte an allen Ecken und Enden. Es war Isabel dennoch gelungen, sich mit ihren geringen Mitteln ein gemütliches Heim zu schaffen. Nachdenklich stand sie vor dem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte, denn der Wetterbericht hatte wie schon so oft in den letzten Tagen Regen angesagt, der sich aber immer wieder in andere Gebiete verzogen hatte. An diesem Abend schien die Vorhersage jedoch einzutreffen, denn dunkle Wolken türmten sich bereits am Abendhimmel.

Schließlich wählte Isabel eine bequeme Stretchjeans und ein dünnes schwarzes Shirt mit langen Ärmeln, um gegen jede Laune des Wetters gewappnet zu sein. Während sie auf dem Bett saß und die Hose über die langen, schlanken Beine streifte, ahnte sie nicht, daß sie einen Beobachter hatte, der sie nicht aus den Augen ließ. Sein Blick glitt über ihren Oberkörper hinab zu ihren Händen, die gerade den Reißverschluß der Jeans zuzogen. Doch dann stand sie auf, griff nach dem dünnen Pullover, der neben ihr auf dem Bett lag und verschwand noch einmal im Bad, wo sie sich seinem Blick entzog.

Mit einem hämischen Grinsen ließ Achim Welser das Fernglas sinken. Auch wenn die junge Frau von Gegenüber das Zimmer jetzt verlassen hatte, so hatte er doch genug Gelegenheit gehabt, sie ausgiebig zu beobachten. Zufrieden schnalzte er mit der Zunge und vergewisserte sich, daß Isabel nicht noch einmal zurückkehrte, bevor er seinen Beobachtungsposten verließ. Obschon die junge Frau bereits seit einigen Monaten in dem Block gegenüber wohnte, hatte er noch nie Gelegenheit gehabt, sie so genau zu betrachten. Sonst hatte sie die mit Rosen bedruckten Vorhänge zugezogen, doch an diesem Abend war sie offenbar zu sehr in Gedanken gewesen, um daran zu denken. Er nahm sich vor, sie bei nächster Gelegenheit »zufällig« zu treffen, denn was er gesehen hatte, war ganz nach seinem Geschmack gewesen.

Plötzlich hatte er eine Idee. Warum sollte er sein Vorhaben auf die lange Bank schieben? Es hatte so ausgesehen, als ob sie sich für eine Verabredung zurechtmachte. Diese Chance wollte er nicht ungenutzt lassen. Er griff nach seiner Lederjacke, die neben ihm auf dem Bett gelegen hatte und war gerade im Begriff, die Wohnung zu verlassen, als ihn das Klingeln des Telefons zurückhielt. Er stutzte einen Moment, seufzte dann und griff unwillig nach dem Hörer.

»Welser«, knurrte er unfreundlich in den Hörer.

»Achim, altes Haus, warum so böse?« fragte eine gutgelaunte Stimme am anderen Ende des Apparates, und im Hintergrund war lautes Gelächter zu hören.

»Ach, du bist es Peter. Wegen dir verpasse ich gerade die Chance meines Lebens!« brummte Achim.

»So wichtig kann das nicht gewesen sein«, wiegelte der Freund unbeeindruckt ab. »Wie schaut es aus, gehst du heute abend mit ins Calimero?«

»Was wollt ihr denn schon wieder in dieser langweiligen Kneipe?«

»Na hör mal, die jungen Studentinnen dort haben dir doch bisher immer ganz gut gefallen! Wir sehen uns dann um acht!« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Peter Schrödel auf.

»Idiot!« schimpfte Achim und knallte den Hörer auf die Gabel. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sechs. Er hatte also noch zwei Stunden Zeit, um sein Glück bei der schönen Nachbarin zu versuchen. Hoffentlich hatte sie die Wohnung noch nicht verlassen. Trotz der Wärme, die immer noch herrschte, warf er seine Lederjacke über und machte sich auf den Weg zum Hauseingang des gegenüberliegenden Wohnblocks, der zu seinem Leidwesen auf der anderen Seite lag, so daß er keinen Überblick darüber hatte, ob und wann Isa die Wohnung verlassen würde. Mit hochgeschlagenem Kragen ging er so unauffällig wie möglich an der Hauswand auf und ab und ließ die Tür nicht aus den Augen. Mit jeder Minute spürte er, wie die Spannung in ihm wuchs, und er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Doch dieses Mal schien er kein Glück zu haben. Als eine nahe Kirchturmuhr sieben Uhr schlug, war ihm endgültig klar, daß er Isabel verpaßt hatte. Wütend trat er gegen einen Stein und da er nicht wußte, was er mit der angebrochenen Stunde anfangen sollte, machte er sich schließlich früh auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt.

*

Im Hause Norden herrschte reges Treiben, was zu dieser Uhrzeit recht ungewöhnlich war. Da die Sommerferien jedoch vor der Tür standen, nahmen es Fee und Daniel nicht mehr so genau mit dem Schlafengehen, und Jan, Dési und Anneka genossen diese Freiheit ausgiebig. Sie waren im Garten in ein Spiel vertieft, während die beiden Großen sich kabbelten.

»Hast du mein Game-Boy-Spiel gesehen, Danny?« erkundigt sich Felix bei seinem älteren Bruder.

»Was soll ich denn mit so einem Kinderkram?« antwortete Danny ein wenig von oben herab. Er gab nicht zu, daß er hin und wieder doch noch ganz gern mit dieser Art Mini-Computer spielte.

»Tu doch nicht so! Wenn ich es bei dir im Zimmer finde, gibt’s Ärger!« rief Felix und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch.

»Wenn du in mein Zimmer

gehst, kriegst du welchen«, antwortete Danny und lief lachend hinter seinem jüngeren Bruder her.

»Du meine Güte, man sollte meinen, daß die beiden langsam aus dem Streitalter heraus wären«, seufzte Daniel, der trotz der dicken Wolken am Himmel gemütlich in einem Gartenstuhl saß und seinen Feierabend genoß.

»Ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß das mal vorbei ist«, meinte Fee in gespielter Resignation. »Aber schau mal die anderen drei an. Ist das nicht ein schönes Bild?« Sie wies auf ihre anderen Kindern, die selbstvergessen auf dem Rasen hockten und mit kleinen Figuren spielten.

»Ja, wirklich. So sollte es immer sein!«

»Dann wäre es doch nichts besonderes mehr, und wir wüßten die Ruhe gar nicht zu schätzen.«

»Du bist ja richtig weise, Liebling!«

Zärtlich sah Daniel seine Frau an, die neben ihm saß. Es war noch gar nicht so lange her, daß sie von einer schweren Lungenentzündung genesen war, und insgeheim machte er sich noch immer Sorgen um ihre Gesundheit. Sie schien ihm so zart und schmal wie nie zuvor.

»Was schaust du mich so prüfend an, Dan?« Sie bemerkte seinen Blick sofort.

»Geht es dir auch wirklich gut, Fee?« Daniel versuchte erst gar nicht, seine Sorgen vor ihr zu verheimlichen.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, daß alles wieder in Ordnung ist.«

Eine leichte Ungeduld klang in ihrer Stimme. »Jenny hat dir doch die letzten Untersuchungsberichte zusammen mit meinen Blutwerten geschickt, und du hast mir bestätigt, daß ich vollkommen gesund bin.«

»Ja, sicher, aber du kannst mir nicht verbieten, daß ich mir dennoch Sorgen mache«, erklärte Daniel, nun seinerseits leicht gereizt.

»Das will ich gar nicht«, wurde er sofort von Fee beruhigt. »Aber schau mal, in einer Woche fahren wir ohnehin zu den Eltern auf die Insel der Hoffnung. Dort habe ich alle Zeit der Welt, wieder zu Kräften zu kommen.«

»Kann ich mich darauf verlassen, daß du dich dort wirklich schonst?« fragte er zweifelnd.

Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, daß sie immer Hand anlegte, wenn Not am Mann war. Und es ließ sich nicht leugnen, daß die Roseninsel seit ihrem Bestehen mehr und mehr an Beliebtheit gewonnen hatte und immer ausgebucht war, so daß es genug zu tun gab und jede helfende Hand willkommen war.

»Ich verspreche dir, daß ich die ersten zwei Wochen ganz brav im Liegestuhl verbringen werde!«

Fee gab sich lachend geschlagen. »Jetzt sollten wir aber schleunigst reingehen. Ich möchte nicht gern naß werden, denn der letzte Regen hat mir nicht gerade Glück gebracht«, bemerkte sie mit einem Blick zum Himmel und brachte eilige die Sitzkissen der Gartenstühle in Sicherheit. Sekunden später klatschten die ersten dicken Regentropfen auf die Terrasse, und die Kinder liefen kreischend und lachend nach drinnen.

Auch Isabel hatte alle Hände voll zu tun, um die Tischdecken und Sitzkissen hereinzuholen, bevor sie vollkommen durchnäßt waren. Sie war an ihrem ersten Arbeitstag freundlich von ihren Kollegen Nina und Falk empfangen und eingewiesen worden, so daß sich ihre anfängliche Nervosität schnell gelegt hatte. Auch hatte sie Falk von Langen auf den ersten Blick äußerst attraktiv gefunden. Deshalb war es ihr mehr als unangenehm, daß sie keuchend an der Terrassentür stand.

»Was ist denn mit dir los? Ist dir schlecht?« erkundigte er sich fürsorglich. Er studierte Chemie und würde in einem Jahr seinen Doktor machen. Schon seit Jahren jobbte er im Calimero und kannte die Gäste dort wie kein anderer.

»Danke, es geht schon wieder«, beeilte sich Isa mit einem beschämten Blick zu versichern. »Normalerweise bin ich recht sportlich, aber in letzter Zeit komme ich mir vor, als wäre ich mindestens hundert Jahre alt.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu.

»Das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen und mal zum Arzt gehen. Aber Gunnar sollte das besser nicht erfahren, sonst bist du den Job gleich wieder los«, raunte er ihr noch zu, bevor er ihr zeigte, wo sie die Tischdecken zum Trocknen ausbreiten sollte.

Gunnar Küttner, Chef des Bistros, warf ihr einen prüfenden Blick zu, und Isabel riß sich zusammen.

Da sie intelligent und interessiert an allem Neuen war, hatte es nicht lange gedauert, bis sie selbst die Computerkasse fehlerfrei bedienen konnte. Nach zwei Stunden schon nahm sie freundlich und fehlerfrei Bestellungen auf, brachte Getränke und kleine Speisen an die Tische und kassierte sicher ab. Gunnar beobachtete sie zufrieden von der Theke aus.

»Hast du wirklich noch nie bedient?« fragte er verwundert, als sie wieder einmal mit einem Tablett an den Tresen zurückkehrte und die leeren Gläser abstellte.

»Das ist wirklich mein erstes Mal«, versicherte sie. »Mache ich was falsch?«

»Ganz im Gegenteil, du bist perfekt! Wenn alle so wären wie du, hätte ich keine Personalprobleme mehr«, lobte er überschwenglich, und Isabel freute sich. »Aber da kommen schon neue Gäste«, sagte er.

Sie wandte den Blick der Tür zu. Inzwischen war es recht duster draußen, und die Beleuchtung in dem Lokal war nicht sehr hell, so daß sie die eintretenden Männer nur schemenhaft erkannte. Die blieben im Eingang stehen und sahen sich suchend nach einem freien Tisch um.

Isabel hatte die Situation mit einem Blick erfaßt und ging auf die neuen Gäste zu.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie freundlich.

»Gibt’s noch einen Platz für vier Freunde, junge schöne Frau?« fragte Peter und betrachtete sie interessiert. Doch davon ließ sich Isabel nicht aus der Ruhe bringen.

»Da hinten wird gleich was frei, wenn Sie noch fünf Minuten Zeit haben. Vielleicht wollen Sie inzwischen an der Bar warten?«

Nach einer kurzen Besprechung mit seinen Freunden erklärte Klaus sich einverstanden. Isabel ging vor, und die vier Männer folgten ihr.

Tatsächlich wurde der Tisch nach kurzer Zeit frei, und laut lachend und scherzend ließen sie sich dort nieder.

Isabel hatte inzwischen an anderen Tischen zu tun gehabt und wandte sich ihnen nun wieder zu.

»Was darf ich Ihnen bringen? Möchten Sie etwas essen?« erkundigte sie sich freundlich.

Interessiert musterte Peter sie, und auch Achim, der mit seinen anderen Freunden in eine heftige Diskussion verwickelt gewesen war, wurde aufmerksam. Es dauerte nur eine Sekunde, bis er wußte, wen er vor sich hatte. Nervös verschlang er die Hände, ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Kann man dich auch bestellen?« fragte er nun mit einem hämischen Grinsen, mit dem er sie auch durch das Fernglas beobachtet hatte. Mit einem durchdringenden Blick schaute er ihr direkt in die Augen.

Verlegen blickte Isabel zu Boden. Solche Unverschämtheiten war sie nicht gewohnt, und Achims Blick ging ihr durch und durch.

»Jetzt hast du das Täubchen verlegen gemacht«, spottete Hansjörg, der sich königlich amüsierte.

Diese Bemerkung war zuviel für sie. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zum Tresen, an dem Falk gerade eine Salatplatte entgegennahm. Er bemerkte, daß sie am ganzen Leib zitterte.

»Hast du wieder Kreislaufprobleme?« fragte er kopfschüttelnd.

Doch Isa schüttelte den Kopf. »Wer sind die da drüben?« fragte sie und machte eine Kopfbewegung in Achims Richtung.

Falks Blick folgte dem ihren.

»Da sind der schöne Achim und seine Freunde. Die sind hier stadtbekannt. Warum?« fragte er leise.

»Ich kann sie nicht bedienen. Sie sind so unverschämt und der eine Blonde hat mich so aufdringlich gemustert...«

Falk lachte laut auf. »Du mußt dir schon ein dickes Fell zulegen, Kleine«, sagte er und tätschelte ihr väterlich die Wange.

Isabel wurde bei seiner Berührung heiß und kalt. Doch dann wurde er ernst. »Die drei, die mit Achim amTisch sitzen, sind bloß Schwätzer. Denen kannst du ruhig Kontra geben. Aber vor Achim Welser solltest du dich in acht nehmen. Er ist ein Frauenheld und bekannt dafür, daß er bekommt, was er will. Außerdem ist er sehr cholerisch. Benimm dich so unauffällig wie möglich und wecke nicht seine Aufmerksamkeit.«

Falk meinte es gut, konnte jedoch nicht ahnen, daß sein guter Rat zu spät kam. Achim war bereits wild entschlossen. Er mußte Isabel haben, koste es, was es wolle!

*

Schon wieder antwortete nur die Mailbox von Falks Handy, und Leslie Sanders legte frustriert auf. Sie saß in ihrem Zimmer in ihrem Elternhaus, das in einem kleinen Dorf an der Ostküste Englands lag.

Die Wellen donnerten an die Felsen und kündeten einen Wetterumschwung an. Leslie seufzte und stand auf, um die Vorhänge zuzuziehen.

Den ganzen Tag über hatte sie bereits versucht, ihren Freund zu erreichen, der viele hundert Kilometer weit weg von ihr lebte und den sie schon zwei lange Monate nicht mehr gesehen hatte. Ihre einzige Verbindung waren die Telefonate, die sie manchmal mehrmals täglich führten, doch heute hatte sie kein Glück. Sie konnte nicht ahnen, daß Falk über seinen bevorstehenden Prüfungen und den diversen Nebenjobs die er ausübte, vergessen hatte, sein Handy aufzuladen. So war er unerreichbar für sie.

Um ihre aufkeimende Unsicherheit zu unterdrücken, setzte sich Leslie auf ihr Bett und holte eine Holzkassette hervor, in der sie Falks Briefe und Fotos aufbewahrte. Versonnen nahm sie das letzte Schreiben heraus, las es lächelnd und legte es dann sorgfältig zurück zu den anderen Umschlägen. Dann wanderten ihre Gedanken zurück zu dem schicksalhaften Urlaub in Südafrika, in dem sie Falk von Langen vor zwei Jahren kennen- und liebengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie zusammen in dem alten, klapprigen Touristenbus gesessen hatten. Am Ende des Urlaubs hatten sie bereits Zukunftspläne geschmiedet.

Unsanft wurde Leslie aus ihren Träumen gerissen, als es an die Tür klopfte.

»Leslie, da ist ein Anruf für dich. Kommst du herunter?« fragte eine männliche Stimme zurückhaltend.

Mit einem Satz war sie an der Tür und riß sie ungeduldig auf. Fast wäre sie mit ihrem Vater zusammengestoßen, der immer noch dort stand und auf eine Antwort wartete.

»Ist es Falk?« fragte seine Tochter atemlos. Sie sah entzückend aus mit ihrem von Vorfreude gerötetem Gesicht und den lockigen roten Haaren.

Thomas Sanders nickte jetzt lächelnd.

Sie fiel ihm um den Hals und lief dann in großen Schritten die Stufen hinunter zum Telefon, das in der Diele stand.

Ach, muß Liebe schön sein, dachte er lächelnd, als er ihr etwas langsamer folgte.

»Falk, ich habe heute so oft versucht, dich zu erreichen. Geht es dir gut?« fragte Leslie inzwischen aufgeregt.

»Natürlich, Liebes. Ich habe in all dem Streß vergessen, das Handy aufzuladen!« rief Falk in den Hörer. Er war immer noch im Calimero und hatte eine kurze Pause genutzt, um sich bei seiner Freundin zu melden.

»Und ich hatte schon solche Angst«, gestand sie, den Tränen nahe.

»Wovor denn?«

»Daß du mich nicht mehr liebst. Ich halte das nicht mehr lange aus, Falk. Ich will bei dir sein.«

»In den Semesterferien komme ich rüber, und dann dauert es nur noch ein Jahr, bis ich fertig bin. Du weißt doch, daß ich uns erst eine Basis für eine gemeinsame Zukunft schaffen will. Das haben wir schon so oft besprochen.«

»Liebst du mich denn noch?« fragte sie, immer noch zweifelnd. Die langen Trennungen machten sie unsicher, und schon bei der kleinsten Aufregung geriet ihre heile Welt ins Wanken.

»Mehr als alles auf der Welt«, versicherte Falk zärtlich.

Erst da war Leslie wirklich beruhigt. Sie schloß die Augen und stellte sich sein geliebtes Gesicht vor, während sie einen innigen Kuß durch die Leitung schickte.

*

Der Abend verging für Isabel wie im Flug. Nachdem Falk ihr den Gefallen getan und die aufdringlichen Gäste übernommen hatte, fühlte sie sich wieder recht wohl und versuchte, die Anzüglichkeiten der vier Freunde zu vergessen. Sie kokettierte mit Falk, wenn sie sich begegneten und warf hin und wieder einen unauffälligen Blick in die Richtung, wo Achim saß, doch die vielen Gäste versperrten ihr die Sicht. Sie ahnte nicht, daß Achim wie ein Fuchs lauerte und jede Gelegenheit nutzte, um sie mit seinem kalten Blick zu mustern.

Die Arbeit machte Isa nicht zuletzt Falks wegen großen Spaß, und als schließlich Sperrstunde war und alle Gäste einschließlich Achim Welser das Bistro verlassen hatten, gab Gunnar zur Feier des Tages ein Glas Sekt aus.

»Auf unsere neue Mitarbeiterin Isabel!« rief er gutgelaunt und hob sein Glas.

Lachend taten es ihm Nina, Falk und Isa nach.

»Vielen Dank für die nette Aufnahme in Eurem Kreis«, bedankte sie sich, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte. »Besonders dir danke ich, Falk, daß du mich vor diesen komischen Typen gerettet hast.«

Sie sah ihn scheu an.

»Keine Ursache. Aber das nächste Mal mußt du dich deiner Haut selbst erwehren, sonst hast du auf Dauer keine Chance.«

»Wenn die Männer merken, daß sie dich in Verlegenheit bringen können, werden sie keine Gelegenheit dazu auslassen«, fügte Nina hinzu.

»Was war denn los?« erkundigte sich nun Gunnar neugierig. Er hatte nichts von den Umstimmigkeiten bemerkt.

»Achim Welser hat Isa beleidigt«, erzählte Falk knapp.

»Vor diesem neureichen Schnösel ist auch keine Frau sicher«, knurrte Gunnar verstimmt. Es paßte ihm nicht, wie Welser sich in seinem Lokal den Frauen gegenüber benahm, doch Achim war nie so weit gegangen, daß es für ein Hausverbot oder gar eine Anzeige gereicht hätte.

»Falk hat mich schon gewarnt. Was ist das eigentlich für ein Typ?« erkundigte sich Isabel.

»Ich weiß nicht genau, woher er kommt. Er wohnt seit ungefähr einem Jahr in dieser Siedlung am Stadtrand und hat mit ein paar Freunden eine eigene Computerfirma aufgebaut, die offenbar recht gut läuft. Am Abend ziehen die vier häufig durch die Lokale auf der Suche nach jungen Frauen. Wenn man den Gerüchten glauben kann, ist Achim der Schlimmste von allen, ein richtiger Macho. Aber immer wieder fallen junge Mädchen auf ihn herein, weil er gut aussieht und sehr großzügig ist.«

»Das kann mir nicht passieren. Ich finde ihn richtig unheimlich«, sagte Isabel erschauernd. Es lief ihr kalt über den Rücken, wenn sie an seinen Blick dachte.

