Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Vertieft in eine angeregte Diskussion verließ Fee Norden zusammen mit einigen Müttern die Aula des Gymnasiums, das ihre drei Kinder Anneka, Felix und Danny besuchten. An diesem Abend hatte ein Vortrag zum Thema ›Gewalt in der Schule‹ stattgefunden, der gut besucht gewesen war. Diesmal hatten auch zahlreiche Väter an der Veranstaltung teilgenommen. Es war ein Thema, das wegen seiner Aktualität jeden interessierte. Obwohl Fee sich in dieser Hinsicht keinerlei Sorgen zu machen brauchte, hatte sie den Worten des Referenten aufmerksam gelauscht.

Schließlich zerstreute sich die kleine Gruppe und auch Fee machte sich auf den Nachhauseweg. Es war ein bewölkter Abend im Juli, und die Sommerferien rückten immer näher. Der Tag war unangenehm schwül gewesen, doch die Nacht schien die ersehnte Abkühlung zu bringen. Am Abendhimmel türmten sich große Haufenwolken, und entfernt war bereits Donnergrollen zu hören. Fee beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte nicht vor, sich von dem Gewitter überraschen zu lassen und bereute es fast schon, diesmal nicht den Wagen genommen zu haben, als sie ein leises Schluchzen aufhorchen ließ.

Abrupt blieb sie stehen und blickte sich suchend um. Sie befand sich in einer ruhigen Seitenstraße, die nur schlecht durch ein paar Laternen beleuchtet war. Suchend glitt ihr Blick den Gehweg entlang, der von Büschen und Bäumen gesäumt war. Da war es schon wieder! Diesmal vernahm sie das Geräusch ganz deutlich und wandte sich in die Richtung, aus der es gekommen war.

Leise folgte Fee dem Weinen und bemühte sich, möglichst wenig Geräusche zu machen, während sie die Zweige eines Busches auseinanderbog. Trotzdem verstummte das Schluchzen, und nichts war mehr zu hören. So sehr sie auch in das Gebüsch spähte, konnte Fee in der hereinbrechenden Dunkelheit nichts erkennen. Sie wollte sich schon umdrehen, um ihren Weg nach Hause fortzusetzen, als plötzlich etwas an ihr vorbeihuschen wollte. Fee schrie vor Schreck laut auf.

»Bitte, bitte, tun Sie mir nichts!« wimmerte da eine zarte Mädchenstimme.

Erleichtert stöhnte Fee auf.

»Hast du mich erschreckt«, seufzte sie und blickte auf die schemenhafte Gestalt eines jungen Mädchens, das jetzt zitternd vor ihr stand.

»Sie dürfen mich nicht verraten. Ich will nicht zurück ins Heim«, bat es mit flehender Stimme.

»Jetzt komm erst einmal mit ins Licht. Ich kann ja gar nicht sehen, mit wem ich da überhaupt spreche«, sagte Fee sanft und zog das widerstrebende Mädchen an der Hand aus dem Gebüsch hinaus auf den Weg.

»Du meine Güte, wie siehst du denn aus! Du bist ja leichenblaß!« Im schwachen Schein einer Straßenlaterne schaute Fee erschrocken auf die junge Frau. »Und schwanger!« rief sie aus, während ihr Blick weiterwanderte. Das Mädchen vor ihr war kaum älter als fünfzehn Jahre und stand offenbar kurz vor der Niederkunft.

»Mir ist so schlecht! Ich kann nicht mehr.« Tränen quollen aus ihren Augen.

»Wie lange hast du noch bis zur Entbindung?« erkundigte sich Fee besorgt.

»Zwei oder drei Wochen. Ich weiß es nicht genau.«

»Hast du Schmerzen?«

»Mein Bauch tut weh, und mir ist so komisch.«

»Kommt und geht der Schmerz, oder ist er immer da?« erkundigte sich Fee hastig und berührte die Stirn des Mädchens. Sie war kalt, aber dennoch schweißnaß.

»Es tut immer weh«, flüsterte diese mit letzter Kraft und sank zu Boden.

Fee konnte sie gerade noch halten.

»Du mußt sofort in eine Klinik!« stieß Fee hervor und blickte sich suchend um. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Alle hatten sich vor dem drohenden Gewitter in ihre Häuser zurückgezogen. Erste dicke Tropfen klatschten auf den Asphalt, und ein bedrohliches Grollen verschlimmerte Fees Sorgen nur noch. Ihr war klar, daß sie keine Minute verlieren durfte. Vorsichtig ließ sie das ohnmächtige Mädchen zu Boden gleiten und lehnte es an einen Baumstamm, bevor sie über ihr Handy ihren Mann Daniel verständigte. Glücklicherweise war er gleich am Apparat, da er sich bei dem einsetzenden Gewitter Sorgen über den Verbleib seiner Frau gemacht hatte.

»Da bist du ja, Feelein. Ist etwas nicht in Ordnung?« Ihr aufgeregter Tonfall hatte ihn gleich hellhörig gemacht.

»Du mußt sofort kommen. Ich habe ein junges hochschwangeres Mädchen gefunden. Sie ist ohnmächtig, wahrscheinlich hat sie eine Gestose. Bitte komm sofort!« Schnell nannte sie ihm den Straßennamen, und er versicherte ihr, gleich da zu sein.

Erleichtert steckte Fee das Telefon zurück in ihre Tasche. Da kam ihr ein neuer Gedanke. Ich hätte Daniel sagen sollen, daß er Schorsch Leitner informieren soll, ging es ihr durch den Kopf. Doch dazu war es jetzt zu spät. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Der Regen prasselte inzwischen heftig, und Blitze zuckten über den nachtschwarzen Himmel. Es hatte keinen Sinn, sich vor der Nässe schützen zu wollen und so kniete Fee neben der jungen Frau nieder und legte die Hand auf den gewölbten Leib. Sie spürte einen zornigen Tritt und mußte trotz ihrer Verzweiflung lächeln. Das kleine Wesen, das seiner Mutter schon jetzt Kummer bereitete, war offenbar sehr lebenstüchtig.

Nach scheinbar endlosen Minuten vernahm Fee auf einmal Motorengeräusche und blickte erleichtert auf.

»Da bist du ja!« rief sie, als der Wagen neben ihr hielt und die vertraute Gestalt ihres Mannes neben ihr auf den Bürgersteig trat.

»Schneller ging es nicht. Du bist ja klatschnaß.«

»Das ist jetzt nicht so wichtig. Hilf mir, die Kleine in den Wagen zu heben!« Sie deutete auf die immer noch bewußtlose Gestalt.

»Ich habe schon mit Schorsch telefoniert. Wir können sie gleich in die Leitner-Klinik bringen.«

»Du kannst Gedanken lesen!« stellte Fee fest, während sie das Mädchen vorsichtig auf den Rücksitz betteten.

»Nur deine«, lächelte er.

»Das genügt auch.«

»Hier sind Handtücher. Lenni hat sie mir mitgegeben.« Fürsorglich reichte er Fee, die neben dem Mädchen Platz genommen hatte, zwei weiche Frotteetücher, die sie dankbar entgegennahm. Notdürftig trocknete sie zuerst das Mädchen und dann sich ab, doch die nassen Kleider mußte sie vorerst anbehalten.

Da zu dieser Zeit nicht viel Verkehr herrschte, hatten sie kurz darauf ihr Ziel erreicht. An der Notaufnahme wurden sie bereits von Hans-Georg Leitner, von seinen Freunden Schorsch genannt, erwartet. Routiniert half er, das Mädchen vom Wagen auf eine Liege zu heben, als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte.

»Wo bin ich?« stammelte sie erschrocken und zitterte vor Kälte.

»Es ist alles gut. Wir haben dich in eine Klinik gebracht, weil du sehr krank bist«, erklärte Fee leise. Doch diese Nachricht schien die junge Frau nicht zu beruhigen. Erschrocken weiteten sich ihre Augen.

»In eine Klinik? Aber da werden sie mich finden und zurückbringen. Und ich will nicht zurück!« stieß sie verzweifelt hervor.

Erstaunt sah Daniel sie an. »Wohin zurück?« fragte er, doch Fee machte ihm ein Zeichen, nicht weiter in sie zu dringen, denn sie hatte bemerkt, wie sich die Miene des Mädchens bei dieser Frage trotzig verschlossen hatte. Doch

es blieb ohnehin keine Zeit für weitere Nachforschungen, denn Schorsch begann sofort mit den Untersuchungen, nachdem er eine wärmende Decke über das Mädchen gebreitet hatte. Schweigend standen Fee und Daniel neben ihm und beobachteten, wie er Puls und Blutdruck maß.

»Dein Verdacht scheint sich nicht zu bestätigen«, sagte er schließlich zu Fee und warf einen nachdenklichen Blick auf die Schwangere.

»Der Blutdruck ist zwar erhöht, aber eine Gestose kann ich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.«

»Dann kann ich jetzt wieder gehen?« Obwohl sie immer noch sehr blaß war, hellte sich die Miene des Mädchens bei diesem Gedanken merklich auf.

»Geht es dir schon wieder so gut?« fragte Fee überrascht, doch Schorsch fiel ihr ins Wort.

»Davon kann keine Rede sein. Vorerst mußt du zur Beobachtung hierbleiben. Wir müssen auf Nummer Sicher gehen, daß mit dir und deinem Baby wirklich alles in Ordnung ist. Doch bevor ich dich gründlich untersuche, muß ich wissen, wie du heißt.«

Verzweifelt sah das Mädchen Fee an. Diese überlegte nicht lange und zog Schorsch zur Seite. »Ist es nicht möglich, daß sie heute nacht ohne Angaben hierbleibt?« fragte sie flüsternd.

Schorsch schaute sie erstaunt an. »Das ist eigentlich nicht üblich.«

»Kannst du nicht eine Ausnahme machen? Ich glaube, die Kleine hat große Probleme. Offenbar ist sie davongelaufen und hat große Angst davor, gefunden zu werden. Morgen früh kann ich sicher in Erfahrung bringen, was geschehen ist.«

»Wie willst du das anstellen?«

»Wenn sie vermißt wird, gibt es sicher bald eine Durchsage in den Nachrichten. Dann ist es ein Leichtes, alles andere herauszufinden«, kam Daniel seiner Frau zu Hilfe.

»Also gut. Aber morgen muß ich wissen, wer sie ist«, erklärte Dr. Leitner nach kurzem Zögern.

»Ich danke dir, Schorsch.«

»Keine Ursache. Jetzt solltest du dich aber lieber um deine Frau kümmern, damit sie nicht krank wird. Sie ist ja bis auf die Haut durchnäßt«, sagte dieser und blickte besorgt auf Fee, die wie ein begossener Pudel aussah. Sie hatte bereits blaue Lippen vor Kälte, ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Ich halte schon was aus. Bitte kümmert euch gut um die Kleine.«

»Keine Sorge. Es wird ihr hier an nichts fehlen«, versicherte Schorsch noch einmal. Fee warf einen aufmunternden Blick auf das verstörte Mädchen. Dann verließ sie sichtlich beruhigt mit Daniel die Klinik und gemeinsam fuhren sie nach Hause.

»Liebe Güte, wie sehen Sie denn aus?« Lenni schlug erschrocken die Hände zusammen, als Daniel seine durchnäßte Frau nach Hause gebracht hatte.

»Jetzt bin ich wirklich froh, wenn ich aus den nassen Kleidern herauskomme«, gestand Fee zähneklappernd.

»Am besten nehmen Sie ein heißes Bad. Ich mache inzwischen einen starken Grog, der wird Sie zusätzlich wärmen.«

»Vielen Dank, Lenni. Ich komme dann herunter.«

»Nichts da. Sie gehen nach dem Bad schön ins Bett. Der Herr Doktor bringt Ihnen dann den Grog«, entschied Lenni resolut.

Tatsächlich war Fee heilfroh, als sie endlich in ihrem Bett lag und das heiße, starke Gebräu in kleinen Schlucken trank. Daniel hatte sich zu ihr ans Bett gesetzt und betrachtete sie besorgt.

»Puh, mit Rum hat Lenni dieses Mal nicht gespart«, erklärte Fee und verzog das Gesicht.

»Sie meint es ja nur gut«, nahm Daniel die Haushälterin in Schutz. »Offenbar fürchtet sie auch, daß du krank werden könntest.«

»Wer noch?« erkundigte sich Fee lächelnd.

»Ich natürlich. Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«

»Das kommt von dem Schreck, den mir die Kleine eingejagt hat.« Jetzt erst fand sie Gelegenheit, Daniel zu erzählen, wie sie das Mädchen gefunden hatte.

»Du hast mal wieder Nerven bewiesen. Viele andere Menschen wären wahrscheinlich schreiend davongelaufen.«

»Ich mußte ihr doch helfen«, sagte Fee nachdenklich. »Obwohl sie es gar nicht wollte. Ich frage mich, was sie zu verbergen hat. Sie macht nicht den Eindruck einer jungen, glücklichen Mutter«, fuhr sie dann fort.

»Dazu ist sie vermutlich viel zu jung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Baby geplant war.«

»Es gibt die erstaunlichsten Dinge auf dieser Welt. Gerade Kinder, die sich vernachlässigt fühlen, sehnen sich häufig nach einem kleinen Wesen, mit dem sie kuscheln können, das sie braucht und dem sie Liebe geben können.«

»Wie ich dich kenne, wirst du spätestens morgen herausgefunden haben, was die Kleine zu verbergen hat. Vorausgesetzt, du wirst nicht krank.«

»Ach, schau doch nicht so ernst drein!« versuchte Fee ihn zu beruhigen. Doch wenn sie ehrlich war, mußte sie sich eingestehen, daß sie sich tatsächlich nicht sehr wohl fühlte. »Nach ein paar Stunden Schlaf fühle ich mich wieder wie neugeboren«, erklärte sie und versuchte damit vor allem sich selbst zu beruhigen.

*

Zur selben Zeit blickte Marlene Gordon besorgt aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Wohnung. Das heftige Gewitter hatte sich inzwischen verzogen, doch der Regen prasselte immer noch gegen die Scheiben. Suchend schaute sie die Straße entlang, die unter ihr lag, doch das Auto ihres Mannes war immer noch nicht zu sehen.

Langsam wurde Marlene unruhig. Sie schob die Vorhänge wieder vors Fenster und holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, das sie in einem Zug leerte. Danach ging sie zurück ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Vorsichtig strich sie mit der Hand über ihren Bauch, und ein heißes Glücksgefühl durchströmte sie, vermischt mit einer vagen Sorge. Erst gestern hatte sie eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen lassen, um sicherzugehen, daß das Baby, das sich nach langen Jahren des Wartens nun endlich angekündigt hatte, auch gesund war. Es war bereits ihre vierte Schwangerschaft, doch jedes Mal hatte sie das Kind in den ersten Wochen wieder verloren. Jetzt befand sie sich schon im vierten Monat, und langsam wurde sie gelassener.

Marlene war inzwischen nicht mehr ganz jung, schon einundvierzig, und in den vergangenen Wochen hatte sie manchmal Zweifel gehabt, ob sie den Strapazen, die ein Baby mit sich brachte, auch noch gewachsen war. Doch dann überwog wieder die Freude über das späte Glück, und auch Sascha war außer sich gewesen, nun doch endlich Vater zu werden. Beide waren sich sicher, daß das Kind gesund war und hatten die Untersuchung als Routinemaßnahme betrachtet. Die Zeit verging, und Sascha kam nicht nach Hause. Marlene lag auf dem Bett, und die Augen fielen ihr zu. Doch kurz darauf schreckte sie hoch. Sie meinte, ein schwaches Ziehen im Unterleib zu spüren und versuchte sich einzureden, daß es nur ein Traum war. Doch kurz darauf kam es erneut, diesmal heftiger. Nur zu genau kannte sie dieses Gefühl, hatte sie doch bereits mehrere Fehlgeburten erlitten. Panik ergriff sie, so daß sie das Motorengeräusch, auf das sie so lange gewartet hatte, völlig überhörte.

Als Sascha kurz darauf leise die Wohnung betrat, erschrak er zutiefst. Aus dem Schlafzimmer drang ein markerschütterndes Weinen. Sofort ließ er die Aktentasche fallen, die er noch in der Hand hielt, stürmte ins Zimmer und machte Licht. Auf dem Bett saß tränenüberströmt seine Frau Marlene, die Hände voll Blut. Als sie ihn bemerkte, wandte sie ihm ihr verzweifeltes Gesicht zu. Sein Herz krampfte sich bei ihrem Anblick zusammen.

»Unser Kind...«, stammelte sie nur, und während er sie in seinen Armen wiegte, ließ sie ihrem Kummer über ihren zerstörten Traum freien Lauf.

*

Hans-Georg Leitner hatte inzwischen dafür gesorgt, daß das schwangere Mädchen einen wärmenden Schlafanzug aus dem Krankenhausfundus erhalten hatte. Danach hatte er weitere Untersuchungen durchgeführt, konnte aber keine Anzeichen für eine Gestose feststellen. Offenbar hatte die Aufregung, in der sie sich befand, als Fee sie gefunden hatte, die Bauchschmerzen und schließlich auch die Ohnmacht hervorgerufen.

»Willst du mir nicht verraten, wie du heißt?« fragte er fürsorglich, nachdem die Blutentnahme beendet war.

Schorsch saß an ihrem Bett und blickte gerührt in das verstörte Gesicht. Sie könnte meine Tochter sein, schoß es ihm einen Moment durch den Kopf.

Seitdem Fee und Daniel die Klinik verlassen hatten, hatte das Mädchen kein Wort mehr gesprochen, und auch jetzt schüttelte es nur den Kopf. Schorsch seufzte. »Wie du willst. Früher oder später werden wir es schon herausfinden«, erklärte er und erhob sich. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, und die Müdigkeit steckte ihm in den Knochen. Da betrat Schwester Klara mit ernstem Gesicht das Zimmer.

»Herr Dr. Leitner, es kommt noch ein Notfall. Frau Gordon hat das Kind verloren«, erklärte sie mit betretener Miene.

»O nein, auch das noch!« stöhnte er auf. Er warf einen letzten Blick auf das Mädchen und verließ mit einem knappen Gruß das Zimmer, um sich um Marlene und Sascha Gordon zu kümmern.

»Ich habe mein Kind verloren«, erklärte Marlene tonlos. Sie hatte keine Tränen mehr und sah Hans-Georg Leitner traurig an.

»Darf ich Sie untersuchen?« fragte er, obwohl er an dem Blut sah, daß sie zweifellos recht hatte.

Sie nickte wortlos, und so schob die Schwester das Bett, auf dem Marlene inzwischen lag, in ein Untersuchungszimmer. Während Sascha draußen wartete, übermannten ihn die Gefühle, die er bis dahin verdrängt hatte. Er schlug die Hände vors Gesicht und dachte an sein Kind, das sie verloren hatten.

»Warum, Herr Dr. Leitner, warum?« fragte Marlene inzwischen immer wieder. Die Ultraschalluntersuchung hatte letzte Sicherheit gebracht, der Fötus war tatsächlich abgegangen.

»Ich habe Ihnen erklärt, daß die Fruchtwasseruntersuchung gewisse Risiken birgt. Aber ich gehe eher davon aus, daß das Kind nicht gesund war. Sicher ist es ein Zufall, daß es nach der Untersuchung passiert ist«, versuchte Schorsch die verzweifelte Frau zu trösten, obwohl es ihm unendlich schwerfiel. Lange Zeit hatte er bereits mit dem sympathischen Paar gebangt und sich nach den letzten Fehlgeburten mit den beiden gefreut. Doch jetzt schienen alle Hoffnungen zerstört. In Marlenes Alter gab es kaum noch eine Chance auf eine weitere Schwangerschaft.

»Ich möchte das Untersuchungsergebnis der Amniozentese trotzdem haben«, erklärte Marlene leise. »Es wäre gut für mich zu wissen, daß ich das Kind nicht durch die Untersuchung verloren habe. Sonst muß ich mir mein ganzes Leben lang Vorwürfe machen.«

»Das dürfen Sie nicht, Frau Gordon«, bat Schorsch eindringlich, versprach aber, ihr die Ergebnisse mitzuteilen, als er ihren flehenden Blick sah. »Leider kann ich es Ihnen nicht ersparen, jetzt noch eine Ausschabung zu machen, um eine Infektion zu vermeiden«, fuhr er dann schweren Herzens fort.

»Es ist mir egal, was Sie tun«, erklärte Marlene unbeteiligt, und so blieb Herrn Dr. Leitner nichts anderes übrig, als den diensthabenden Arzt und eine Schwester über den bevorstehenden Eingriff zu informieren.

*

Als Fee am nächsten Morgen erwachte, wußte sie gleich, daß sie krank war. Ihr Kopf war schwer wie Blei, und sie konnte nur mit Mühe die Augen öffnen. Im Hals verspürte sie ein unangenehmes Kratzen.

»Jetzt habt ihr euch soviel Mühe mit mir gegeben, und ich bin trotzdem krank geworden«, flüsterte sie, als Daniel sie sorgenvoll betrachtete.

»Ich hätte mich zuerst um dich kümmern sollen, als um dieses Mädchen«, schimpfte Daniel, doch Fee legte ihre heiße Hand auf seinen Arm.

»Woher willst du wissen, daß sie nicht wirklich in Schwierigkeiten ist? Es tut mir gut, sie in Sicherheit zu wissen. Warte nur ab, in ein paar Tagen bin ich wieder auf dem Damm, dann wirst du froh sein, daß wir uns um sie gekümmert haben.«

»Du hast ja recht. Trotzdem ärgere ich mich. Ich hätte dich zuerst nach Hause bringen sollen.« Unwillig schüttelte er den Kopf.

»Erstens hätte ich das nicht zugelassen, und zweitens brauchen wir darüber nicht mehr nachzudenken«, lächelte Fee gequält. Es ging ihr schlechter, als sie zugeben wollte, doch sie wollte Daniel nicht beunruhigen.

»Also gut. Du bleibst heute schön im Bett, und Lenni wird dafür sorgen, daß du deine Ruhe hast. Wenn es dir heute mittag nicht bessergeht, verordne ich dir ein paar Medikamente«, erklärte Daniel streng.