»Dann ist es ja gut, Kleines. Und wenn es Probleme mit ihm oder einem anderen Gast gibt, dann sag’ es mir. Auf mein Personal lasse ich nichts kommen!«

»Das ist sehr nett von dir!« Isa lächelte Gunnar dankbar an. Doch auf einmal war sie sehr müde. »Es ist schon nach ein Uhr. Ich gehe jetzt nach Hause. Morgen früh muß ich um neun in der Uni sein«, entschuldigte sie sich. Das entsprach zwar nicht ganz den Tatsachen, aber sie erinnerte sich an Falks Worte und wollte sich vor Gunnar keine Blöße ob ihres angeschlagenen Gesundheitszustandes geben.

»Dann wollen wir dich Ärmste nicht länger aufhalten. Bis morgen abend dann!« wurde sie freundlich von allen verabschiedet. Sie holte ihre Tasche aus der Garderobe und warf Falk einen letzten innigen Blick zu, doch sie konnte nicht sagen, ob er es bemerkt hatte. Dann verließ sie das Lokal. Feuchte Luft schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete, denn nach dem heftigen Regenschauer hatte es sich nicht abgekühlt. Sie blieb kurz vor dem Eingang stehen, um sich zu orientieren und schlug dann den Weg zur U-Bahn ein. Um diese Uhrzeit waren die Straßen leer, nur hier und da sah sie einen Fußgänger in der Sommernacht. Die Strecke kam ihr nun doch weiter vor als am frühen Abend, doch sie vertrieb sich die Zeit mit Gedanken an ihren gutaussehenden jungen Kollegen. Täuschte sie sich, oder hatte sie Falk auch gefallen?

Endlich erreichte sie die nur spärlich beleuchtete Fußgängerunterführung, hinter der die U-Bahn-Station lag. Plötzlich vermeinte sie ein Geräusch hinter sich zu hören, und alle schönen Gedanken an Falk waren wie weggeblasen. Hatte sie sich in ihm getäuscht, oder verfolgte sie ein anderer mitten in der Nacht?

Isabel beschleunigte ihre Schritte, und auch das Geräusch hinter ihr wurde schneller. Mit klopfendem Herzen begann sie zu laufen, und bald hatte sie das Ende der Unterführung fast erreicht. Doch die Schritte hinter ihr kamen immer näher. Als sie spürte, daß sie am Ende ihrer Kräfte war, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen und meinte fast, den Atem ihres Verfolgers im Nacken zu spüren. Plötzlich legte sich eine Hand fest auf ihre Schulter. In großer Verzweiflung schrie Isabel laut auf.

»So warte doch, Isa. Ich bin es, Falk!«

»Falk!« stöhnte sie und sank mit letzter Kraft auf die Treppe der U-Bahn-Station, die vor ihren Füßen hinabführte. »Was willst du von mir?« Nach Atem ringend stieß sie die Worte hervor und preßte die Hände auf den schmerzenden Brustkorb.

Falk von Langen ließ sich neben Isabel auf der Treppe nieder. Er war nicht so atemlos wie sie, dennoch machte er einen aufgelösten Eindruck. »Ich habe durch ein Fenster beobachtet, wie du das Calimero verlassen hast. Dabei ist dir jemand gefolgt. Kurz entschlossen habe ich mich drangehängt. Wie ich schon vermutet habe, war es Welser. Als er mich vor der Unterführung bemerkte, fing er an zu laufen. Ich dachte, er wäre immer noch hinter dir her und rannte so schnell ich konnte. Doch am Ende des Tunnels warst nur du da. Ich weiß nicht, wo er hin ist.« Ratlos blickte sich Falk um.

»Und ich dachte schon, du...«, sie verstummte, denn dieser Gedanke erschien ihr jetzt geradezu lächerlich.

»Sehe ich so aus, als ob ich es nötig hätte, kleine Mädchen in der Nacht zu erschrecken?« fragte er gekränkt.

»Natürlich nicht, es tut mir leid. Aber in so einer Situation gehen einem alle möglichen Gedanken durch den Kopf!« flüsterte Isabel zitternd.

»Du darfst diesen Weg nicht mehr allein gehen, hörst du? Dieser Typ ist gefährlich.« Mitleidig sah er Isa an. »Komm, ich bring’ dich nach Hause!«

Er stand auf und zog sie an beiden Händen hoch. Jetzt machte sich ihr schlechter Allgemeinzustand bemerkbar, denn sie zitterte am ganzen Leib. Als Falk sie nach ihrer Adresse fragte, gab sie leise Auskunft, dann ließ sie sich führen, froh, nicht mehr allein zu sein.

Keuchend stand Achim Welser in einer Nische der Unterführung und beobachtete Falk und Isabel, wie sie aufstanden und langsam die Treppen zur U-Bahn hinuntergingen. Dann hatten sie sich seinem Blick entzogen, und er konnte sein Versteck verlassen. Mit langen Schritten durchmaß er die Unterführung und ging dorthin zurück, woher er gekommen war, da er seinen Wagen in einer Seitenstraße nahe des Calimero geparkt hatte. Seine undurchsichtige Miene gab seine Gefühle nicht preis, doch ein leises, boshaftes Lächeln umspielte Achims Lippen. Hoffentlich kommt mir dieser junge Kerl nicht in die Quere. Sonst ergeht es ihm schlecht, dachte er bei sich, während er die Tür seines Sportwagens aufschloß und einstieg. Kurz darauf heulte der Motor auf, bevor das schwarze Cabriolet in der Dunkelheit verschwand.

*

Verwirrt setzte sich Fee im Bett auf und machte Licht. Daniel schlief tief und fest neben ihr, während sie auf die Uhr schaute und ihn dann entschlossen rüttelte.

»Dan, wach auf, das Telefon klingelt. Das kann nur für dich sein!«

Unwillig drehte er sich auf die andere Seite, doch Fee gab nicht auf. Endlich drangen ihre Worte zu ihm vor, und mit einem Schlag war er hellwach.

»Wie spät ist es?« fragte er, während er aus dem Bett sprang.

»Viertel vor drei!«

»Das kann nur ein Notfall sein!« Mit diesen Worten verließ er eilig das Schlafzimmer und hastete hinunter in die Diele zum Telefon. »Hier Dr. Norden.«

»Es tut mir leid, Sie so spät zu stören, aber ich brauche dringend Ihre Hilfe!« Eine männliche Stimme rief verzweifelt in den Hörer, so daß es in Daniels Ohren klingelte.

»Wer sind Sie, und was ist geschehen?«

»Mein Name ist Falk von Langen. Ich bin in der Wohnung von Isabel Rosner, einer Patientin von Ihnen.«

»Was ist mit Frau Rosner?« Sofort erinnerte sich Daniel an die junge, hübsche Frau, die seit fast zwei Jahren seine Patientin war. Er sah sie zwar nur zu Routineuntersuchungen und Impfungen, denn sie erfreute sich einer guten Gesundheit, aber ihr freundliches, zurückhaltendes Wesen war ihm gut im Gedächtnis geblieben.

»Ich weiß es nicht genau. Sie sagt, sie fühlt sich schon seit Wochen sehr schwach. Heute abend hat sie sich sehr aufgeregt. Es geht ihr schlecht, und sie bat mich, Sie anzurufen.«

»Welche Symptome hat sie?«

»Sie zittert am ganzen Leib und steht offenbar unter Schock.«

»Geben Sie mir die Adresse, ich komme sofort.«

»Was ist los, Liebling?« fragte Fee verschlafen, als Daniel wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte.

»Ich weiß es nicht genau. Es geht um eine Patientin, die ich bisher immer nur zu Routineuntersuchungen gesehen habe.«

»Merkwürdig!« murmelte Fee noch, doch mehr Energie hatte sie nicht mehr. Sie schloß die Augen und war augenblicklich eingeschlafen.

Bevor Daniel das Zimmer verließ, küßte er sie zart auf die Stirn und löschte dann behutsam das Licht.

*

Während Falk auf den Arzt wartete, ging er unruhig in Isabels Schlafzimmer auf und ab. Sie hatte sich inzwischen etwas beruhigt, lag aber immer noch zitternd auf dem Bett. Er hatte ihr einen Tee gekocht, aber mehr konnte er im Moment nicht für sie tun.

»Du bist so lieb«, flüsterte sie, als er ihr die Tasse brachte. Es rührte ihn, daß sie seine Bemühungen in ihrem schlechten Zustand noch würdigte.

»Ist schon gut«, entgegnete er freundlich.

Das Licht im Zimmer war gedämpft, und es roch stickig. Falk trat ans Fenster, um etwas frische Luft herein zu lassen. Dabei fiel sein Blick auf den Wohnblock gegenüber. Alle Fenster waren dunkel, nur in einem Zimmer brannte noch Licht. Es lag genau auf derselben Höhe wie Isabels Schlafzimmer. Da der Raum keine Vorhänge hatte, konnte Falk ungeniert hineinschauen, erkannte aber wegen der Entfernung nicht viel. Plötzlich stutzte er. Stand da nicht eine Gestalt am Fenster und schaute direkt zu ihm herüber? Der Statur nach handelte es sich um einen Mann, der einen Gegenstand vor die Augen hielt. Doch bevor Falk noch mehr erkennen konnte, hatte der Unbekannte ihn offenbar ebenfalls entdeckt. Wie von Geisterhand erlosch das Licht im gegenüberliegenden Fenster, und Falk konnte nichts mehr erkennen.

Plötzlich war ihm klar, was hier gespielt wurde! Mit einem Ruck wandte er sich ab und zog die Vorhänge zu. Immer noch zitternd drehte sich Isabel bei dieser heftigen Bewegung zu ihm um und sah ihn fragend an.

»Was ist denn passiert?« flüsterte sie.

»Ich will nicht, daß so viel Ungeziefer hier hereinflattert«, antwortete er ausweichend. In ihrem derzeitigen Zustand wollte er Isabel nicht noch mehr verunsichern, dennoch war ihm klar, daß er ihr sagen mußte, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach beobachtet wurde. Und das war kein angenehmer Gedanke.

Falk nahm sich vor, auf dem Nachhauseweg die Namensschilder des gegenüberliegenden Wohnblocks zu studieren, doch dann klingelte es an der Tür, und seine Gedanken waren wieder ganz bei Isabel.

»Vielen Dank, daß sie gleich gekommen sind!«

Er hatte die Tür geöffnet und führte Dr. Norden ins Schlafzimmer. Dort lag Isabel vollständig bekleidet auf dem Bett und sah Daniel mit schreckgeweiteten Augen entgegen.

»Frau Rosner, was ist geschehen?« erkundigte sich Daniel Norden beunruhigt, während er sich neben ihr niederließ.

»Sie müssen mir helfen, ich habe solche Angst«, flüsterte Isabel nur und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, von dem sie geschüttelt wurde.

»Keine Sorge, es wird Ihnen nichts geschehen«, versuchte Daniel sie zu beruhigen. Schnell hatte er festgestellt, daß sie einem Nervenzusammenbruch nahe war und bereitete eine Injektion vor.

»Ich spritze Ihnen jetzt ein beruhigendes Mittel, dann wird es Ihnen schnell bessergehen«, erklärte er, während er die Armbeuge desinfizierte und dann die Nadel setzte. Isabel zuckte nicht mit der Wimper. Schon nach kurzer Zeit setzte die Wirkung des Mittels ein, und sie wurde merklich ruhiger. Falk, der in der Tür stand und das Geschehen beobachtete, seufzte erleichtert.

»Es tut mir so leid, daß ich solchen Ärger mache«, flüsterte sie beschämt. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. So kenne ich mich gar nicht.«

»Das werden wir gemeinsam schon herausfinden«, sagte Daniel beruhigend.

»Hauptsache, es geht dir wieder besser!« beeilte sich Falk zu versichern.

»Und jetzt erzählen Sie mir, was passiert ist«, forderte Daniel sie auf.

Stockend begann Isabel, von den Ereignissen der vergangenen Stunden zu berichten, immer wieder unterbrochen von Falk, der etwas hinzufügte oder richtigstellte.

Als die beiden geendet hatte, schüttelte Daniel nachdenklich den Kopf.

»Ich verstehe, daß Sie sich darüber sehr aufgeregt haben. Aber das allein kann nicht der Grund für Ihren Zusammenbruch sein. Sie sind doch eine sportliche, gesunde Frau und noch dazu so jung.«

»Es geht mir schon seit längerem nicht so gut. Deshalb wollte ich mir morgen auch einen Termin bei Ihnen holen«, erklärte Isabel leise.

»Was fehlt Ihnen denn?«

»Eigentlich nichts besonderes. Ich fühle mich nur so merkwürdig schlapp und antriebslos in letzter Zeit. So, als ob ein Auto mit angezogener Handbremse fährt.«

Bei diesem Vergleich mußte Falk lächeln, doch Daniel wußte genau, was sie meinte.

»Sie sollten gleich morgen früh in meine Praxis kommen. Dort habe ich alle Geräte, die ich zu einer gründlichen Untersuchung brauche. Auf jeden Fall sollten wir ein ausführliches Blutbild machen.«

»Ich habe mich bis jetzt geschämt, wegen so eines dummen Gefühls zum Arzt zu gehen«, gestand Isabel beschämt. »Es ist sehr nett, daß Sie mir glauben.«

»Ich wäre kein guter Arzt, wenn ich die Beschwerden meiner Patienten nicht ernst nehmen würde«, entgegnete Daniel und erhob sich.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?«

»Ja, aber ich bin sehr müde!«

»Dann schlafen Sie sich gründlich aus. Es ist schon spät! Sie wissen ja meine Nummer, falls Sie mich noch brauchen.«

Isabel nickte folgsam und kroch unter die Bettdecke, während Daniel das Zimmer verließ. Falk blieb noch einen Augenblick unschlüssig an ihrem Bett stehen. »Kann ich dich wirklich allein lassen?« erkundigte er sich.

Sie lächelte matt. »Natürlich. Obwohl es schön wäre, wenn du bleiben könntest. Aber ich verstehe, daß du deinen Schlaf brauchst.«

»Du bist ein tapferes Mädchen. Kann ich dich morgen erreichen?«

»Ich werde vermutlich den ganzen Tag unterwegs sein, bei Dr. Norden und dann in der Uni. Aber wenn du möchtest, kannst du mich am Abend mit ins Calimero nehmen.«

»Glaubst du, daß du bis dahin wieder so fit bist, daß du arbeiten kannst?« fragte er skeptisch.

»Klar, Unkraut verdirbt nicht«, versuchte Isa zu scherzen. Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, doch sie lächelte tapfer, bevor sie müde die Augen schloß.

»Wissen Sie, was ihr fehlt?« fragte Falk, als er die Wohnung verlassen hatte und im Treppenhaus auf Daniel traf, der dort auf ihn gewartet hatte.

»Das kann ich noch nicht sagen. Aber die Untersuchungen morgen werden sicher Aufschluß darüber bringen«, erklärte er, während sie das Haus verließen. »Auf jeden Fall finde ich es sehr anständig, daß Sie bei ihr geblieben sind«, sagte dieser zum Abschied. Die Erkenntnis, daß es noch hilfsbereite Menschen auf dieser Welt gab, entschädigte ihn dafür, daß er zu so später Stunde noch unterwegs sein mußte, um Not zu lindern.

Falk wartete noch, bis Daniel seinen Wagen gestartet hatte und davongefahren war, dann ging er vorsichtig um den Wohnblock herum.

Es war stockdunkel, und er ärgerte sich, daß sein Wagen, in dem er immer eine Taschenlampe deponiert hatte, eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt vor dem Calimero stand. Als er den Hauseingang endlich gefunden hatte, tastete er in seinen Taschen und fand tatsächlich ein altes Feuerzeug. Er rauchte zwar nicht, hatte es aber eines Tages in der Mensa gefunden und für alle Fälle eingesteckt. Dieser Weitblick erwies sich in dieser Situation als sehr hilfreich.

Aufmerksam studierte er die lange Reihe von Namen, die untereinander auf kleinen Metallschildchen standen. Offenbar wurde das Gebäude auch teilweise gewerblich genutzt, denn es befanden sich diverse Firmennamen darunter. Als Falk am Ende angekommen war, seufzte er enttäuscht. Kein Name war dabei gewesen, der ihm bekannt vorkam. Er überflog sie noch einmal, und plötzlich stach ihm ein glänzendes, offenbar neues Schildchen ins Auge. AW-Hardware Vertriebs GmbH, stand dort in einfachen Lettern. Das sind die Anfangsbuchstaben von Achim Welser, schoß es ihm durch den Kopf. Zufrieden steckte Falk das Feuerzeug in die Tasche. Die Chance war sehr gering, aber vielleicht befand er sich auf der richtigen Fährte. Das würde auch das merkwürdige Benehmen von Achim erklären. Falk war ein aufmerksamer Beobachter, und ihm war der seltsame Blick, mit dem Achim

Isabel den ganzen Abend gemustert hatte, nicht entgangen. Morgen werde ich es herausfinden, dachte er und machte sich seufzend auf den Weg zum Bistro und seinem Auto.

Es dauerte noch eine geraume Zeit, ehe er sich zu seiner verdienten Nachtruhe in seinem Bett ausstrecken konnte.

*

Daniel Norden wollte es nicht glauben, als der Wecker am nächsten Morgen klingelte.

»Ist es wirklich schon sieben Uhr?« fragte er verschlafen und rieb sich die Augen. Nachdem er von Isabel Rosner zurückgekehrt war, hatte er lange wach gelegen, bevor er wieder eingeschlafen war.

»Es tut mir leid, Liebling, wann bist du denn heute nacht zurückgekommen?«

»So gegen halb vier. Aber es hat bestimmt noch eine Stunde gedauert, bis ich wieder einschlafen konnte«, seufzte er und stand müde auf.

»Du Ärmster. War es etwas Schlimmes?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe Frau Rosner für heute in die Praxis bestellt.« Er erzählte Fee kurz, was er in der Nacht erlebt hatte.

»Hast du eine Ahnung, was ihr fehlen könnte?«

»Es gibt mehrere Möglichkeiten. Ich vermute eine Erkrankung der Schilddrüse. Diese Schwächezustände, die Kurzatmigkeit und die abnehmende Belastbarkeit sind eigentlich ein Hinweis auf eine Schilddrüsenüberfunktion.«

»Es ist schon erstaunlich, wie ein an sich so kleines Organ solche Probleme hervorrufen kann.«

»Das ist wahr. Aber Gott sei Dank ist die Medizin inzwischen so weit fortgeschritten, daß solche Beschwerden medikamentös gut in den Griff zu bekommen sind.«

»Dann bin ich ja mal gespannt, ob du mit deiner Diagnose richtig liegst«, lächelte Felicitas und ging hinunter, um ihre Kinder zu begrüßen, die längst von Lenni am Frühstückstisch versorgt wurden.

»Guten Morgen, Ihr Lieben. Habt Ihr gut geschlafen?« erkundigte sich Fee sogleich und musterte stolz ihre Kinderschar. Sogar die beiden Zwillinge waren bereits fix und fertig angezogen. Das mußte Lennis Werk gewesen sein.

»Im Gegensatz zu euch blendend«, antwortete Danny lachend.

»Aber ich war doch so leise«, wunderte sich Daniel. »Oder hat dich das Telefon geweckt?«

»Lenni hat uns erzählt, daß du heute nacht offenbar einen Notruf hattest«, verriet Felix.

»Ich habe schlecht geschlafen, und da hörte ich, wie der Herr Doktor das Haus verlassen hat«, beeilte sich die treue Haushälterin zu erklären.

»Sie müssen sich doch nicht rechtfertigen«, sage Fee, die merkte, daß ihr die Sache sehr unangenehm war. »Im Übrigen ist es sehr lieb von Ihnen, daß Sie sich schon um die Kinder gekümmert haben!«

»Aber dafür bin ich doch da!« erklärte Lenni und zog sich in die Küche zurück, um den Kaffee zu holen. Sie freute sich sehr über Komplimente, aber ein bißchen peinlich war es ihr immer noch, wenn sie so gelobt wurde. Schließlich hatte sie dem Ehepaar Norden ihr gutes Leben zu verdanken, das vergaß sie keinen Augenblick.

»Wir haben uns ganz allein angezogen«, rief da Dési empört. »Die Lenni hat mir nur geholfen, den Reißverschluß zuzumachen.«

»Und ich hab’ mir sogar die Socken selbst rausgesucht!« triumphierte Jan, der nicht hinter seiner Schwester zurückstehen wollte. Stolz streckte er seine kleinen Füßchen aus, so daß jeder sie sehen konnte. Das Gelächter, das ausbrach, als ein grüner und ein blauer Strumpf zum Vorschein kam, verstand er nicht recht. Beleidigt löffelte er seine Cornflakes zu Ende.

Das fröhliche Frühstück hatte bald ein Ende, und die Familie verstreute sich in alle Himmelsrichtungen.

Auch Daniel verließ schweren Herzens das Haus. Gern hätte er noch ein bißchen mit seiner Fee am Tisch gesessen und sich mit ihr unterhalten. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, daß in ein paar Tagen die großen Ferien begannen. Obwohl sie viel Zeit auf der Insel der Hoffnung verbringen würden, damit Daniel seinen Schwiegervater Johannes Cornelius unterstützen konnte, hoffte er doch, einige Mußestunden mit seiner Familie verbringen zu können, während sein Kollege Severin Baumgartner die Praxis in München betreute.

All diese Gedanken bewegten ihn während der sehr kurzen Autofahrt zu seinem ehemaligen Wohnhaus, das nun die Praxis beherbergte.

»Guten Morgen, Wendy. Hoffentlich sind Sie nicht so müde wie ich«, begrüßte er seine zuverlässige Assistentin scherzend, doch statt einer Antwort legte sie mahnend den Zeigefinger auf den Mund.

»Es ist schon eine Patientin da!« erklärte sie leise und deutete auf die geschlossene Tür des Wartezimmers.

»Bin ich zu spät?« erkundigte sich Daniel und warf einen Blick auf seine Uhr.

»Nein!« wurde er sogleich beruhigt. »Die Patientin war zu früh! Und einen Termin hat sie auch nicht. Sie sagte, Sie hätten sie bestellt.«

»Dann kann es sich nur um Isabel Rosner handeln.« Kurz erläuterte Daniel die Vorfälle der vergangenen Nacht.

»Ja, wenn das so ist!« entgegnete Wendy versöhnlich. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich sie reinschicken kann.«

»Natürlich«, antwortete Daniel und zog sich in sein Sprechzimmer zurück, um alles Nötige für die Untersuchung vorzubereiten.

Wenig später saß ihm Isabel gegenüber. Sie hatte tiefe Schatten unter den Augen und war blaß.

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Sie sich ausschlafen sollen«, mahnte Daniel streng, nachdem er sie begrüßt hatte.

»Ich kann nichts dafür, ich bin schon um sechs Uhr wieder aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen«, erklärte sie mit schlechtem Gewissen.

»Hoffentlich habe ich Ihnen keine Angst wegen Ihrer gesundheitlichen Probleme gemacht!«

»Nein, nein, das ist es nicht. Dieser unheimliche Mann ist es, der mir keine Ruhe läßt. So etwas habe ich noch nie erlebt.«

»Bei Tageslicht besehen ist vieles nicht so schlimm, wie es in der Nacht scheint«, versuchte Dr. Norden seine Patientin zu beruhigen. »Vielleicht war er nur betrunken und kann sich nicht mehr an sein unmögliches Benehmen erinnern.«

»Das ist gut möglich!«

Nur zu gern wollte Isabel den Worten des Arztes glauben, doch sie wußte nur zu gut, daß Achim Welser am vergangenen Abend nicht viel Alkohol getrunken hatte.

»Dann wollen wir mal zur Tat schreiten! Zuerst machen wir ein großes Blutbild. Sie dürfen nicht erschrecken, denn dazu benötige ich einige Röhrchen von Ihrem kostbaren Lebenssaft. Es sieht aber nach mehr aus, als es tatsächlich ist.«

Wie in der Nacht zuvor zuckte Isabel nicht mit der Wimper, als Daniel ihr den Arm abband, die Einstichstelle desinfizierte und eine Kanüle legte, auf die er immer wieder neue Röhrchen aufsetzte und voll Blut laufen ließ. Endlich hatte er genug. »Geht es Ihnen gut?« erkundigte er sich vorsichtshalber, denn es gab durchaus Patienten, die die Blutabnahme nicht gut vertrugen. Isabel gehörte allerdings nicht dazu.

»Ich bin das gewohnt, weil ich regelmäßig zum Blutspenden gehe«, erzählte sie bereitwillig.

»Das ist eine gute Sache. Ich würde mir wünschen, daß viel mehr Menschen den Aufforderungen der Blutspendedienste nachkommen würden. Viele Leute ahnen nicht, wieviel Gutes sie mit sowenig Aufwand tun können«, lobte Daniel.

»Noch dazu, wo ich so eine seltene Blutgruppe habe. Null Negativ ist immer sehr begehrt«, lächelte Isabel.

Dann war die Prozedur überstanden, und Dr. Norden begann mit der gründlichen Ultraschalluntersuchung. Zuerst schallte er die inneren Bauchorgane, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen.

»Das ist alles unauffällig. Man kann förmlich sehen, daß Sie sehr gesund leben.«

»Unser Körper ist doch unser wichtigstes Gut. Ich verstehe nicht, daß viele Menschen das vergessen.«

»Sie sollten Medizinerin werden. Ihnen traue ich zu, daß Sie die nötige Überzeugungskraft besitzen, aus jedem einen Gesundheitsfanatiker zu machen«, lächelte Dr. Norden.

»Ich werde tatsächlich eine Kollegin von Ihnen. Allerdings im vierbeinigen Bereich«, entgegnete Isa nicht ohne Stolz.

»Gibt es einen Grund, warum Sie die Tiere den Menschen vorziehen?« erkundigte sich Daniel, doch plötzlich verfinsterte sich seine Miene.

»Was ist los?« fragte sie statt einer Antwort.

Daniel hatte den Schallkopf des modernen Gerätes inzwischen zur Schilddrüse geführt. Jetzt bewegte er ihn suchend hin und her und beobachtete den Bildschirm aufmerksam.

»Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber ich fürchte, mit der Schilddrüse ist links etwas nicht in Ordnung.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Vor Aufregung war Isabels Stimme plötzlich ganz heiser.

»Das kann ich noch nicht sagen. Es sieht nach einem kleinen Knoten aus.«

»Ist er bösartig?« Sie war den Tränen nahe.

»Sehen Sie her!« forderte Daniel sie auf und drehte den Bildschirm so, daß Isabel ihn gut sehen konnte.

»Hier ist der Knoten. Können Sie ihn erkennen?«

»Ja!« antwortete sie tonlos.

»In diesem Knoten ist keine Bewegung, er ist ohne Leben. Im Medizinischen nennt man das...«

»Einen kalten Knoten«, beendete Isabel seine Ausführung.

Daniel sah sie erstaunt an.

»Ein bißchen Ahnung habe ich auch von den Menschen«, erklärte sie.

»Gibt es so etwas bei Tieren auch?«

»Soweit bin ich noch nicht, aber ich habe ein paar Semester Humanmedizin studiert, bevor ich zur Tiermedizin wechselte. Ein bißchen was davon ist hängengeblieben.«

»Dann wissen Sie also auch, daß ein kalter Knoten nicht bösartig werden muß, aber dennoch entfernt werden sollte.«

Isabel nickte stumm, und Daniel spürte großes Mitleid mit dieser sympathischen jungen Frau. Vorsichtshalber tastete er ihre Schilddrüse noch einmal ab.

»Merkwürdig. Das Gewebe fühlt sich ganz normal an und auch den Knoten würde ich so als unbedenklich einstufen«, erklärte er. »Wenn Sie einverstanden sind, punktiere ich den Knoten, um Gewebe zu erhalten. Das Punktat wird ins Labor geschickt und untersucht. Wir brauchen Sicherheit, bevor wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen.«

»Wie lange dauert es, bis ein Ergebnis vorliegt?«

»Eine Woche werden wir uns schon gedulden müssen.«

»Wie soll ich so lange in Ungewißheit leben?« fragte Isabel verzweifelt.

»Das kann ich Ihnen leider nicht ersparen.« Dr. Nordens Bedauern war aufrichtig.

Einen Moment zögerte Isabel, doch dann gab sie ihr Einverständnis zur Punktion. Die Prozedur dauerte nicht lange und war nicht sehr schmerzhaft, da Daniel die Einstichstelle örtlich betäubte. Dennoch hatte er erhebliche Probleme, die kleine Gewebeveränderung mit der Punktionsnadel zu treffen.

»Hoffentlich reicht das Punktat aus, um ein verwertbares Ergebnis zu erhalten«, sagte er schließlich. »Wir müssen es versuchen. Der Knoten ist so klein, daß es schwer ist, ihn zu finden.«

Endlich konnte Isabel die Praxis verlassen. Daniel hatte noch versucht, ihr Mut zu machen, doch es war ihrer verzweifelten Miene anzusehen, daß ihm das nicht ganz gelungen war. Er versicherte ihr noch, sie anzurufen, sobald die Ergebnisse der Blutuntersuchung vorlagen, die er gegen Ende der Woche erwartete. Dann trat sie hinaus in den schwülen Sommermorgen. Eine endlos lange Woche lag vor ihr, in der ihre mögliche Krebserkrankung wie ein Damoklesschwert über ihr schwebte. Tränen der Verzweiflung stiegen in Isabels Augen, als sie sich auf den Weg in die Innenstadt machte, um ihre Vorlesung nicht zu verpassen.

Falk schlief bis in den späten Vormittag hinein, als sein Handy klingelte und ihn unsanft aus dem Schlaf riß. Aber als er Leslies geliebte Stimme erkannte, war er hellwach. Schlagartig standen die Geschehnisse der vergangenen Nacht vor seinem geistigen Auge.

»Schatz, was ist mit dir?« fragte Leslie, als er einsilbig auf ihre Fragen antwortete.

»Heute nacht ist eine merkwürdige Geschichte passiert«, begann er stockend und berichtete ihr von den Begebenheiten der vergangenen Stunden.

»Das arme Mädchen«, sagte Leslie spontan. »Dieses schreckliche Erlebnis wird sie noch lange verfolgen. Ich könnte keinen Schritt mehr ohne Angst auf die Straße tun.«

»Ich muß unbedingt herausfinden, ob es dieser Achim Welser ist, der Isabel beobachtet. Wenn es so ist, dann befindet sie sich in großer Gefahr. Diesem Typ traue ich alles zu.«

»Was willst du tun?«

»Ich habe noch keine Ahnung«, gestand er wahrheitsgemäß. »Aber mir wird schon was einfallen.«

»Bitte paß auf dich auf«, bat Leslie ängstlich.

»Natürlich, mach dir keine Sorgen. Übrigens brauchst du auch sonst nichts zu fürchten. Isabel ist überhaupt nicht mein Typ. Sie ist, bis auf die Figur, das genaue Gegenteil von dir«, fügte er mit zärtlicher Stimme hinzu.

»Das ist sehr beruhigend«, lächelte Leslie.

Obwohl sie wußte, daß Falk ihr treu war, versetzte es ihr doch immer einen leichten Stich, wenn er von anderen Frauen sprach. Aber auch in dieser Beziehung hatte er sie durchschaut und versuchte ihre Bedenken so gut es ging zu zerstreuen.

Nachdem sie noch eine Weile liebevoll miteinander gescherzt hatten, beendeten sie das Telefonat und Falk ging ins Bad. Er wohnte noch bei seinen Eltern, da er sich als Student keine eigene Wohnung leisten konnte. Da diese beide berufstätig waren, hatten sie das Haus bereits in aller Frühe verlassen und er konnte in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen.

Unruhig ging Achim Welser in der Wohnung auf und ab, die zu einem Lager umfunktioniert worden war. Überall waren Kisten und Schachteln aufgestapelt, in denen sich Computer und Zubehör befanden, die an zahlreiche Kunden verschickt werden sollten. Eigentlich hatte er allen Grund dazu, zufrieden zu sein. Das Geschäft, das er erst seit einem Jahr mit seinen Freunden hier betrieb, lief glänzend. Niemand hatte bisher Verdacht geschöpft, daß nicht alles mit rechten Dingen zuging. Doch nun war seine Welt durch seine eigene Unvorsichtigkeit ins Wanken geraten.

»Diese Weiber bringen mich noch in Teufels Küche!« fluchte er böse vor sich hin, während er das Fernglas zur Hand nahm und in die Wohnung gegenüber starrte. Sie war leer. Vor Stunden war Isabel gegangen und seither nicht zurückgekehrt. Achim schwante nichts Gutes. Dieser junge Mann, der im Calimero bediente und ihm die Tour mit Isabel vermasselt hatte, hatte ihn in der Nacht zuvor auch am Fenster erkannt, dessen war er sich sicher. Was würde er jetzt unternehmen, da er nun wußte, daß Achim Isabel beobachtete? Sicherlich würde er sie warnen oder, was noch schlimmer war, zur Polizei gehen. Eine Hausdurchsuchung würde ihm das Genick brechen, das wußte Achim nur zu gut. Ich muß den Kerl abfangen, bevor er ein Unheil anrichtet, schoß es ihm auf einmal durch den Kopf. Außerdem spannt mir keiner ungestraft die Frau aus, dachte er weiter. Langsam verflog seine anfängliche Wut, die er nur schwer beherrschen konnte.

Ein siegessicheres Gefühl durchströmte ihn, als er den Telefonhörer hob und die Nummer von Peter Schrödel wählte.

»Du mußt mir einen Gefallen tun, Peter«, sagte er grußlos, als dieser sich am anderen Ende der Leitung meldete.

»Geht es um deine schöne Nachbarin?« Peter lachte anzüglich, doch Achim war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Spar dir bitte deine Witze!« herrschte er ihn an. »Der Junge aus der Bar hat mich gestern nacht am Fenster erkannt. Du solltest ihn ein bißchen einschüchtern, damit er nicht auf die Idee kommt, zur Polizei zu gehen. Eine Hausdurchsuchung kommt uns nicht gerade gelegen.«

»Und wenn es mir nicht gelingt?« fragte Peter skeptisch. Er hatte für seinen Kumpel schon allerhand Aufträge erledigt, doch diese Angelegenheit war selbst für ihn Neuland.

»Stell dich nicht so an. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Ich brauche ein wenig Zeit, um das Lager zu räumen, das ist alles. Halt ihn uns vom Leib, bis wir unsere Schäfchen im Trockenen haben.«

»Du bist der Boß!« erklärte Peter ergeben und beendete das Telefonat. Auch Welser legte den Hörer auf und machte gute Miene zum bösen Spiel. Er wußte, daß er sich auf Schrödel verlassen konnte. Der steckte immerhin genauso tief in der Geschichte wie er selbst.

Falk ahnte nicht, in welche Gefahr er sich durch seine Beobachtung und seinen Beschützerinstinkt gebracht hatte. Er war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen, und ein Anruf bei einem Freund, der in einem kleinen Computerverlag als Anzeigenverkäufer arbeitete, hatte ihm die gewünschte Information gebracht. Nun hatte er die Bestätigung, daß es sich bei dem Mann in der Wohnung tatsächlich um Achim Welser handelte. Einen Augenblick genoß Falk seinen Triumph, bevor er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Es würde schwierig sein, Welser nachzuweisen, daß er Isabel ständig beobachtete. Außerdem war Falk sich nicht sicher, ob diese Tatsache Grund genug war, ihn anzuzeigen.

Doch irgend etwas mußte geschehen, schließlich konnte er nicht tatenlos zusehen, wie Isabel von diesem Mann bedroht wurde oder womöglich noch Schlimmeres geschah. Er kam nicht auf den Gedanken, daß die Männer der AW GmbH es auf ihn selbst abgesehen hatten. Die Kirchturmuhr in der Nähe riß Falk jedoch aus seinen Gedanken. Jetzt hatte er keine Zeit mehr zu verlieren, denn sein Professor schätzte es nicht, wenn sich seine Doktoranden verspäteten.

Isabel saß inzwischen mit ihrer Freundin Gaby in der Mensa. Die beiden hatten sich vor einigen Jahren bei der Einschreibung zu dem Studiengang kennengelernt und sich sofort zueinander hingezogen gefühlt. Das lag unter anderem daran, daß sie sich wunderbar ergänzten. Gaby war eher der bodenständige, realistische Typ, während sich Isabel viele Gedanken machte und die Dinge ständig hinterfragte. Da ihre Familien weit weg in anderen Städten lebten, waren sich die beiden eine Stütze geworden, die sie nicht mehr missen wollten. Sie teilten ihre Ängste und Sorgen ebenso wie das Vergnügen und spendeten sich gegenseitig Trost, wenn eine Liebe in die Brüche gegangen war. Auch so einer ernsten Situation wie Isabels vermeintliche Erkrankung war Gaby gewachsen. Isabel war die Verzweiflung immer noch vom Gesicht abzulesen, als sie dieser von Daniels Befürchtungen erzählte. Gaby versuchte, ihre beste Freundin zu beruhigen.

»Komm schon, Isa, du lebst so gesund, und in deiner Familie gibt es keinen Fall von Krebs. Außerdem bist du jung und sportlich. Alles Faktoren, die gegen eine solche Diagnose sprechen.«

»Dr. Norden ist sich ja auch noch nicht sicher. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gefühl. Außerdem habe ich fürchterliche Angst vor der Operation. Ich hatte noch nie eine Vollnarkose.«

»Sei froh, daß die Medizin heute diese Möglichkeiten bietet«, sagte Gaby resolut. »So eine Narkose ist heutzutage so fein dosierbar, da gibt es diese üblen Beschwerden hinterher gar nicht mehr.«

»Ich rede ja nicht von hinterher«, jammerte Isa verzweifelt. »Ich rede von vorher und von dem Narkoseschlaf. Es ist so unheimlich daran zu denken, daß man keine Kontrolle mehr über sich hat.«

»Du merkst ja nichts davon. Jetzt mach dich nicht verrückt. Es wird schon alles gut. Viel wichtiger ist doch das Ergebnis. Du solltest positiv denken, dann geht alles gut aus.« Gaby legte tröstend den Arm um ihre Freundin und drückte sie an sich.

»Deine Frohnatur möchte ich haben!« seufzte Isabel.

»Die hast du doch normalerweise auch. Im Moment geht halt ein bißchen viel daneben bei dir, aber es kommen auch wieder bessere Zeiten«, erklärte sie überzeugt.

»Ach, Gaby, was täte ich nur ohne dich!« Dankbar sah Isa ihre Freundin an. Sie fühlte sich tatsächlich etwas besser, und ihre Sorgen drückten sie nicht mehr so sehr.

»Du wärst wahrscheinlich längst grau und faltig vor lauter Nachdenken«, lachte Gaby und strich Isa liebevoll über die langen braunen Haare.

Dann wechselte sie das Thema, um Isabel abzulenken. Bald waren sie in eine lebhafte Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Tierhomöopathie vertieft.

Der Rest des Tages war mit konzentrierter Arbeit angefüllt, und als Falk die Universität gegen Abend verließ, fühlte er sich müde und ausgelaugt. Trotzdem konnte er sich keine Pause gönnen, zu sehr beschäftigte ihn das Problem Achim Welser. Achtlos warf er seine Unterlagen auf den Beifahrersitz und machte sich direkt auf den Weg zu Isabels Wohnung. Inständig hoffte er, daß sie sich inzwischen etwas besser fühlte, damit er ihr von seinen Beobachtungen erzählen konnte. An ihren Arztbesuch dachte er gar nicht mehr, als er seinen Wagen vor dem grauen Häuserblock parkte. Falk ahnte nicht, daß er beobachtet wurde, als er ausstieg und eine Tüte mit frischer Kleidung aus dem Kofferraum nahm, die er am Mittag vor seinem Aufbruch vorsorglich dort verstaut hatte.

Peter Schrödel hatte sich in einem nahen Gebüsch versteckt und wartete ungeduldig, bis Isabel den Summer betätigte, um Falk hereinzulassen. Als sich die Haustür endlich hinter ihm geschlossen hatte, zögerte Schrödel nicht länger. Er sah sich vorsichtig um, um sicherzugehen, daß er keine Zuschauer hatte, und machte sich dann unbemerkt an Falk von Langens Wagen zu schaffen.

»Hallo Falk, lieb, daß du gekommen bist«, wurde er erfreut von Isabel begrüßt.

»Hallo Isabel. Du siehst toll aus.« Überrascht stellte er fest, daß sie sich zumindest äußerlich von den Schrecken der vergangenen Nacht erholt hatte.

»Es geht mir auch ganz gut. Obwohl ich heute nicht gerade erfreuliche Nachrichten erhalten habe«, gestand sie und bat Falk herein.

»Warst du bei dem netten Arzt?« fragte er, als er eintrat und sich in der originell eingerichteten Wohnung umsah, die er in der vergangenen Nacht gar nicht wahrgenommen hatte.

Sie nickte nur stumm und senkte den Blick.

»Was hat er gesagt?«

»Ich muß operiert werden, weil ich eine unklare Gewebeveränderung in der Schilddrüse habe«, sagte sie leise.

»Ist es bösartig?«

»Er hat eine Punktion des Knotens gemacht und das Punktat zur Analyse eingeschickt. Es dauert ein paar Tage, bis ich ein Ergebnis bekomme.«

»Das tut mir leid. Es ist sicher nicht einfach, mit dieser Ungewißheit zu leben.« Falk sah sie mitfühlend an. Wie sie so geknickt vor ihm stand, verspürte er plötzlich den Drang, sie in die Arme zu nehmen und zu beschützen, doch der Gedanke an Leslie hielt ihn davon ab.

Isabel bemerkte seinen Blick. »Leicht ist es nicht, und heute morgen war ich auch ganz schön fertig. Aber meine Freundin Gaby hat es ganz gut verstanden, mich wieder aufzubauen.«

»Gut, wenn man in so einer Situation nicht allein ist.«

»Du bist auch hier bei mir. Dafür möchte ich dir danken. Ich betrachte es nicht als selbstverständlich, was du für mich getan hast. Wir kennen uns ja kaum.«

»Das macht doch nichts. Ich konnte doch nicht tatenlos zusehen, wie du von dem Typen verfolgt wirst.« Falk stockte und rang einen Moment mit sich. »Da gibt es übrigens noch etwas, was ich dir in diesem Zusammenhang sagen muß.«

Isabel blickte ihn erwartungsvoll an. »Du bist keine Unbekannte für Achim Welser. Er beobachtet dich offenbar seit geraumer Zeit.«

Diese Nachricht war für Isa fast wie ein Schlag ins Gesicht. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

»Woher weißt du das?« flüsterte sie. Fast tat es Falk leid, ihr davon erzählt zu haben, aber er hatte keine Wahl gehabt.