»Jawohl, Herr Doktor«, entschlüpfte es Fee.

Er gab ihr einen Kuß auf die Wange.

Fee schloß erleichtert die Augen, als er das Zimmer verlassen hatte. Ein bißchen Ruhe würde ihr wirklich guttun.

Doch Daniel war ernsthaft in Sorge. Da Fee keinerlei Widerstand geleistet hatte, als er ihr Bettruhe verordnete, mußte es ihr wirklich sehr schlecht gehen.

»Fee ist krank«, murmelte er gedankenvoll, als er Lenni in der Küche traf, die zu einer Schlagermelodie aus dem Radio summte. Sofort stellte sie die Musik leiser.

»Hab’ ich es mir doch gedacht. Sie hatte heute nacht schon so schlecht ausgesehen«, erklärte diese. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor. Ich kümmere mich um die Kinder, damit sie rechtzeitig in die Schule kommen.«

»Das ist lieb von Ihnen. Die beiden Kleinen bringe ich mit dem Wagen in den Kindergarten und hole sie heute mittag auch wieder ab.«

»Dann ist ja alles in Butter«, stellte Lenni zufrieden fest, während sie Tee für Fee kochte. »Sie können schon frühstücken, Herr Doktor. Es ist alles fertig.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und stellte das Radio wieder lauter. Es war sieben Uhr und die Nachrichten wurden gesendet, die sie nicht verpassen wollte. Auch Daniel blieb interessiert in der Küche stehen. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht standen plötzlich wieder vor ihm, und er lauschte gebannt, ob das Verschwinden eines schwangeren Mädchens gemeldet wurde. Als er schon dachte, daß er umsonst gewartet hatte, ertönte endlich die ersehnte Nachricht.

»Und hier noch eine Suchmeldung der Polizei. Seit gestern morgen ist die fünfzehnjährige Yasmin Pecher aus dem Kinderheim abgängig. Das hochschwangere Mädchen ist circa einen Meter fünfundsechzig groß, hat braunes langes Haar und ist bekleidet mit einer Jeans und dunkelblauem Pullover. Sie benötigt dringend ärztliche Hilfe. Sachdienliche Hinweise melden Sie bitte der nächsten Polizeidienststelle.«

Daniel war zufrieden. »Da haben wir es ja«, erklärte er triumphierend. »Ich hätte nicht gedacht, daß es so einfach ist.«

Lenni sah ihn verständnislos an, doch es blieb ihm keine Zeit für Erklärungen. Eilig ging er die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo Fee gerade wieder eingeschlafen war. Sie schreckte hoch, als er eintrat.

»Was ist, wo bin ich?« fragte sie und blickte sich verwirrt um.

»Entschuldige, daß ich dich noch einmal störe, aber ich habe eine interessante Neuigkeit für dich.« Er wartete auf Fees Reaktion. Es dauerte eine Weile, bis seine Worte zu ihr durchdrangen, dann blickte sie ihn fragend an.

»Was ist passiert?«

»Das Mädchen in der Klinik heißt Yasmin Pecher und ist aus einem Kinderheim ausgerissen. Sie benötigt dringend ärztliche Hilfe«, erklärte er.

»Also doch!« murmelte Fee matt und ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken. »Du mußt mit Schorsch sprechen. Er darf sie auf keinen Fall abholen lassen.«

»Mach dir keine Sorgen, Schatz. Ich werde mich darum kümmern, daß alles so geschieht, wie du möchtest.«

»Du bist so lieb. Aber jetzt muß ich schlafen. Ich bin so müde.« Sie schloß die Augen, und nach kurzem Zögern verließ er sie, entschlossen, Lenni ein fiebersenkendes Mittel dazulassen, das sie ihr verabreichen sollte, wenn sie das nächste Mal erwachte.

»Wo ist denn Mami?« erkundigte sich Anneka verstört, als Daniel sie kurz darauf weckte.

»Es geht ihr nicht gut. Sie ist gestern abend auf dem Nachhauseweg in das Gewitter geraten und kam klitschnaß zu Hause an«, erklärte er. Mit keinem Wort erwähnte er die Geschehnisse der Nacht, um sich nicht in lange Erzählungen zu verstricken.

»Die Arme! Kann ich zu ihr?« Vor lauter Mitleid stiegen Anneka die Tränen in die Augen.

»Mami braucht jetzt viel Ruhe, damit sie bald wieder gesund ist. Das verstehst du doch?«

Anneka nickte. »Aber heute nachmittag darf ich sie doch sehen, oder?« bat sie, und Daniel gab sich geschlagen.

»Aber nur ganz kurz. Ihr sollt euch ja auch nicht anstecken.«

»Was soll Anneka sich nicht anstecken?« ertönte es da von der Tür. Der kleine Jan hatte gelauscht und konnte jetzt seine Neugier nicht länger verbergen.

»Du sollst doch nicht heimlich lauschen, du kleiner Racker!« schmunzelte Daniel, während er Jan auffing, der freudig auf ihn zustürzte.

»Ich hab’ doch nur ein kleines bißchen gehört. Außerdem hab’ ich gar nichts verstanden.«

»Mami ist krank und muß im Bett bleiben. Wir dürfen sie nicht sehen«, erklärte Anneka traurig.

»Au Backe, dann geht es ihr aber schlecht!« entfuhr es Jan. Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Mutter einen Tag im Bett verbracht hatte.

»Aber sie hat mir doch versprochen, heute einen schönen Zopf zu flechten«, jammerte Dési, die jetzt auch in Annekas Zimmer erschien.

Daniel stöhnte auf, doch gerade im rechten Augenblick kam ihm Lenni zu Hilfe.

»Schluß jetzt mit den Diskussionen. Jan und Dési, kommt mit, dann wollen wir mal sehen, was ihr heute anzieht. Und das mit dem Zopf wird die alte Lenni doch auch noch hinkriegen«, schmunzelte sie.

Dési schmiegte sich liebevoll an sie.

»Du bist lieb, Lenni. Und für Mami male ich ein schönes Bild im Kindergarten, damit sie bald wieder gesund ist.«

Inzwischen hatten sich auch Felix und Danny fertig gemacht und kabbelten sich bereits am Frühstückstisch.

Endlich hatten alle Kinder gefrühstückt und ihre Pausenbrote eingepackt, die Lenni ihnen zurechtgemacht hatte. Dann wurde es Zeit zum Aufbruch. Als sich die Tür hinter ihnen schloß, seufzte Lenni tief. Manchmal war das Leben mit der Familie Norden sehr turbulent, doch für nichts auf der Welt würde sie es tauschen wollen. Nach ein paar Minuten Erholung machte sie sich an die Arbeit. Sie deckte den Tisch ab und machte dann ein Tablett mit Kräutertee, Honig und Zwieback für Fee zurecht, das sie behutsam ans Bett der schlafenden Kranken stellte.

*

Als Marlene Gordon an diesem Morgen in der Klinik in ihrem Einzelzimmer erwachte, fühlte sie eine schreckliche Leere in sich. Sie hatte das Kind, um das sich in den letzten Wochen all ihre Gedanken gedreht hatten, letztendlich doch verloren und wußte nicht, wie sie diese Lücke jemals wieder schließen sollte. Sie schrak zusammen, als es leise an ihre Tür klopfte.

»Ja, bitte?« antwortete sie matt und ihr Mann kam mit einem großen Strauß roter Rosen herein.

»Leni, Liebling. Wie geht es dir?« fragte er und zog sich einen Stuhl heran.

Er hatte diese Situation schon so oft erlebt, doch noch nie war ihm seine Frau so deprimiert erschienen.

»Wir werden niemals ein Kind haben«, antwortete sie leise und blickte aus dem Fenster.

»Das darfst du nicht sagen. Vielleicht bekommen wir noch eine Chance.« Sascha versuchte, seiner Stimme einen optimistischen Klang zu geben.

»So lange habe ich noch nie ein Kind behalten und es trotzdem verloren. Ich habe nicht mehr die Kraft, das noch einmal durchzumachen.«

Sascha wußte, daß sie recht hatte, doch er wollte sie um jeden Preis aufmuntern. Seine eigene Verzweiflung über den Verlust war groß genug, doch Marlenes Trauer machte ihm fast noch mehr zu schaffen.

»Wir werden eine Lösung finden. Vielleicht machen wir eine lange Reise, um Abstand zu gewinnen. Und dann adoptieren wir ein kleines armes Kind aus dem Ausland.« Über die Möglichkeit einer Adoption hatten die beiden schon oft gesprochen und sich auch schon erkundigt, doch waren sie von den Behörden als zu alt abgelehnt worden.

»Ich will kein Kind kaufen, Sascha. Es gibt so wenige seriöse Kindervermittlungen. Niemals könnte ich den Gedanken ertragen, daß einer Mutter ihr Kind gestohlen wird, nur damit es bei uns aufwachsen kann. Kinder sind keine Ware.«

»Ich bin derselben Meinung wie du, Leni!« Sanft streichelte er ihre Hand. Obwohl sie schon seit fünfzehn Jahren verheiratet waren, verband sie eine zärtliche Liebe. »Aber was sollen wir tun?«

»Wir werden uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, keine Kinder zu haben.«

»Und keine Enkelkinder. Unser Leben wird weitergehen, wir werden älter werden und sterben und keinen wird es kümmern«, beendete Sascha ihren Satz voll Bitterkeit. Überrascht sah Marlene auf. Keine Sekunde hatte sie bisher an die Gefühle ihres Mannes gedacht.

»Fällt es dir auch so schwer wie mir?« fragte sie leise.

Mit Tränen in den Augen nickte er und legte den Kopf in ihren Schoß. Lange streichelte sie über sein Haar. Hans-Georg Leitner klopfte und betrat das Zimmer. Gerührt stand er in der Tür und betrachtete das Bild, das sich ihm bot. Weder Marlene noch Sascha hatten den Arzt bemerkt, so sehr waren sie mit sich und ihrem Schmerz beschäftigt. Schließlich räusperte sich Schorsch, und Marlene blickte überrascht auf.

»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Leitner. Wir haben Sie gar nicht bemerkt.« Verlegen erhob sich Sascha Gordon und reichte dem Arzt die Hand.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut, daß ich Ihnen nicht helfen konnte.«

»Das brauchen Sie doch nicht. Sie haben so viele Jahre mit uns gehofft und gelitten. Dafür möchten wir Ihnen danken«, sagte Marlene leise und streckte ihm die Hände entgegen. Schorsch ergriff sie und stand einen Moment stumm vor ihr. Schließlich drückte er ihre Hände aufmunternd und ließ sie dann los. Ein Gedanke war ihm gerade durch den Kopf geschossen, der ihn merkwürdig bewegte, doch wagte er noch nicht, ihn zu diesem Zeitpunkt zu äußern. Zuerst mußte er genau darüber nachdenken und den Rat von Daniel Norden einholen.

Marlene hatte seine Erregung bemerkt und sah ihn erwartungsvoll an.

»Müssen Sie uns noch etwas sagen, Herr Dr. Leitner?«

Auch Sascha blickte interessiert auf.

»Haben Sie womöglich schon Untersuchungsergebnisse?«

»Nein, nein, das dauert sicher noch zwei Wochen«, beeilte sich Schorsch zu sagen. »Fühlen Sie sich wohl in Ihrem Einzelzimmer, oder hätten Sie gern Gesellschaft?« wechselte er dann schnell das Thema, bevor einer der beiden weitere Fragen stellen konnte.

»Vielleicht würde dir eine Zimmergenossin guttun«, griff Sascha die Anregung sofort auf.

Doch Marlene war skeptisch.

»Ich glaube, ich muß das alles erst noch verdauen. Es ist noch zu frisch, daß ich mit jemand Fremden darüber sprechen könnte oder möchte.«

»Das kann ich verstehen. Wir werden uns in ein oder zwei Tagen noch einmal darüber unterhalten«, entgegnete der Arzt verständnisvoll.

»Wie lange werde ich hierbleiben müssen?« erkundigte sich Marlene.

»Um Nachblutungen zu vermeiden, würde ich ein paar Tage Ruhe empfehlen. Aber wenn Sie natürlich den dringenden Wunsch haben, die Klinik zu verlassen, werde ich Sie nicht daran hindern.«

»Sie haben mich in den vergangenen Jahren so gut betreut, da werde ich mich ganz auf Ihren Rat verlassen.«

»Leider hat all die gute Betreuung letztendlich keinen Erfolg gehabt«, entfuhr es Schorsch.

»Das ist nicht Ihre Schuld. Gottes Wege sind unergründlich«, sagte Marlene mit Tränen in den Augen, und Sascha drückte fest ihre Hand.

Schließlich verabschiedete sich Hans-Georg Leitner und eilte in sein Büro. Er mußte unbedingt mit Daniel sprechen. Doch dieser war ihm zuvorgekommen. Schwester Anna drückte ihm einen Zettel mit zwei Telefonnummern in die Hand.

»Herr Dr. Norden hat angerufen und bittet um dringenden Rückruf. Und die Polizei bat um Auskunft, ob ein junges Mädchen namens Yasmin Pecher bei uns eingeliefert wurde. Ich habe dem Beamten gesagt, daß Sie sich baldmöglichst melden werden.«

»Vielen Dank, Schwester. Ich werde mich gleich darum kümmern«, versicherte er der zuverlässigen Anna und schloß die Tür hinter sich. Einen Augenblick überlegte er, wen er zuerst anrufen sollte und entschied sich dann, einer Eingebung folgend, für seinen Freund Daniel Norden.

*

Fee erwachte am Vormittag mit hämmernden Kopfschmerzen. Noch immer war ihr sehr heiß, und zudem machte ihr ein lästiger Hustenreiz das Leben schwer. Einen Moment lang sammelte sie sich, dann versuchte sie aufzustehen, um ins Bad zu gehen.

Lenni war gerade in der Küche, als sie ein polterndes Geräusch im oberen Stockwerk hörte. Erschrocken ließ sie das Geschirrtuch fallen, mit dem sie gerade einen Topf abgetrocknet hatte und eilte nach oben.

»Frau Doktor, ist alles in Ordnung?« rief sie voll Angst, doch sie bekam keine Antwort. Kurz darauf sah sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Fee Norden lag besinnungslos vor dem Bett.

Lenni zögerte keinen Augenblick. Sie lief ins Bad, befeuchtete einen Waschlappen mit kaltem Wasser und eilte zurück zu Fee. Vorsichtig legte sie ihr das kalte Tuch auf die Stirn, und tatsächlich begann sich Fee kurz darauf zu regen. Endlich schlug sie die Augen auf, und Lenni seufzte erleichtert.

»Wo bin ich? Was ist...« Ein heftiger Hustenanfall machte ihr das Weitersprechen unmöglich.

»Ganz ruhig, Frau Doktor. Ich bin ja hier. Soll ich Ihren Mann rufen?«

Fee schüttelte immer noch hustend den Kopf. Endlich ließ der Anfall nach, und sie versuchte sich erschöpft aufzusetzen. Lenni half ihr dabei. Schließlich lag sie wieder wohlbehalten im Bett und atmete heftig vor Anstrengung.

»Was machen Sie nur für Sachen?« schalt Lenni, die sich von ihrem Schrecken erholt hatte. Doch sie erwartete keine Antwort auf ihre Frage, denn sogleich fuhr sie fort: »Ihr Mann hat ein fiebersenkendes Mittel dagelassen. Das werde ich jetzt holen. Inzwischen ruhen Sie sich aus. Ich bin gleich wieder da.« Als sie an der Tür war, warf sie noch einen forschenden Blick zurück, als erwartete sie, daß Fee sich sofort wieder aus dem Bett stehlen wollte. Diese bemerkte es und mußte trotz ihres schlechten Zustandes lächeln.

»Ich laufe schon nicht davon«, krächzte sie. »Eigentlich wollte ich nur ins Bad und mich ein wenig frisch machen.«

Doch Lenni schüttelte nur verständnislos den Kopf und machte sich auf den Weg nach unten, um die Medikamente zu holen.

*

Daniels treue Assistentin Wendy saß an ihrem Platz und drückte einen Knopf der Telefonanlage. »Hans-Georg Leitner ist für Sie am Apparat. Soll ich durchstellen?« fragte sie und legte auf, als Daniel bejahte. Es war ihr immer ein wenig unangenehm, an ihrem Arbeitsplatz mit Schorsch Leitner zu telefonieren. Die beiden verband eine lockere Freundschaft, und vor einiger Zeit wollte er sie sogar dazu überreden, zur Leitner-Klinik zu wechseln. Doch Wendy war vernünftig genug zu wissen, daß man Freundschaft und Beruf tunlichst trennen sollte und hatte es verstanden, sein Angebot abzulehnen, ohne ihn zu verletzen. So trafen sie sich hin und wieder am Abend, um gemeinsam zum Essen oder ins Kino zu gehen. Sie verstanden sich gut, und vielleicht würde eines Tages mehr daraus werden. Doch Wendy und Schorsch waren in einem Alter, in dem man sich mit solchen Dingen Zeit ließ.

Da an diesem Morgen in der Praxis nicht viel los war, konnte Wendy ungeniert ihren Gedanken nachhängen, doch Schorsch hatte im Moment anderes im Sinn. Er sprach mit Daniel über die geheimnisvolle Yasmin Pecher.

»Ich habe heute morgen im Radio die Suchmeldung gehört. Es gibt keinen Zweifel, daß es sich bei dem Mädchen, das Fee gestern gefunden hat, um Yasmin handelt«, erklärte Daniel.

»Die Polizei hat auch schon in der Klinik angerufen. Aber ich war gerade im Haus unterwegs.«

»Gott sei Dank«, entfuhr es Daniel.

»Was ist los?«

»Fee hat mir trotz ihrer schweren Grippe eingeschärft, darüber mit dir zu sprechen. Sie möchte unbedingt verhindern, daß das Mädchen zurück ins Heim muß, bevor nicht die Umstände ihrer Flucht geklärt sind.«

Schorsch wiegte nachdenklich den Kopf. »Yasmin macht in der Tat einen sehr verstörten und verängstigten Eindruck. Allerdings ist sie nicht sehr gesprächig. Bis jetzt habe ich kein Wort aus ihr herausgebracht, und den Schwestern geht es nicht anders.«

»Hast du nicht jemanden, der Zeit genug hat, um ihr Vertrauen zu gewinnen?«

»Darüber wollte ich auch mit dir sprechen. Meine Schwestern haben soviel Arbeit, daß ihnen so eine zusätzliche Belastung nicht zuzumuten ist. Aber ich habe da eine andere Idee.«

»Dann schieß los«, erklärte Daniel.

Hans-Georg Leitner stellte seinem Freund mit knappen Worten die Situation dar.

»Verstehe ich richtig, daß du die Frau mit der Fehlgeburt zu Yasmin ins Zimmer legen möchtest, die mit ihrer Schwangerschaft unglücklich zu sein scheint?« fragte Daniel sicherheitshalber noch einmal nach.

»Genauso ist es«, bestätigte Schorsch.

»Ist das nicht ein sehr gewagter Versuch? Womöglich fällt Frau Gordon in tiefe Depressionen, wenn sie diese Ungerechtigkeit der Natur erfaßt.«

»Ich weiß. Aber meinst du nicht, daß es einen Versuch wert ist? Vielleicht ist es eine Chance für beide.«

»Es könnte sein. Allerdings sollte man es etwas sensibler einfädeln, als die beiden kurzerhand in ein Zimmer zu legen. Besteht denn die Möglichkeit, daß sie sich zufällig in der Caféteria kennenlernen?«

»Das ist die Idee! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«

Doch darauf ging Daniel nicht weiter ein.

Seine Gedanken waren schon woanders. »Das Problem ist, daß wir das Heim davon überzeugen müssen, daß Yasmin in der Klinik bleiben muß«, gab er zu bedenken.

»Das sollte nicht schwer sein. Tatsächlich ist ihr Allgemeinzustand nicht so gut, daß man sie in dieser Phase der Schwangerschaft ohne ärztliche Kontrolle lassen sollte.«

»Das Heim wird einwenden, daß sie sich eine Privatklinik nicht leisten können.«

»Das laß mal meine Sorge sein«, erklärte Schorsch eindringlich. »In solchen Dingen habe ich mehr Erfahrung als du.«

»Das ist auch gut so«, lachte Daniel. »So ergänzen wir uns perfekt.«

Nachdem sie noch ein paar private Worte gewechselt hatten, beendeten sie in großem Einverständnis das Telefonat.

*

Zufrieden schritt Elisabeth Weinzierl in ihrem Büro auf und ab, während sie auf ihre Mitarbeiterin Fanny Schmiedel wartete. Seit fünf Jahren leitete sie nun schon das Kinderheim in der Schmidtstraße. Zwar hatte sie sich mit ihrer autoritären Art bei den Kindern nicht gerade beliebt gemacht, doch auf diese Weise hatte sie sich zumindest Respekt verschafft. Das Leben im Heim verlief in streng geregelten Bahnen, was die Kinder einerseits etwas einengte, ihnen andererseits aber die Sicherheit gab, die die oft vernachlässigten Kleinen so schmerzlich vermißten. Es kam nicht häufig vor, daß sich ein Kind so unwohl fühlte, daß es ausriß. Bei Yasmin Pecher lagen durch ihre Schwangerschaft besondere Umstände für ihre Flucht vor, davon war Frau Weinzierl felsenfest überzeugt. Sie war sehr erleichtert gewesen, als die Polizei sie davon unterrichten konnte, daß sich Yasmin in einer gynäkologischen Privatklinik befand und wohlauf war.

Es klopfte, und Elisabeth wurde aus ihren Gedanken gerissen.

»Da sind Sie ja, Fanny, kommen Sie nur herein!« forderte sie die junge Erzieherin auf.

»Gibt es Neuigkeiten über Yasi?« erkundigte sich diese mit angstvoll geweiteten Augen, doch Elisabeth Weinzierl konnte sie schnell beruhigen.