»Ich habe ihn heute nacht mit dem Fernglas am Fenster in der Wohnung gegenüber gesehen. Er hat eindeutig dein Schlafzimmer beobachtet. Als er mich bemerkt hat, ging drüben schlagartig das Licht aus. Wo willst du hin?«

Isabel war aufgesprungen und in ihr Schlafzimmer gelaufen. Das Fenster lag direkt in der Mitte des Raumes, und sie verbarg sich hinter dem zurückgezogenen Vorhang, während sie durch einen Schlitz hinüberspähte.

»Du hast recht! Da drüben steht jemand am Fenster. Ich sehe ihn deutlich«, berichtete sie atemlos. Falk war ihr langsam gefolgt und blieb in der Tür stehen. Er wollte nicht das Risiko eingehen, gesehen zu werden. »Jetzt legt er einen Gegenstand zur Seite und geht weg.«

»Das war bestimmt das Fernglas.«

Isabel ließ die Arme sinken.

»O Gott, Falk, in welche Geschichte bin ich da hineingeraten?« fragte sie verzweifelt und kam mit Tränen in den Augen auf ihn zu.

Bei diesem Anblick konnte er sich nicht länger beherrschen. Er öffnete die Arme, und sie stürzte sich schutzsuchend hinein. Die Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie bebte, während er beruhigend über ihren Rücken strich. So standen sie lange Zeit, und allmählich beruhigte sich Isabel. Sie begann nun, seine zärtlichen Berührungen zu erwidern und auf einmal fanden sie sich in einem langen, leidenschaftlichen Kuß wieder.

Verwirrt lösten sie sich voneinander, und es war Falk, der zuerst die Worte wiederfand. »Das hätte nicht geschehen dürfen, Isabel«, stammelte er verlegen. »Du darfst nicht glauben, daß ich dich liebe. Ich will dir nur helfen, als ein Freund.«

»Und ich dachte, du kümmerst dich um mich, weil du mich magst«, sagte sie tonlos.

»Das tue ich doch. Aber auf eine andere Weise...« Er suchte nach Worten. »Eher wie ein Bruder.«

Isabel ließ den Kopf sinken.

»Wenn ich dir Hoffnungen gemacht habe, tut es mir sehr leid. Ich wollte dich trösten. Du hast so elend ausgesehen. Kannst du mir trotzdem vertrauen?« fragte er heiser.

Einen Moment war Isa den Tränen nahe, doch dann siegte ihre Vernunft.

Sie gab sich einen Ruck.

»Du darfst nicht denken, daß ich undankbar bin, aber für kurze Zeit dachte ich, daß ich in dich verliebt bin. Du bist ein netter Kerl, und wenn ich nicht deine Freundin sein kann, dann will ich gern so etwas wie deine Schwester werden. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist«, fügte sie unsicher hinzu.

»Wenn Leslie nicht wäre, würde ich ersteres vorziehen«, gestand er leise.

»Ist sie deine Freundin?«

»Sie ist meine große Liebe und meine beste Freundin in einem«, erklärte er. Beim Gedanken an Leslie wurde seine Stimme weich, und ein Leuchten erhellte sein Gesicht.

Isabel bemerkte es und wußte, daß sie dagegen machtlos war.

»Wie wunderbar. Vielleicht finde ich eines Tages auch so jemanden«, seufzte sie sehnsüchtig.

»Dazu müssen wir aber zuerst einmal Welser unschädlich machen«, erklärte Falk und wurde auf einmal wieder ganz sachlich.

»Wie willst du das anstellen?«

»Wir müssen zur Polizei gehen. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es gestattet ist, andere Leute in ihren Wohnungen zu beobachten.«

»Er wird es bestreiten!«

»Trotzdem müssen wir es versuchen.«

»Aber jetzt müssen wir erst einmal zur Arbeit. Es ist schon spät«, stellte Isabel erschrocken fest, als ihre altmodische Wanduhr zur vollen Stunde schlug. Sie wollte nicht gleich am zweiten Tag zu spät kommen.

»Du hast recht. Kann ich mich bei dir umziehen?«

»Natürlich. Dort drüben ist das Bad!« Sie wies auf eine geschlossene Tür, die mit einem großen Fisch bemalt war.

»Eigentlich nicht zu übersehen«, lächelte Falk und verschwand, um sich ein wenig frisch zu machen. Kurz darauf erschien er wieder, und gemeinsam verließen sie die Wohnung, um zum Bistro zu fahren.

»Was ist denn hier passiert?« rief Falk voll Erstaunen, als sie an seinem Wagen ankamen. Alle vier Reifen waren ohne Luft

»Platt gemacht«, stellte Isabel lakonisch fest. »Bist du durch einen Scherbenhaufen gefahren?«

»Natürlich nicht. Hier war ein Übeltäter am Werk. Sieh mal, auf den Innenseiten sind die Reifen aufgeschlitzt.« Betroffen betrachteten beide den nicht unerheblichen Schaden. Als Student mußte er sich jeden Euro mühsam verdienen, und ein Satz neuer Reifen würde ein großes Loch in seine Urlaubskasse reißen und seine Reise zu Leslie ernsthaft gefährden.

»Hier steckt ein Brief!« rief Isabel, als sie um den Wagen herumging. Sie hob vorsichtig einen Scheibenwischer an, nahm das Kuvert heraus und reichte es Falk. Dieser riß es zornig auf, las und reicht das Blatt dann Isa.

Dies ist erst der Anfang. Wenn Sie sich weiter in unsere Angelegenheiten mischen oder die Polizei verständigen, wird es Ihnen schlecht ergehen

stand dort in Druckbuchstaben geschrieben.

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Isabel mit angsterfüllter Stimme.

Doch auch Falk war zunächst ratlos. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Außerdem sollten wir das nicht ausgerechnet hier besprechen. Ich bin sicher, daß wir nicht allein sind!« Mißtrauisch sah er sich um.

»Komm, laß uns gehen«, flüsterte Isabel atemlos, als es im Gebüsch wie zur Bestätigung verdächtig raschelte. Doch Falk ging vorsichtig dorthin, aber es war nur ein Vogel, der kreischend davonflog.

»Vielleicht hast du recht«, gab er zu, als er sich von dem Schreck erholt hatte, und gemeinsam machten sie sich, wie schon in der Nacht zuvor, auf den Weg zur U-Bahn.

*

Für Daniel Norden verliefen die nächsten Tag recht hektisch. Wie immer vor den Ferien kamen besonders viele Patienten in die Praxis, um vor dem Sommerurlaub noch einen gründlichen Gesundheitscheck durchführen zu lassen oder eine versäumte Impfung nachzuholen. Deshalb dachte er auch nur gelegentlich an Isabel Rosner, bis er am Freitag morgen die ersten Ergebnisse ihrer Blutuntersuchung und gegen Mittag die Befunde aus dem Labor erhielt. Seine Mittagspause verbrachte er in der Praxis und zog sich mit einer Tasse Kaffee und den Berichten in sein Büro zurück, um sie in aller Ruhe studieren zu können. Was er zu lesen bekam, stimmte ihn äußerst sorgenvoll. Die Gerinnungsfaktoren in Isabels Blut waren nicht in Ordnung und sie hatte einen erheblichen Eisenmangel. Doch die Untersuchungsergebnisse des Knotens in der Schilddrüse bereiteten ihm noch mehr Kopfzerbrechen. Der Cytologe hatte Zellen eines C-Zellkarzinoms gefunden, allerdings hatten im Blutbild keine Kalzitonin-Werte nachgewiesen werden können, die ein eindeutiger Indikator für diese Art von Schilddrüsenkrebs waren. Entschlossen griff Daniel zum Hörer und bat Wendy, ihn mit dem Cytologen Dr. Kratschmann zu verbinden, der die Untersuchungen durchgeführt hatte. Er schilderte diesem die Ergebnisse des Blutbildes und Dr. Kratschmann versicherte Daniel, seinen Befund gründlich überprüft zu haben. Daraufhin einigten sich die beiden Männer darauf, daß nur eine schnellstmögliche Operation Klarheit bringen konnte. Tausend Gedanken schossen Dr. Norden durch den Kopf, als er das Telefonat beendet hatte. Für ihn als verantwortungsvollen Arzt war klar, daß er unmöglich zur Insel der Hoffnung fahren konnte, wenn Isabel operiert werden mußte. Fee würde das verstehen, aber für die Kinder wäre es eine große Enttäuschung. Seufzend stützte er den Kopf in die Hände und versuchte sich zu entspannen. Nach einem Augenblick der Besinnung konnte Daniel wieder klare Gedanken fassen und informierte Wendy über die nötigen Schritte.

Achim Welser hatte alle Hände voll zu tun. Die Räumung der Wohnung, die ihm als Lager und Firmensitz diente, stellte sich als sehr schwierig heraus, denn zunächst einmal mußte er sich nach neuen Räumen umsehen. Außerdem mußte der Versand der Hehlerware an die ahnungslosen Kunden aufrecht erhalten werden. Zur Lösung dieses logistischen Problems benötigte er seine drei Mitarbeiter Peter Schrödel, Hansjörg Zanker und Robert Marx, so daß keine Zeit blieb, sich um Falk von Langen zu kümmern. Das war auch der Grund, warum Falk am Freitag mittag seinen lahmgelegten Wagen unbehelligt abholen lassen konnte.

Isabel kam gerade aus der Uni, und während sie die Prozedur beobachtete, stellte sie enttäuscht fest, daß Falk nicht da war. Sie hatte gehofft, daß er ein wenig bei ihr bleiben würde, und ängstlich ging sie nun allein hinauf in ihre Wohnung. Seit Isa wußte, daß sie beobachtet wurde, fühlte sie sich dort nicht mehr sicher und hielt sich so wenig wie möglich im Schlafzimmer auf, dessen Vorhänge seit dem vergangenen Abend ständig geschlossen blieben. Nervös ging sie in ihrer Wohnküche auf und ab, als das Telefon klingelte. Sie schrak zusammen. Was sollte sie tun, wenn Achim Welser am Apparat war? Unschlüssig stand sie davor, doch als das Klingeln nicht aufhörte, hob sie endlich ab.

»Hallo«, sagte sie leise und erwartete, die hämische Stimme von Welser zu hören.

»Spreche ich mit Frau Rosner?« erkundigte sich jedoch eine weibliche Stimme, und Isabel wäre vor Erleichterung fast der Hörer aus der Hand gefallen.

»Ja, das ist richtig«, stammelte sie.

»Hier spricht die Praxis Dr. Norden. Der Herr Doktor möchte Sie gern persönlich sprechen. Können Sie in die Praxis kommen?« fragte Wendy freundlich.

»Haben Sie die Befunde?« Isa fühlte plötzlich eine große Schwäche. Von allen Seiten kamen Bedrohungen auf sie zu, es gab keinen Ort der Sicherheit mehr für sie.

Bevor Wendy antworten konnte, hörte sie ein dumpfes Geräusch. Es klang, als ob ein schwerer Gegenstand zu Boden gefallen wäre.

»Frau Rosner, hallo, ist alles in Ordnung?« rief sie ängstlich, obwohl sie ahnte, was geschehen sein mußte. Als sie keine Antwort erhielt, legte Wendy schnell den Hörer auf und stürzte zu Daniel ins Zimmer.

»Frau Rosner..., sie muß ohnmächtig geworden sein«, stammelte sie nur.

»Rufen Sie in der Behnisch-Klinik an. Hier ist die Adresse von

Isabel Rosner. Der Rettungswagen soll sofort dorhin fahren«, erklärte Daniel schnell. Die Nachricht versetzte auch ihn in Schrecken, doch er hatte Routine genug, um sich nichts anmerken zu lassen.

Wendy war froh über die klaren Anweisungen und winkte Daniel zum Abschied zu, als er während ihres Telefonats mit der Behnisch-Klinik die Praxis verließ, um ebenfalls zu Isabel zu fahren.

Der Lärm des herannahenden Rettungswagens, der mit eingeschaltetem Martinshorn durch die Straßen fuhr, ließ sogar Achim Welser aufmerksam werden. Er verließ die Wohnung und beobachtete mit anderen Schaulustigen, wie der Wagen vorfuhr und die Sanitäter kurz mit dem Hausmeister sprachen, der schon vor Ort war.

»Ein Arzt hat sich den Schlüssel bei mir geholt. Er hat gesagt, ich soll hier auf Sie warten und Ihnen die Wohnung zeigen«, erzählte der aufgeregte Mann stockend und führte die Sanitäter ins Haus.

Äußerlich völlig ruhig verfolgte Achim das Geschehen, und es überraschte ihn nicht, als er Isabel erkannte, die leichenblaß und ohne Bewußtsein auf der Trage lag, die kurz darauf herausgebracht wurde. Da es trotz seiner geschäftlichen Sorgen immer noch an ihm nagte, daß Falk seine Pläne durchkreuzt und seine Bekanntschaft mit Isabel vereitelt hatte, überlegte er kurz, bis ihm eine Idee kam. Er drängte sich durch die Menschen, die aufgeregt diskutierend herumstanden und wandte sich an einen jungen Arzt, der neben dem Rettungswagen stand.

»Entschuldigen Sie, ich glaube, wir kennen uns«, erklärte er.

Verwundert sah ihn der junge Mann an.

»Nicht daß ich wüßte!« antwortete er und musterte Achim mit unverhohlener Neugier.

»Haben Sie mich nicht vor einiger Zeit im Städtischen Krankenhaus so ausgezeichnet behandelt?« fragte Welser weiter.

»Das kann nicht sein. Ich bin Arzt im Praktikum und habe meine erste Stelle erst vor kurzem in der Behnisch-Klinik angetreten«, entgegnete der junge Arzt verwundert.

»Dann tut es mir leid. Offenbar habe ich mich getäuscht!« Abrupt drehte sich Achim um und ging davon.

Er hatte die Information bekommen, die er für sein Vorhaben benötigte und rieb sich zufrieden die Hände, als er zu seinen Partner zurückkehrte, die verschiedene Anzeigenblätter studierten und eifrig telefonierten, um eine neue Stätte für ihr illegales Geschäft zu finden.

»Wo bin ich? Was ist geschehen?« Isabel öffnete verwundert die Augen und blickte sich um. Sie lag in einem blütenweißen Bett, an ihrem Arm befand sich eine Infusion, und Falk saß mit besorgter Miene neben ihr.

»Das wüßte ich gern von dir. Ich wollte gerade sehen, ob mein Wagen planmäßig abgeholt wurde, da mußte ich mit ansehen, wie du gerade in einen Krankenwagen geschoben wurdest. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Gott sei Dank war Dr. Norden da, der mich auch sofort erkannte und mit hierhergenommen hat.«

»Es tut mir leid, daß ich dir solche Umstände mache«, sagte sie leise.

»Darum geht es doch gar nicht. Ich möchte nur wissen, was passiert ist. Hat Welser etwas damit zu tun?« fragte Falk grimmig. Isa sah ihn erschrocken an.

»Nein, ich glaube nicht...« Sie dachte angestrengt nach und mit einem Mal konnte sie sich wieder erinnern. »Ich erhielt einen Anruf von Dr. Norden. Seine Assistentin bat mich, in die Praxis zu kommen...«, erzählte sie stockend.

»Und dann bist du vor Schreck ohnmächtig geworden«, beendete Falk den Satz.

»Du verstehst das nicht. Ich fühle mich von allen Seiten bedroht, nirgendwo bin ich mehr sicher. Selbst mein Körper spielt verrückt. Ich habe solche Angst!« Isabels Lippen bebten, doch sie hielt die Tränen tapfer zurück.

»Es tut mir leid, Isa. Ich wollte dich nicht kränken. Natürlich verstehe ich dich«, versuchte Falk sie zu beruhigen. »Ich mache mir auch große Sorgen«, gestand er nach einigem Zögern. Diese Worte kamen ihm schwer über die Lippen, denn er wollte ihr keine unberechtigten Hoffnungen machen, doch für Isabel war dieses Thema abgeschlossen. Das einzige was jetzt zählte war ihre Krankheit.

»Hat Dr. Norden dir etwas über die Befunde gesagt?«

Falk schüttelte den Kopf. »Ärztliche Schweigepflicht. Ich habe ihm versprochen, ihn zu holen, sobald du wach bist. Er wird dir alles erklären.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es hören will!« Isabels Stimme schwankte.

Die Tür wurde geöffnet, Dr. Norden kam.

»Unser Sorgenkind ist ja aufgewacht. Da bin ich sehr froh!« versuchte Daniel zu scherzen, doch sein Gesicht war sehr ernst. »Darf ich Sie bitten, uns eine Weile allein zu lassen?« wandte er sich freundlich an Falk, der sich sofort erhob. »Ich möchte mit Frau Rosner sprechen.«

Falk drückte Isabel die Hand und warf ihr einen ermutigenden Blick zu, dann verließ er den Raum.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte der Arzt, um Zeit zu gewinnen.

»Ich habe große Angst«, gestand Isabel ehrlich.

»Leider kann ich Ihnen Ihre Sorgen nicht nehmen. Der Befund des Knotens ist unklar. Einiges spricht dafür, daß er nicht bösartig ist, andere Anzeichen weisen jedoch auf dein C-Zell-Karzinom hin.«

»Was ist das?«

»Das ist ein Krebs, der von organfremden Zellen ausgeht, die in das Schilddrüsengewebe eingestreut sind und der genetisch bedingt ist. Er ist gut behandelbar, wenn er frühzeitig erkannt wird, was bei Ihnen der Fall ist«, versuchte Dr. Norden seine Patientin zu beruhigen.

»Was wird jetzt geschehen?«

»Auf jeden Fall müssen wir so schnell wie möglich operieren, um endgültige Klarheit zu bekommen. Ich habe bereits mit Frau Dr. Behnisch, der Leiterin dieser Klinik und Dr. Pfaller, dem Oberarzt der Chirurgie, gesprochen. Beide sind bereit, die Operation so schnell wie möglich durchzuführen, damit Sie nicht länger im Ungewissen leben müssen.«

»Am allerliebsten wäre es mir, Sie würden gleich anfangen. Ich weiß nicht, ob ich nicht bis morgen vor Angst gestorben bin!« Isabel schnitt eine Grimasse, doch Daniel erkannte die Panik in ihren Augen.

»Sie bekommen die beste Behandlung, die nur möglich ist. Und gegen die Angst gibt es wirksame Beruhigungsmittel. Wenn Sie möchten, bringe ich Ihnen heute abend Baldrian-Tropfen vorbei. Die wirken Wunder!«

»Sind Sie sicher?« Isabel war skeptisch, ließ sich jedoch auf Daniels Vorschlag ein. Es war ihr jedes Mittel recht, um nicht länger leiden zu müssen.

»Jetzt kommt gleich noch der Anästhesist, Dr. Bachmann. Er wird morgen die Narkose durchführen und braucht noch einige Informationen von Ihnen.« Gleich darauf öffnete sich die Tür. Herein kam ein großer, gutaussehender Mann mit dunklem Haar und begrüßte Daniel und Isabel.

»Mein Name ist Christoph Bachmann. Ich bin hier zuständig für den guten Schlaf«, scherzte er, und Isabel fühlte sich in seiner Gegenwart gleich wohl.

Daniel nutzte die Gelegenheit und verabschiedete sich. Chris und Isa blieben allein zurück. Mit großen, ängstlichen Augen beobachtete sie den Arzt, der seine Unterlagen ordnete.

»Dann wollen wir mal. Ich habe ein paar Fragen, damit auch alles gutgeht.«

»Ich möchte eigentlich gar nicht zuviel darüber nachdenken«, gestand Isa leise.

Chris hob die Augen und sah sie prüfend an.

»Angst?« fragte er, und es lag so viel Verständnis in diesem einen Wort, daß ihr heiß und kalt wurde.

»Es ist lächerlich, da ich selbst Tiermedizin studiere. Aber ich selbst bin noch nie operiert worden.«

»Was gefällt Ihnen daran nicht?«

»Daß ich die Kontrolle verliere und nicht mitbekomme, was mit mir geschieht. Und daß ich nicht mehr aufwachen könnte.«

»In dieser Hinsicht kann ich Sie beruhigen. Bei mir ist noch jeder wieder wach geworden. Aber vielleicht hilft es Ihnen ja, daß ich die ganze Zeit bei Ihnen sein werde und nicht von Ihrer Seite weiche.«

»Bestimmt?«

»Natürlich. Soll ich Ihre Hand halten, bevor Sie einschlafen?«

Isabel sah ihn forschend an und versuchte, ein Zeichen des Spotts in seinem sympathischen Gesicht zu entdecken, jedoch vergeblich.

»Kann ich das morgen entscheiden?« fragte sie leise.

Dr. Bachmann lächelte nur, dann wandte er sich wieder seinen Unterlagen zu und stellte Isabel einige Fragen zu ihrem Gesundheitszustand. Schließlich mußte sie eine Einverständniserklärung unterschreiben, bevor sein Besuch beendet war.

»Das war’s schon. Schlafen Sie gut.« Er verabschiedete sich lächelnd, und bevor Isabel etwas erwidern konnte, war er schon verschwunden.

Sinnend lag sie im Bett. Für kurze Zeit war die drohende Operation aus ihren Gedanken gebannt. Sie dachte nur an Christoph Bachmann, der sie mit seinem Einfühlungsvermögen und seinem Verständnis verzaubert hatte. Doch dann schob sie diese Schwärmereien entschieden beiseite. Erst vor ein paar Tagen hatte sie sich vermeintlich in Falk von Langen verliebt, was sie im Nachhinein sehr verwunderte. Normalerweise war sie sehr kritisch, was Männerbekanntschaften anging und es lag ihr fern, sich Hals über Kopf zu verlieben. Offenbar wirkte sich ihre Erkrankung auch auf ihr Gefühlsleben aus.

*

Der Abendbrottisch im Hause Norden war gedeckt und die ganze Familie wartete auf Daniel. Es war das letzte Wochenende vor den großen Ferien, und der Familienrat hatte beschlossen, bereits nach der Zeugnisausgabe am Mittwoch auf die Insel der Hoffnung zu fahren. Die Kinder hatten ihre Großeltern Anne und Johannes Cornelius seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen und freuten sich unbändig auf ein Wiedersehen.

Auch Fee verspürte inzwischen eine große Sehnsucht nach ihren Lieben und nach der Roseninsel, auf der sie mit ihrem Mann eines Tages leben wollte. Daher war die Enttäuschung groß, als Daniel endlich nach Hause kam und mit betretener Miene die unerfreuliche Nachricht verkündete, daß an eine Abreise vorläufig nicht zu denken war.

»Es tut mir leid, aber als Arzt muß man gelegentlich Opfer bringen, das kennt ihr ja schon«, schloß er seine Ankündigung und ließ sich seufzend auf seinen Stuhl fallen.

Ein langes Schweigen entstand, das Danny als erster durchbrach.

»Ich kann ja nur für mich sprechen, aber ich denke, daß wir alle wissen, daß dir diese Entscheidung nicht leichtfällt. Du wärest sicher auch lieber gleich auf die Insel gefahren. Deshalb sollten wir dir das Leben nicht schwerer machen, als es eh schon ist und nicht jammern. Die Ferien sind lang genug, so daß noch genug Zeit für Omi und Opi bleibt.« Aufmunternd blickte er seinen Vater an, der seinen Sohn mit einer Mischung aus Rührung und Respekt betrachtete.

»Ich danke dir für dein Verständnis, Danny«, entgegnete er. »Ich bin überzeugt, daß du ein großartiger, verantwortungsbewußter Arzt werden wirst. Und ich verspreche, daß wir zur Entschädigung am Ende der Ferien einen kleinen Abstecher ans Meer machen werden.«

Fee standen vor Rührung die Tränen in den Augen, doch das fiel nicht weiter auf, denn gleich darauf brach ein Indianergeheul an, ausgelöst von Jan und Dési, die das Meer über alles liebten.

»Hurra, wir fahren an den Strand!« jubelten sie, und jeder versuchte den anderen zu übertönen.

»Wohin fahren wir denn?« rief auch Anneka begeistert, und Felix ließ verlauten, daß er in diesem Fall gern einen Surfkurs machen würde.

»Nicht so laut, Kinder, mir fallen gleich die Ohren ab«, versuchte Fee die aufgeregten Gemüter zu beruhigen und blickte ihren Mann lächelnd an. Er hatte es wieder einmal verstanden, alles zum Besten zu wenden, und das war auch einer der Gründe, warum sie ihn nach all den gemeinsamen Jahren mehr liebte denn je.

*

Müde steckte Falk von Langen den Schlüssel in die Tür des Reihenhauses, das er seit vielen Jahren mit seinen Eltern bewohnte. Er war ein Einzelkind und hatte ein sehr harmonisches Verhältnis zu den beiden.

Viele Pflegekinder hatten ein vorübergehendes Zuhause bei Familie von Langen gefunden, doch jetzt, da Falk erwachsen war, hatte Ella von Langen ihren Beruf als Erzieherin wieder aufgenommen. An diesem Abend waren jedoch Ella sowie ihr Mann Ludwig schon zeitig zu Hause. Als Ella hörte, daß ihr Sohn die Haustür aufschloß, ging sie ihm entgegen. Mit einem geheimnisvollen Lächeln begrüßte sie ihn.

»Falk, mein Junge, wie schön, dich wieder einmal zu sehen.« Diese Bemerkung war nicht unbegründet, denn obwohl sie dasselbe Haus bewohnten, sahen sie sich nicht oft.

»Mutti«, sagte Falk und schloß Ella liebevoll in die Arme. Er überragte sie fast um einen Kopf, was sie immer erheiterte, wenn sie an den kleinen dunkelhaarigen Buben dachte, der er einmal gewesen war.

»Du siehst so anders aus heute. Was ist los?« erkundigte er sich, als er sie ein wenig von sich geschoben hatte und sie prüfend musterte.

»Schade, du durchschaust mich immer sofort«, stellte sie mit gespielter Enttäuschung fest.

»Ich kenne dich ja inzwischen lange genug«, konterte er lächelnd.

»Laß uns erst einmal reingehen, dann wirst du schon sehen.«

Gemeinsam betraten sie den Flur, wo sie schon von Ludwig von Langen erwartet wurden. Falk konnte nichts Ungewöhnliches feststellen.

»Was ist heute bloß los mit euch beiden?« wunderte er sich erneut, nachdem er auch seinen Vater freundschaftlich begrüßt hatte.

»Was soll schon los sein?« fragte Ludwig lächelnd zurück.

»Ihr führt doch irgend etwas im Schilde...«, forschte Falk, doch plötzlich versagte ihm die Stimme. Hinter seinem Vater erschien eine Gestalt, die er unter Tausenden sofort erkannt hatte.

»Leslie!« stieß er heiser hervor.

Mit einem kleinen Schrei warf sie sich in Falks Arme. Als sie sich stürmisch küßten, vergaß er all die Sorgen, die ihn in den letzten Tagen so sehr bedrückt hatten. Leslie war da, und nun würde alles gut werden!

»Ich habe es vor lauter Angst um dich in England nicht mehr ausgehalten«, raunte sie ihm ins Ohr, und er drückte sie fest an sich.

»Es ist gut, daß du da bist.« Seine Stimme war heiser vor Freude.

Lange standen sie in der Diele, und Falk streichelte zärtlich ihr Gesicht. Er ließ ihr langes braunes Haar durch seine Finger gleiten und betrachtete sie immer wieder mit einem ungläubigen Staunen. Alles hatte er erwartet, nur das nicht!

Leslie murmelte ihm zärtliche Worte ins Ohr, doch er ließ sie gar nicht richtig zu Wort kommen und unterbrach sie immer wieder mit zärtlichen Küssen, bis sie lachend aufgab.

Diskret hatten sich Ella und Ludwig zurückgezogen und erwarteten das Paar auf der Terrasse. Da es ein kühler, wolkenverhangener Abend war, hatten sie ein Feuer im Grillkamin angezündet, das lustig flackerte, als Leslie und Falk sich endlich zu ihnen gesellten. Zur Feier des Tages hatte Ludwig eine Flasche Wein aus dem Keller geholt.

»Seit wann bist du hier?« erkundigte sich Falk, nachdem sie angestoßen hatten. Er konnte es immer noch nicht fassen und hielt Leslies Hand, um sicherzugehen, daß er nicht träumte.

»Seit heute nachmittag«, antwortete sie in fast akzentfreiem Deutsch. Sie studierte Französisch und Deutsch, was ihre guten Sprachkenntisse erklärte.

»Leslie hat mich gestern abend verzweifelt angerufen, da sie dich schon wieder nicht erreichen konnte. Leider konnte ich ihr keine Auskunft über deinen Verbleib geben. Sie machte sich große Sorgen ob dieser merkwürdigen Geschichte, in die du dich verstrickt hast«, erklärte Ella und konnte es nicht verhindern, daß ihre Stimme etwas vorwurfsvoll klang.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, euch davon zu erzählen«, sagte Falk sofort. »Nachdem ich aber inzwischen selbst ziemlich ratlos bin, was zu tun ist, hätte ich heute abend sowieso mit Vati und dir darüber gesprochen.«

»Dazu haben wir später noch Zeit«, mischte sich Leslie jetzt ein und warf Falk einen liebevollen Blick zu. »Auf jeden Fall haben Ella und ich daraufhin spontan entschlossen, daß es am besten wäre, wenn ich gleich eine Maschine nach Deutschland buche, um nach dem Rechten zu sehen.«

»Aber du hast doch noch keine Ferien«, warf Falk ein.

»Es gibt Dinge, die einfach Priorität haben«, entgegnete Leslie. »Außerdem sind meine Prüfungen so gut gelaufen, daß ich ruhig mal... wie sagt Ihr in Deutschland?« Einen Augenblick geriet sie ins Stocken. »Blau mache kann«, beendete sie dann ihren Satz lächelnd.

»Ich finde es wunderbar, daß du hier bist«, seufzte Falk zufrieden. »Das macht die Dinge viel leichter.«

»Jetzt solltest du uns aber doch erzählen, was hier überhaupt los ist«, sagte Ludwig. »Leslie wollte dir nicht vorgreifen und hat uns auf die Folter gespannt.«

Einen Augenblick schwieg Falk nachdenklich, dann begann er in aller Ausführlichkeit zu erzählen, begonnen bei seiner ersten Begegnung mit Isabel Rosner. Erschrocken lauschten Ludwig und Ella und auch Leslie hielt an mancher Stelle, die er ihr wohlweislich verschwiegen hatte, den Atem an. Den Kuß, den er Isabel gegeben hatte, erwähnte er vorläufig noch nicht. Das war eine Sache, die nur Leslie und ihn etwas anging und unter sich klären mußten.

»Gott sei Dank ist Isa jetzt im Krankenhaus und damit in Sicherheit vor diesem Welser«, schloß Falk schließlich seinen Bericht.

»Dann solltest du unbedingt zur Polizei gehen«, folgerte Ludwig sofort. »Du bist nicht erpreßbar!«

»Natürlich nicht. Aber ich habe gezögert, da ich Isabel nicht in Gefahr bringen wollte.«

Leslie warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, dem Falk ohne weiteres standhielt. So wurde gemeinsam beschlossen, daß er am nächsten Morgen Anzeige erstatten sollte. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Du meine Güte, schon so spät. Ich muß mich fertig machen fürs Calimero«, seufzte er und erhob sich zögernd.

»Kannst du nicht einen Abend frei machen?« bat Ella, doch Falk schüttelte den Kopf.

»Gerade jetzt kann ich Gunnar nicht im Stich lassen. Isabel fällt aus, und allein mit Nina kann er die Arbeit nicht packen.«

»Dann komme ich einfach mit und setze mich an den Tresen«, beschloß Leslie spontan. »So bin ich wenigstens bei dir und kann dafür sorgen, daß du keinen Unsinn machst«, lachte sie.

Falk betrachtete sie prüfend. Ahnte Leslie etwas von seinem Ausrutscher mit Isabel? Doch sie hatte diesen Satz völlig unbedarft dahingesagt, so daß er sich sofort wieder entspannte.

»Ich liebe deine Spontanität«, erklärte er erleichtert und küßte sie zart.

Ella und Ludwig warfen sich zuversichtliche Blicke zu, denn sie hatten keinen Zweifel daran, daß sich alles zum Guten wenden würde. Keiner von ihnen ahnte zu diesem Zeitpunkt, daß Welser in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen war und ihre Pläne gründlich durchkreuzen würde.

*

Mein Glück hat mich doch nicht verlassen, dachte Achim zur selben Zeit bei sich, als er zufrieden die Wohnung betrachtete, die sich inzwischen geleert hatte. Nur vereinzelt standen noch einige Kartons und der Firmencomputer herum, die er im Verlauf des nächsten Tages in eine Lagerhalle am Stadtrand schaffen würde. Hansjörg Zanker war es am Nachmittag überraschend gelungen, das neue Firmendomizil über ein Inserat ausfindig zu machen. Es handelte sich um einen ausgesprochenen Glücksfall, da die Halle seit geraumer Zeit leer und somit sofort zur Verfügung stand. Die vier Partner hatten nicht gezögert und sofort damit begonnen, die heiße Ware abzutransportieren. Offenbar hatte sich Falk von Langen durch Peters Attacke so einschüchtern lassen, daß er nicht zur Polizei gegangen war, so daß sie ihre Arbeit unbehelligt hatten verrichten können. Niemandem war etwas aufgefallen.

Entspannt ließ sich Achim in einen Sessel fallen, der verloren in einer Ecke stand und wählte auf seinem Handy die Nummer von Peter Schrödel.

»Wie geht’s voran, Kumpel?« fragte er, als dieser sich am anderen Ende der Leitung meldete.

»Alles klar, Achim. Das Zeug ist verstaut.«

»Sehr gut! Habt ihr mit dem Vermieter gesprochen?« erkundigte sich Welser vorsorglich.

»Klar, der Vertrag ist unterschrieben und die Kaution hinterlegt. Er hat keinen Verdacht geschöpft.«

»Sehr gut. Wie sieht es aus? Wollen wir zur Feier des Tages einen heben? Vielleicht im Calimero? Unser junger Freund hat bestimmt Dienst. Er wird sich über einen Besuch von uns sicher freuen!«

Welser lachte schadenfroh.

»Gute Idee, Boß.« Peter amüsierte sich auch bei diesem Gedanken, und sie verabredeten sich für den späteren Abend vor dem Bistro. Nach einem letzten prüfenden Blick verließ Welser die Wohnung und fuhr zu sich nach Hause, um sich frisch zu machen für den Abend. In Anbetracht der Lage war er bester Stimmung, die sich noch mehr hob, als er an Isabel dachte, die in der Klinik lag, nicht ahnend, was sie am kommenden Nachmittag erwarten würde

Falk traf fast der Schlag, als sich zu vorgerückter Stunde die Tür des Calimero öffnete und Welser zusammen mit seinen Freunden das Bistro betrat. Er warf Gunnar, den er kurz über die Geschehnisse informiert hatte, einen fragenden Blick zu, doch dieser deutete ihm mit einer Handbewegung an, daß alles in Ordnung war.

»Da kommen Welser und seine Kumpanen«, raunte Falk auch Leslie zu, die an der Theke saß und einen Drink vor sich stehen hatte.

»Diese Dreistigkeit ist nahezu unglaublich«, flüsterte sie und drehte sich vorsichtig um.

Welser hatte Falk von Langen sofort erspäht und seine Freunde mit einer Kopfbewegung auf ihn aufmerksam gemacht. Sie grüßten ihn übertrieben höflich und schoben sich schließlich grinsend an den besetzten Tischen vorbei zu einem Platz, von dem sich gerade zwei Pärchen erhoben. Falk war nahe daran, sie hinauszuwerfen, doch die beruhigende Hand von Leslie, die sich auf seinen Arm legte, hielt ihn gerade noch von einer unbedachten Reaktion zurück.

»Überlaß sie mir«, erklärte auf einmal Nina resolut. Sie war in der Küche gewesen, als das Quartett das Lokal betreten hatte und durchschaute die schwierige Situation jetzt sofort. Mit einem übertrieben freundlichen Lächeln ging sie auf die Männer zu.

»Ich will keinen Ärger!« Welser warf seinen Begleitern einen warnenden Blick zu. »Nur ein bißchen Spaß!« Mit diesen Worten wandte er sich Nina zu, lächelte sie anzüglich an und gab die Bestellung auf.

Trotz Falks Befürchtungen geschah an diesem Abend nichts weiter. Nach einiger Zeit des gegenseitigen Beobachtens lenkte sich Welsers Aufmerksamkeit und die seiner Freunde schnell auf eine Runde junger Frauen, die schon seit geraumer Zeit fröhlich im Calimero feierten und einem Flirt offenbar nicht abgeneigt waren. Bald wurden die Tische zusammengestellt, und Falk entspannte sich etwas. Wohl fühlte er sich zwar immer noch nicht, aber Welser schien zumindest an diesem Abend nichts im Schilde zu führen. Es dauerte nicht lange, als Welser plötzlich den Arm hob und damit signalisierte, daß er bezahlen wollte. Offenbar hatte man sich auf ein anderes Etablissement geeinigt, und kurze Zeit später erhoben sich die Frauen kichernd und ließen sich von Welsers Freunden aus dem Bistro führen.

Als Achim an Falk vorbeikam, stieß er die Blondine, die er im Arm hatte, sofort unsanft zur Seite.

»Keine Polizei, mein Freund!« stieß er zwischen den Zähnen hindurch und musterte ihn mit seinem kalten Blick. »Wir sind uns doch einig, oder?«

Falk lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er stumm nickte. Plötzlich konnte er Isabels Angst vor diesem Menschen nachvollziehen. Das war kein gewöhnlicher Macho. Hier hatte er es mit einem berechnenden, verschlagenen Mann zu tun, der zu allem fähig schien. Er sah ihm schweigend nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann atmete er auf.

»Was hat er gesagt?« wollte Leslie sogleich wissen, die Falk nicht aus den Augen gelassen hatte.

»Er hat mich davor gewarnt, die Polizei zu verständigen.«

»Aber du wirst es doch trotzdem tun, nicht wahr?«

Sie spürte Falks Verunsicherung. »Ich habe Angst!« war die wenig beruhigende Antwort.

Weder Falk noch Leslie schliefen in dieser Nacht besonders gut. Es war spät, als sie das Calimero verließen, und die Freude über das Wiedersehen wurde durch die dunkle Bedrohung getrübt. Schweigend fuhren sie nach Hause und wechselten nur dann und wann ein Wort.

»Kannst du auch nicht schlafen?« fragte Leslie später in die Dunkelheit.

»Es geht mir so vieles durch den Kopf.«

»Kann ich dir irgendwie helfen, dein Problem zu lösen?«

»Ich fürchte, damit muß ich allein fertig werden. Jetzt kann ich nur zu gut nachfühlen, wie es Isabel ergangen ist.«

»Du magst sie, nicht wahr?« Leslies Stimme zitterte kaum merklich, als sie ihm diese Frage stellte, die schon lange auf ihren Lippen brannte. Obwohl er ihr am Telefon versichert hatte, daß Isa gar nicht sein Typ sei, meinte Leslie eine besondere Verbindung zwischen den beiden zu spüren.

»Ich muß dir etwas gestehen!«

Falks Stimme klang plötzlich sehr entschlossen, und Leslies Herz krampfte sich vor Angst zusammen.

»Ja?« fragte sie flüsternd.

»Ich bin nicht in sie verliebt, obwohl sie ein sehr nettes Mädchen ist. Die einzige Frau in meinem Leben bist du und wirst es immer bleiben.«

»O Falk!« Ein Stein fiel von Leslies Herzen, und vor lauter Freude stiegen Tränen in ihre Augen, als sie sich eng an ihn schmiegte.

»Trotzdem haben wir uns geküßt. Sie sah so rührend und hilflos aus, da mußte ich sie einfach in die Arme nehmen. Und auf einmal ist es passiert. Aber es war so, als ob ich meine Schwester küsse, nicht so aufregend wie bei dir.«

»Wirklich nur ein Kuß?«

»Ehrenwort!« versicherte Falk noch einmal.

»Wie kannst du wissen, wie es ist, eine Schwester zu küssen, wenn du gar keine hast?« fragte Leslie daraufhin schelmisch.

Unterschwellig hatte sie die ganze Zeit gespürt, daß ihm etwas auf der Seele brannte, und nach seinem Geständnis erfüllte sie eine unendliche Erleichterung.

Statt einer Antwort suchten seine Lippen in der Dunkelheit die ihren, und er küßte sie lange und leidenschaftlich. Zumindest dieses Problem war aus der Welt geschafft, und er hoffte inständig, daß das ein gutes Zeichen war.

*

Isabel konnte sich an diesem Abend davon überzeugen, daß Daniel Norden recht hatte mit seiner Behauptung, es gäbe viele wirksame Mittel gegen Nervosität. Nachdem es ihr trotz aller Bemühungen nicht gelungen war einzuschlafen, brachte die Nachtschwester ihr nach seiner Anweisung ein kleines Fläschchen Baldrian, von dem sie vorsichtig ein paar Tropfen einnahm. Sie schmeckten fürchterlich bitter, doch schon nach kurzer Zeit stellte sich die beruhigende Wirkung ein.

»Scheußlich sind die Tropfen schon, aber die Wirkung ist beeindruckend«, erklärte sie, als Schwester Iris kurze Zeit später noch einmal hereinschaute.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Viel besser«, gab Isabel unumwunden zu. »Und ehrlich gesagt sind mir Naturheilmittel viel lieber als das chemische Zeug.«

»Die Wirkung natürlicher Heilmittel sollte allerdings auch nicht unterschätzt werden«, warnte Schwester Iris lächelnd. »Viele von ihnen haben bei Überdosierung eine ebenso toxische Wirkung wie rein chemische Präparate.«

»Allein der Geschmack hindert einen daran, zuviel davon einzunehmen.« Isa musterte das unscheinbare Fläschchen mit unverhohlenem Widerwillen.

»Dann ist es ja gut. Wenn Sie morgen früh aufwachen und wieder so nervös sind, dann nehmen Sie einfach auf nüchternen Magen noch einmal ein Löffelchen voll. Das sollte reichen.« Die Schwester nickte noch einmal freundlich, dann zog sie sich zurück, um nach ihren anderen Schützlingen zu sehen.