»Sie ist in der Leitner-Klinik, einer gynäkologischen Privatklinik. Ihr und dem Kind geht es gut. Die Polizei hat mich gerade informiert.«

»Dem Himmel sei Dank«, flüsterte Fanny erleichtert. Seit Beginn der Schwangerschaft hatte sie sich große Sorgen um ihren Schützling gemacht, die sich sehr verändert hatte. Aus dem fröhlichen, stets gut gelaunten Mädchen war beinahe über Nacht eine in sich gekehrte, bedrückte junge Frau geworden. So sehr sich Fanny auch bemüht hatte, Yasmin wollte ihr nicht erzählen, was vor Monaten auf der Party eines Klassenkameraden geschehen war.

»Ich bin auch sehr erleichtert«, unterbrach Elisabeth Weinzierl Fannys Gedanken. »Ich habe bereits mit dem Leiter der Klinik gesprochen und einen Termin mit ihm vereinbart. Deshalb habe ich Sie rufen lassen. Ich möchte, daß Sie mich begleiten.«

Das war eine sehr ungewöhnliche Vorgehensweise von Frau Weinzierl, die die Dinge immer gern selbst regelte.

Fanny sah sie erstaunt an.

»Sie finden es vielleicht merkwürdig, aber in diesem speziellen Fall möchte ich keinen Fehler machen. Sie sind Yasmins Vertrauensperson und können sicher besser auf sie eingehen als ich«, erklärte Elisabeth schnell, als sie Fannys Blick bemerkte.

»Leider kann ich das heute nicht mehr behaupten. Seit ihrer Schwangerschaft ist Yasi so verändert. Sicher ist es ein tiefer Einschnitt in ihr Leben, aber irgend etwas ist vorgefallen, das sie zutiefst erschüttert hat. Das Problem ist, daß sie mit niemandem darüber sprechen will.«

»Wir werden sehen. Vielleicht kann uns Herr Dr. Leitner mehr darüber berichten. Gehen wir.« Frau Weinzierl griff nach ihrer Handtasche.

»Jetzt gleich?« fragte Fanny verwundert.

»Natürlich. Gibt es ein Problem?«

»Andrea ist allein mit den Kindern. Ich muß sie zumindest verständigen, daß ich fort bin und wann sie wieder mit mir rechnen kann.«

»Das wird meine Assistentin erledigen. Kommen Sie jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Mit diesen Worten öffnete Elisabeth die Tür und ließ Fanny vorausgehen.

Auf der Straße vor dem Heim wartete bereits das Taxi, das die beiden zur Leitner-Klinik bringen sollte.

*

Yasmin lag gedankenverloren in ihrem Klinikbett und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen, doch die Temperaturen waren sommerlich mild, so daß das Fenster weit geöffnet war.

Die Vögel zwitscherten, doch selbst dieses fröhliche Geräusch konnte sie nicht aus ihren tristen Gedanken reißen.

»Hallo, Yasmin«, begrüßte sie Schwester Renate, die mit dem CTG hereinkam.

Das Mädchen zuckte zusammen.

»Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte sie ängstlich, als Renate ihr sanft das Oberteil des Schlafanzugs hochschob, um die Gurte um den Bauch zu legen, an denen der Schallkopf befestigt war.

»Die Polizei hat dich gesucht und schließlich hier gefunden. Das ist doch ganz einfach«, erklärte die Schwester, die von Schorsch Leitner bis ins Detail über Yasmin informiert war. »So, jetzt werden wir die Herztöne deines Babys kontrollieren. Hör mal, ist das nicht schön?« Sie stellte das Gerät an, und kurz darauf ertönte der schnelle Herzschlag des Ungeborenen. Unglücklich wandte sich Yasmin ab.

»Ich will das nicht hören. Machen Sie das aus!« rief sie unwirsch.

»Aber, aber, Kindchen. Wenn das Kleine erst da ist, wirst du sehen, wie schön es ist, Mutter zu sein«, redete Schwester Renate behutsam auf das verstörte Mädchen ein.

»Niemals werde ich das. Es ist alles so schrecklich.« Yasmin stiegen die Tränen in die Augen, und Renate strich ihr beruhigend über das wirre blonde Haar.

»Du arme Kleine! Willst du mir nicht erzählen, was mit dir los ist? Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Niemand kann mir helfen. Und wenn Sie wissen, wer ich bin, dann kommt Frau Weinzierl und holt mich zurück ins Heim.« Wütend wischte sie sich über die Augen.

»Niemand holt dich zurück. Du darfst die Klinik nicht verlassen, weil dein Blutdruck immer noch viel zu hoch ist.«

»Ist das wahr?« Mißtrauisch sah Yasi die Schwester an.

»Ich lüge nicht, großes Ehrenwort«, flüsterte Renate verschwörerisch und hob zur Bestätigung drei Finger der rechten Hand.

Yasmin mußte unwillkürlich lächeln. »Du kannst ja lachen, wie schön«, freute sich da Renate. »So, jetzt sind wir auch schon fertig. Dem Baby geht es ausgezeichnet. Weißt du schon, was es wird?«

»Nein, es interessiert mich nicht«, entgegnete Yasi, jetzt wieder ganz verschlossen.

»Schade. Aber wir werden es ja bald wissen. Und jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang. Du brauchst ein bißchen Bewegung.«

»In diesem Aufzug?« Fragend blickte Yasmin an sich herunter.

»Nein, natürlich nicht. Ich habe dir einen Bademantel mitgebracht. Er hängt an der Tür.« Schwester Renate stand auf, um ihn zu holen und half Yasmin dann hinein. »Ein bißchen groß, aber es geht schon«, stellte Renate dann zufrieden fest. »Geh schon mal vor, ich muß das CTG noch mitnehmen.«

Folgsam ging Yasmin vor und blieb dann ratlos auf dem Gang stehen.

»Wo soll ich hingehen?«

»Am besten runter in den Garten. Ein bißchen frische Luft wird dir guttun. Fahr mit dem Aufzug, das geht am schnellsten. Ich komme so schnell ich kann nach.« Sie winkte noch einmal und verschwand dann, das Gerät vor sich herschiebend, um die Ecke. Unsicher stand Yasmin auf dem Flur, doch dann entschloß sie sich, den Rat der Schwester anzunehmen, machte sich auf die Suche nach dem Lift und ließ sich ins Erdgeschoß fahren. Yasi hatte gerade ein paar Schritte in der Halle gemacht, als sie vor Schreck blaß wurde. Ein paar Meter weiter standen zwei Frauen, die mit einem Arzt im Gespräch vertieft waren. Diese Frauen kannte sie nur allzu gut. Es waren Elisabeth Weinzierl und Fanny Schmiedel.

Sie wollen mich holen! schoß es Yasi durch den Kopf, und sie zögerte keine Sekunde. Abrupt wandte sie sich um und lief wie von Sinnen den erstbesten Gang hinunter. Sie hatte Glück gehabt, keiner der drei hatte Yasmin bemerkt.

Als sie sich kurz darauf umwandten und Schorsch in Richtung seines Büros folgten, war nichts mehr von Yasi zu sehen.

*

»Um Himmels willen, paß doch auf!« Marlene Gordon, die sich am Kiosk eine Zeitung gekauft hatte, schrie erschrocken auf. Schwer atmend blieb Yasmin stehen. Sie hatte Marlene nicht gesehen und war mit ihr zusammengestoßen.

»Es... tut... mir leid«, keuchte sie.

»Ist dir etwas passiert?« erkundigte sich Marlene fürsorglich und warf einen schmerzerfüllten Blick auf Yasmins gewölbten Leib.

»Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht.« Endlich kam sie wieder zu Atem und beruhigte sich etwas. Ängstlich blickte sie sich um.

»Was ist mit dir? Vor wem läufst du weg?« fragte Marlene weiter.

Yasmin wurde rot. »Ich will nicht darüber sprechen«, entgegnete sie unwillig.

»Du hast recht. Es geht mich ja auch gar nichts an«, lenkte Marlene da ein. Dann wandte sie sich zum Gehen, und Yasmin blickte ihr fassungslos hinterher. Soviel Diskretion hatte sie von einem Erwachsenen noch nie erfahren. Da wandte sich Marlene, einer plötzlichen Eingebung folgend, noch einmal um. »Wenn du doch darüber sprechen möchtest, ich bin in Zimmer 327.« Dann ging sie endgültig davon.

In diesem Moment erblickte Yasi Schwester Renate, die kurz stehengeblieben war, um mit Marlene Gordon ein paar Worte zu wechseln. Es dauerte nicht lange, und Yasmin wartete auf sie.

»Wer war die Frau, mit der sie gerade gesprochen haben?« erkundigte sie sich und bemühte sich, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen.

Renate lächelte. Sollte sich der Plan, den sie mit Schorsch Leitner besprochen hatte, so einfach in die Tat umsetzen lassen?

»Das ist eine Patientin von uns. Sie liegt auf der gleichen Station wie du.«

»Schwanger ist sie aber nicht«, stellte Yasmin ungerührt fest.

»Sie war es. Aber leider hat sie das Kind verloren.«

»Sie kann ja wieder eines bekommen.«

»Nein, Yasmin, das kann sie nicht. Marlene Gordon hat schon einige Fehlgeburten hinter sich und ist bereits über vierzig. Ich glaube nicht, daß sie noch einmal bereit ist, so ein Risiko zu tragen«, erklärte Renate ernst.

»Und warum adoptiert sie keines?«

»Das ist sehr kompliziert und mit vielen Vorschriften verbunden. Um einen Säugling zu adoptieren, darf man unter anderem ein bestimmtes Alter nicht überschritten haben. Also scheidet diese Möglichkeit auch aus.«

»Das tut mir leid. Sie ist eine nette Frau.«

»Du hast mit ihr gesprochen?« wunderte sich Schwester Renate.

»Ich bin mit ihr zusammengestoßen. Sie war sehr freundlich, aber irgendwie auch traurig. Jetzt weiß ich natürlich warum.«

Die beiden waren inzwischen weitergegangen, und die Schwester hielt der jungen Frau die Tür auf, die zum Garten führte. Yasmin trat hinaus und blickte nachdenklich in den grauen Himmel.

»Die Welt ist manchmal sehr ungerecht«, stellte sie schließlich fest. »Frauen wünschen sich Kinder und bekommen keine. Andere wollen keine und bekommen trotzdem welche...«

Sie errötete, als hätte sie ein Geheimnis preisgegeben, doch Renate lächelte.

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, Yasmin, und diese Erkenntnis wird der erste Schritt auf dem Weg zu deinem Kind sein.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte diese zweifelnd, doch Renate drückte ihr aufmunternd die Hand.

»Mit der nötigen Unterstützung wirst du es schon schaffen. Leider muß ich jetzt zurück auf meine Station. Meine Pause ist vorbei. Bleib ruhig noch eine Weile hier und denke über unser Gespräch nach. Und wenn du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du mich finden kannst.«

Verwirrt und von vielfältigen Gefühlen bewegt, blieb Yasmin allein zurück. Sie begann, durch den schönen, sommerlichen Garten zu wandern, in dem zahlreiche Blumen blühten. Sie mußte fortwährend an Marlene Gordon denken. Warum nur beschäftigte sie diese freundliche Frau und deren Schicksal so sehr?

Und während sie darüber nachdachte, stieg ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf, das eine lachende Frau mit langen blonden Haaren zeigte, die fröhlich ein kleines Kind durch die Luft schwenkte. Dieses Kind war Yasmin selbst gewesen und die lachende Frau ihre Mutter, die kurz darauf zu einer Schiffsreise mit ihrem Vater aufgebrochen war, von der sie nie wieder zurückgekehrt war. Einzig diese Erinnerung war Yasmin geblieben, die damals erst knapp drei Jahre alt gewesen war.

Plötzlich wußte sie es: Marlene ähnelte ihrer Mutter, so wie sie sie in Erinnerung hatte. Die gleichen langen blonden Haare, die vollen Lippen, die sicherlich genauso fröhlich lachen konnten, wenn sie nicht, wie vorhin, schmerzlich zusammengekniffen waren. Und die blauen Augen! Besonders die Augen hatten Yasmin berührt, der besorgte Blick, mit dem sie sie gemustert hatte.

Auf einmal erfüllte eine nie gekannte Sehnsucht nach einer Mutter das junge Mädchen. Sie meinte, den Schmerz nicht ertragen zu können. Tränenblind suchte sie einen stillen Winkel, um ihrem Kummer ungestört freien Lauf lassen zu können.

*

Auch Marlene war seltsam berührt von der merkwürdigen Begegnung mit dem schwangeren Mädchen.

Sie besaß eine gute Menschenkenntnis, doch selbst ohne diese Gabe hatte man leicht erkennen können, daß die junge Frau zutiefst verzweifelt war. Marlene konnte auch nicht sagen, was sie bewogen hatte, Yasmin ihre Zimmernummer zu sagen, aber sie spürte instinktiv, daß sie die Probleme des Mädchens von ihrem eigenen Kummer ablenken würden. Doch würde dieses den Mut haben, das Angebot von ihr, einer wildfremden Frau, anzunehmen? Schließlich war sie, Marlene, mindestens fünfundzwanzig Jahre älter als das Mädchen.

Sie könnte meine Tochter sein, kam es ihr in den Sinn. Dieser Gedanke beschäftigte sie so sehr, daß sie noch lange Zeit später, als die Schwester Kaffee und Kuchen brachte, mit der Zeitung in der Hand auf dem Bett saß und in den Garten starrte.

*

Elisabeth Weinzierl trommelte mit den Fingern nervös auf Herrn Dr. Leitners Schreibtisch. Dieses Gespräch verlief ganz anders, als sie es sich gedacht und erhofft hatte.

»Sie wollen also sagen, daß Yasmin Angst davor hat, ins Heim zurückzukommen?« fragte sie noch einmal schneidend.

»Zumindest ist das mein Eindruck, den auch Frau Dr. Norden bestätigt hat.«

»Wer ist das?«

»Die Frau, die Yasmin gestern abend im Gebüsch gefunden hat...«

»Und in eine Privatklinik einliefern ließ«, beendete Frau Weinzierl den Satz.

»Der Mann von Frau Dr. Norden und ich sind Kollegen und seit vielen Jahren befreundet. Da lag es nahe, daß sie sich in so einem schwierigen Fall an mich wendet, finden Sie nicht?« fragte Schorsch scharf.

Betreten blickte Elisabeth zu Boden. Fanny, der das Verhalten ihrer Chefin sehr unangenehm war, versuchte, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

»Wie geht es Yasi denn jetzt?« erkundigte sie sich besorgt.

»Wir sind uns immer noch nicht sicher, was den Bluthochdruck ausgelöst hat. Eine Blutuntersuchung konnte darüber keinen Aufschluß geben. Ich halte es für möglich, daß Fräulein Pecher unter einem hohen seelischen Druck steht, der ihre Beschwerden verursacht hat. Verlief die Schwangerschaft bisher problemlos? Wir haben nämlich keinen Mutterpaß bei ihr gefunden.«

»Yasmin selbst spricht nicht darüber. Aber wir stehen in Kontakt mit dem behandelnden Arzt, der uns immer wieder versichert hat, daß alles normal verläuft«, erklärte Elisabeth Weinzierl.

»Wie ist es überhaupt zu der Schwangerschaft gekommen?« fragte Schorsch weiter und wandte sich dabei an Fanny.

»Auch darüber hat Yasi nie mit mir gesprochen. Aber ich habe eine Vermutung...«

»Papperlapapp«, fiel ihr Frau Weinzierl ins Wort. »Ich kann mir genau vorstellen, was passiert ist. Die Kinder in unserem Heim besuchen öffentliche Schulen. Vor einigen Monaten, es paßt zeitlich genau, wurde Yasmin von einem Klassenkameraden auf eine Party eingeladen, an der sie ohne unsere Erlaubnis teilgenommen hat. Ein Mädchen aus dem Heim hat sie verraten, und Yasmin erhielt Hausarrest. Kurz darauf hatte sie Beschwerden, und unser Arzt stellte eine Schwangerschaft fest. Ich brauche wohl nichts weiter dazu zu sagen.«

»Wurde ihr die Möglichkeit geboten, die Schwangerschaft abzubrechen?« erkundigte sich Schorsch ernst. »Immerhin ist Yasmin noch sehr jung, erst fünfzehn Jahre alt.«

»Ich habe das Thema einmal angeschnitten, aber sie hat sich nicht dazu geäußert. Wie gesagt, sie spricht weder über die Schwangerschaft noch über das Kind«, sagte Fanny leise.

»Das ist kein gutes Zeichen.«

»Das finden wir auch. Offenbar halten Sie uns für Unmenschen, aber wir sind genauso in Sorge wie Sie«, sagte Elisabeth.

»Dann frage ich mich, warum Sie nichts unternommen haben, um Yasmin zu helfen«, konterte Schorsch.

»Wir arbeiten eng mit einer Therapeutin zusammen, aber selbst ein Gespräch mit dieser Dame hat Yasmin verweigert. Wir hatten keinen Zugang zu ihr.«

»Was wird denn jetzt mit ihr geschehen?« fragte Fanny leise.

»Es ist wirklich das Beste für sie, wenn sie bis zur Entbindung hierbleibt.«

»In einer Privatklinik?« Elisabeth starrte den Arzt ziemlich entgeistert an. »Und wer soll das bezahlen?«

»Die Differenz wird die gesetzliche Krankenkasse übernehmen, über den Rest brauchen Sie sich keine Gedanken machen, das regeln wir intern.« Hans-Georg Leitner sprach mit solchem Nachdruck, daß Elisabeth keine Widerworte wagte.

»Wenn diese Möglichkeit besteht, habe ich nichts dagegen. Aber es dürfen für uns keine zusätzlichen Kosten entstehen«, erklärte sie nach einer Weile nachdrücklich.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Yasmin Pecher ist hier in besten Händen.« Schorsch betrachtete das Gespräch als beendet und erhob sich.

»Kann ich Yasmin sehen?« beeilte Fanny sich noch zu fragen, doch er schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ich weiß nicht, was auf dieser Party und danach im Heim vorgefallen ist. Deshalb möchte ich ihr bis zur Entbindung jede Aufregung ersparen. Es tut mir leid.«

Er blickte den beiden Damen nach, die schweigend den Gang hinabgingen. Dann seufzte er und schloß die Tür hinter sich. Er hatte die dunkle Ahnung, daß ihm Yasmin Pecher noch einige schlaflose Nächte bereiten würde.

Sein Gefühl sollte ihn nicht täuschen.

*

Die Tage vergingen, ohne daß sich Fee Nordens Zustand wesentlich besserte.

Mehr als einmal schlug Daniel ihr vor, sie in die Behnisch-Klinik zu bringen, doch jedes Mal erlebte er heftigen Widerstand. Doch jetzt schien Fees Kraft zu Ende zu gehen.

Das hohe Fieber verursachte Schüttelfrost, und an ihren Lippen hatten sich schmerzhafte Herpesbläschen gebildet. Sie konnte nicht mehr leugnen, daß sie sich schwerkrank fühlte.

»Lange kann ich das nicht mehr mit ansehen«, seufzte Daniel wieder einmal, als er an ihrem Bett saß.

»Es tut mir leid, daß ihr euch solche Sorgen um mich machen müßt«, flüsterte Fee angestrengt, doch Daniel legte den Finger vorsichtig auf ihre Lippen.

»Nicht sprechen. Wenn die Medikamente bis heute abend keine Linderung gebracht haben, mußt du ins Krankenhaus. Ich habe schon mit Jenny gesprochen«, sagte er, und Fee machte eine unwillige Kopfbewegung.

»Ich will nicht in die Klinik.«

»Feelein, sei doch vernünftig. Du bist meine Frau und Mutter von fünf Kindern. Wir brauchen dich. Du mußt wieder gesund werden.«

Sein sorgenvolles Gesicht bewegte sie, und mit Tränen in den Augen nickte sie.

»Also gut«, flüsterte sie heiser. »Aber paßt mir gut auf die Kinder auf. Es tut mir jetzt schon weh, sie nicht um mich zu haben, auch wenn sie mich nicht sehen dürfen.«

Daniel drückte die Hand seiner kranken Frau. Selbst in dieser Situation galten ihre Gedanken zuerst ihrer Familie und nicht sich selbst. Aus diesem Grund hatte sie es wohl so lange abgelehnt, in die Klinik zu gehen. Daniel nahm sich vor, in Zukunft etwas mehr darauf zu achten, daß Fee sich mehr Zeit für sich selbst nahm. Wenn sie wieder gesund wird, schoß es ihm unwillkürlich durch den Kopf, und es fröstelte ihn bei diesem Gedanken. Während er ihre Hand hielt und sie sorgenvoll betrachtete, war Fee eingeschlafen. Mit einem tiefen Seufzer erhob sich Daniel und zog sich behutsam zurück.

»Wie geht es Mami?« Anneka stand unten an der Treppe und beobachtete ihren Vater angstvoll, als er langsam, Stufe für Stufe, herunterkam.

»Leider nicht sehr gut, Mäuschen«, gestand er, als er bei seiner Tochter angelangt war. Tröstend legte er ihr die Arme um die Schultern und drückte sie an sich.

»Ich hab’ solche Angst«, flüsterte sie, und Tränen durchnäßten sein weißes Hemd.

»Nicht weinen, Kleines. Ich bin mir ganz sicher, daß Mami wieder gesund wird. Vielleicht muß sie ein paar Tage zu Jenny in die Klinik, aber dort wird alles wieder in Ordnung kommen.«

»Dieses dumme Mädchen! Wenn es nicht weggelaufen wäre, würde es Mami jetzt nicht so schlecht gehen«, flüsterte Anneka und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

»So darfst du es nicht sehen. Schorsch hat mir erzählt, daß es ein armes Kind ist, das keine Mami und keinen Papi mehr hat und das schon lange in einem Heim leben muß. Ist das nicht sehr traurig?«

»Doch, schon«, gab Anneka zögernd zu.

Sie hatte ein weiches Herz und unter normalen Umständen hätten ihre Gedanken dem armen Waisenkind gegolten. Doch im Moment überwog die Sorge um ihre geliebte Mami. »Wann muß Mami denn ins Krankenhaus?« fragte sie leise.