Isabel ließ sich zurück in die Kissen sinken und versuchte, an etwas anderes als ihre Krankheit zu denken. Am Abend war ihre Freundin Gaby noch bei ihr gewesen, die Isa telefonisch über die Geschehnisse informiert hatte. Sie war sofort herbeigeeilt, um der Freundin Mut zu machen für die bevorstehende Operation. Tatsächlich fühlte sich Isabel von ihren Worten wieder einmal seltsam getröstet und dachte jetzt voll Dankbarkeit daran, wie wertvoll echte Freundschaft doch war. Erst jetzt stellte sie überrascht fest, daß Chris Bachmann dieselbe beruhigende Wirkung auf sie gehabt hatte.

Über diesen tröstlichen Gedanken fielen ihr endlich die Augen zu und sie schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen.

»Einen schönen guten Morgen!« Mit diesen Worten wurde ­Isabel am Samstag um sieben Uhr von Daniel Norden geweckt. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst in die Klinik zu kommen, obwohl er nicht bei der Operation anwesend sein würde.

»Wo bin ich?« Schlaftrunken rieb Isabel sich die Augen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich orientiert hatte. Doch plötzlich kehrte sie in die Realität zurück, und schlagartig war sie sich wieder der Bedrohung bewußt.

»Sie sind in der Klinik. Wie geht es Ihnen?« erkundigte sich Daniel fürsorglich, als auch schon Jenny zusammen mit Dr. Pfaller hereinkam, um die Einzelheiten zu besprechen.

»Sie müssen keine Angst haben, wir passen gut auf Sie auf«, erklärte der Arzt, als er Isabels schreckgeweitete Augen sah.

»Ich weiß gar nicht, wovor ich mich mehr fürchten soll, vor der Operation oder dem Befund«, gestand sie leise.

»Nur nicht nervös werden«, beruhigte sie auch Jenny. »Wir erledigen eines nach dem anderen. Jetzt werden Sie für die Operation vorbereitet. Im OP zeichnen wir den Schnitt an, und danach schickt sie unser Anästhesist in einen wohltuenden Schlaf. Sie haben ihn ja gestern abend schon kennengelernt, und er wird Ihnen sicher gesagt haben, daß Sie nichts spüren werden.«

»Das ist es ja, wovor ich die meiste Angst habe«, gestand Isabel mit zitternder Stimme.

Dann wurde sie, begleitet von Daniels guten Wünschen, in den OP geschoben. Alle beteiligten Ärzte und Schwestern waren über ihre Ängste informiert und tröstete sie, solange sie noch bei Bewußtsein war.

»Sie sind alle so lieb«, flüsterte sie Christoph zu, der langsam das Narkotikum in die Infusion laufen ließ. Wie versprochen wich er nicht von ihrer Seite, und seine kräftige Hand lag beruhigend auf ihrem Arm.

»Ich hoffe doch, daß ich besonders lieb bin, oder?« fragte er lächelnd. Schon am Vortag hatte ihn ihre kindliche Angst gerührt, und er hatte sich vorgenommen, ihr beizustehen.

»Passen Sie auch auf, daß ich wieder wach werde?« Sie schlief schon fast, doch krampfhaft versuchte sie die Augen offen zu halten, so sehr faszinierte sie sein fast zärtlicher Blick.

»Wenn Sie wollen, besuche ich Sie heute nachmittag, damit Sie sehen, daß Ihre Befürchtungen umsonst waren.« Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er sie weiter betrachtete, wie sie gegen den Schlaf ankämpfte.

»Versprechen Sie es?« fragte sie noch, doch bevor er eine Antwort geben konnte, fielen ihr die Augen endgültig zu.

»Sie schläft!« verkündete Chris einige Minuten später, als er sicher sein konnte, daß sich Isabel im Tiefschlaf befand.

»Ist das Ihre Art, Ihren Patientinnen schöne Träume zu verschaffen?« spottete Dr. Pfaller freundschaftlich, doch Chris Bachmann ließ sich von dieser Bemerkung überhaupt nicht beeindrucken.

»Der Zweck heiligt die Mittel«, erklärte er lakonisch und warf einen heimlichen Blick auf Isabel. Er verriet mit keinem Wort, daß ihn die junge Frau auf dem Operationstisch in seinem Innersten berührt hatte und daß noch niemals eine Patientin vor ihr so tief in seine Augen geschaut hatte.

Ernst Pfaller war ein sehr erfahrener Chirurg und setzte den Schnitt zügig und sicher. Die Operation ging schnell voran, und bald darauf hatte er die rechte Schilddrüse ohne Komplikation entfernt. Das Organ wurde sofort ins Labor geschickt, um anhand eines Schnellschnittes eine erste Biopsie des Gewebes zu erhalten. Bis das Ergebnis, das zu neunzig Prozent sicher war, feststand, wurde Isabel in Narkose gehalten, um bei einem bösartigen Befund sofort die andere Schilddrüse und vorsichtshalber auch gleich die Lymphknoten im Halsbereich entfernen zu können. Bange Minuten des Wartens vergingen, in denen alle Beteiligten tatenlos am Operationstisch stehen mußten. Endlich kam das erlösende Ergebnis, Isabel litt nicht wie befürchtet an einem C-Zell-Karzinom.

Jenny und Ernst lächelten sich erleichtert zu, bevor der Chirurg damit begann, die entstandene Wunde fachgerecht zu versorgen. Niemand schenkte in diesem Moment dem Anästhesisten Beachtung, dessen Augen vor Freude strahlten, bevor seine ganze Aufmerksamkeit wieder den Geräten galt, die Isabels Zustand verläßlich überwachten.

Als erster erhielt Daniel die befreiende Nachricht, die ihm Jenny überbrachte, als die Operation fast beendet war. Sie wurde nicht mehr gebraucht, und nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, informierte sie ihn über die Einzelheiten der OP.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Manchmal denke ich, daß ich zu alt werde für diesen nervenaufreibenden Beruf«, gestand er seufzend, als sie ihren Bericht beendet hatte.

»Das glaube ich dir nicht«, lächelte Jenny freundschaftlich. »Das, was du brauchst, sind ein paar Wochen Urlaub, das ist alles. Dann bist du wieder ganz der Alte.«

»Vielleicht hast du recht. Ich kann es kaum erwarten, Fee und den Kindern zu sagen, daß wir unsere Abfahrt doch nicht verschieben müssen.« Bei diesem Gedanken lächelte er erleichtert, wurde aber sofort wieder ernst. »Wie lange wird es dauern, bis die Histologie vorliegt?«

»Eine Woche müssen wir uns schon gedulden. Schneller geht es ja leider nicht.«

»Dann melde ich mich einfach von der Insel der Hoffnung. Wenn das Ergebnis wider Erwarten doch negativ ausfällt, komme ich zurück und unterstütze euch bei den Nachfolgebehandlungen.«

»Jetzt wart’s einfach mal ab.« Jenny versuchte ihn von diesem Gedanken abzubringen. Sie wollte nicht, daß Daniel sich das Leben mit solchen Spekulationen unnötig schwer machte. »Außerdem glaube ich, daß es sich um eine harmlose Veränderung handelt. So wie das Gewebe ausgesehen hat, wäre ich sehr verwundert, wenn es anders wäre. Und jetzt möchte ich, daß du nach Hause fährst. Da wartet nämlich eine Familie auf dich. Um Isabel kümmere ich mich schon. Und Chris sicher auch«, fügte sie anzüglich hinzu.

Doch darauf ging Daniel gar nicht ein. Zu sehr war er in Gedanken schon bei seiner Familie.

»Die Chefin hat gesprochen!« Daniel gab sich lächelnd geschlagen. Er warf Jenny einen dankbaren Blick zu und machte sich schließlich auf den Nachhauseweg.

*

Leslie schlief bis in die späten Morgenstunden, und Falk, der einige Zeit vor ihr erwacht war, betrachtete sie voll Zärtlichkeit. Als sie sich zu regen begann, strich er ihr sanft eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Du bist schon wach?« murmelte sie mit geschlossenenAugen und streckte sich dann ganz genüßlich.

»Guten Morgen, meine kleine Katze. Jetzt fehlt nur noch das Schnurren!«

»Das kommt später, wenn alle Schwierigkeiten erfolgreich gemeistert sind«, erklärte sie, plötzlich hellwach.

»Du sollst nicht immer an meine Probleme denken. Jetzt hast du Ferien und nach der harten Arbeit das Recht auf ein bißchen Urlaub!«

»Wie stellst du dir das vor?« fragte sie jedoch zurück und schwang sich aus dem Bett. »Deine Sorgen sind schließlich genauso die meinen. Gemeinsam schaffen wir das schon.«

»Du bist eine tolle Frau!« murmelte Falk aus tiefstem Herzen.

Ella und Ludwig waren schon lange mit dem Frühstück fertig, als sich die beiden endlich zu ihnen gesellten.

»Guten Morgen, Ihr Langschläfer«, begrüßten sie das Paar freundlich. »Wir haben noch ein paar Semmeln für euch übrig gelassen. Habt ihr gut geschlafen?«

»Leider nicht. Ich mache mir große Sorgen wegen Welser. Meine Autoreifen hat er schon ruiniert, und ich bin gespannt, was ihm noch alles einfallen wird, wenn ich erst bei der Polizei war«, meinte Falk besorgt.

»Wir wollen doch hoffen, daß die Beamten auf Zack sind und ihn gleich dingfest machen können.«

Ludwig war erstaunt über seinen Sohn. So zurückhaltend kannte er ihn gar nicht.

»Es gibt wahrscheinlich keinen Grund, Welser sofort festzunehmen. Und da sind auch noch seine Freunde. Vielleicht war er es ja nicht selbst, der Hand an mein Auto angelegt hat«, sinnierte Falk. »Ich frage mich nur, warum er es um jeden Preis vermeiden will, daß ich zur Polizei gehe. Womöglich hat er noch mehr Dreck am Stecken, als wir ahnen. Zuzutrauen wäre ihm alles.«

»Scheinbar hattest du heute nacht wirklich viel Zeit, nachzudenken«, bemerkte Ella anzüglich.

Doch ihr nett gemeinter Kommentar fand kein Gehör.

»Trotzdem mußt du es riskieren und zur Polizei gehen. Es ist wichtig, nicht erpreßbar zu sein und sich zu wehren. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir uns alles gefallen lassen!« ereiferte sich Ludwig. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und konnte das Verhalten seines Sohnes nicht nachvollziehen.

»Du kennst ihn nicht«, erklärte Falk jedoch nur und beendete ohne ein weiteres Wort sein Frühstück. Trotz aller Bedenken mußte er seinem Vater recht geben. Sein Entschluß stand fest, als er sich endlich erhob.

»Soll ich nicht mitkommen?« rief Leslie ihm angstvoll hinterher.

»Diesen Weg muß ich allein gehen«, gab er abweisend zur Antwort, bevor die Tür ins Schloß fiel. Das war eine Ausrede, denn tatsächlich hatte er Angst, beobachtet zu werden und Leslie dadurch unnötig in Gefahr zu bringen.

*

Es dauerte lange, bis Isabel an diesem Tag wieder richtig wach wurde. Daniel hatte die gute Nachricht an Falk und ihre beste Freundin Gaby weitergegeben, und Falk ließ ihr ausrichten, daß er am Abend vorbeikommen würde. Gaby jedoch war vor Freude ganz aus dem Häuschen und ließ es sich nicht nehmen, die Freundin sofort zu besuchen. Gegen Mittag betrat sie erwartungsvoll das Krankenzimmer, doch da war Isa noch gar nicht ansprechbar. Sie öffnete zwar die Augen und begrüßte sie mit einem Lächeln, war jedoch nicht fähig, auch nur ein Wort zu sprechen. Kurz darauf schlief sie wieder tief und fest, und Gaby verließ die Klinik dennoch beruhigt.

Am frühen Nachmittag versuchte Jenny Behnisch ihr Glück, und da ging es Isabel schon merklich besser. Sie war zwar blaß, hatte die Augen aber geöffnet und blickte mit großem Interesse auf die Ärztin.

»Was ist mit mir?« flüsterte sie mühsam, denn das Sprechen fiel ihr noch schwer.

»So wie es aussieht, ist alles in Ordnung!« konnte Jenny die gute Nachricht überbringen.

Ein Strahlen erhellte Isabels Gesicht, und dann strömten die Tränen der Erleichterung über die Wangen. Lange konnte sie sich nicht beruhigen, und Frau Dr. Behnisch reichte ihr geduldig ein Papiertuch nach dem anderen, mit denen sie sich das Gesicht trocknete.

»Vielen Dank für alles«, stieß sie krächzend hervor, als die Tränen endlich versiegt waren. »Sie müssen denken, daß ich verrückt bin! Bekomme ich eine gute Nachricht und heule mir die Augen aus.«

»Ich kann das gut verstehen«, erklärte Jenny nachsichtig. »Irgendwohin muß der Druck ja entweichen, der sich über lange Zeit aufgebaut hat. Dr. Norden hat erzählt, daß Sie sich schon länger nicht gut gefühlt haben.«

Isabel nickte bestätigend und deutete auf ihren Hals, um Frau Dr. Behnisch klarzumachen, daß das Sprechen mühsam war.

»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Stimme. Die wird mit jedem Tag besser werden.« Die Ärztin konnte sie auch dahingehend beruhigen, bevor sie sich verabschiedete.

Erleichtert lehnte sich Isabel in die Kissen zurück. Es war ein herrliches Gefühl, von dieser Last befreit zu sein, und zuversichtlich blickte sie jetzt in die Zukunft. Was auch immer ihren schlechten Allgemeinzustand verursacht hatte, es war keine bösartige Krankheit. Die Ärzte würden alles tun, um sie wieder gesund zu machen. Sie verspürte ein unendliches Vertrauen in die Ärzte und Schwestern dieser Klinik, die sich so rührend um sie gekümmert hatten. Schließlich wanderten ihre Gedanken zu dem jungen Anästhesisten, der sie mit seinem Blick so verzaubert hatte, daß sie um ein Haar nicht eingeschlafen wäre. Isabel versuchte mühsam, sich an das Gespräch zu erinnern, das sie mit ihm geführt hatte. Stück für Stück gelang es ihr, sich die Worte ins Gedächtnis zurückzuholen. Hatte er ihr nicht einen Besuch versprochen? Die Augen fielen ihr schon wieder zu, und sie verlor sich in ihren Gedanken an Chris.

Isa wußte nicht, wie lange sie so gelegen hatte, doch auf einmal vermeinte sie, eine zarte Berührung zu spüren. Träumte sie, oder war da eine Hand, die ihr über die Wange streichelte? Jetzt glitt sie sanft an ihrem Hals herab, und Isabel streckte sich wohlig. Mit geschlossenen Augen verfolgte sie die zarte Berührung und fühlte das Streicheln auf ihrer Schulter. Doch als sich die Hand jetzt ihrer Brust näherte, schlug sie erschrocken die Augen auf. Würde Christoph so etwas wagen?

Isabels Kehle entwand sich ein heiserer Schrei, als sie blitzartig erkannte, wer sie da gestreichelt hatte. Angstvoll drückte sie sich in die äußerste Ecke des Bettes, doch es gab kein Entrinnen. Kein anderer als Achim Welser hatte sich unbemerkt ins Zimmer geschlichen und saß nun mit seinem kalten Lächeln vor ihr, während er seine Hand an ihr herabgleiten ließ.

*

Der Polizeibeamte Hubert Gröschel nahm Falk von Langens Aussage sehr ernst, doch erst nachdem er Welsers Namen in den Computer eingegeben hatte und ein langes Vorstrafenregister erschien, läuteten bei ihm die Alarmglocken. Äußerlich blieb er jedoch völlig ruhig.

»Offenbar haben wir da einen dicken Fisch an der Angel«, erklärte er stirnrunzelnd und blickte auf den Bildschirm.

Falk horchte auf. »Wie meinen Sie das?«

»Herr Welser wird bereits seit einiger Zeit wegen mehrerer Eigentumsdelikte mit Haftbefehl gesucht.«

»Das ist ja ein Ding!« entfuhr es Falk. »Er wollte ja unbedingt verhindern, daß ich zur Polizei gehe. Ich vermutete bereits, daß da mehr dahinterstecken muß.«

»Allerdings«, fuhr der Beamte fort. »Wenn wir ihn erwischen, drohen ihm mehrere Jahre Haft. Sein Strafregister ist lang, Diebstahl, Betrug, versuchte Vergewaltigung... Ist Ihnen nicht gut?« unterbrach er sich, als er bemerkte, wie blaß Falk mit einem Mal geworden war.

»Alles in Ordnung«, beeilte sich dieser zu versichern. »Ich dachte nur gerade daran, was alles hätte passieren können, wenn ich Isabel neulich nachts nicht gefolgt wäre.« Er berichtete dem Beamten auch von diesem Vorfall, und dieser hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen.

»Sehr gut. Meine Kollegen und ich sollten uns jetzt aber auf den Weg machen, bevor Welser Verdacht schöpft. Sie bleiben fürs erste hier, um sicherzugehen, daß Ihnen niemand gefolgt ist. Welser ist durchtrieben, da ist Vorsicht geboten.« Mit diesen Worten ließ er Falk allein in seinem Büro, und eine Sekretärin brachte ihm die Tageszeitung und eine Tasse Kaffee, um ihm die Wartezeit zu verkürzen. Doch Falk war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu lesen. Unruhig ging er im Zimmer auf und ab und malte sich aus, was wohl gerade in Welsers Wohnung vor sich gehen mochte.

Zitternd wie Espenlaub saß Isabel in ihrem Bett und sah Achim Welser mit schreckgeweiteten Augen an.

»Was wollen Sie von mir?« flüsterte sie, und ihre Stimme drohte zu versagen.

»Neulich nachts war ich so nah an dir dran...«, erklärte er mit zynischem Lächeln. »Ich lasse mir ungern ins Handwerk pfuschen. Aber das wird dein Freund bald zu spüren bekommen. Wenn ich erst einmal mit dir fertig bin...« Während er sie von oben bis unten musterte, verengten sich seine Augen zu engen Schlitzen.

»Was habe ich Ihnen denn getan? Ich kenne Sie doch gar nicht«, sagte Isabel verzweifelt, und ihre Stimme war nicht mehr als ein klägliches Krächzen.

»Du gefällst mir, so einfach ist das. Ich beobachte dich schon seit Monaten. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo du mir gehören wirst. Obwohl du schon einmal begehrenswerter warst!« Welser hob die Hand und zog verächtlich am Schlauch der Drainage, der in die Wunde an Isabels Hals führte. Erschrocken zuckte sie zurück, und er lachte leise.

»Aber bekanntlich haben die Dinge ja zwei Seiten. Es ist sehr gut, daß du durch deine Operation nicht schreien kannst. So wird niemand auf uns aufmerksam werden, wenn du schön brav bist und nicht nach der Schwester klingelst!« sagte er drohend und schlug ihr hart auf die Finger. Er war mit den Blicken ihrer Hand gefolgt, die suchend nach dem Notruf getastet hatte.

»Was wollen Sie von mir?« wiederholte sie flüsternd, und Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen.

»Das wirst du gleich sehen«, erklärte er heiser. »Hier hinein ins Bad.« Isabel hatte keine Wahl, als er sie grob am Arm packte und aus dem Bett zog. Mit einem Stoß stolperte sie ins Badezimmer, und Welser musterte sie kühl, als er die Tür hinter sich sorgfältig geschlossen hatte.

*

Gutgelaunt und mit einem Strauß Sommerblumen, die er noch schnell beim Klinikfloristen gekauft hatte, machte sich Christoph Bachmann auf den Weg, um sein Versprechen zu halten, das er Isabel auf dem Operationstisch gegeben hatte. Er wunderte sich über sich selbst, da er noch nie der Versuchung nachgegeben hatte, sich mit einer Patientin zu treffen. An Gelegenheiten hatte es nicht gemangelt, da schon viele schöne Frauen mit seiner Hilfe in einen tiefen Schlaf gefallen waren. Manch eine hatte auch vorher versucht, mit ihm zu flirten. Doch mit ihrer besonderen Art hatte

Isabel eine neue Seite in ihm zum Klingen gebracht. Verträumt dachte er an ihr braunes lockiges Haar und die Rehaugen, die ihn so ängstlich angesehen hatte, daß ihm das Herz dabei fast weh getan hatte. Er mußte sie wiedersehen, schon um festzustellen, was von dieser faszinierenden Wirkung noch übrig bleiben würde, wenn Isabel die Operation erst einmal gut überstanden hatte.

Er blieb einen Moment vor der Zimmertür stehen und fuhr sich mit der Hand durch das kurze braune Haar. Eine vorbeieilende Schwester schüttelte lächelnd den Kopf, als sie den erwachsenen Mann schüchtern vor der Tür stehen sah. Das veranlaßte ihn dazu, endlich anzuklopfen. Christoph wunderte sich, daß er keine Antwort erhielt und wiederholte sein Klopfen, diesmal etwas lauter, doch wieder blieb alles still.

Womöglich schläft sie noch, ging es ihm durch den Kopf und wollte schon kehrt machen, als er es sich doch noch anders überlegte. Behutsam öffnete er die Tür und warf einen Blick auf das Bett.

Es war leer. Verwundert trat er ein und sah sich um, da ihm klar war, daß eine Frischoperierte nicht am ersten Tag große Spaziergänge machen würde.

»Isabel?« fragte er in den Raum, um sicherzugehen, sie nicht übersehen zu haben. Doch nichts geschah.

Zitternd stand Isabel an der Wand, und Welser hielt ihr den Mund mit seiner groben Hand zu. Er hatte die Tür des Badezimmers gerade geschlossen, als beide ein Geräusch im Zimmer vernahmen. In Isabels Augen erschien ein hoffnungsvoller Schimmer, doch Welster gab ihr keine Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. Verzweifelt wehrte sie sich gegen seinen harten Griff, doch ihre Kräfte waren nach den Aufregungen der letzten Zeit und der Operation nahezu verbraucht.

Als Achim kurz den Griff lockerte, öffnete sie mit einer letzten Anstrengung den Mund und biß ihn so heftig in den Finger, daß er wütend aufschrie.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Christoph Bachmann erschien im Rahmen. Entsetzt versuchte er, das, was er sah, zu verstehen und es kam ihm zugute, daß Welser ebenso erschrocken war wie er.

Da er als Arzt gewohnt war, mit schwierigen Situationen fertig zu werden, faßte er sich schneller und nutzte die Verwunderung des anderen.

»Schwester, ein Notfall!« rief Chris mit gellender Stimme und es dauerte nur einen Moment, bis sich einige Schwestern um ihn versammelt hatten und über seine Schultern ins Badezimmer starrten.

»Was ist hier los?« fragte die resolute Oberschwester Renate mit einem verständnislosen Blick auf Achim Welser, der sich beeilt hatte, die Situation so harmlos wie möglich erscheinen zu lassen, da er erkannt hatte, daß ein Fluchtversuch zwecklos war.

»Das fragen Sie bitte den Herrn hier«, knurrte Chris böse. »Und informieren Sie Dr. Pfaller. Er ist noch im Haus und soll die Polizei rufen.«

Augenblicklich entfernte sich eine junge Schwester, um die Anweisungen auszuführen.

»Ich habe nur meiner Freundin einen Besuch abgestattet und war ihr behilflich, ins Bad zu gehen. Das wird doch wohl erlaubt sein«, versuchte Welser die Situation zu retten.

»Das ist nicht wahr! Er lügt!« Isabel kauerte tränenüberströmt am Boden, und Chris half ihr behutsam hoch.

»Es ist gut, Isabel. Keiner wird ihm glauben«, versuchte er sie zu beruhigen, während er sie stützend zurück zu ihrem Bett führte.

Nicht lange danach stürmten die Polizisten in die Klinik. Nachdem die Beamten bei der von Falk angegebenen Adresse nur zwei Verdächtige, nicht aber Welser selbst hatten festnehmen können, waren sie über den Fang, den Christoph Bachmann gemacht hatte, sichtlich erfreut. Die Handschellen klickten, und Achim Welser ließ sich widerstandslos abführen. Er war inzwischen in ein anderes Zimmer gebracht worden, so daß sich Dr. Pfaller mit Chris’ Hilfe um Isabel kümmern konnte. Der Schock steckte ihr in den Gliedern, und sie zitterte am ganzen Leib, doch die Operationswunde hatte wie durch ein Wunder keinen Schaden genommen.

Nach einer gründlichen Untersuchung und einer Beruhigungsspritze ließ der Chirurg Chris und Isabel allein.

»Geht es dir besser?« erkundigte sich Christoph und blickte auf das kleine Häuflein Elend, das vor ihm im Bett lag.

»Hauptsache, er ist weg«, flüsterte Isa tapfer. »Alles andere stehe ich schon durch.«

»Am liebsten hätte ich diesen Kerl verprügelt«, knurrte er böse. »Wer ist das?«

»Das ist eine ganz lange Geschichte«, seufzte Isabel schwach. »Ich glaube, die kann ich jetzt nicht erzählen. Ich bin einfach zu müde.«

»Dann schlaf’ dich gesund. Es wird dir guttun.« Eine Woge der Zärtlichkeit überkam Chris, und er mußte sich zurückhalten, um sie nicht zu küssen.

»Aber ich habe Angst vor dem Alleinsein. Bleibst du bei mir, bis ich wieder wach bin?« fragte sie ängstlich.

»So lange du willst«, entgegnete er und nahm behutsam ihre Hand.

Beruhigt schloß Isabel die Augen, um alle Ängste hinter sich zu lassen und in einen heilenden Schlaf zu fallen.

*

Stunde um Stunde verging, und Falk wartete immer noch unverrichteter Dinge auf der Polizeistation, als Helmut Gröschel mit seinen Kollegen von seinem erfolgreichen Einsatz zurückkehrte.

Die Beamten waren bester Laune und machten einige Witze über Welser. Als Falk sie entdeckte, kam Leben in ihn. Er sprang vom Stuhl auf und ging auf Gröschel zu.

»Du meine Güte, Sie habe ich ja ganz vergessen!« rief dieser, als er Falk erkannte, und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

»Haben Sie Welser erwischt?« fragte Falk von Langen. Nach den Stunden des Wartens mußte er jetzt endlich Gewißheit haben.

»Ganz so einfach war es leider nicht, wie wir es uns vorgestellt haben«, gab Helmut Gröschel zu. »Die Wohnung war fast komplett ausgeräumt, als wir dorthin kamen. Aber wir hatten Glück und konnten zwei Verdächtige, die sich noch dort aufhielten, festnehmen. Von Welser selbst fehlte leider jede Spur. Aber dann wurden wir zu einem anderen Einsatz gerufen, der überraschenderweise den gewünschten Erfolg brachte.«

Knapp berichtete er über Welsers Attacke in der Behnisch-Klinik, und Falk wurde blaß.

»Woher wußte er, daß sie dort ist?« fragte er heiser, doch der Polizist zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung. Auf alle Fälle haben wir ihn geschnappt. Es wird wohl ein Weilchen dauern, bis er wieder ein freier Mann ist. Seine beiden Komplizen haben inzwischen auch ausgepackt. Sie haben zu viert einen Computerhandel mit gestohlener Ware betrieben und waren gerade dabei, die letzten Dinge in ein sicheres Lager zu bringen, als wir sie gestört haben. Leider war der vierte im Bunde nicht da. Und weder Marx noch Zanker wissen angeblich, wo er steckt.« Gröschel runzelte die Stirn.

»Werden Sie ihn kriegen?« Falk war es nicht wohl in seiner Haut, als er erfuhr, daß einer von Welsers Komplizen nicht gefaßt worden war. Schließlich wußte er nicht, wer seine Autoreifen aufgeschlitzt und den anonymen Brief geschrieben hatte. Wenn sich der Täter noch auf freiem Fuß befand, war er sicher alles andere als gut zu sprechen auf Falk.

Er teilte seine Bedenken dem Polizeibeamten mit. Doch dieser wußte auch keinen Rat. »Am besten halten Sie die Augen offen und benachrichtigen uns bei der kleinsten Unsicherheit. Und falls uns dieser Peter Schrödel doch noch ins Netz geht, setzen wir uns sofort mit Ihnen in Verbindung.« Mehr konnte er nicht für Falk tun und er sah ihm bedauernd nach, als dieser bedrückt die Wache verließ.

So hatte sich Falk den Tag von Welsers Festnahme nicht vorgestellt, und er wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, daß seine Probleme jetzt erst richtig begannen.

Ganz falsch lag er mit dieser Annahme nicht.

Peter Schrödel befand sich in Sicherheit in seiner Wohnung, die er unter einem falschen Namen gemietet hatte, und sann auf Rache. Es war ein schwerer Schlag für ihn gewesen, als er die Streifenwagen vor dem Wohnblock entdeckt hatte. So unauffällig wie möglich konnte er sich in letzter Minute aus dem Staub machen. Da er aber wußte, daß sich Achim nicht dort befand, machte er sich noch keine großen Sorgen. Wenig später wurde im Regionalfernsehen jedoch von Welsers Festnahme berichtet, und damit brach für Schrödel endgültig eine Welt zusammen. Mit verkniffener Miene saß er am Tisch und plante seinen Rachefeldzug gegen Falk von Langen, dem er die Schuld an seinem persönlichen Desaster gab. Lange überlegte er hin und her, wie er es anstellen sollte, doch plötzlich kam ihm die zündende Idee. Na warte Bürschchen, es wird dir noch leid tun, daß du meine Drohung nicht ernst genommen hast, sprach Peter zu sich selbst und lachte hämisch, als er seine Sachen zusammenpackte. Er war zu allem entschlossen, denn jetzt hatte er nichts mehr zu verlieren.

*

Ungeduldig wurde Falk schon von seinen Eltern und Leslie erwartet.

»Da bist du ja endlich!« rief diese ihm zu und lief ihm auf offener Straße entgegen, als sein Wagen um die Ecke gebogen kam.

Trotz seiner Sorgen lächelte er. »Leslie, wie schön, dich zu sehen«, begrüßte er sie zärtlich, nachdem er den Wagen mit den nagelneuen Reifen vor dem Haus geparkt hatte.

»Was ist passiert? Du siehst gar nicht glücklich aus«, stellte sie mit einem aufmerksamen Blick fest.

»Ich habe auch keinen Grund dazu!« brach es aus ihm heraus. Mit ein paar Worten schilderte er Leslie die fatale Situation.

»Glaubst du nicht, daß du alles im Moment sehr negativ siehst?« fragte sie daraufhin vorsichtig. »Vielleicht war es gar nicht dieser Schrödel, der dein Auto sabotiert hat.«

»Das tut doch eigentlich nichts zur Sache. Wer auch immer es ist, der kann sich ausrechnen, daß ich schuld bin an der Festnahme seiner Komplizen. Das werde ich zu spüren bekommen.«

»Glaubst du, daß er soweit gehen würde?« Auch sie war jetzt verunsichert, doch dann gab sie sich einen Ruck. »Im Haus deiner Eltern wird dir sicher nichts geschehen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, meinte Falk, bevor er das Haus betrat, um die Neuigkeiten auch mit seinen Eltern zu besprechen. Leslie folgte ihm nachdenklich.

Die Tage vergingen, und Leslie schien mit ihrer Vermutung recht zu behalten. Trotz intensiver Suche der Polizei war nirgendwo eine Spur von Peter Schrödel zu finden und so kehrt bei der Familie von Langen langsam wieder der Alltag ein.

Auch Isabels Genesung schritt voran, und am Dienstag stattete Daniel ihr noch einen letzten Besuch ab, bevor er mit seiner Familie zur Insel der Hoffnung fuhr.

»Wollen Sie nicht mitkommen, um sich dort für eine Weile richtig von Ihrer Krankheit zu erholen?« frgte er, nachdem er in höchsten Tönen von diesem schönen Fleckchen Erde geschwärmt hatte.

»Lust hätte ich schon dazu«, meinte Isabel. »Aber ich möchte doch noch die Untersuchungsergebnisse abwarten. Es ist ja noch nicht ganz sicher, daß der Knoten tatsächlich gutartig war.«

»Nachdem der Lymphknoten in Ordnung war, können Sie aber mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen. Sie sollten sich keine allzu großen Sorgen mehr machen«, versuchte er, ihre Bedenken zu zerstreuen.

»Aber woher kamen dann diese Beklemmungszustände und all die anderen Symptome, unter denen ich gelitten habe?«

»Das kann durchaus alles dieser kleine Knoten bewirkt haben. Die Schilddrüse ist ein hochkompliziertes Organ und sehr sensibel dazu. Schon kleinste Unregelmäßigkeiten können das ganze System durcheinanderbringen«, erklärte Daniel ihr.

»Ich hoffe so sehr, daß Sie recht behalten.« Isa seufzte aus tiefstem Herzen. »Es würde mich schon sehr reizen, die Insel der Hoffnung zu besuchen. Vielleicht können Sie sich einmal erkundigen, ob in der nächsten Zeit ein Zimmer frei ist. Ein bißchen Abstand würde mir, glaube ich, ganz guttun.«

»Abgemacht!« erklärte Daniel erfreut. »Rufen Sie mich bitte an, sobald Sie den endgültigen Befund haben. Dann kommen Sie auf die Roseninsel, um neue Kraft zu tanken. Kein anderer Ort ist dafür so gut geeignet.« Nach einem Blick auf die Uhr erhob er sich schließlich und verabschiedete sich.

Als Isabel am selben Abend Christoph Bachmann von ihrem Vorhaben berichtete, gelang es ihm nicht, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Du möchtest verreisen?« fragte er ungläubig.

»Ich sehe es eher als Kuraufenthalt«, erklärte sie vorsichtig. Sie hatte geahnt, daß er nicht begeistert über ihr Vorhaben sein würde, doch war Christoph mit ein Grund, warum sie diese Reise in Erwägung gezogen hatte.

»Aber du kannst dich doch hier erholen. Und wenn du entlassen wirst, nehme ich Urlaub und leiste dir Gesellschaft.«

»Das ist sehr lieb von dir, Chris, aber ich brauche ein bißchen Bedenkzeit. Das alles geht mir viel zu schnell, und nach all der Aufregung muß ich zuerst meinen Lebensmittelpunkt wieder finden, bevor ich Zukunftspläne schmiede.«

»Habe ich dich in irgendeiner Weise bedrängt?« fragte er fassungslos.

»Bitte, verstehe mich nicht falsch. Ich habe soviel hinter mir! Kannst du mir nicht einfach vertrauen?« bat sie flehend und nahm seine Hände in die ihren, um sie lange festzuhalten.

»Was bleibt mir anderes übrig?« seufzte er schließlich und gab sich mit einem gezwungenen Lächeln geschlagen.

*

Der heißersehnte Zeugnistag, der gleichzeitig auch Ferienbeginn war, war endlich gekommen. Schon nach zwei Stunden kamen die Kinder wieder jubelnd aus der Schule zurück, nur Felix’ Begeisterung über seine Noten hielt sich wie immer in Grenzen. Doch an so einem Tag konnte niemand darüber ernsthaft böse sein. Endlich war der Zeitpunkt der Abreise gekommen. Im Auto winkten alle Lenni hinterher, die noch eine Weile allein zu Hause bleiben wollte, ehe Daniel sie ebenfalls auf die Insel der Hoffnung holen würde, damit sie ein wenig ausspannen konnte.

»Schade, daß Lenni nicht gleich mitkommen kann«, bedauerte Anneka aufrichtig. »Sie tut mir so richtig leid!«

»Sie muß dir nicht leid tun, Schätzchen, sie hat es sich selbst so ausgesucht. Du mußt bedenken, daß ihr ein paar Tage Ruhe nach all dem Trubel, der bei uns immer herrscht, ganz guttun«, versuchte Fee ihre zartfühlende Tochter zu beruhigen.

»Aber Papi holt sie sofort ab, wenn sie keine Lust mehr hat, oder?« versicherte sich Anneka noch, bevor sich ihre Vorfreude auf Omi und Opi konzentrierte, von denen sie einige Zeit später freudig begrüßt wurden.

»Meine liebe Fee! Endlich kann ich dich mal wieder in meine Arme schließen!« rief Johannes Cornelius, als seine einzige Tochter aus dem Wagen stieg.

»Ach, Paps, ich habe euch so sehr vermißt«, flüsterte sie.

»Uns oder die Insel?« fragte er augenzwinkernd zurück und erhielt für diese Bemerkung einen freundschaftlichen Knuff in die Seite.

»Jetzt laß Fee mal wieder los, damit ich sie auch begrüßten kann«, sagte da Anne lachend. Sie hatte die stürmische Begrüßung der Kinder freudig über sich ergehen lassen und stand nun Arm in Arm mit Daniel neben Johannes.

»Ich geb’ sie nur ungern wieder her«, gestand er.

»Du mußt mich ja gar nicht so schnell wieder hergeben, Paps«, beruhigte Fee ihn. »Wir bleiben auf jeden Fall vier lange Wochen bei euch. Vielleicht auch länger.«

»Das wird dir auch guttun, Kind«, freute sich Anne. Ihren aufmerksamen Augen war es nicht entgangen, daß die schwere Lungenentzündung nicht spurlos an Fee vorübergegangen war. »Aber daß du dich nicht gleich morgen um die Patienten kümmerst«, mahnte sie mit strenger Stimme.

»Keine Sorge«, lachte Fee daraufhin fröhlich. »Dieses Versprechen habe ich Daniel schon geben müssen. Ich darf zwei Wochen lang nichts tun. Allerdings weiß ich noch nicht, wie ich das durchstehen soll.«

»Das wird sich finden. Jetzt erst einmal herein in die gute Stube. Gemeinsam haben wir euer Häuschen auf Vordermann gebracht. Es war ganz schön viel zu tun, nachdem Ihr so lange nicht da wart. Hoffentlich gefällt es euch.«

»Es ist herrlich«, bemerkte Daniel und sah sich erfreut um. Es war noch nicht lange her, daß dieses Haus für die Bedürfnisse der Familie Norden umgebaut worden war, und manches war ihm noch fremd.

»Ich kenne mich hier noch gar nicht richtig aus!« bemerkte er.

»Bis wir in ein paar Jahren endgültig hier einziehen werden, wirst du dich schon zurechtfinden«, bemerkte Fee lächelnd. Sie hatte nicht vergessen, daß es von Anfang an geplant gewesen war, daß Daniel zusammen mit Johannes Cornelius die Leitung des Sanatoriums übernehmen sollte. Bis zum heutigen Tag war es allerdings nicht dazu gekommen, da Daniel seine Praxis in München nicht aufgeben wollte. Obwohl sich Fee nichts sehnlicher wünschte, als eines Tages wieder endgültig auf die Insel zurückzukehren, hatte sie Verständnis für ihren Mann und unterstützte ihn.

»Ich weiß schon, worauf du hinaus willst. Aber du kannst nicht leugnen, daß ich schon alle Weichen in diese Richtung gestellt haben«, schmunzelte Daniel und nahm sie in die Arme. »Severin wartet nur auf einen Wink von mir und übernimmt die Praxis, bis Danny soweit ist.«

»Paps wird schon rechtzeitig sagen, wenn er nicht mehr allein zurechtkommt«, warf Fee nachdenklich ein. »Findest du nicht auch, daß er sich kaum verändert hat?«

»Das ist richtig. Trotzdem möchte ich bereit sein, wenn es eines Tages soweit ist. Das bin ich ihm einfach schuldig.«

»Von Schuld kann wohl kaum die Rede sein. Es war wohl eher Bestimmung, daß wir alle aufeinander getroffen sind«, erklärte sie versonnen, und Daniel gab ihr einen zärtlichen Kuß.

Die Kinder waren inzwischen schon auf Erkundungstour, und Anne und Johannes warteten lächelnd vor dem Haus, um Daniel und Fee überall herumzuführen und die Neuerungen zu zeigen. Johannes Cornelius war trotz seines fortgeschrittenen Alters ein modern denkender Mann und legte in seinem Sanatorium größten Wert auf die neueste Ausstattung. Das war einer von vielen Gründen, warum die kleinen, behaglichen Häuser immer ausgebucht waren. Dank der hervorragenden finanziellen Situation der Insel der Hoffnung waren wichtige Neuanschaffungen auch kein Problem.

»In jedem Bereich das Beste«, bemerkte Daniel anerkennend, als sie die medizinischen Bäder begutachteten. »Ihr habt es geschafft, ein Schmuckstück aus dem Sanatorium zu machen. Allein wäre mir das nie so gelungen.«

»Du stellst dein Licht wie immer unter den Scheffel. Ohne dich wäre das alles nicht möglich gewesen«, lächelte Johannes, doch man sah ihm an, daß er sich ehrlich über das Kompliment freute.

»Und ohne Friedrich«, setzte Fee hinzu. Immerhin hatte ihr Schwiegervater vor vielen Jahren die Idee zu so einem Ort der Ruhe und Erholung gehabt, es aber leider nicht mehr miterleben dürfen, wie sein Sohn Daniel und sein bester Freund Johannes seinen Traum Wirklichkeit werden ließen.

»Ja, der Friedrich...«, sagte Johannes langsam. »Ich denke oft an den alten Knaben. Welch ein Spaß wäre es gewesen, mit ihm hier arbeiten zu dürfen.«

Einen Augenblick schien es so, als würde er sentimental und sich in den alten Erinnerungen verlieren, doch das Lachen der Kinder holte ihn in die Gegenwart zurück. »Aber so ist es auch gut«, fügte er mit einem leisen Lächeln auf seine fünf Enkel hinzu, und alle zusammen setzten ihren Rundgang gutgelaunt fort.

Die ersten Tage auf der Roseninsel vergingen schnell, und Fee fühlte sich wie im Traum. Das Wetter war herrlich, und da ihr nichts als Ruhe verordnet war, machte sie lange Spaziergänge durch die herrliche Landschaft, las viel und widmete sich dem Spiel mit ihren Kindern. Überrascht stellte sie fest, welche Fortschritte Jan und Dési im Kartenspielen gemacht hatten, und so verbrachten sie einträchtig viele Stunden damit, was allen großen Spaß machte. Daniel hatte nicht viel Ruhe, da er ja auch seinen Schwiegervater entlasten wollte, aber er fand immer wieder ein paar Stunden Zeit, um mit seiner Familie zusammenzusein.

Sie erlebten eine rundherum harmonische Zeit.

*

Auch für Isabel Rosner hatte sich das Blatt endlich zum Guten gewendet. Am Freitag erhielt sie von Jenny den endgültigen Befund.