»Heute abend noch, wenn das Fieber nicht sinkt.« Betreten betrachtete Daniel seine große Tochter, der wieder Tränen über die Wangen liefen. Er war selbst so voller Sorge, daß ihm keine tröstenden Worte mehr einfielen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sie wieder in die Arme zu nehmen und fest an sich zu drücken.

So standen sie eine ganze Weile im Flur und fühlten die beruhigende Nähe des anderen.

»Ist etwas mit Mami passiert?« ertönte auf einmal eine erregte Stimme, und beide schreckten aus ihren Gedanken auf. Es war Danny, der eben nach Hause gekommen war.

»Mami muß ins Krankenhaus«, schluchzte Anneka.

»Habt ihr mir einen Schrecken eingejagt! Bei eurem Anblick dachte ich schon an viel Schlimmeres. Das ist die beste Nachricht seit Tagen.«

»Wie kannst du so was sagen? Ich will nicht, daß Mami geht!« rief Anneka empört aus.

»Vielleicht denkst du mal daran, was jetzt wichtig ist für Mami!« fuhr Danny seine Schwester zornig an. Auch ihm war die Sorge um seine Mutter anzusehen. »Sie ist immer für uns da, wenn wir sie brauchen. Und das kann sie bald nicht mehr, wenn sie jetzt nicht endlich bekommt, was sie braucht.«

»Genug, ihr beiden«, mischte sich da Daniel ein. »Du hast vollkommen recht, daß Mami in der Klinik besser aufgehoben ist als hier, Danny. Darüber haben wir beide ja schon gestern abend ausführlich gesprochen. Aber versteh bitte auch deine Schwester. Sie ist sehr aufgeregt. Und das letzte, was wir jetzt brauchen können ist Streit. Wir müssen jetzt zusammenhalten und Mami das Gefühl geben, daß sie sich guten Gewissens im Krankenhaus auskurieren kann.«

»Entschuldige, Papi, daß ich so aufgebraust bin«, gab Danny sofort nach. »Kopf hoch, Kleines«, sagte er zu Anneka gewandt.

Diese blickte ihren großen Bruder verstört an, nickte aber folgsam.

»Ich werde mir Mühe geben«, erklärte sie tapfer.

Fee hatte von dieser Auseinandersetzung nichts mitbekommen. Sie dämmerte im Fieberschlaf vor sich hin und schwebte in wirren Träumen.

*

Es klopfte leise an die Tür, und Marlene hob nach einem Blick auf die Uhr verwundert den Kopf. Es war bereits spät am Abend.

»Du bist es!« sagte sie dann überrascht, als sich die Tür öffnete und Yasmin erschien.

»Haben Sie schon geschlafen?« fragte diese scheu.

»Nein, ich lese gerade. Aber es ist nicht so wichtig. Komm doch herein!« forderte sie das Mädchen freundlich auf und legte ihr Buch zur Seite.

Schüchtern schloß Yasmin die Tür und blieb unschlüssig im Raum stehen.

»Setz dich, damit wir uns ein bißchen unterhalten können. Ich weiß nicht mal, wie du heißt«, erklärte Marlene und klopfte einladend neben sich aufs Bett.

Yasmin setzte sich folgsam neben Marlene.

»Mein Name ist Yasmin Pecher.«

»Yasmin, was für ein schöner Name«, sagte Marlene versonnen und dachte einen Moment daran, daß es ein guter Name für ihr Kind gewesen wäre. Doch sie schob den Gedanken schnell beiseite.

»Mein Name ist leider nicht so melodisch. Ich heiße Marlene Gordon.«

»Ich weiß«, entfuhr es Yasmin. »Schwester Renate hat es mir gesagt. Sie hat mir auch erzählt, warum Sie hier sind. Es tut mir leid. Ich hätte gern mit Ihnen getauscht.« Bitterkeit lag in ihrer Stimme.

»Wie meinst du das?« fragte Marlene erstaunt.

»Sie hätten gern mein Kind haben können. Aber leider geht das ja nicht, weil Sie zu alt für eine Adoption sind.«

Über soviel Direktheit mußte Marlene lachen.

»Du nimmst kein Blatt vor den Mund. Das findet man selten in unserer Gesellschaft«, stellte sie amüsiert fest. Doch dann wurde sie ernst. »Freust du dich denn nicht auf dein Baby?«

Statt einer Antwort schüttelte Yasi nur den Kopf, und Marlene drang nicht weiter in sie. So saßen die beiden Frauen eine Weile schweigend nebeneinander.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich freuen würden, wenn Sie nach einer Vergewaltigung schwanger wären«, brach es plötzlich aus Yasmin heraus, bevor sie in Tränen ausbrach. Es hatte ihre ganze Kraft gefordert, dieses Geheimnis nach so vielen Monaten preiszugeben, doch instinktiv wußte sie, daß es bei Marlene gut aufgehoben war. Immer und immer wieder hatte sie das Bild der lachenden Frau vor den Augen, und als Marlene sie jetzt mitfühlend in die Arme schloß, fühlte sich Yasmin so geborgen wie zuletzt bei ihrer Mutter.

»Geht es dir jetzt besser?« fragte Marlene später, als Yasmins Tränen langsam versiegten.

»Danke, daß Sie soviel Zeit für mich haben«, stammelte diese beschämt.

»Das habe ich dir doch angeboten. Willst du mir alles erzählen? Vielleicht ist dir dann leichter ums Herz.«

»Wollen Sie es wirklich hören?«

»Ich kenne dich zwar noch nicht sehr gut, aber ich mochte dich vom ersten Augenblick an. Und es ist doch nicht schön, wenn ein Mensch, den man mag, traurig ist, nicht wahr?«

»Es hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt, daß er mich mag.«

»Deine Eltern auch nicht?« fragte Marlene vorsichtig.

»Ich habe keine Eltern mehr. Sie sind verunglückt, als ich drei Jahre alt war. Seitdem bin ich in einem Heim.«

»Und es hat dich niemand adoptiert?«

»Die Leute wollen doch immer nur kleine Babys und keine dreijährigen Kinder«, sagte Yasi leise.

Betreten blickte Marlene zu Boden. »Du hast recht. Aber es hat andere Gründe, als du vermutest, zumindest bei meinem Mann und mir. Ich werde es dir einmal erklären. Aber jetzt erzähl weiter. Wie ist es in deinem Heim? Hast du dort Freunde?«

»Freunde schon, aber man hat halt keine Familie. Es gibt eine Erzieherin, die Fanny, die ist sehr nett. Aber sie kann nicht so vielen Kindern gleichzeitig eine Mutter sein. Sie gibt sich große Mühe, aber richtig vertrauen kann ich ihr nicht.«

»Das ist verständlich. Weiß sie von deinem Unglück?«

»Nein, keiner weiß es. Nur Sie.«

»Dein Vertrauen ehrt mich. Ich werde dich nicht enttäuschen, Yasmin«, erklärte Marlene nachdrücklich.

Yasmin schwieg einen kurzen Moment, als ringe sie mit sich selbst. Dann begann sie stockend zu erzählen.

»Es passierte auf einer Party, die ich ohne Erlaubnis besuchte. Obwohl es vom Heim verboten ist, wollte ich unbedingt dorthin gehen, weil da ein Junge war, der mir sehr gut gefallen hat. Es war auch wirklich ein schöner Abend. Jens, so hieß er, interessierte sich tatsächlich für mich. Ich war überglücklich. Es wurde auf diesem Fest viel Alkohol getrunken, und nach und nach wurde Jens immer zudringlicher. Meine anfängliche Begeisterung wandelte sich schnell. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, doch ich konnte mich nicht wehren. Ehe ich es mich versah, hatte er mich in ein Nebenzimmer bugsiert. Ein Freund von ihm stand Wache an der Tür.«

Yasmin versagte die Stimme bei der Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die sie dann erlebt hatte. Sie erschauerte.

»Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, aber es war grauenvoll. Hinterher lachte er nur und fragte, ob es mir denn Spaß gemacht hätte. So schnell es ging, habe ich alle meine Sachen zusammengerafft und bin davongelaufen.«

»Hast du ihn danach noch einmal wiedergesehen?« fragte Marlene erschüttert.

Yasmin senkte den Blick. »Das war ja fast das schlimmste. Er geht in meine Klasse. Ich sehe ihn jeden Tag. Und er verspottet mich wegen meiner Schwangerschaft. Er glaubt nicht, daß er der Vater ist.«

»Du meine Güte! Warum hast du nicht mit dieser Fanny darüber gesprochen? Sie hätte dir bestimmt helfen können.«

»Die Heimleitung hat sich eine eigene Version der Geschehnisse ausgedacht. Frau Weinzierl glaubt fest daran, daß ich es so gewollt habe, weil ich auch ohne Erlaubnis auf die Party gegangen bin. Es hat keinen Sinn, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen. Wenn sie sich einmal eine Meinung gebildet hat, dann bleibt sie dabei.«

»Das ist nicht gerade sehr einfühlsam sarkastisch.

»Kann schon sein. Aber für manche Kinder ist dieses Verhalten ganz wichtig. Sie sagt einfach klar, wo’s langgeht. Manche brauchen das«, meinte Yasmin voller Verständnis für die Heimleiterin.

»Aber du nicht!«

»Was ich brauche, bekomme ich sowieso nicht mehr.«

»Warum denn nicht? Du bist erst fünfzehn. Die Welt steht dir doch offen.«

»Manchmal ist man mit fünfzehn auch schon zu alt.«

»Wofür?«

»Um eine richtige Familie zu bekommen.« Yasmin sagte dies ohne große Erregung, als ob sie wirklich schon oft darüber nachgedacht hatte.

Marlene war tief berührt.

»Vielleicht hätte man eine Pflegefamilie für dich finden können, wenn du darüber gesprochen hättest.«

»Bis heute hatte ich noch nie jemanden, dem ich all das anvertrauen wollte.«

»Und ich bin die Richtige für dieses Geständnis?« Marlene war sichtlich verwirrt darüber. »Warum gerade ich?«

»Weil Sie mich an meine Mutter erinnern.« Yasmin hielt den Blick gesenkt, während sie diese Worte aussprach. So sah sie nicht, wie Marlene mit der Fassung rang. Alle Gefühle überschlugen sich auf einmal in ihr. Die Freude, Muttergefühle in einem jungen Mädchen zu wecken und die Trauer darüber, niemals wirklich die Erfahrung zu machen, wie es war, eine erwachsene Tochter zu haben. Und nach und nach formte sich aus diesem Chaos ein vager Gedanke in ihr. Doch zuerst mußte sie mit ihrem Mann sprechen und durfte Yasmin keine vorschnellen Hoffnungen machen.

»Noch nie hat mir jemand ein schöneres Kompliment gemacht als du, Yasmin«, sagte sie schließlich vorsichtig.

Das Mädchen sah erwartungsvoll auf.

»Und ich möchte hier und jetzt versprechen, daß wir eine Lösung für dich finden werden. Allerdings kann ich dir noch nicht sagen, wie sie aussehen wird. Ich muß zuerst mit meinem Mann sprechen.«

Marlene biß sich auf die Lippe. Hoffentlich hatte sie nicht zuviel gesagt. Doch Yasmin hatte schon zu viele Enttäuschungen erlebt, um sich schnell begeistern zu lassen. Lediglich ein Funkeln in ihren Augen verriet ihre Hoffnung.

»Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.« Sie bedankte sich artig und erhob sich, um das Zimmer zu verlassen.

»Warte, ich möchte dir noch etwas schenken.«

In einer plötzlichen Eingebung griff Marlene nach einem kleinen Bären, der neben ihrem Kopfkissen lag.

»Hier, den hat mir mein Mann vor vielen Jahren geschenkt, als ich zum ersten Mal schwanger war. Er sollte unserem Kind gehören. Seitdem begleitet er mich auf jeder Reise. Jetzt soll er dir gehören und dich trösten, wenn du traurig bist, so wie er mich immer getröstet hat. Es steckt sehr viel Liebe in ihm.«

Mit Tränen in den Augen betrachtete Yasmin den kleinen weißen Bären. »Sie wollen mir so ein kostbares Geschenk machen?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Ja.«

Da tat Yasmin etwas, das sie selbst überraschte. Sie warf sich in Marlenes Arm und drückte sich fest an sie, bevor sie das Zimmer überstürzt verließ. Es dauerte lange, bis sie endlich einschlafen konnte.

*

Fee Norden sah sich verwirrt um, als sie an diesem Abend die Augen öffnete.

»Wo bin ich? Was ist passiert?« fragte sie und versuchte sich zu bewegen. Der Kopf und ihre Glieder schmerzten, und sie stöhnte auf.

»Du bist bei Jenny in der Klinik, Liebes«, klang die geliebte Stimme Daniels an ihr Ohr.

»Oh, Daniel, du bist hier! Was ist passiert?« fragte Fee leise und wandte sich ihm unter großer Anstrengung zu.

»Du bist wegen des starken Fiebers ohnmächtig geworden. Der Rettungswagen hat dich quasi in letzter Minute abgeholt.«

»Bin ich wirklich so krank?«

»Ich bin sehr böse auf mich, daß ich mich so lange von dir täuschen ließ. Eigentlich hättest du schon lange in die Klinik gehört«, erklärte er streng.

»Bei dir bin ich doch viel besser aufgehoben.«

»Zu Hause haben meine Möglichkeiten Grenzen. Die Medikamente hier sind um ein Vielfaches wirksamer als die üblichen Mittel. Aber jetzt bist du ja hier und in Sicherheit. Das Fieber ist bereits merklich gesunken. Den Rest bekommen wir auch noch in den Griff.«

»Es tut mir so leid, Daniel. Ich wollte euch keine Sorgen machen«, flüsterte Fee schwach.

»Als erstes mußt du aufhören, dich immer zu entschuldigen. Ich müßte mich bei dir entschuldigen, daß ich nicht besser auf meine geliebte Frau aufgepaßt habe. Aber das wird sich ändern. Wir haben nämlich alle nichts davon, wenn wir deine Gesundheit leichtsinnig aufs Spiel setzen.« Daniels Stimme wurde weicher.

»Das habt ihr doch nie getan«, protestierte sie leise, doch im Grunde fühlte sie sich nicht in der Lage zu so einer Diskussion.

Daniel bemerkte es sofort. »Wir müssen auch nicht jetzt darüber reden. Ich wollte nur, daß du es weißt. Wie fühlst du dich?«

»Ehrlich gesagt noch nicht viel besser.«

»Das wundert mich nicht. Du hast eine ausgewachsene Lungenentzündung. Aber das Antibiotikum wird dir rasch helfen.«

Fee blickte verwundert auf die Infusionsnadel an ihrem Arm. Eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte langsam aus einer Flasche in den Schlauch, der mit der Nadel verbunden war.

»Komisch, von all den Untersuchungen und der Infusion habe ich gar nichts mitbekommen.«

»Freu dich«, versuchte Daniel sie aufzumuntern. »Eine Nadel zu legen, ist ja nicht immer angenehm.«

»Wenn Jenny es gemacht hat, wäre ich sogar freiwillig wachgeblieben«, versuchte Fee zu scherzen.

»Ich werde ihr dieses Kompliment weitergeben. Sie wird sich sehr darüber freuen. Im übrigen ist sie morgen wieder hier«, sagte Daniel lächelnd. Trotz Fees schlechtem Aussehen schien das Leben schon wieder in sie zurückzukehren. »Ich werde jetzt gehen, damit ich noch ein bißchen schlafen kann, bevor ich unseren Kindern morgen früh Bericht erstatte. Sie waren alle ganz schön aufgeregt heute abend.«

»Wie spät ist es denn?« erkundigte sich Fee. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

»Kurz nach Mitternacht«, antwortete Daniel leise und gab ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn. »Du solltest jetzt schlafen, Liebste.«

»Ich bin auch schon wieder müde. Hoffentlich ändert sich das bald«, sagte Fee leise, und schon fielen ihr die Augen zu. Auch Daniel war müde, die Sorge um Fee hatte ihn zermürbt. Dennoch blieb er noch ein paar Minuten an ihrem Bett stehen und betrachtete das geliebte Gesicht. Eine tiefe Dankbarkeit durchströmte ihn, und dann wandte er sich ab, um endlich wieder einmal eine Nacht ruhig und ungestört zu schlafen.

*

Sascha Gordon verbrachte eine eher unruhige Nacht. Im Gegensatz zu Daniel mußte er sich immer noch große Sorgen um seine Frau Marlene machen. Körperlich ging es ihr zwar schon wieder recht gut, sie hatte sich von den Folgen der Fehlgeburt und der Ausschabung erstaunlich schnell erholt, doch ihre psychische Verfassung machte ihm ernsthaft Sorgen. Er fühlte sich in dem verwaisten Ehebett recht verloren und wälzte sich von einer Seite auf die andere, während er über ihre ausweglose Situation nachdachte.

Sascha ahnte nicht, daß Marlene gerade zu dieser Stunde ein Gespräch mit einem jungen Mädchen führte, das ihr Leben verändern würde.

Schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er gerädert am nächsten Morgen erwachte. Da er, wie in den letzten Tagen auch, erst am Mittag im Büro sein mußte, frühstückte er ausgiebig und machte sich dann auf den Weg in die Klinik zu Marlene, um mit ihr den Vormittag zu verbringen. Wie immer brachte er ihr eine Kleinigkeit mit, um ihr eine Freude zu machen.

Das war nicht leicht gewesen in den vergangenen Tagen, denn mit ihren Gedanken war sie stets bei dem Kind gewesen, das sie verloren hatte. Doch heute erlebte er eine Überraschung. Marlene hatte sich bereits angekleidet und saß erwartungsvoll am Tisch, als er das Zimmer betrat.

»Guten Morgen, Liebster. Schön, dich zu sehen«, sagte sie lächelnd und küßte ihn zärtlich.

»Leni, welch eine Überraschung«, stammelte Sascha, als er sich von der ersten Verwunderung erholt hatte. »Du siehst blendend aus.«

»Mir geht es auch viel besser. Hast du heute wieder bis Mittag Zeit? Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«

Erstaunt sah er sie an. »Ich habe alle Zeit der Welt für dich. Aber möchtest du nicht erst dein Geschenk auspacken?« fragte er und hielt ihr eine hübsch verpackte Schachtel hin.

»Du bist so lieb. Aber kann das nicht noch ein wenig warten? Ich bin so ungeduldig, dir meine Neuigkeiten zu erzählen.«

»Wie du willst.« Sascha lächelte nachsichtig. Endlich erkannte er seine temperamentvolle, stets gutgelaunte Frau wieder. Da wollte er ihr keinen Wunsch abschlagen.

»Laß uns in den Garten gehen. Es ist so schönes Wetter, und ein bißchen Bewegung wird uns guttun.« Marlene stand schon auf.

»Ist das denn nicht zu anstrengend?« erkundigte sich Sascha fürsorglich, doch Leni zog ihn lächelnd am Arm aus dem Zimmer.

»Ach, ist das herrlich hier«, sagte sie, als sie in den sommerlichen Klinikpark hinaustraten.

»Sehr schön«, versuchte auch Sascha, sich zu begeistern, aber er war inzwischen doch sehr gespannt, welche Neuigkeit ihm seine Frau zu berichten hatte. Als er sie am vergangenen Vormittag verlassen hatte, war sie noch melancholisch und sehr in sich gekehrt gewesen. Was war nur in der Zwischenzeit vorgefallen?

»Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen, Sascha. Du fragst dich sicher, was seit gestern mit mir geschehen ist«, sagte sie, als könnte sie seine Gedanken lesen.

Er nickte bestätigend.

»Vor ein paar Tagen bin ich auf dem Flur mit einem hochschwangeren Mädchen zusammengestoßen. Ich sage Mädchen, weil sie wirklich noch sehr jung ist, erst fünfzehn. Wir wechselten ein paar Worte, und mir fiel auf, daß sie ungewöhnlich traurig wirkte. So bot ich ihr ein Gespräch an. Hinterher wunderte ich mich über mich selbst, da ich im Moment alles andere als gesprächig bin. Als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, daß sie gut und gern unsere Tochter sein könnte.«

»Da hätten wir aber schon sehr viel früher mit unserer Familienplanung anfangen müssen«, warf Sascha ein.

»Natürlich. Aber ungewöhnlich ist es nicht, mit sechsundzwanzig ein Kind zu bekommen, oder? Vielleicht hätten wir uns auch schon früher Gedanken über Kinder gemacht, wenn wir beide nicht mitten im Beruf gestanden wären, als wir geheiratet haben.«

»Ich darf dich erinnern, daß ich schon einmal daran gedacht hatte. Aber dir war deine Karriere wichtiger«, warf Sascha vorsichtig ein.

Doch Marlene reagierte ganz gelassen auf diesen leisen Vorwurf.

»Ich hätte das Gefühl gehabt, etwas im Leben verpaßt zu haben, wenn ich nicht zuerst Karriere gemacht hätte. Mit ein oder zwei Kindern wäre der Zug unwiderruflich abgefahren gewesen. Aber zurück zu Yasmin.«

»Wer ist Yasmin?«

»Na, das schwangere Mädchen. Leider nahm sie mein Angebot zu einem Gespräch nicht an, und ich hatte sie schon fast vergessen, als es gestern spät am Abend noch bei mir klopfte.«

»Yasmin?«

»Richtig. Sie kam tatsächlich, um sich den Kummer von der Seele zu reden. Keiner weiß, daß sie nach einer Vergewaltigung schwanger wurde. Bis gestern hat sie ihr Geheimnis gehütet.«

»Ihre Eltern wissen es auch nicht?«

»Sie ist ein Waisenkind und hat keinen Menschen auf der Welt, dem sie vertraut.«

»Soviel Unglück vereint auf ein einziges Menschenkind!« murmelte nun auch Sascha betroffen. »Da fragt man sich manchmal, wie schwer die eigenen Sorgen wirklich wiegen, findest du nicht?«

»Mir ergeht es ähnlich. Aber ausschlaggebend für meine Überlegungen war eigentlich ein einziger Satz, den sie am Ende des Gesprächs zu mir sagte.«

»Was hat sie denn gesagt?«

»Sie sagte, daß sie mit fünfzehn Jahren zu alt dazu wäre, noch eine eigene Familie zu finden.«

Erschüttert blickte Sascha zu Boden. »Was für eine Aussage von so einem jungen Mädchen. Hast du eine Idee, wie man Yasmin helfen kann?«

»Ich habe mir überlegt, ob wir sie nicht adoptieren wollen.« Nun war es heraus. Gespannt blickte Marlene ihren Mann an.