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Frau Rosner!« Mit diesen Worten betrat Jenny Behnisch lächelnd das Krankenzimmer.

»Der Befund?« fragte Isabel, und trotz Jennys ermutigenden Worten mußte sie es erst schwarz auf weiß sehen, bevor sie in Jubel ausbrechen konnte. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet«, erklärte sie strahlend. »Heute werde ich neu geboren.« Doch dann verfinsterte sich ihre Miene. »Kann denn die eine Schilddrüse die Arbeit von beiden übernehmen?«

»Darüber wollte ich noch mit Ihnen sprechen«, erklärte Jenny bereitwillig. »Ich habe mit Dr. Pfaller abgesprochen, daß wir erst einmal abwarten wollen, was passiert und wie Sie sich in Zukunft fühlen. Normalerweise ist es kein Problem, die verbliebene Schilddrüse wird sich zwar etwas vergrößern, die Mehrarbeit aber gut verkraften. Falls dies wider Erwarten nicht der Fall ist, können wir immer noch auf Hormone zurückgreifen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Natürlich!« sagte Isabel glücklich.

Nun war alles geklärt, und Jenny Behnisch konnte ihr nach Entfernen des Pflasters bestätigen, daß die Wunde gut verheilt war und Isabel das Krankenhaus am nächsten Tag verlassen konnte.

»Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie sich schonen werden!«

»Ich habe schon mit Dr. Norden gesprochen. Er hat mir vorgeschlagen, einige Zeit auf der Insel der Hoffnung zu verbringen. Ich denke, daß ich das tun werde.«

»Was für eine gute Idee! Das ist wahrhaftig der richtige Ort, um sich zu erholen und zu sich zu kommen. Wußten Sie, daß man der Insel magische Kräfte nachsagt?«

»Davon habe ich noch nicht gehört, aber ich werde Ihnen davon erzählen, wenn ich zurück bin.«

An Isabels letztem Abend in der Klinik ergriff Falk doch noch die Gelegenheit, um sie zu besuchen. Sie hatten zwar oft miteinander telefoniert, doch um einen Besuch hatte sich Falk bis zur letzten Minute gedrückt. Das lag nicht nur daran, daß er Leslie nicht beunruhigen wollte.

»Du hast Glück, daß ich noch da bin«, begrüßte Isabel ihn mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.

»Hallo, Isa! Gut schaust du aus!« erwiderte er, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

»Dafür bist du um so ernster. Was ist passiert? Ich dachte, es ist endlich alles im Lot. Welser und seine Komplizen verhaftet, deren Hehlerware sichergestellt! Was könnte jetzt noch schiefgehen?« fragte sie munter.

»Du weißt es also nicht! Ich habe es befürchtet!« stieß er heiser hervor.

»Was weiß ich nicht?« Isabel war blaß geworden.

»Es ist nicht geglückt, alle Mittäter Welsers festzunehmen. Einer, Peter Schrödel, ist noch auf freiem Fuß.«

»O Gott!« entfuhr es Isa. Sofort war ihr klar, was diese Nachricht bedeutete. »Warum hat mich niemand informiert?«

»Den anderen ist es vielleicht nicht so wichtig erschienen. Und ich wollte dich nicht berunruhigen und deine Genesung damit gefährden, zumal ich glaube, daß dir keine Gefahr droht.«

»Du glaubst, du könntest Ziel eines Racheaktes sein?« fragte

Isabel. Lebhaft erinnerte sie sich an den Tag, als sie beide vor Falks Auto mit den aufgeschlitzten Reifen gestanden waren. »Was sagt denn die Polizei dazu?«

»Sie können nichts unternehmen, solange keine unmittelbare Gefahr besteht. Bis jetzt ist es ja nur eine Befürchtung von mir. Ich habe keinen konkreten Anlaß.« Falk seufzte. Diese ungewisse Situation belastete ihn mehr und mehr, obwohl er nach außenhin ein normales Leben zu führen versuchte.

»Ich kann dich gut verstehen«, sagte Isa leise. »Und das alles ist meine Schuld. Ich habe dich da hineingezogen.«

»So ein Unsinn! Es hat sich einfach alles so ergeben. Keiner kann etwas dafür.«

Beide schwiegen.

»Vielleicht weiß Christoph einen Rat«, erklärte Isabel schließlich, doch ihre Stimme klang wenig hoffnungsvoll.

»Wer ist das?« erkundigte sich Falk.

»Ein wunderbarer Mensch. Er ist Anästhesist hier an der Klinik, wir haben uns angefreundet.«

»Und?«

»Er hat mir sehr geholfen, das Geschehene zu verarbeiten«, fuhr Isabel zögernd fort. Sie verschwieg, daß er sie nur noch sporadisch besuchte, seit sie ihm von ihren Plänen berichtet hatte, was Isa sehr bedauerte. Er fehlte ihr, und sie suchte nach einem Vorwand, damit er sie besuchte.

»Ich weiß nicht, wie er mir helfen sollte!« erklärte Falk unwirsch.

»Du hast recht. Er kann dir auch nicht sagen, wo dieser Mann steckt und was er vorhat«, gab Isa zu. Doch insgeheim beschloß sie, an ihrem Gedanken festzuhalten. Zum einen war es ein guter Grund für sie, Kontakt mit Chris aufzunehmen, zum anderen konnte es wirklich sein, daß er eine Idee hatte.

Das Gespräch mit Falk wandte sich nun harmloseren Themen zu, und er erzählte vom Calimero und richtete Grüße von Gunnar aus. Isa bedankte sich geistesabwesend und konnte es kaum erwarten, bis Falk sich endlich verabschiedete. Als er sich tatsächlich erhob, kam sie sich doch ein wenig undankbar vor.

»Es tut mir leid, wenn ich ein bißchen unaufmerksam war, Falk, aber so ganz gesund bin ich halt noch nicht«, redete sie sich heraus, während sie ihm einen Kuß auf die Wange drückte.

»Schon gut, Isa, das verstehe ich schon«, sagte er freundschaftlich und strich ihr mit dem Finger leicht über die Wange. »Dafür sind wir doch Freunde, nicht wahr!«

»Na klar. Paß gut auf dich auf!«

Endlich hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, und Isabel griff nach dem Telefon, um Christoph Bachmann anzurufen. Er hatte ihr seine Privatnummer gegeben, damit sie ihn immer erreichen konnte, doch zu Hause hob keiner ab. Nervös wählte sie die Nummer, unter der er in der Klinik zu erreichen war.

»Bachmann!« meldete er sich mit sachlicher Stimme, die Isabel Respekt einflößte.

»Hallo, Chris, ich bin’s, Isa«, sagte sie schüchtern, und am anderen Ende der Leitung entstand ein Schweigen. »Bist du noch dran?«

»Was gibt’s denn, ich bin im Dienst«, war die ruppige Antwort, und Isabel zuckte innerlich zusammen. Sie hatte gewußt, daß ihn ihre abweisende Haltung verletzt hatte. Es tat ihr leid, daß er sie nicht verstehen konnte. Aber jetzt fühlte sie eine gesunde Wut in sich aufsteigen.

»Warum bist du so unfreundlich zu mir? Ich habe dir nichts getan, außer dich um ein bißchen Zeit zu bitten, um wieder zu mir selbst zu finden. Was ist daran so verwerflich? Das hat doch nichts mit dir zu tun, sondern nur mit mir!« rief sie böse. Einen Moment war sie selbst erstaunt über ihre heftige Reaktion, doch dann hörte sie ein leises Klicken in der Leitung. Christoph hatte einfach aufgelegt.

So eine Unverschämtheit, durchzuckte es Isabel, als sie den Hörer wütend auf die Gabel knallte. Zornig verschränkte sie die Arme und starrte aus dem Fenster. Sie war so beschäftigt mit ihrer Wut, daß sie nicht bemerkte, wie sich kurze Zeit später leise die Tür öffnete. Sie nahm Christoph erst wahr, als er sich über sie beugte und sie ohne ein Wort lange und leidenschaftlich küßte. Isabel war so überrascht, daß sie sich nicht wehren konnte. Und je länger der Kuß dauerte, desto sicherer wurde sie, daß sie sich gar nicht wehren wollte! Jeglicher Widerstand in ihr schmolz dahin, und schließlich erwiderte sie seine zärtlichen Berührungen. Endlich lösten sie sich voneinander, und er sah ihr mit unendlicher Liebe in die Augen.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« fragte er heiser.

»Was denn?«

»Daß es nichts mit mir zu tun hat!«

»Warum hast du mich denn nicht gefragt, statt dich beleidigt in dein Schneckenhaus zurückzuziehen?« gab sie vorwurfsvoll zurück. Aber als sie die Traurigkeit in seinen Augen sah, wurde ihre Stimme weich. »Ich habe dich so vermißt!« entfuhr es ihr.

»Ich dich auch. Aber ich habe gedacht, daß du mich loswerden willst«, gestand er mit betretener Miene.

»Ach, du bist doch ein dummer Kerl«, lächelte sie. »Da soll noch einer sagen, daß Frauen kompliziert sind!«

»Sei nicht so frech!« nahm er ihren scherzhaften Ton auf, bevor er sie erneut küßte.

»Jetzt muß ich aber noch etwas mit dir besprechen!« Mit diesen Worten befreite sich Isabel schließlich aus seiner Umarmung.

»So, du hast mich also nur unter einem Vorwand hergelockt!« spielte er den Beleidigten, doch seine Augen lachten.

Sie gemahnte ihn allerdings zum Ernst und erklärte ihm die verfahrene Situation, in der sich Falk befand.

»Er hat mir beispiellos beigestanden, als Welser mich bedroht hat. Deshalb möchte ich ihn nicht im Stich lassen, aber mir fehlt die zündende Idee. Da bist du mir eingefallen.«

»Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, lächelte Chris, doch dann wurde er ernst. Er dachte angestrengt nach, schüttelte aber nach einer Weile bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid, so schnell habe ich auch keine Lösung parat«, gestand er, und Isabel senkte enttäuscht den Kopf.

»Schade. Ich wollte ihm so gern helfen. Er ist ein echter Freund.«

»In diesem Fall denke ich noch mal darüber nach«, versicherte er ihr, doch nach einem Blick auf die Uhr wurde er auf einmal hektisch. »Ich habe noch einen Termin für ein Vorbereitungsgespräch!« stieß er hervor, und gab Isa einen schnellen Abschiedskuß.

Dann war er auch schon verschwunden.

»Worauf habe ich mich da eingelassen?« seufzte sie und begann nachdenklich, ihre Sachen zusammenpacken.

Mitten in der Nacht klingelte das Telefon. Verstört suchte Isabel den Lichtschalter und hob dann ab.

»Isa, ich hab’s!« rief ein hellwacher Christoph in den Hörer.

»Was hast du? Und wie spät ist es eigentlich?« fragte sie verschlafen.

»Es ist halb drei, und ich weiß, wie wir dem vierten Mann eine Falle stellen!« rief er triumphierend.

Bei dieser hoffnungsvollen Nachricht war auch Isabel auf einmal hellwach.

»Wie denn?«

»Kannst du damit leben, zwei Tage länger in der Klinik zu bleiben?«

»Was soll das bringen?«

Kurz erklärte Christoph ihr seinen Plan, und Isabel war begeistert.

»Das könnte tatsächlich klappen!«

»Zumindest können wir es versuchen. Falk soll morgen gleich mit der Polizei sprechen und alles in die Wege leiten.«

»Du bist ein Genie!«

»Das sagst du mir bitte noch einmal, wenn es geklappt hat!« bat er, bevor er sich verabschiedete.

Helmut Gröschel war sprachlos, als Falk ihn am nächsten Tag nach seinem Telefonat mit Isabel von einem Plan zur Festnahme Peter Schrödels berichtete.

»Das ist schlichtweg gut. Er muß darauf hereinfallen!« erklärte auch er begeistert.

»Aber ich brauche dazu Ihre Hilfe!« bat Falk, die ihm ohne Zögernd zugesichert wurde. Die Vorbereitungen wurden sofort aufgenommen. Es waren mehrere Gespräche mit der Presse und dem Fernsehen nötig, aber Helmut Gröschel ließ seine guten Beziehungen spielen, und schließlich war alles unter Dach und Fach.

Als Falk am Abend das Regionalfernsehen einschaltete, wurde dort ein ausführlicher Bericht über Achim Welser ausgestrahlt, der tagsüber eilig aus bereits vorhandenem Material zusammengeschnitten worden war. Nicht nur die Familie von Langen und Isabel Rosner verfolgten den Bericht gespannt.

Auch Peter Schrödel saß vor seinem Fernsehgerät. Seine Augen funkelten, als die Reporterin den letzten und entscheidenden Satz verlas.

»Das letzte Opfer Achims hat sich in der Privatklinik Dr. Behnisch inzwischen soweit erholt, daß es morgen früh um zehn Uhr die Klinik in Begleitung Ihres Lebensgefährten, der den entscheidenden Hinweis zur Festnahme Welsers gegeben hat, verlassen kann.«

Mit diesem Hinweis endete die Sondersendung, und Schrödel lachte heiser.

Das ist die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe, dachte er schadenfroh. In seinem Eifer bedachte er nicht, daß es recht ungewöhnlich war, einem Kleinkriminellen wie Welser soviel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Peter Schrödel war so in seinen Rachegedanken gefangen, daß er ahnungslos in die für ihn vorbereitete Falle tappte.

Kurz vor zehn Uhr am nächsten Morgen ging Isabel aufgeregt in ihrem Zimmer auf und ab. Sie war nicht allein, und Christoph Bachmann versuchte ihre Ängste so gut es ging irgendwie zu zerstreuen.

»Was machen wir, wenn es nicht klappt?« fragte sie nervös.

»Schlimmstenfalls kommt er nicht«, versuchte er sie zu beruhigen.

»Aber wenn er einen Anschlag vorbereitet hat?«

»Die Beamten sind gut vorbereitet. Es wird nichts geschehen!« Seine Stimme klang zuversichtlich.

»Hoffentlich hast du recht!« seufzte Isabel. Da läutete das Telefon und Chris hob sofort ab. Er war genauso aufgeregt wie Isa, doch er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr das zu gestehen.

»Alles klar?« fragte er und legte dann zufrieden auf. »Das war das Startzeichen, es kann losgehen.« Er gab Isa einen letzten Kuß auf die Stirn und öffnete ihr dann die Tür, durch die sie zögernd auf den Klinikflur trat.

Kurz darauf hatte sie den Eingang erreicht. Einige Reporter standen schon bereit, um Aufnahmen zu machen. Auch Falk war da, um sie vor den Wartenden, deren Neugier durch die Reportage am Abend zuvor geweckt worden war, filmreif zu begrüßen. Helmut Gröschel und seine Beamten hielten sich im Hintergrund. Sie waren in Zivil, um keinen Verdacht zu erregen und sahen sich unauffällig, aber nicht minder aufmerksam um.

Auf einmal stieß Gröschel seinen Kollegen in die Seite.

»Es klappt. Da ist er!« flüsterte er und machte ein Zeichen. Der Beamte schaute so unauffällig wie möglich in die Richtung, und tatsächlich, Peter Schrödel hatte sich unter die Zuschauer gemischt und stand einige Meter entfernt schräg hinter ihnen.

»Was hat er vor?« raunte Gröschel und beobachtete Schrödel aufmerksam. Dieser war für die Jahreszeit viel zu warm gekleidet und hielt unter seiner Jacke einen Gegenstand versteckt.

Plötzlich wußte Gröschel, was Peter Schrödel zu tun gedachte. Er zögerte keinen Augenblick und schob so unauffällig wie möglich an den Schaulustigen vorbei, bis er knapp hinter dem Verbrecher zum Stehen kam. Es war keine Minute zu früh, denn in diesem Moment zog Schrödel die Waffe hervor, die er unter seiner Jacke verborgen hatte und zielte auf Falk von Langen, der nur einige Meter entfernt mit Isabel zum Wagen ging.

»Rache für Welser!« schrie er hysterisch, und die Umstehenden wichen mit einem Aufschrei zur Seite. Doch bevor sich ein Schuß aus der Waffe lösen konnte, holte Gröschel aus und versetzte dem Verbrecher einen heftigen Schlag auf den Kopf.

Mit einem Aufschrei ließ Schrödel die Waffe fallen und griff sich taumelnd an den Kopf. Diesen Moment nutzten die Beamten und umringten ihn.

Peter Schrödel hatte keine Chance. Das Spiel war aus.

An diesem Abend herrschte lebhaftes Treiben im Calimero und ausnahmsweise konnte Falk einmal nach Herzenslust mitfeiern. Ausgelassen saß er am Tisch neben Leslie und erzählte wohl zum wiederholten Male, was sich an diesem Morgen vor der Behnisch-Klinik zugetragen hatte. Auch Isabel und Christoph waren mit von der Partie, hielten sich jedoch zurück und lauschten lächelnd Falks Erzählungen, die nach jedem Bier ein wenig abenteuerlicher wurden. Leslie zuckte mit den Schultern und warf den beiden einen entschuldigenden Blick zu, doch Isa hatte Verständnis für seine ausgelassene Stimmung.

Ihr selbst war noch nicht zum Reden zumute. Zu tief saß ihr der Schreck noch in den Gliedern, und sie versuchte nicht daran zu denken, was alles hätte passieren können.

»Du siehst müde aus! Wollen wir gehen?« erkundigte sich Chris fürsorglich, als er bemerkte, daß Isabel verstohlen gähnte.

»Wenn du nichts dagegen hast?« erwiderte sie leise. In dem allgemeinen Trubel fiel es nicht auf, daß sich die beiden heimlich zurückzogen. »Mir ist das alles zuviel«, gestand sie, als sie schließlich im Freien standen. Sie atmete tief ein und seufzte dann.

»Geht es dir gut?« erkundigte sich Chris vorsorglich.

»Abgesehen von meinen angegriffenen Nerven könnte es mir nicht bessergehen. Dank dir sind nun alle vier Verbrecher hinter Schloß und Riegel, ich bin fast wieder gesund, und die Semesterferien haben begonnen«, zählte sie auf.

»Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?«

»Laß mich mal nachdenken...«, tat sie verwundert, doch dazu blieb ihr keine Zeit mehr, denn seine Arme umschlangen sie und seine Lippen suchten die ihren.

*

Die Familie Norden saß fröhlich am Frühstückstisch auf der Terrasse und ließ sich die frischen Semmeln schmecken. Nur Jan und Dési waren nicht mit von der Partie. Sie waren schon wieder mit ihrer Omi unterwegs, die ein paar Rosen für die Vasen der Tische im Restaurant schneiden wollte.

»So läßt es sich aushalten«, seufzte Daniel zufrieden und streckte die Beine aus.

»Glaub nur nicht, daß unser Leben hier immer so unbeschwert und entspannt sein wird, wenn wir erst einmal das Sanatorium übernommen haben«, lachte Fee vergnügt.

»Das macht überhaupt nichts. Wie du weißt, arbeite ich für mein Leben gern. Was wichtig ist, ist die Umgebung...«

»Und die ist einfach perfekt hier!« beendete sie seinen Satz. »Ich fühle mich so frisch und erholt wie schon lange nicht mehr.«

»Du siehst auch so aus. Ehrlich gesagt habe ich mir in letzter Zeit große Sorgen um dich gemacht. Die Krankheit hat dir mehr zugesetzt, als du zugegeben hat«, stellte er nachdenklich fest.

»Ich wollte euch nicht beunruhigen«, gab sie zögernd zu.

»Wir sollten ernsthaft besprechen, wann wir hierher übersiedeln. Deine Gesundheit geht mir über alles. Wenn es nötig ist, gebe ich die Praxis eben jetzt schon auf.«

Fee sah ihn gerührt an. Sie wußte, welches Opfer dieser Schritt für Daniel bedeuten würde. »Wir dürfen nichts überstürzen, schon der Kinder wegen. Es wäre eine große Umstellung für sie, wenn wir sie aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen.«

»Trotzdem!« beharrte Daniel. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, wurde ihr Gespräch unterbrochen. Das Telefon klingelte. Er erhob sich, um das Telefonat entgegenzunehmen.

»Isabel Rosner hat sich entschlossen, uns für einige Zeit Gesellschaft zu leisten«, erklärte er zufrieden, als er kurz darauf wieder nach draußen kam.

»Wie schön!« freute sich Fee sofort.

»Das finde ich auch. Im Moment wüßte ich keinen Menschen, der Ruhe und Erholung nötiger hat als sie.«

Jenny Behnisch hatte die Nordens über die Neuigkeiten in München auf dem laufenden gehalten.

Fee schauderte es immer noch, wenn sie daran dachte, was Isabel alles durchgemacht hatte.

»Allerdings hat sie angefragt, ob sie jemanden mitbringen darf.«

»Ich wußte gar nicht, daß sie einen Freund hat.« Fee wunderte sich, doch Daniel wußte längst Bescheid, denn auch damit hatte Jenny nicht hinter dem Berg gehalten. Kurz klärte er seine Frau auf. »Es scheint mir, als stünde uns wieder einmal eine Arztehe ins Haus«, bemerkte sie daraufhin und sah ihn lächelnd an.

»Wie kann man nur einen Arzt heiraten?« ging Daniel sofort auf ihren scherzhaften Ton ein.

»Das frage ich mich auch!« murmelte sie noch, bevor er ihr den Mund mit einem langen, zärtlichen Kuß verschloß.

Familie Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman

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