Er sah zunächst nur verwundert aus.

»Aber haben wir nicht immer von einem Baby gesprochen, als von Adoption die Rede war?«

»Doch, natürlich. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich selbst während der Schwangerschaft hin und wieder überlegt, ob mir die Betreuung eines Babys nicht zuviel werden wird«, sagte sie.

»Meinst du nicht, daß ein Teenager mit einem Neugeborenen eine mindestens genauso große Belastung sein wird?«

»Ach, Sascha, ich weiß, daß es eine schwierige Entscheidung ist. Deshalb wollte ich erst einmal deine grundsätzliche Meinung zu dieser Idee hören. Wenn du es ganz ablehnst, Vater einer halberwachsenen Tochter zu werden, brauchen wir gar nicht weiter zu überlegen. Aber du solltest wenigstens darüber nachdenken. Yasmin hat diese Chance verdient.« Erwartungsvoll sah sie ihren Mann an.

»Die Behörden werden in diesem speziellen Fall sicher nichts mehr gegen unser Alter einzuwenden haben, oder?« erkundigte er sich vorsichtshalber.

»Ich kenne die Bestimmungen nicht so genau, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Die Plätze in Heimen sind rar, da werden sie froh sein, wenn einer ihrer Schützlinge ein neues Zuhause bekommt.«

Sascha schwieg, und Marlene sah ihn unsicher an.

»Du wirst verstehen, daß ich Bedenkzeit brauche«, sagte er schließlich ernst. »Außerdem kenne ich Yasmin überhaupt nicht. Allerdings mache ich mir darüber die wenigstens Sorgen. Auf deine Menschenkenntnis konnte ich mich schon immer verlassen«,

fuhr er mit einem leisen Lächeln fort.

»Ich danke dir, mein Schatz.« Marlene drückte Saschas Hand. Aus seiner Reaktion konnte sie schließen, daß er es ernst meinte. »Schon morgen wirst du sie kennenlernen. Ich werde das so einfädeln, daß sie keinen Verdacht schöpft.« Sie schmiegte sich an ihn.

»Dann wird aus meinem schönen Geschenk wohl nichts werden«, seufzte Sascha auf einmal. »Aber du hast es eh noch nicht ausgepackt.«

»Was ist es denn?« fragte Marlene, die nun doch neugierig geworden war.

»Es ist ein Buch über die Länder, wo die Zitronen blühen. Ich hatte vor, mit dir im Herbst eine mehrwöchige Rundreise zu machen. Italien, Spanien, Griechenland – überallhin, wo es schön ist.«

»Das klingt wirklich verlockend, mein Liebster«, flüsterte Marlene. »Kann man die Reise auch ein Jahr später zu viert machen?«

»Ich werde sehen, was sich tun läßt«, raunte er zurück, bevor er sie zärtlich küßte, glücklich darüber, seine Leni so froh zu sehen.

Beide konnten nicht ahnen, welch steiniger Weg noch vor ihnen lag, bevor sie am Ziel ihrer Träume waren.

*

Elisabeth Weinzierl brauchte einige Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie offenbar nicht so erfolgreich in der Leitung ihres Heimes war, wie sie immer angenommen hatte.

Zwar hatte sie immer gewußt, daß die Kinder sie nicht gerade liebten, aber daß Yasmin einen Fluchtversuch unternommen hatte, verletzte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie fürchtete sogar, daß dieses Beispiel Schule machen könnte und in den kommenden Wochen noch mehr Jugendliche ausreißen würden. Was geschehen würde, wenn herauskam, daß sich Yasmin in einer Privatklinik befand, daran wagte sie gar nicht zu denken.

Elisabeth überlegte hin und her, was sie nun tun sollte, bis ihr ein Gedanke kam, den sie zuerst weit von sich schob. Doch er kehrte immer wieder zurück und setzte sich schließlich hartnäckig in ihrem Kopf fest. Sie mußte mit Yasmin sprechen und sie zur Rückkehr in das Heim bewegen. Dann würden alle Kinder sehen, daß eine Flucht zwecklos war.

Schließlich stand ihr Entschluß fest. Nach Dienstschluß kleidete sie sich um und fuhr mit dem Taxi in die Innenstadt. Da sie gegen den ausdrücklichen Wunsch von Schorsch Leitner handelte, hatte sie sich dazu entschlossen, erst gegen neun Uhr abends in die Klinik zu gehen. Sie nahm an, daß das Haus dann langsam zur Ruhe kam und weniger Schwestern auf der Station waren, die sie bemerken könnten.

Nervös schritt Elisabeth Weinzierl in der Fußgängerzone auf und ab und nahm das bunte Treiben um sich herum kaum wahr. Ihre Gedanken waren bei Yasmin. Sie hatte kein gutes Gefühl bei ihrem Vorhaben. Aber hatte sie eine Wahl? Immer öfter wanderte ihr Blick zu ihrer Uhr, doch die Zeit wollte nicht vergehen. Schließlich war es soweit, der kleine Zeiger wanderte auf die neun zu. Elisabeth gab sich einen Ruck, rief ein Taxi und nannte die Adresse der Privatklinik Dr. Leitner. Die Fahrt dauerte nicht lange, und fieberhaft legte sie sich die Worte zurecht, die sie wählen wollte. Das Gespräch mit Hans-Georg Leitner war ihr noch in lebhafter Erinnerung, und das war alles andere als zu ihrer Zufriedenheit verlaufen. Deshalb wollte sie dieses Mal besonders gut vorbereitet sein.

Das Taxi hielt vor der Klinik. Eine Weile stand sie unschlüssig vor dem Gebäude, bevor sie einen Nebeneingang benutzte. Tatsächlich waren die Flure der Klinik menschenleer, und es gelang ihr mühelos, Yasmins Zimmer zu erreichen, ohne jemandem zu begegnen.

»Störe ich?« säuselte sie in ihrem freundlichsten Ton, als sie das Krankenzimmer betrat, aber trotzdem erschrak Yasmin über alle Maßen. Leichenblaß saß sie in ihrem Bett und musterte Frau Weinzierl mit schreckgeweiteten Augen.

»Jetzt schau mich doch nicht an, als ob ich ein Gespenst wäre«, versuchte diese zu scherzen, doch sie entlockte Yasmin damit kein Lächeln.

»Was wollen Sie von mir?« flüsterte das Mädchen tonlos.

»Ich möchte nur mit dir sprechen«, versicherte Elisabeth und legte Yasmin vertraulich die Hand auf den Arm. »Sieh mal, es ist doch nicht schön, einfach auszureißen. Ich habe mir gedacht, dir tut es inzwischen sehr leid, daß das passiert ist und du möchtest mit mir darüber reden.«

»Nein, ich habe nichts zu sagen«, entgegnete Yasmin trotzig.

»Haben wir nicht immer alles für dich getan, Kleines?« fragte Elisabeth vorwurfsvoll.

»Doch«, gestand diese leise. »Fanny war immer sehr nett und hat sich viel Mühe gegeben.« Und nach einem kurzen Schweigen fuhr sie fort. »Ich finde auch, daß es vielen Kindern guttut, wenn Sie so konsequent sind.«

Damit hatte Frau Weinzierl nicht gerechnet. »Das meinst du wirklich?« fragte sie erstaunt. »Aber warum bist du dann weggelaufen?«

»Sie haben mich sehr ungerecht behandelt.«

»Du hast gegen die Regeln verstoßen. Strafe muß sein, findest du nicht?«

»Ich bezahle den Rest meines Lebens für diesen Fehler«, sagte Yasmin bitter und warf einen verzweifelten Blick auf ihren Bauch, in dem das Baby heftig strampelte. Es spürte die Aufregung seiner Mutter.

»Du stehst deinem Kind so negativ gegenüber. Ich dachte, du hattest es dir gewünscht?«

»Kennen Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen, das sich ein Kind wünscht?« fragte Yasi empört.

»Man hört doch immer wieder davon«, war die überhebliche Antwort.

»Sehen Sie, und das ist auch der Grund, warum ich weggelaufen bin. Ich lebe nun schon so lange in diesem Heim, und im Grunde genommen kennt mich niemand!« stieß Yasmin hervor.

»Du hast Fanny ja keine Chance gegeben. Sie hat sich immer bei mir beschwert, daß du sie nicht mehr an deinem Leben und deinen Gefühlen teilhaben läßt«, sagte Elisabeth. Das entsprach zwar nicht ganz den Tatsachen, denn Fanny hatte sich beileibe nicht beschwert, sondern immer nur besorgt geäußert, doch für Elisabeth war es eine willkommene Lüge.

Sie ahnte nicht, welche Wirkung diese Worte bei Yasmin hatten.

»Fanny hat sich über mich bei Ihnen beschwert?« fragte sie tonlos.

»Das hat sie. Und nicht nur einmal.« Elisabeth wähnte sich als Siegerin in diesem Gespräch. Wenn Yasi erkannte, wie groß ihr Einfluß als Heimleiterin war, würde sie sicher klein beigeben und folgsam mit zurückkommen.

»Du siehst, wir ziehen alle an einem Strang. Wir alle wollen nur dein Bestes. Deshalb haben wir auch beschlossen, daß du ins Heim zurückkommen sollst. Was hältst du davon?«

Immer noch starrte Yasmin erschüttert vor sich hin. Obwohl sie ihr nicht alles anvertraut hatte, war Fanny doch ihre einzige Vertrauensperson im Heim gewesen. Aber selbst in ihr schien sie sich getäuscht zu haben. Gab es denn niemanden auf dieser Welt, dem sie vertrauen konnte? Elisabeth Weinzierls Worte nahm sie mit scheinbarem Gleichmut hin, doch innerlich reifte ein Entschluß.

»So antworte doch!« tönte die ungeduldige Stimme Elisabeths an ihr Ohr.

»Ich tue, was Sie von mir verlangen«, antwortete Yasmin tonlos, und die Heimleiterin lächelte triumphierend. Plötzlich war alles Scharfe aus ihrer Stimme gewichen.

»Ich wußte doch, daß du ein braves Kind bist«, erklärte sie zufrieden und erhob sich. »Morgen werde ich alles in die Wege leiten, damit du noch vor der Entbindung wieder zu Hause sein kannst. Wie lange dauert es eigentlich noch?«

»Ungefähr eine Woche, wenn es pünktlich ist«, antwortete Yasmin mechanisch.

»Gut. Du mußt mir nur versprechen, daß du Dr. Leitner sagst, daß es dein eigener Wunsch ist, die Klinik zu verlassen.«

»Ich habe doch schon gesagt, ich tue, was Sie von mir verlangen«, antwortete Yasmin ungeduldig. Einen kurzen Augenblick ahnte Elisabeth Weinzierl, daß das Gespräch nicht den gewünschten Erfolg haben würde. Doch sie ließ diesem Gefühl keinen Raum. Sie hatte erreicht, was sie wollte und verabschiedete sich zufrieden. Hätte sie geahnt, welches Unglück sie mit ihren Worten ausgelöst hatte, dann hätte sie in dieser Nacht kein Auge zugetan.

Wie erstarrt saß Yasmin in ihrem Bett, als Elisabeth Weinzierl sie verlassen hatte. Sie schenkte dem heftig strampelnden Kind in ihr keine Beachtung. All ihre Gedanken waren nur auf ein Ziel gerichtet: nicht ins Heim zurück! Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, doch auf einmal erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Ihr war klar, was sie zu tun hatte. Yasmin stieg aus dem Bett und ging zum Schrank. Dort waren ihre wenigen Habseligkeiten verstaut, die Fanny ihr bei dem Besuch bei Hans-Georg Leitner mitgebracht hatte. Da sie selbst sie nicht besuchen durfte, hatte ihr eine Schwester die Tasche gebracht. Yasmin hob sie aufs Bett und holte eine weite Hose und einen Pullover hervor. Nachdem sie sich umgezogen hatte, legte sie den kleinen weißen Bären hinein, den ihr Marlene Gordon geschenkt hatte. Er hatte sie wirklich getröstet, aber wohl mehr aus dem Grund, weil er ihr die Hoffnung auf eine Veränderung in ihrem Leben geschenkt hatte. Diese Träume hatte Elisabeth Weinzierl mit einem einzigen Satz zerstört. Es war nicht ihre Bestimmung, glücklich zu werden. Tränen stiegen Yasmin bei dieser Erkenntnis in die Augen, und sie war sich sicher, Marlene nie mehr wiederzusehen. Heftig zog sie den Reißverschluß der Tasche zu und machte sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft.

*

Fee Norden schlief schlecht in dieser Nacht. Von Alpträumen geplagt, warf sie sich unruhig im Bett hin und her. Sie träumte von Yasmin, die sich in größter Gefahr befand. Doch diesmal konnte sie ihr nicht helfen. Erschrocken fuhr Fee hoch und sah sich um. Erleichtert stellte sie fest, daß sie sich noch in der Klinik befand und es keinen Anlaß zur Sorge gab. Ihr Zustand hatte sich schon etwas gebessert, sie fühlte sich deutlich wohler. Erleichtert legte sie sich wieder hin und dachte an Yasmin. Wie mochte es dem unglücklichen Kind wohl gehen? Fee beschloß, gleich am nächsten Morgen Daniel danach zu fragen. Über ihrer eigenen Krankheit hatte sie Yasmin ganz vergessen, doch jetzt kehrte die Sorge um das Mädchen um so heftiger zurück. Sie ist doch bei Schorsch in guten Händen, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Doch ein ungutes Gefühl blieb, und als Fee endlich wieder einschlief, begleitete es sie durch ihre Träume.

*

Leise tappte Yasmin durch die dunklen Gänge der Klinik. Vorsichtig schlich sie an den Zimmern vorbei, in denen sich die Schwestern während ihres anstrengenden Dienstes ausruhten und eine Tasse Kaffee trinken konnten. Einen kurzen Moment dachte Yasmin daran, Hilfe bei Marlene zu suchen, aber vielleicht täuschte sie sich auch, und die Gordons wollten sie gar nicht haben. Diese Enttäuschung wollte Yasmin sich ersparen.

Niemand bemerkte das schwangere Mädchen. Einerseits war sie darüber sehr erleichtert, andererseits wünschte sie sich nichts mehr, als von Marlene entdeckt und in Sicherheit gebracht zu werden. Doch nichts dergleichen geschah, und endlich stand Yasi im schwachen Licht der Straßenlaternen in der Dunkelheit. Es war nicht kalt, dennoch fröstelte sie vor Aufregung und Anstrengung. Unschlüssig, in welche Richtung sie gehen sollte, blickte sie sich um. Sie stand in der Nähe des Nebeneingangs der Leitner-Klinik in einer ruhigen Seitenstraße, und obwohl sie sich in der Großstadt befand, war es gespenstisch still.

Als sie etwas entfernt eine

dunkle Gestalt im schwachen Lichtschein bemerkte, die taumelnd auf sie zukam, kroch die Angst in ihr hoch. Schnell wandte sie sich ab und bog in einen kleinen Weg ein. Hier gab es keine Beleuchtung, und langsam ging Yasmin weiter. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte und war nur darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden.

Lange Zeit wanderte sie durch die verborgenen Winkel des Stadtviertels und fühlte bald eine große Erschöpfung. Sie setzte sich auf eine Bank, um sich ein wenig auszuruhen und ärgerte sich darüber, daß sie vergessen hatte, eine Flasche Wasser aus der Klinik mitzunehmen. Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist. Dieser Spruch kam ihr plötzlich in den Sinn. Es war Elisabeth Weinzierls Motto, das sie zu jeder Gelegenheit zitiert hatte. Waisenkindern gegenüber zeugten diese Worte nicht von großer Feinfühligkeit, doch auf einmal mußte Yasmin darüber lächeln.

Dann verging ihr das Lächeln. Aus dem düsteren Hauseingang, der gegenüber der Bank lag, auf der sie sich gerade ausruhte, kam eine große Gestalt. Yasmin konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch schnell war ihr klar, daß es ein Mann war, der sie eben entdeckt hatte. Erschrocken erkannte Yasmin, daß es zur Flucht zu spät war.

»Hallo, junges Fräulein, was machst du denn hier mitten in der Nacht?« fragte er, als er nähergekommen war.

Sie musterte ängstlich sein unrasiertes Gesicht mit den glasigen Augen. Obwohl er getrunken hatte, schwankte seine Stimme nicht. Als er sich neben Yasmin setzte, schlug ihr sein nach Alkohol und Zigaretten stinkender Atem entgegen.

Erschrocken sprang sie auf, doch er packte sie grob am Handgelenk.

»Ich erwarte eine Antwort!« erklärte er grob und drückte sie hart auf die Sitzfläche zurück.

»Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig«, antwortete Yasmin, indem sie ihren ganzen Mut zusammennahm. Aber ihr Widerstand reizte den Fremden nur noch mehr.

»Frech werden auch noch, was?« fragte er und lachte höhnisch.

Yasmin wurde vor Angst schlecht. Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Doch mit aller Kraft hielt sie sich aufrecht. »Dir gehört eine anständige Tracht Prügel. Aber ich glaube, ich habe noch eine bessere Idee!« Mit diesen Worten zog er sie zu sich heran und drückte seinen widerwärtigen Mund auf ihren Hals. Mit letzter Energie biß sie in seine stoppelige Wange und stieß den überraschten Mann gleichzeitig von sich.

Er fluchte und wollte nach ihr greifen, doch Yasmin war schon aufgesprungen und rannte so schnell sie konnte davon. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß er sie verfolgte. Näher und näher kam er und als er sie fast erreicht hatte, stolperte Yasmin. Sie stürzte hart, und bevor sie ohnmächtig wurde, bemerkte sie noch, wie sich der Fremde mit einem hämischen Lachen über sie beugte.

*

Endlich war die Nacht vorbei. Fee fühlte sich wie zerschlagen, doch als die Vögel ihren Morgengesang anstimmten, wurde ihre Stimmung besser.

»Guten Morgen, Frau Dr. Norden. Haben Sie gut geschlafen?« wurde sie freundlich von Schwester Margret begrüßt, die eine neue Infusionsflasche brachte.

»Leider nein. Ich hatte schreckliche Träume und bin froh, daß der Tag endlich da ist«, gestand Fee müde.

»Manchmal gibt es solche Nächte, die es in sich haben. Vielleicht hat es tatsächlich etwas mit dem Mond zu tun. Heute nacht war Neumond, und ich habe auch nicht besonders gut geschlafen.«

»Eigentlich glaube ich nicht an solche Sachen, aber inzwischen bin ich mir, was den Mondeinfluß angeht, gar nicht mehr so sicher. Wenn ein Planet so großen Einfluß auf die Weltmeere hat, warum sollte er dann die Menschen und Pflanzen nicht auch beeinflussen können?« sagte Fee.

»Ich habe mich ein bißchen mit dem Mondkalender beschäftigt. Leider habe ich keine Zeit, mich in allem daran zu halten. Bei Friseurterminen muß ich mich an meinen Dienstplan halten und kann nicht auf den Mond Rücksicht nehmen. Sonst hätte ich inzwischen eine rechte Mähne auf dem Kopf«, lachte die Schwester vergnügt. »Aber ich bin beispielsweise eine begeisterte Gärtnerin, und in dieser Hinsicht erzielt man wirklich große Erfolge, wenn man sich an die günstigen Tage für Pflanzung und Düngung hält«, erzählte sie enthusiastisch weiter.

»Das ist ja interessant. Wir haben einen großen Garten, vielleicht sollte ich es auch einmal probieren.«

»Tun Sie das, Sie werden begeistert sein«, versicherte Margret, während sie die Infusionsflaschen austauschte. »Haben Sie einen besonderen Wunsch zum Frühstück?«

»Eine Tasse Kräutertee wäre schön. Sonst brauche ich nicht viel«, sagte Fee. So gut ging es ihr noch nicht, daß sie großen Appetit verspürt hatte.

Margret protestierte. »Sie müssen etwas essen, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Vielleicht können Sie sich für Grießbrei begeistern.«

Fee schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, das klingt nicht sehr verlockend, aber er ist sehr nahrhaft und leicht verdaulich. Genau das, was Ihr Körper jetzt braucht«, beeilte sich die Schwester zu sagen.

Fee mochte ihr nicht widersprechen.

»Also gut, Sie haben mich überredet«, gab sie sich geschlagen. »Aber nur eine kleine Portion.«

Lachend verließ Margret das Zimmer, als es kurz darauf erneut klopfte.

Jenny Behnisch, die Leiterin der Behnisch-Klinik, die ihr verstorbener Mann Dieter aufgebaut hatte, betrat mit den Ärzten und Schwestern das Zimmer zur Visite.

»Guten Morgen, Fee. Wie ich sehe, geht es dir bereits ein bißchen besser«, begrüßte sie die Frau ihres Kollegen und Freundes Daniel Norden.

»Sagen wir mal, ich befinde mich wieder unter den Lebenden«, lächelte Fee.

»So ganz schnell läßt es sich nicht reparieren, was du in den letzten Tagen versäumt hast«, mahnte Jenny streng. »Du hättest viel eher in die Klinik gehört.«

»Ich weiß«, sagte Fee kleinlaut. »Es war mein Fehler. Daniel drängte mich die ganze Zeit, aber bis zuletzt habe ich mich zur Wehr gesetzt. Ich wollte meine Familie nicht allein lassen.«

»In deinem Zustand warst du deiner Familie sicher keine große Hilfe«, sagte Jenny anzüglich, doch sie lächelte gutmütig dabei. Dann erkundigte sie sich bei der Schwester nach Blutdruck und Fieber.

»Das sieht ja alles ganz gut aus. Ich komme nachher noch einmal, um dir Blut abzunehmen. Deine Blutwerte waren katastrophal. Hoffentlich hat sich das auch geändert.« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich, und das Team verließ das Zimmer, um auch die anderen Patienten zu besuchen. Erschöpft schloß Fee die Augen. Sie mußte kurz eingeschlafen sein, denn als sie wieder erwachte, stand ein Tablett mit ihrem Frühstück auf dem Nachtkästchen, und Daniel saß an ihrem Bett. Sie hatte nicht bemerkt, wie er das Zimmer betreten hatte. Sie lächelte ihn an.

»Guten Morgen, mein Liebling«, lächelte auch er und nahm behutsam ihre Hand. »Hast du gut geschlafen?«

»Leider nicht. Aber ich hatte heute morgen schon eine angeregte Unterhaltung mit einer Schwester. Sie erklärte mir glaubhaft, das läge am Mond.«

»Es ist schön zu hören, daß es dir schon wieder so gutgeht, daß du angeregte Gespräche führen kannst«, sagte Daniel und versuchte erst gar nicht, seine Erleichterung darüber zu verbergen.

»Weinst du, mein Schatz?« Fee hob verwundert den Kopf.

»Es ist nur die Freude darüber, daß es dir bessergeht«, erklärte Daniel und strich sich über die Augen. »Du ahnst ja nicht, welche Sorgen ich mir gemacht habe.«

»Es ist ja alles gutgegangen. Und ich verspreche, daß ich mich bessern werde«, sagte sie gerührt.

»Vor allen Dingen mußt du dich gründlich auskurieren. Ich habe Jenny schon gesagt, daß sie dich so lange wie nötig hierbehalten soll. Nicht daß du meinst, daß du in einer Woche schon wieder zu Hause herumspringen kannst«, mahnte er streng.

»Ich tue alles, was Sie wollen, Herr Doktor«, scherzte Fee, doch er wußte, daß sie ihn verstanden hatte. »Wie geht es den Kindern? Wird Lenni die Arbeit nicht zuviel?« erkundigte sie sich dann besorgt.

»Wir haben alles gut im Griff. Dadurch, daß die beiden Kleinen vormittags im Kindergarten sind, hat sie etwas Ruhe. Und die drei Großen helfen am Nachmittag schon fleißig mit. Ich bin mehr als zufrieden mit ihnen«, erzählte Daniel.

»Wie schön, das zu hören«, freute sich auch Fee. »Ich vermisse sie schon sehr.«

»Ein paar Tage sollten wir noch warten, bevor sie dich besuchen kommen.«

»Vielleicht hast du recht. Ich bin noch sehr schwach.«

»Du solltest etwas essen«, sagte Daniel, dessen Blick auf das volle Tablett gefallen war.

»Aber ich habe doch gar keinen Hunger«, jammerte Fee, ließ sich dann doch zu ein paar Löffeln Grießbrei überreden. »Gar nicht so übel«, gab sie dann erleichtert zu. »Aber jetzt reicht es.«

»Möchtest du schlafen?« erkundigte sich Daniel, der ihren erschöpften Gesichtsausdruck bemerkte.

»Ich glaube schon.« Müde schloß sie die Augen. Daniel stand auf und drückte ihr einen sanften Kuß auf die Stirn. Doch als er schon bei der Tür war, rief Fee ihn noch einmal zurück. »Mir ist noch etwas eingefallen. Heute nacht habe ich über die kleine Yasmin Pecher nachgedacht. Weißt du etwas von ihr?«

»Diese Frau!« Daniel schüttelte den Kopf. »Da bist du selbst todkrank und denkst über andere nach. Nein, ich habe nichts Neues von ihr gehört. Sie sollte zumindest bis zur Entbindung und eine Woche danach bei Schorsch bleiben. Warum fragst du?«

»Ich weiß auch nicht. Ich hatte so ein komisches Gefühl. Aber vielleicht spielt mir auch nur meine Krankheit einen Streich«, seufzte sie. Kurz darauf war sie tief und fest eingeschlafen.

*

Schorsch Leitner war in heller Aufregung, als die Schwestern ihn am Morgen über das Verschwinden von Yasmin Pecher informierten. Er rief sofort bei der Polizei an und verständigte auch Elisabeth Weinzierl. Ihre Reaktion am Telefon war überaus heftig, und er wunderte sich kurz darüber. Doch er hatte weder Zeit noch Lust, sich über diese Person Gedanken zu machen. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten. In dieser verzweifelten Stimmung erhielt er die Nachricht, daß Sascha und Marlene Gordon um einen Termin bei ihm baten. Er brachte es nicht übers Herz, diese unglücklichen Menschen abzuweisen, so empfing er sie kurze Zeit später in seinem Büro.

»Bitte nehmen Sie doch Platz. Was kann ich für Sie tun?« erkundigte er sich freundlich und wunderte sich über die entspannten Mienen der beiden. Als er sie zuletzt gesehen und mit ihnen gesprochen hatte, waren sie in tiefer Verzweiflung gewesen. Heute schienen sie glücklich und gelöst.

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Dr. Leitner, aber wir müssen unbedingt mit Ihnen sprechen«, begann Sascha das Gespräch. An seinen Fingern, die nervös mit einem Schlüssel spielten, erkannte Schorsch seine Nervosität.

»Um was geht es?«

»Es geht um Yasmin Pecher«, erklärte Marlene ungeduldig.

Hans-Georg Leitner erstarrte. »Was wissen Sie über Yasmin?«

Sascha sah ihn erstaunt an.

»Stimmt etwas nicht mit Yasmin?«

»Bitte sagen Sie mir zuerst, was Sie auf dem Herzen haben«, bat Schorsch ungehalten.

»Wir haben uns dazu entschlossen, das arme Mädchen zu adoptieren und wollten Ihren Rat dazu einholen«, erklärte Marlene überrascht. So kannte sie den sonst so freundlichen, besorgten Klinikchef nicht.

Bei dieser Nachricht entspannte sich Schorschs Gesicht etwas. Einen Moment hatte er geglaubt, die Gordons hätten etwas mit Yasmins Verschwinden zu tun. Doch sogleich verfinsterte sich seine Miene wieder. »Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß wir im Moment ganz andere Sorgen mit Yasmin haben.«

»Was soll das heißen?« fragte Marlene mit schriller Stimme. »Ist ihr etwas zugestoßen?«

»Sie ist heute nacht verschwunden. Die Polizei und das Heim sind schon informiert«, erklärte Schorsch knapp.

»Das darf nicht wahr sein!« Bei diesen Worten war Marlene leichenblaß geworden. »Wer hat dieses verschreckte Kind zu so einem Schritt veranlaßt?«

»Wie kommen Sie darauf, daß daran jemand schuld sein könnte?« fragte Schorsch erstaunt.

»Ich hatte ein langes, intensives Gespräch mit ihr. Sie hat sich mir anvertraut, weil ich sie an ihre Mutter erinnere, die sie im Alter von drei Jahren auf tragische Weise verloren hat. Ist es nicht merkwürdig, daß sie einer wildfremden Frau ihre Geschichte erzählt, obwohl sie seit Jahren in diesem Heim lebt und dort eigentlich Vertrauenspersonen haben müßte?«

Diesem Argument konnte sich Schorsch nicht entziehen. »Sie haben recht, das ist in der Tat verwunderlich.«

»Yasmin hatte keinen Grund dafür, in dieser Situation wegzulaufen. Sie wußte, daß ich ihr helfen wollte. Sie hat mir vertraut. Es muß also etwas vorgefallen sein, was sie zur Flucht veranlaßt hat«, erklärte Marlene überzeugt.

»Gab es etwas, wovor sie sich fürchtete?« forschte Hans-Georg Leitner weiter.

»Sie hatte große Angst davor, ins Heim zurück zu müssen und wünschte sich nichts mehr, als endlich eine Familie zu finden.«

»Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschlossen, sie bei uns aufzunehmen. Wenn uns eigene Kinder schon verwehrt bleiben, soll wenigstens so ein verzweifelter junger Mensch eine Chance bekommen«, bestärkte Sascha die Worte seiner Frau.

»Das ist wirklich sehr großmütig von Ihnen. Doch zuerst müssen wir herausfinden, was geschehen ist. Ich glaube, ich habe schon einen Verdacht«, sagte Schorsch, dem plötzlich die merkwürdige, überaus heftige Reaktion von Elisabeth Weinzierl eingefallen war, als er sie über das Verschwinden von Yasmin in Kenntnis gesetzt hatte.

»Ist es jetzt nicht wichtiger, sie zu finden?« fragte Marlene.

»In der Tat ist sie in großer Gefahr«, gab Schorsch unumwunden zu. »Sie befindet sich kurz vor der Entbindung, und außerdem leidet sie unter Bluthochdruck.«

»Wir müssen sie finden!« stieß Sascha hervor. Obwohl er Yasmin nicht kennengelernt hatte, litt er mit ihr wie mit einer eigenen Tochter. Auch er hatte in dieser Nacht wachgelegen und nach langem Grübeln erkannt, daß die Adoption von Yasmin seinem Leben den Sinn geben würde, den er so sehr vermißte.

»Mir sind die Hände gebunden«, sagte Schorsch niedergeschlagen. »Ich werde hier gebraucht. Alle nötigen Instanzen sind informiert, und die Polizei ist bereits auf der Suche nach ihr. Wenn Sie Zeit haben, ist es natürlich nur von Vorteil, wenn Sie sich daran beteiligen.«

»Kann meine Frau die Klinik denn verlassen?« erkundigte sich Sascha vorsichtshalber.

»Heute, spätestens morgen hätte ich Ihnen ohnehin angeboten, nach Hause zu gehen. Sie haben alles gut überstanden, so daß es keinen Grund gibt, länger in der Klinik zu bleiben. Allerdings sollten Sie sich nicht überanstrengen und auf die Signale Ihres Körpers achten. Dann denke ich, kann Ihnen nichts passieren«, erklärte Hans-Georg zu Marlene gewandt.

»Also los«, erklärte sie entschlossen, und in plötzlicher Eile verließ das Ehepaar Gordon das Büro. Hans-Georg Leitner blieb betrübt zurück. Er wagte nicht daran zu denken, was aus Marlene, Sascha und Yasmin werden sollte. Mehr als deutlich erkannte er, daß das Schicksal dieser drei Menschen auf dem Spiel stand.

*

Mühsam stieg die alte Frau Merker die Treppen von ihrer Wohnung, die im dritten Stock eines alten Wohnhauses lag, hinunter. In der einen Hand trug sie einen Müllbeutel, den sie in die Tonne werfen wollte, mit der anderen stützte sie sich schwerfällig auf einen Stock.

Das arthritische Knie wollte nicht mehr so richtig und schmerzte bei jeder Bewegung. Doch sie hatte niemanden, der ihr helfen konnte. So biß sie die Zähne zusammen und ging tapfer weiter. Vor der Haustür angekommen, kniff sie die Augen zusammen, so sehr blendete sie das grelle Sonnenlicht. Als sie sich daran gewöhnt hatte, ging sie langsam weiter, vorbei an dem Gebüsch, das das Tonnenhäuschen säumte. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und sah zu Boden. Unweit von ihr, auf einem Rasenstück, im Schatten einiger Sträucher, lag eine Gestalt und regte sich nicht. Frau Merker rieb sich die Augen, auf die sie sich trotz ihres hohen Alters bisher immer hatte verlassen können und schaute noch einmal hin.

Tatsächlich, es gab keinen Zweifel, da lag ein Mensch reglos am Boden. Vor Schreck ließ sie den Müllbeutel fallen und überlegte einen Moment, was sie tun sollte. Da sie aber schon immer eine sehr selbständige Frau gewesen war, ging sie nun mutig und auf alles gefaßt, auf die Gestalt zu. Als ehemalige Krankenpflegerin hatte sie schon oft Schreckliches gesehen, doch der Anblick des offenbar hochschwangeren Mädchens, das leichenblaß dort auf dem Boden lag, trieb ihr die Tränen in die Augen. So schnell es ging, bückte sie sich und ließ sich schwerfällig neben dem Mädchen auf dem Boden nieder. Mit geübtem Griff faßte sie an ihr Handgelenk und atmete kurz darauf erleichtert auf. Der Puls, den sie fühlte, war zwar schwach und unregelmäßig, aber zumindest war er da. Mühsam stand sie wieder auf und kramte in ihrer Kitteltasche nach Kleingeld. Herta Merker zog ein paar Münzen hervor, die sie umständlich studierte, denn noch immer hatte sie sich nicht an die neue Währung gewöhnen können. Schließlich stellte sie fest, daß es zum Telefonieren reichen würde und humpelte dann zu der Telefonzelle, die unweit am Straßenrand stand. Glücklicherweise handelte es sich noch um ein Münztelefon und nicht um einen Apparat, den man nur mit einer Karte bedienen konnte. Mit zitternden Fingern wählte die alte Frau die Nummer der Polizei.

*

»Das ist Yasmin Pecher«, identifizierte Schorsch Leitner kurze Zeit später die junge Frau. Als die Polizei den Notruf von Frau Merker weitergeleitet hatte, vergaßen die Beamten auch nicht, die Klinik zu informieren, die sofort einen Krankenwagen in das angegebene Wohnviertel schickte. Mehrere Beamte waren bereits vor Ort, und Dr. Leitner, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den Rettungswagen zu begleiten, trieb seine Sanitäter zur Eile an. Keine Sekunde durfte mehr verloren werden. Noch war nicht klar, ob das Baby im Leib der Mutter noch lebte, und auch das Leben von Yasmin hing nach der langen Ohnmacht am seidenen Faden.

»Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte ein Polizist freundlich zu Frau Merker, die immer noch da war, um mitzuverfolgen, was mit dem Mädchen geschah.

»Aber das ist doch selbstverständlich«, erklärte die alte Frau und machte bereitwillig Angaben zu ihrer Person, damit sie informiert werden konnte, wie Yasmin und das Baby alles überstehen würden.

»Hier haben wir eine Tasche gefunden!« rief ein junger Polizist, der zusammen mit seinem Kollegen das Gelände nach verdächtigen Spuren abgesucht hatte.

»Wir untersuchen den Inhalt und geben die Tasche dann schnellstmöglich zurück«, erklärte der Polizist Dr. Leitner, dann brach der Krankenwagen mit Blaulicht auf. Unterwegs informierte er die Klinik, damit ein Operationssaal vorbereitet wurde. Nach ersten Untersuchungen hatte sich herausgestellt, daß Yasmins Zustand einigermaßen stabil war, die Herztöne des Kindes allerdings kaum noch zu hören waren. Ein schneller Kaiserschnitt war unumgänglich.

Noch im Rettungswagen erhielt Yasmin eine Sauerstoffmaske und eine kreislaufstärkende Infusion, denn im Gegensatz zu den letzten Tagen war ihr Blutdruck dramatisch abgesunken. Schorsch Leitner war über alle Maßen erleichtert, als diese Maßnahmen einen schnellen Erfolg zeigten. Yasmin kam noch im Krankenwagen kurz zu Bewußtsein. Verwirrt blickte sie sich um und sah in sein erleichtertes Gesicht.

»Der Mann..., er hat mich verfolgt..., wo ist er?« Mit schreckgeweiteten Augen sah sie sich um und machte sogar den Versuch, sich aufzurichten, aber Schorsch hielt sie mit sanfter Gewalt zurück.

»Alles wird gut, meine Kleine. Sei unbesorgt«, sagte er leise. Sie erkannte ihn zwar nicht, doch sein beruhigender Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht. Sie entspannte sich augenblicklich, und mit einem leisen Stöhnen sank sie zurück auf die Liege. Sie wurde also verfolgt, dachte Schorsch bei sich und nahm sich vor, diese Information bei nächster Gelegenheit an die Polizei weiterzugeben. Doch jetzt hatten Yasmin und das Baby Vorrang.

»Es tut so weh«, flüsterte sie auf einmal mit geschlossenen Augen. Ihre Hände krampften sich in das Laken, mit dem sie bedeckt war.

»Sie hat Wehen«, sagte Dr. Leitner leise zu dem Sanitäter, der ihn begleitete. »Geben Sie wehenhemmende Mittel. Hoffentlich sind wir bald in der Klinik. Eine normale Entbindung könnte den Tod für das Kind und eine große Gefahr für Yasmin bedeuten.«

Mit Blaulicht raste der Rettungswagen durch die Straßen. Endlich hatte er sein Ziel erreicht, und in Windeseile wurde Yasmin in den Operationssaal gefahren. Sie hatte die Augen geschlossen und bekam nicht viel von der Aufregung mit, die um sie herum

herrschte. Nur manchmal hörte man ein leises Stöhnen.

»Gleich hast du es geschafft«, redete Schorsch beruhigend auf sie ein und gab dem Anästhesisten ein Zeichen, daß er mit der Narkose beginnen konnte. »Du bekommst jetzt eine Narkose, damit wir dein Baby sicher zur Welt bringen können. Hab’ keine Angst, du wirst nichts davon spüren«, erklärte er ihr noch, unsicher, ob seine Worte überhaupt zu ihr vordrangen. Dann verließ er Yasmin, um sich auf die Operation vorzubereiten.

*

»Schwester, Skalpell!« dirigierte er, als Yasmin in tiefen Schlaf gefallen war und setzte einen kurzen, präzisen Schnitt. Seit einiger Zeit wurde in der Leitner-Klinik der sanfte Kaiserschnitt angewandt, bei dem nur wenig geschnitten und der entstandene Schnitt dann vorsichtig gedehnt wurde, um das Baby aus der Gebärmutter zu holen. Routiniert und zügig durchtrennte Dr. Leitner die Gewebeschichten, die ihn von der Gebärmutter trennten. Kurz darauf hatte er es geschafft. Nachdem das Fruchtwasser aus der Gebärmutter abgesaugt war, hob er den Säugling aus der schützenden Hülle. Es war ein zarter, kleiner Bub, der nur einen schwachen, jedoch sehr empörten Schrei von sich gab.

»Schnell, unter die Sauerstoffdusche«, ordnete Schorsch an, denn die Haut des Babys schimmerte bläulich. Der kleine Junge wurde eilig in weiche, vorgewärmte Tücher gewickelt, bevor die Hebamme ihn wegbrachte. Schorsch schaute ihr einen Moment zweifelnd nach. Würde es der Kleine schaffen? Doch es blieb keine Zeit zum Grübeln. Jetzt hatte er die Aufgabe vor sich, Yasmins Wunde wieder zu schließen. Er arbeitete zügig. Hin und wieder erkundigte er sich beim Anästhesisten nach ihrem Zustand, doch es gab keinen Grund zur Sorge. Alle Werte lagen im normalen Bereich. Zumindest sie würde die Operation mit großer Wahrscheinlichkeit gut überstehen.

Endlich war es geschafft, und Yasmin konnte aus dem OP in einen Ruheraum gebracht werden, in dem sie noch einige Stunden überwacht wurde. Dr. Leitner streifte erschöpft die Handschuhe ab. Er konnte es kaum erwarten, den neuen Erdenbürger zu sehen. Nachdem er sich die Hände gewaschen und die Operationskleidung abgelegt hatte, eilte er in den Raum, in dem die Neugeborenen versorgt wurden.

»Wie geht es unserem Sorgenkind?« fragte er die Hebamme.

»Sehen Sie selbst«, antwortete sie mit einem mütterlichen Lächeln und führte ihn zu einem Brutkasten. Dort lag mit einem engelsgleichen Lächeln, wie es nur Neugeborene haben, der süße Bub und schlief tief und fest.

»Ist es nicht ein hübsches Kind?« fragte die Hebamme so stolz, als wäre es ihr eigenes.

»Hat der Kinderarzt ihn gesehen?« war jedoch die Frage, die Schorsch mehr auf der Seele brannte.

»Natürlich. Es ist alles in Ordnung. Offenbar hat der Kleine die Aufregungen gut überstanden. Dr. Künert ist der Meinung, daß er vorsichtshalber noch ein paar Tage im Brutkasten verbringen sollte, da er sehr zart ist und leicht auskühlen könnte. Ansonsten geht es ihm gut.« Das war es, was Schorsch wissen wollte. Nun konnte er sich beruhigt dem Anblick des Kindes widmen, und er freute sich aufrichtig, daß Mutter und Kind wohlauf waren.

»Nicht viele Kinder sind so ansehnlich nach der Geburt wie dieses hier«, erklärte die Hebamme nachdrücklich.

»Hoffentlich macht es das der Mutter einfacher, sich mit ihm zu versöhnen«, sagte er nachdenklich und verließ dann das Zimmer, um Marlene und Sascha auf ihrem Handy anzurufen, um sie über den glücklichen Ausgang der aufregenden Geschichte zu informieren.

*

»Was ist geschehen? Wo bin ich?« flüsterte Yasmin, als sie Stunden später aus der Narkose erwachte.

»Es wird alles gut, meine Kleine!« flüsterte Marlene, die schon lange an ihrem Bett saß und unermüdlich ihre Hand gestreichelt hatte. Tränen standen in ihren Augen.

Verwirrt wandte Yasmin ihr den Kopf zu. »Mama?« fragte sie, noch halb im Schlaf, und ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, bevor sie die Augen wieder schloß.

Jetzt war es um Marlenes Fassung geschehen. Sie wandte sich tränenüberströmt zu Sascha um, der hinter ihr stand und die Hände fürsorglich auf ihre Schultern gelegt hatte.

»Ich verstehe die Frauen nicht. Sie weinen immer erst, wenn alles gut überstanden ist«, sagte er lächelnd, doch auch in seinen Augen glitzerte es verdächtig.

»Wie findest du deine Tochter?« fragte Marlene schließlich, als sie sich etwas beruhigt hatte.

»Viel kann ich noch nicht sagen, aber wie ich schon sagte, auf deine Menschenkenntnis ist Verlaß. Sie sieht aus wie ein sehr nettes, tapferes Mädchen. Allerdings wird es eine Zeitlang dauern, bis ich mich an den Gedanken gewöhnt habe, Vater einer erwachsenen Tochter mit Kind zu sein.«

»Das heißt, daß wir gleichzeitig Eltern und Großeltern werden«, kam es Marlene in den Sinn, die sich noch nicht viele Gedanken über das Baby gemacht hatte. Nachdem sie erfahren hatte, daß der Kleine wohlauf war, hatte sie ihre ganze Aufmerksamkeit Yasmin gewidmet. Sie war es schließlich in erster Linie, der das Ehepaar Gordon helfen wollte, und unweigerlich war damit das Schicksal des Kleinen verbunden. Doch davon ahnte Yasmin zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

Vorsichtig öffnete sich die Tür, und Schorsch betrat das Zimmer. Er hielt die Tasche in der Hand, die die Beamten in der Wohnsiedlung gefunden und soeben vorbeigebracht hatten. Der Inhalt war vollkommen unverdächtig gewesen.

»Wie geht es unserer Patientin?« erkundigte er sich leise, und Marlene erhob sich, um dem Arzt Platz zu machen.

»Sie wird langsam wach«, erklärte sie mit einem liebevollen Blick auf das blasse Gesicht.

Yasmin stöhnte leise.

»Hat sie Schmerzen?« erkundigte sich Marlene besorgt.

»Nein, denn in der Infusionsflüssigkeit ist ein Schmerzmittel enthalten. Das ist deshalb so wichtig, damit der Schmerz nicht so stark wird, denn dann ist es schwierig, ihn zu unterbrechen.«

»Wie lange braucht sie die Nadel im Arm?« erkundigte sich Sascha interessiert. Er befand sich schließlich auf Neuland, was das Kinderkriegen betraf.

»Früher behielten wir die Infusion fünf Tage und mehr bei. Heute ist man davon abgegangen. Ich denke, daß wir sie spätestens morgen entfernen werden. Natürlich nur, wenn es Yasmins Gesundheitszustand erlaubt.«

»Gibt es Probleme?« fragte Marlene ängstlich.

»Seien Sie unbesorgt, der Kaiserschnitt ist optimal verlaufen, und ihr Blutdruck hat sich stabilisiert. Ich vermute, daß die extremen Schwankungen durch ihre seelische Anspannung entstanden sind. Yasmin stand unter einem enormen Druck, und ich habe einen Verdacht, wer daran nicht ganz unbeteiligt ist. Aber diese Angelegenheit möchte ich selbst regeln. Wichtig ist, daß Yasmin in Ruhe gesund werden und sich darüber freuen kann, doch noch eine Familie gefunden zu haben. Das wird sie sehr glücklich machen.«

»Nicht nur Yasmin, sondern auch uns. Wenn ich daran denke, wie verrannt wir beide in den Gedanken waren, ein Baby haben zu müssen, werde ich ganz unruhig«, gestand Sascha. »Um ein Haar hätten wir diese Chance, doch noch Eltern zu werden, fast verpaßt. Gott sei Dank hat Marlene mir noch rechtzeitig die Augen geöffnet«, fuhr er mit einem liebevollen Blick auf seine geliebte Frau fort.

»Es gibt meistens eine zweite Chance. Man muß sie nur erkennen und zu nutzen wissen«, erklärte Schorsch überzeugt.

»Eigentlich haben wir das alles nur Yasmins Vertrauen zu mir zu verdanken«, sagte Marlene nachdenklich. »Wenn Sie sich mir nicht geöffnet hätte, wäre alles anders gekommen. Wie hoffnungslos wäre unser weiteres Leben dann verlaufen.«

»Ist es nicht eine gute Basis für ein erfolgreiches Zusammenleben, daß Yasmin nicht das Gefühl haben muß, nur aus Mitleid aufgenommen worden zu sein?«

»Sie haben recht, Herr Dr. Leitner. Wir werden alles tun, um ihr zu beweisen, daß auch sie uns eine große Freude bereitet, wenn sie mit uns zusammenleben will.«

»Das ist ein guter Vorsatz, denn auch in ihrer neuen Familie wird es Probleme geben. Vielleicht mehr als in konventionellen Familien, denn immerhin hat Yasmin ein Baby, das sie womöglich eifersüchtig bewachen und sich jede Einmischung bei der Erziehung verbitten wird«, gab Schorsch zu bedenken.

Doch an Probleme wollten weder Sascha noch Marlene zu diesem Zeitpunkt denken. Das Wichtigste war jetzt, daß Yasmin an Körper und Seele gesund wurde. Alles andere würde sich finden.

Da auf Schorsch noch weitere Aufgaben warteten, verabschiedete er sich schließlich von dem Ehepaar Gordon und verließ zufrieden das Zimmer. Kurz darauf wurde Yasmin erneut unruhig und öffnete die Augen. Inzwischen ließ die Wirkung der Narkose merklich nach, denn ihr Verstand war jetzt viel klarer. Sogar Marlene erkannte sie jetzt.

»Frau Gordon, Sie sind hier? Was ist geschehen? Wo ist der Mann?« fragte sie und blickte sich ängstlich um.

»Ganz ruhig, meine Kleine. Du bist in Sicherheit. Von welchem Mann sprichst du?«

»Da war ein widerlicher Typ, der mich in der Nacht verfolgt hat. Ich bin davongelaufen, und als ich gestürzt bin, hat er mich eingeholt und sich über mich gebeugt. Mehr weiß ich nicht.«

Marlene sah Sascha fragend an, der ratlos mit den Schultern zuckte.

»Wir wissen nichts von einem Mann. Offenbar hat er dir nichts angetan. Eine alte Dame hat dich auf einem Rasen in einer Siedlung gefunden«, erklärte Marlene behutsam. Als Yasmin darauf nicht antwortete, fuhr sie fort: »Warum bist du denn davongelaufen?«

»Frau Weinzierl war hier. Sie hat mich gezwungen, ins Heim zurückzugehen. Jetzt wird sie mich bestimmt bald holen«, erklärte Yasmin mit tränenerstickter Stimme.

»Deine Heimleiterin, nicht wahr?« Marlene erinnerte sich daran, daß Yasmin ihr gegenüber diesen Namen erwähnt hatte.

»Das wissen Sie noch?« staunte diese.

»Natürlich, ich habe ein gutes Gedächtnis.«

»Ich will nicht zurück!« schluchzte Yasmin da auf. Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr ganzes Leid brach auf einmal aus ihr heraus.

»Bitte reg dich nicht auf. Wir werden nicht zulassen, daß dich jemand ins Heim zurückschickt, das verspreche ich dir.«

Yasmin schaute überrascht auf. »Ist das Ihr Ernst?«

»Habe ich es dir nicht versprochen?« Liebevoll strich Marlene über das blonde Haar des Mädchens, das keine Worte mehr fand.

»Wir haben uns immer eine Tochter gewünscht und sind zu dem Entschluß gekommen, daß wir für ein Baby eigentlich schon zu alt sind«, mischte sich nun Sascha in das Gespräch ein. Erstaunt wandte Yasmin ihm ihr verweintes Gesicht zu.

»Sind Sie der Mann von Frau Gordon?« fragte sie ängstlich.

Mit dieser naiven Frage schmolz noch der letzte Rest an Zweifel dahin, den er insgeheim doch noch gehegt hatte. »Ja, der bin ich. Und ich möchte gern dein Vater werden. Natürlich nur, wenn du willst.«

Ein ungläubiges Staunen breitete sich auf Yasis schmalem Gesicht aus. »Warum wollen Sie das?«

»Weil ich finde, daß du ein tapferes und mutiges Mädchen bist und die beste Tochter, die sich ein Vater nur wünschen kann«, antwortete Sascha mit belegter Stimme. Nicht nur Marlene, auch Yasmin merkte, daß ihm diese Antwort aus tiefster Seele kam. Wie auf ein Kommando begannen die beiden Frauen zu weinen, und Sascha schaute hilflos auf sie herab.

»Ich dachte, ihr freut euch!« rief er mit komischer Verzweiflung aus.

»Aber das tun wir doch«, beteuerte Marlene und stand auf, um ihn fest in die Arme zu nehmen. Sie sah ihm tief in die Augen, und Dankbarkeit sprach aus ihrem Blick, bevor sie ihn leidenschaftlich küßte.

Yasmin war stumme Zeugin dieses Ausdrucks inniger Liebe, doch es war ihr nicht unangenehm. Was konnte sie sich Schöneres wünschen als Mutter und Vater, die sich innig liebten?

Schließlich lösten sich die beiden voneinander, und Marlene trat an Yasmins Bett zurück. »Willst du denn nicht wenigstens wissen, wie es deinem Baby geht?«

»Meinem Baby?« fragte Yasi zurück und warf einen verwirrten Blick auf ihren flachen Bauch. »Ach, jetzt erinnere ich mich. Dr. Leitner sagte noch zu mir, daß ein Kaiserschnitt gemacht wird. Das hatte ich ganz vergessen. Es ist alles so aufregend«, entschuldigte sie sich schuldbewußt. »Es ist tot, nicht wahr?« fragte sie dann leise.

»Wie kommst du denn auf diese Idee?« Jetzt war die Verwirrung auf Marlenes Seite.

»Wenn es leben würde, wären Sie doch sicher bei dem Baby und nicht bei mir«, antwortete Yasmin unsicher.

»Natürlich lebt es, du Dummerchen! Ich habe es noch nicht gesehen, aber Dr. Leitner sagte, es ist ein gesunder, süßer Bub. Soll die Schwester ihn bringen?«

»Ich weiß nicht so recht«, zweifelte Yasi, doch Sascha hatte die Klingel schon gedrückt. Er redete kurz leise mit der Schwester, die verständnisvoll nickte und verschwand. Es dauerte nicht lange, als sich die Tür erneut öffnete und sie einen kleinen Wagen hereinschob.

»Das ist ein Wärmebettchen, damit der Kleine nicht auskühlt. Er sollte noch ein paar Tage im Brutkasten bleiben, aber wenn du ihn gleich neben dich ins Bett legst, bleibt er auch schön warm«, erklärte Schwester Hilde und nahm das schlafende Baby heraus. Bevor Yasmin protestieren konnte, schob Hilde es neben sie unter die Bettdecke, wo der Kleine sogleich erwachte und instinktiv mit seinem Mündchen zu suchen begann.

»Was will er denn?« fragte Yasmin hilflos und überwältigt zugleich bei dem Anblick des winzigen Geschöpfs, das ihrem Leben eine solch ungeahnte Wendung gegeben hatte.

»Er hat Hunger«, lachte Schwester Hilde daraufhin und zeigte Yasmin, wie sie ihn an die Brust legen sollte. Sofort begann er eifrig zu saugen, und ihre Augen füllten sich vor Rührung mit Tränen. »Wie konnte ich nur so böse auf dich sein«, flüsterte sie dem Buben zu und streichelte vorsichtig sein Köpfchen. Das Eis zwischen Mutter und Kind war gebrochen. Nur einmal durchzuckte Marlene kurz ein stechender Schmerz, als sie die beiden beobachtete. Aber es war gleich vorbei und dann war nichts anderes da als überschwengliche Freude.

»Wie soll er denn heißen?« erkundigte sich Sascha, als der Kleine satt war und selig an Yasmins Brust schlummerte. Ratlos sah sie ihn an.

»Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.«

Marlene betrachtete den Buben eingehend.

»Ich finde, Benjamin paßt gut zu ihm. Das bedeutet soviel wie ›der Kleinste, der Jüngste‹. Und irgendwie stimmt es ja auch, er ist ja jetzt der Jüngste in unserer Familie.«

Yasmin lächelte. »Das ist ein wundervoller Name, findest du nicht, Benni?« fragte sie scherzhaft ihren Sprößling, und wie zur Bestätigung gähnte er herzhaft. Alle lachten, und damit war es beschlossene Sache.

*

Es dauerte nicht lange, bis Yasmin wieder müde wurde. Schwester Hilde holte den kleinen Benjamin wieder ab, und Marlene und Sascha zogen sich ebenfalls zurück, um sie nicht zu stören. Yasi ließ sie aber nicht eher gehen, ehe Marlene ihr nicht den kleinen weißen Bären aus ihrer Tasche gegeben hatte.

»Der muß bei mir bleiben, damit ich sicher sein kann, daß ich alles nicht nur geträumt habe, wenn ich wieder aufwache«, erklärte sie.

Marlene drückte gerührt ihre Hand.

»Keine Sorge, alles wird gut«, versicherte sie noch einmal.

»Es ist schon alles gut«, murmelte Yasmin noch, ehe sie mit dem Bärchen im Arm einschlief.

»Wir müssen noch einmal mit Dr. Leitner sprechen«, erklärte Marlene entschlossen, als sie mit Sascha den Flur hinunterging.

»Warum denn?«

»Es gibt zwei Dinge, die geklärt werden müssen. Erstens hat Yasmin von einem Mann gesprochen, der sie nachts verfolgt hat. Die Polizei muß doch eine Spur von ihm haben. Immerhin hat er sie in größte Gefahr gebracht und einfach liegen gelassen.«

»Und die zweite Sache?«

»Die betrifft diese Frau Weinzierl. Sie hat Yasmin dazu veranlaßt, aus der Klinik zu fliehen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Dr. Leitner das gutheißen wird.«

Mit dieser Vermutung lag Marlene vollkommen richtig. Schorsch hörte sich äußerlich ruhig ihr Anliegen an, doch innerlich kochte er.

»Ich hatte bereits den Verdacht, daß Frau Weinzierl entgegen meiner ausdrücklichen Anweisung ihre Finger im Spiel hatte. Als ich sie über das neuerliche Verschwinden Yasmins in Kenntnis setzte, reagierte sie völlig unangemessen. Sie machte mir heftige Vorwürfe, und inzwischen bin ich davon überzeugt, daß diese heftige Reaktion auf ein schlechtes Gewissen zurückzuführen ist.«

»Yasmins Aussage wäre Beweis genug. Ist es möglich, rechtliche Schritte gegen diese Frau einzuleiten?« fragte Sascha empört.

»Wenn sich nachweisen läßt, daß sie tatsächlich gegen meine Anweisungen bei Yasmin war, kann sie wegen Hausfriedensbruch belangt werden. Doch zuerst einmal möchte ich persönlich mit ihr sprechen«, gab Schorsch zu verstehen. »Was mit diesem Unbekannten ist, so hat Yasmin ihn mir gegenüber auch schon erwähnt. Allerdings sehe ich schwarz, daß dieser Mann gefunden wird. Die Polizei war ja bereits vor Ort und hat das Gelände abgesucht. Wenn er Spuren hinterlassen hätte, hätten die Beamten sie mit ziemlicher Sicherheit gefunden. Aber auch das werde ich selbstverständlich weitergeben. Viele Hoffnungen mache ich mir zwar nicht, aber man soll bekanntlich auf der Suche nach der Wahrheit nichts unversucht lassen.«

Sascha und Marlene Gordon dankten Dr. Leitner für seine Bemühungen und machten sich dann auf den Nachhauseweg. Die beiden waren von den Aufregungen redlich erschöpft, und besonders bei Marlene machte es sich bemerkbar, daß sie einen chirurgischen Eingriff hinter sich hatte. Nach einem kurzen Stop an einer Imbißbude, wo sie sich stärkten, fuhren sie nach Hause, um sich ein wenig auszuruhen, bevor Marlene wieder zu Yasmin in die Klinik und Sascha ins Büro fahren würde.

*

Am frühen Abend machte sich Daniel in Begleitung seiner fünf Kinder auf den Weg in die Behnisch-Klinik. Fee befand sich weiter auf dem Weg der Besserung und hatte inständig darum gebeten, ihre Kinder sehen zu dürfen. Natürlich konnte Daniel seiner Frau diesen Wunsch nicht abschlagen und ermahnte besonders die Zwillinge, sich brav zu verhalten. Lenni, rücksichtsvoll wie immer, war zu Hause geblieben.

»Da seid ihr ja, ihr Lieben!« rief Fee erfreut, als sich die Tür öffnete, und die Kinder wie die Orgelpfeifen hintereinander hereinspazierten.

»Hallo, Mami, wie geht es dir?« riefen alle durcheinander. Daniels Ermahnungen waren offenbar nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, doch im Moment störte das keinen, so groß war die Wiedersehensfreude.

»Mein Gott, ist das schön, euch wiederzusehen«, sagte Fee glücklich, als sich die erste Aufregung gelegt hatte.

»Wann kommst du denn wieder heim, Mami? Es ist so komisch ohne dich«, erklärte Dési weinerlich.

»Papi ist immer so streng. Man kommt viel besser mit ihm zurecht, wenn du da bist«, mischte sich nun auch ihr fünfjähriger Zwillingsbruder Jan vorlaut ein.

»Du Schlingel, ich zieh dir gleich die Ohren lang«, schimpfte Daniel scherzhaft.

»Papi hat sich halt große Sorgen um mich gemacht, das versteht ihr doch, nicht wahr? Ihr müßt ein bißchen nachsichtig mit ihm sein«, sagte Fee lächelnd.

»Ich habe immer gut geholfen. Lenni hat gesagt, daß sie sehr zufrieden mit mir ist«, erklärte Anneka eifrig, und Fee strich ihrer ältesten Tochter liebevoll über das Haar.

»Und ich hab’ einen Dreier in Mathe geschrieben«, sagte Felix ganz stolz. Er war keine Leuchte in der Schule wie sein älterer Bruder Danny, doch da er ohnehin keine Ambitionen wie dieser hatte, Arzt zu werden, machte er sich nicht viel daraus. Dennoch freute er sich über ein Erfolgserlebnis, und ein Dreier in Mathematik war zweifellos ein solches.

»Vielleicht sollte ich noch eine Weile in der Klinik bleiben, damit du dich ein bißchen mehr anstrengst«, lächelte Fee, doch Felix protestierte lautstark.

»Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Außerdem ist es mir viel lieber, wenn ich Vierer schreibe, du aber dafür gesund und daheim bist.«

Das war eine eindeutige Liebeserklärung, die Fee gerührt annahm.

»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, Mami«, versicherte ihr nun auch Danny. »Ich paß schon mit Papi auf, daß alles seinen gewohnten Gang geht. Bleib du nur unbesorgt solange hier, bis du wieder ganz gesund bist. Und zu Hause werden wir dich erst einmal richtig verwöhnen. Auf keinen Fall sollst du wieder soviel arbeiten wie bisher«, versicherte er ernst.

»Das werden wir erst einmal abwarten!« Fee war ganz überrascht über die Gedanken, die sich ihre Familie offenbar machte, zumal sie noch nie das Gefühl gehabt hatte, mit dem großen Haushalt und den vielfältigen Verpflichtungen, die sie hatte, überfordert zu sein. Dennoch ließ sie ihre Lieben gewähren.

»Wie geht es dir denn, meine Liebste?« erkundigte sich Daniel schließlich, als die Kinder all ihre Berichte und Fragen an Fee losgeworden waren.

»Ein bißchen müde und erschöpft bin ich schon noch. Aber es geht merklich bergauf.«

»Du siehst auch schon wieder besser aus. Gott sei Dank hast du eine gute Konstitution, sonst hätte dir die schwere Krankheit wesentlich schlimmer zugesetzt.«

»Es zahlt sich halt aus, wenn man auf seine Gesundheit achtet«, lächelte Fee. »Und die Psyche trägt auch viel zum Wohlbefinden bei. Ich bin überzeugt davon, daß man wesentlich stabiler ist, wenn die Seele gesund ist.«

»Wie sagte schon Sokrates: In einem gesunden Körper ruht ein gesunder Geist«, steuerte Danny zu der Unterhaltung bei und erntete viel Beifall.

»Du weißt ganz schön viel«, bewunderte Anneka ihren großen Bruder.

»Das lernst du auch noch. Du bist ja auf dem besten Weg dazu«, lobte Danny seinerseits, und Anneka freute sich.

»Jetzt habe ich aber noch eine Neuigkeit für dich«, nahm Daniel das Gespräch mit Fee wieder auf.

Sie sah ihn gespannt an. »Worum geht es denn?«

»Du hast dich doch dafür interessiert, wie es deinem Findelkind Yasmin Pecher geht. Schorsch hat mich heute nachmittag angerufen und mir erzählt, daß sie am Vormittag per Kaiserschnitt einen gesunden Jungen entbunden hat.«

»Warum denn eine Sectio?« erkundigte sich Fee sogleich besorgt.

»Keine Bange, es geht ihr ausgezeichnet«, versuchte Daniel sie sofort zu beruhigen. Er hatte nicht vor, ihr zu diesem Zeitpunkt Einzelheiten über die Geschehnisse zu erzählen, da er fürchtete, Fee könne sich darüber zu sehr aufregen. Das hätte ihr auf keinen Fall gutgetan. »Sie hatte immer noch Probleme mit dem Blutdruck, der sehr schwankend war. Deshalb wollte Schorsch auf Nummer Sicher gehen«, wich er geschickt aus.

»Dann ist es ja gut. Ich hatte schon Angst, daß ihr wieder etwas zugestoßen ist«, gab Fee zurück.

»Wie kommst du darauf?« erkundigte sich Daniel überrascht. Hatte Fee von anderer Seite doch etwas erfahren?

»Ich hatte so einen merkwürdigen Traum«, erinnerte sie sich sinnend.

»Aber Träume werden ja zum Glück nicht immer Wirklichkeit.«

»Ja, ja, das wäre wirklich schlimm«, bestätigte Daniel zerstreut.

Die hellseherischen Fähigkeiten seiner Frau beunruhigten ihn manchmal. Doch Fee selbst lenkte jetzt von dem Thema ab. Ihr war ein Gedanke gekommen.

»Könntest du bitte so lieb sein und eine Kleinigkeit für Yasmins Baby besorgen?« bat sie Daniel. »Ich würde sie ja gern selbst besuchen, aber bis ich die Klinik verlassen kann, vergeht noch ein Weilchen. Dann wird sie bereits zurück im Heim sein.«

»Das hatte ich ganz vergessen zu erwähnen. Yasmin muß nicht mehr ins Heim. Es hat sich ein Ehepaar gefunden, das sie adoptieren will.«

»So plötzlich?« staunte Fee.

»Es ging schon recht schnell«, bestätigte Daniel. »Aber trotzdem ist es eine lange Geschichte. Ich fürchte, dafür bleibt heute keine Zeit mehr.« Mit einem Blick auf die Uhr mahnte er zum Aufbruch. »Zeit, nach Hause zu gehen. Mami braucht Ruhe«, erklärte er resolut.

»Ooch, nur noch ein bißchen«, bettelte Dési. »Ich hab so lange nicht mehr mit Mami gekuschelt.«

»Wir kommen bald wieder. Beim ersten Mal wollen wir es nicht übertreiben.« Daniel jedoch blieb fest.

Liebevoll verabschiedeten sich die Kinder von ihrer Mami, die doch merkte, daß sie der Besuch mehr angestrengt hatte, als sie gedacht hatte. »Kommt bald wieder«, bat sie trotzdem.

»Das tun wir«, beruhigte Daniel sie liebevoll. »Aber für heute reicht es. Du siehst sehr müde aus. Schlaf gut und träum was Schönes«, fügte er noch vielsagend hinzu, ehe er seinen Kindern folgte, die das Zimmer bereits verlassen hatten.

*

Erschrocken sah Elisabeth Weinzierl von ihrem Schreibtisch auf, als ihre Sekretärin ihr den Besuch von Dr. Leitner ankündigte.

»Wann kommt er?« fragte sie panisch, doch es war zu spät. Schorsch stand bereits in der Tür.

»Komme ich ungelegen?« fragte er scheinheilig, und Frau Weinzierl blieb nichts anderes übrig, als ihn hereinzubitten.

»Viel Zeit habe ich nicht, aber da Sie schon den weiten Weg auf sich genommen haben, werde ich Sie doch nicht wieder fortschicken«, erklärte sie, um Fassung ringend. »Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, was Sie zu mir führt.«

Schorsch hatte soviel Anstand zu warten, bis die Sekretärin die Tür hinter sich geschlossen hatte, doch dann kam er ohne Umschweife zum Thema. »Yasmin Pecher hat von Ihrem Besuch bei ihr erzählt«, erklärte er und ließ sie nicht aus den Augen.

»Sie haben sie gefunden?« fragte Elisabeth mit schriller Stimme und war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Warum habe ich das nicht erfahren?«

»Jetzt wissen Sie es doch«, gab Hans-Georg Leitner ungnädig zurück. Ihre erneut heftige Reaktion war Beweis genug, daß sie tatsächlich etwas mit Yasmins Verschwinden zu tun hatte. »Sie leugnen also nicht, gegen meine Anweisungen gehandelt und Yasmin besucht zu haben?« fragte er.

»Wie sprechen Sie denn mit mir?« versuchte sie noch, ihn abzulenken, doch Dr. Leitner ließ sich nicht beirren.

»Ich hoffe, es ist Ihnen bewußt, daß ich die Möglichkeit habe, Sie wegen Hausfriedensbruch anzuzeigen.«

Diese Neuigkeit war zuviel für die Heimleiterin. »Sie haben keine Beweise«, empörte sie sich und sprang auf. »Und jetzt hinaus mit Ihnen. So einen Unsinn höre ich mir nicht länger an.« Sie war völlig außer sich, und Schorsch befürchtete einen Moment, sie könnte kollabieren. Doch es geschah nicht, und so erhob er sich schließlich. »Schade, daß Sie nicht einsichtig sind. Sie werden von der Polizei hören«, sagte er und war im Begriff, hinauszugehen.

Als sie sah, daß er es ernst meinte, wurde sie mit einem Schlag vernünftig. »Also gut«, erklärte sie heiser. »Was wollen Sie von mir?«

Überrascht hielt Schorsch inne und drehte sich um. »Ich möchte mit Ihnen über Ihren Führungsstil sprechen. Als Klinik-Chef habe ich ebenfalls eine Führungsposition inne und kann Ihnen vielleicht einige wertvolle Tips geben, auch was den Umgang mit den Kindern angeht. Wenn Sie bereit sind, meine Vorschläge anzunehmen, werde ich von einer Anzeige absehen.«

Betreten senkte Elisabeth den Kopf. Sie war kein schlechter Mensch und sah ein, daß sie manches Mal über ihr Ziel hinausschoß.

»Also gut. Sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben. Wenn die Kinder davon profitieren, habe ich nichts dagegen. Ich weiß, daß ich manchmal ein bißchen hart bin, dabei will ich doch nur ihr Bestes. Bei Yasmin scheint das gründlich daneben gegangen zu sein«, gestand sie leise.

Was zwischen Hans-Georg Leitner und Elisabeth Weinzierl besprochen wurde, erfuhr niemand. Als Schorsch eine Stunde später das Büro verließ, war er bester Laune und hatte das gute Gefühl, etwas erreicht zu haben. Tatsächlich besserte sich die Stimmung in dem Kinderheim von diesem denkwürdigen Tag an merklich, und der neue Stil von Elisabeth Weinzierl, die wirklich hart an sich arbeitete, war zwar immer noch konsequent, aber viel mehr geprägt von Herzenswärme und Verständnis als früher.

*

Die Zeit verging wie im Flug, und Yasmin hatte mit jedem Tag, den sie sich besser bewegen konnte, mehr Freude an ihrem kleinen Benjamin.

Marlene verbrachte viel Zeit mit den beiden, und in vielen Gesprächen kamen sich Adoptivmutter und Tochter immer näher. Sie fanden viele gemeinsame Interessen, und Sascha, der wieder ganztags arbeiten mußte, hielt sich diskret im Hintergrund. Er ahnte, wie wichtig diese erste Zeit für die beiden war und beobachtete erstaunt die Veränderung, die mit seiner Frau vor sich ging, seit sich ihr Wunsch nach einem Kind, auch wenn es nun eine erwachsene Tochter war, positiv veränderte. Mit jedem Tag kam sie gelöster aus der Klinik und berichtete über die langen Gespräche, die sie mit Yasi führte.

Auch wunderte er sich über die Ähnlichkeit zwischen den beiden, wenn er am Abend manches Mal noch auf einen Sprung mit in die Klinik kam.

Hin und wieder fühlte er sich ein bißchen als Außenseiter bei den beiden Frauen, doch dann nahm er den kleinen Benjamin auf den Arm und sprach mit ihm über die Rätsel, die die Frauen den Männern mitunter aufgaben. Marlene und Yasi lauschten dabei amüsiert, und zu Hause bekam er als Ausgleich von seiner Frau besonders viel Aufmerksamkeit.

*

»Schau mal, Leni, was ich heute alles bekommen habe!« rief Yasmin eines Tages glücklich, als Marlene ihren Besuch abstattete.

»Das sind ja eine Menge Päckchen«, staunte auch sie. Tatsächlich lagen auf dem Bett verstreut vier Geschenke, die für den kleinen Benjamin abgegeben worden waren. »Von wem sind die denn alle?«

»Also, hier ist ein Päckchen von Frau und Herrn Dr. Norden. Das ist die Frau, die mich damals gefunden und dafür gesorgt hat, daß ich in diese Klinik gekommen bin«, erklärte Yasmin. »Ich habe mich noch gar nicht bei ihr bedankt«, gestand sie dann betreten.

»Das macht sicher nichts. Was schreibt sie denn?«

»Ihr Mann hat die Karte geschrieben. Frau Norden ist im Krankenhaus. Sie hatte eine schwere Lungenentzündung. Und das alles ist meine Schuld.« Yasmin sah so traurig aus, daß es Marlene ganz weh ums Herz wurde.

»Wahrscheinlich war sie vorher schon ein wenig angeschlagen«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen und versprach Yasmin, sich etwas einfallen zu lassen, wie man sich bei der hilfsbereiten Frau Norden angemessen bedanken konnte. »Und von wem sind die anderen Päckchen?« fragte Marlene dann weiter, um Yasi abzulenken.

»Das hier ist von Anneka Norden. Sie schenkt Benjamin einen kleinen Bären. Ist der nicht süß?« Entzückt zeigte sie das niedliche Stofftier her, das Anneka wieder einmal selbst gebastelt hatte.

»Wie hübsch. Sie scheint eine Begabung für solche Sachen zu haben. Ist es nicht lieb von ihr, so ein nettes Geschenk zu machen?«

»Wirklich. Dabei kenne ich sie gar nicht.« Yasmin legte die Sachen zur Seite und nahm das dritte Geschenk hoch. »Das hier ist von der alten Frau, die mich gefunden hat, Hilde Merker. Guck mal, sie schickt ein kleines Jäckchen mit Mütze. Und das letzte ist von...«

Hier verstummte Yasmin. Dieses kleine Paket hatte sie noch nicht geöffnet und nahm zuerst einmal die Karte zur Hand. Als sie sie gelesen hatte, standen ihr Tränen in den Augen.

»Was ist denn, Kind?« fragte Marlene, als sie es bemerkte.

»Es ist von Frau Weinzierl. Sie entschuldigt sich bei mir für ihr Verhalten und hofft, daß ich ihr verzeihen kann. Sie möchte gern mit mir sprechen, damit ich ihr sagen kann, was sie alles falsch gemacht hat.« Yasmin versagte die Stimme.

Um ihre Rührung zu verbergen, griff sie zu dem Geschenk und öffnete es vorsichtig. Eine kleine Schmuckschatulle kam zum Vorschein, und darin lag ein Goldkettchen, an dem ein Anhänger befestigt war. Bei näherem Betrachten, stellte Yasmin fest, daß es sich um einen Schutzengel handelte. Ein kleiner Zettel lag bei, auf dem stand in geschwungenen Buchstaben:

Für Benjamin. Möge der Engel ihn allzeit behüten!

»Das ist ein wahrhaft kostbares Geschenk«, bekannte Marlene leise, und Yasmin nickte nur stumm. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder gefangen hatte, dann warf sie Marlene einen hilflosen Blick zu.

»Wie kann ich mich nur bei allen bedanken? Immerhin sind sie maßgeblich daran beteiligt, daß sich mein Schicksal zum Guten gewendet hat.«

»Ich glaube, ich habe eine Idee«, sagte Marlene auf einmal. »Wie sieht es aus? Möchtest du Benjamin eigentlich taufen lassen? Darüber haben wir noch gar nicht geredet.«

»Ich bin evangelisch getauft und habe am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen. In der Kirche war ich allerdings nicht so oft. Was meinst du, was ich tun soll?«

»Glaubst du denn an Gott?«

»Es gab eine Zeit, in der ich viel gezweifelt habe. Aber nach all dem Wunderbaren, was mir in letzter Zeit widerfahren ist, muß ich doch an eine höhere Macht glauben, findest du nicht?«

»Dann solltest du Benjamin taufen lassen. Viele junge Eltern sind ja der Ansicht, daß die Kinder die Möglichkeit haben sollten, sich erst später zu entscheiden, ob sie getauft werden wollen oder nicht. Ich hatte dabei immer meine Zweifel, weil diese Kinder dann auch keinen Religionsunterricht und keinen Gottesdienst besuchen. Wie sollen sie sich also für oder gegen etwas entscheiden, was sie nie kennengelernt haben?«

»Von dieser Warte aus habe ich das noch nie betrachtet«, gab Yasmin zu. Dann lächelte sie und griff nach Marlenes Hand. »Ich glaube, ich kann noch viel von dir lernen, und ich freue mich schon jetzt auf die Taufe. Und zu dem Fest laden wir alle ein, die uns geholfen haben«, erklärte sie enthusiastisch. »So hattest du es doch gedacht, nicht wahr?«

Marlene nickte lächelnd. Aber plötzlich verfinsterte sich Yasis Miene.

»Was ist denn los, Liebes?« erkundigte sich Marlene besorgt.

»So eine Feier kostet doch sicher sehr viel Geld. Das kann ich euch doch gar nicht zumuten«, sagte sie unsicher.

»Du bist ein kleines Dummerchen«, erwiderte Marlene zärtlich. Ohne ein weiteres Wort schloß sie das Mädchen, das bald ihre Tochter sein sollte, in die Arme.

*

Als sich Fee wieder ganz gesund fühlte, erwartete sie ungeduldig den Tag ihrer Entlassung. Immer wieder fragte sie bei Jenny Behnisch nach, wann es denn endlich soweit wäre.

»Daniel hat mir ans Herz gelegt, dich erst zu entlassen, wenn du vollkommen gesund bist«, erklärte sie resolut.

»Aber was fehlt mir denn noch?« fragte Fee ungehalten. »Die Lungenentzündung ist vollständig ausgeheilt, meine Blutwerte sind perfekt, wie du mir versichert hast. Warum darf ich dann nicht nach Hause?«

Bei diesen stichhaltigen Argumenten gab sich Jenny geschlagen. »Also gut. Ich werde mit Daniel sprechen. Wenn er damit einverstanden ist, kannst du die Klinik morgen verlassen.«

Ein Lächeln erstrahlte auf Fees Gesicht, und ihre Augen leuchteten.

»Aber nur, wenn du dich noch eine Weile schonst«, schickte Jenny hinterher.

Ihr war das unternehmungslustige Blitzen in Fees Augen nicht entgangen.

»Sie haben mein Ehrenwort, Frau Dr. Behnisch!« erwiderte diese anzüglich.

Ohne ihre Familie war Fee nur ein halber Mensch, deshalb fühlte sie sich nach dieser frohen Botschaft so vergnügt wie schon lange nicht mehr. Als sie beschwingten Schrittes den Krankenhausflur hinabging, um schon einmal ihre Sachen zu packen, blickte ihr Jenny wehmütig hinterher. Sie hatte nicht das Glück gehabt, eine eigene Familie zu haben. Doch ebenso wie Hans-Georg Leitner liebte sie ihren Beruf über alles und war, nachdem sie den plötzlichen Tod ihres geliebten Mannes Dieter verwunden hatte, fast froh darüber, keine Kinder zu haben. So hatte sie wenigstens die Möglichkeit, sein Lebenswerk, die Behnisch-Klinik, in seinem Sinne weiterzuführen. Mit einem wehmütigen Lächeln wandte sie sich schließlich um und ging in ihr Büro, um mit Daniel über die bevorstehende Entlassung von Fee zu sprechen.

*

»Mami kommt morgen nach Hause«, verkündete Daniel Norden seinen Kindern, als er an diesem Abend nach Hause kam. Ein Indianergeheul der Zwillinge Jan und Dési war die Antwort auf diese Nachricht.

Die anderen Kinder freuten sich ebenso, waren sich der Würde ihres Alters aber bewußt und benahmen sich dementsprechend. Anneka verschwand kurz darauf in ihrem Zimmer, um an einem Bild weiterzuarbeiten, das sie ihrer Mami als Willkommensgruß malte.

Danny und Felix ließen sich ausnahmsweise einmal dazu herab, ihre Zimmer freiwillig aufzuräumen, denn selbst Lenni hatte es inzwischen aufgegeben, dort Ordnung zu schaffen.

»Dürfen wir mit dir einen Kuchen backen, Lenni?« bettelte Dési so lange, bis sich die gute Haushälterin geschlagen gab.

»Also gut. Aber nur, wenn dein Papi nichts dagegen hat. Schließlich ist es schon recht spät.«

Doch Daniel hatte nichts dagegen einzuwenden. »Lassen Sie sie nur, Lenni. Morgen vormittag haben die Kinder ja keine Zeit, etwas vorzubereiten, weil sie im Kindergarten sind. Und wenn sie sich so auf ihre Mami freuen, kann man schon mal eine Ausnahme machen«, erklärte er lächelnd.

»Du bist der beste Papi von der ganzen Welt!« rief Dési entzückt und drückte ihm einen dicken Kuß auf die Wange.

Daniel beobachtete gerührt die eifrigen Vorbereitungen, die zur Feier von Fees Genesung im Gange waren und fühlte sich auf einmal genötigt, auch eine kleine Überraschung bereitzuhalten. Er überlegte hin und her, bis er plötzlich die zündende Idee hatte.

Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und wurde an diesem Abend nur noch gesehen, als er den Kindern gute Nacht sagte.

*

Auch der Tag der Entlassung Yasmins war endlich gekommen. Ausgestattet mit einem Baby-Autositz fuhren Sascha und Marlene vor der Klinik vor. Sie hatten die letzten Tage damit verbracht, Yasmins Zimmer für ihren Einzug vorzubereiten und waren sehr gespannt, ob es ihr auch gefallen würde.

»Seid ihr genauso nervös wie ich?« fragte Yasi, als die beiden das Zimmer betraten. Marlene hatte es sich nicht nehmen lassen, für sie ein paar moderne Kleidungsstücke zu besorgen, die Yasmin nun bewundernd betrachtete.

»So tolle Klamotten habe ich noch nie besessen. Ich war immer neidisch auf die anderen Mädels in der Klasse, die so schick waren«, gab sie zögernd zu.

»Wenn du dich erst bei uns eingelebt hast, lassen wir die beiden Männer mal allein und machen einen richtig schönen Einkaufsbummel. Was hältst du davon?« schlug Marlene unternehmungslustig vor.

»Können wir das wirklich?« Yasmin hatte noch gar nicht ganz erfaßt, wie sehr sich ihr Leben in Zukunft ändern würde.

»Aber natürlich, mein Kind«, antwortete Sascha ganz gerührt. In seinem und Marlenes Bekanntenkreis gab es einige Jugendliche in Yasis Alter, die sich gehörig von ihr unterschieden und für die Bescheidenheit ein Fremdwort war, obwohl sie noch nie auch nur einen Cent selbst verdient hatten. Dieser Spezies gehörte Yasmin nicht an, und das machte ihn sehr stolz.

Einige Minuten später trat Yasi aus dem Bad. Sie war nach der Entbindung wieder ganz schlank, und die Schlagjeans und das moderne Shirt unterstrichen ihre gute Figur.

Sascha pfiff bewundernd durch die Zähne. »Alle Achtung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich möchte, daß du so hübsch bist. Schließlich will ich dich ja noch ein paar Jahre genießen und dich nicht gleich wieder an einen anderen Mann abgeben.«

»Keine Sorge, Sascha«, lachte Yasmin geschmeichelt. »Von den Männern habe ich die Nase erst einmal gestrichen voll.«

»Hast du das gehört, Benjamin?« lächelte Sascha und hob den Kleinen aus seinem Babybett, um ihn in seinem nagelneuen Autositz anzuschnallen.

»Natürlich nicht von euch beiden«, beeilte sich Yasi zu beteuern.

Marlene stand etwas abseits und beobachtete versonnen die Szenerie. Das ist meine Familie! dachte sie und konnte ihr Glück nicht fassen.

Schließlich verließen die vier die Klinik, begleitet von den besten Wünschen von Schorsch Leitner und den Schwestern, die die freundliche Yasmin inzwischen in ihr Herz geschlossen hatten.

»Das also ist mein neues Zuhause«, stellte diese zufrieden fest, als der Wagen nach kurzer Fahrt vor einem schicken Wohnblock hielt.

»Das ist dein neues und altes Zuhause«, erklärte Marlene stolz. »Nachdem unsere Familie so unvermutet schnell gewachsen ist, haben wir am Stadtrand ein Häuschen gekauft. Es ist renovierungsbedürftig, so daß wir erst im nächsten Frühling einziehen können. Dafür liegt es mitten im Grünen und doch zentral. Es sind alle Schulen und auch ein Kindergarten da. Und jeder von euch hat sein eigenes Zimmer.«

»Wow!« entfuhr es Yasmin. Mehr konnte sie nicht sagen. Sie waren inzwischen in der Wohnung angelangt, die modern, aber dennoch gemütlich eingerichtet war. Sascha führte sie durch alle Räume, und das Mädchen konnte sein Glück nicht fassen, als es in seinem ersten eigenen Zimmer stand, das liebevoll ganz nach dem Geschmack einer Fünfzehnjährigen eingerichtet war.

»Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll. Das kann ich nie gutmachen«, erklärte sie später am Abend, als sie zur Feier des Tages ein Gläschen Sekt tranken, während Benjamin selig in seinem neuen Bettchen im Zimmer seiner Mutter schlummerte.

»Dann sind wir ja quitt«, entgegneten Sascha und Marlene wie aus einem Munde und der erste gemeinsame Abend endete in fröhlichem Gelächter.

*

Die Kirchenglocken läuteten, als der kleine Benjamin am einunddreißigsten Oktober, dem Reformationstag, getauft wurde. Der Pfarrer, der die Taufe vornahm, hatte sich eingehend mit Yasmin und ihren inzwischen rechtskräftigen Adoptiveltern unterhalten und verstand es, der besonderen Umstände von Benjamins Geburt Rechnung zu tragen. Er hielt eine ergreifende Predigt, und nicht nur die alte Frau Merker tupfte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie hatte sich unsagbar über die Einladung zur Taufe gefreut, da sie seit vielen Jahren alleinstehend und ohne Verwandtschaft war, die ihrem einsamen Leben etwas Abwechslung geboten hätte. Dieses Ereignis war also etwas ganz Besonderes für sie.

Natürlich war auch die Familie Norden gekommen, ebenso wie Schorsch Leitner und Fanny Schmiedel, mit der sich Yasmin inzwischen ausgesprochen hatte. Elisabeth Weinzierl hielt sich ganz im Hintergrund, wurde aber bei den anschließenden Feierlichkeiten in einem schicken Lokal von einem gemeinsamen, alleinstehenden Freund der Familie Gordon mit Beschlag belegt. Endlich ergab sich auch für Yasmin die Gelegenheit, all den Menschen zu danken, die ihr so entscheidend geholfen hatten. Sie hatte mit Saschas Hilfe zu Hause eine kleine Rede erarbeitet, die sie nun unter großer Anteilnahme vortrug.

»Muß man das immer machen, wenn ein Kind getauft wird?« erkundigte sich Dési flüsternd bei ihrer Mutter, als der Applaus verklungen war.

»Nein, Liebling. Bei Yasmin ist das ein besonderer Fall. Sie wollte einfach zeigen, wie dankbar sie ist für all die Hilfe, die sie von so vielen Seiten erfahren hat«, erklärte Fee gerührt.

»Gott sei Dank«, entfuhr es Dési. Man konnte deutlich die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Sonst würde ich meine Kinder nämlich nicht taufen lassen.«

»Wieso das denn?«

»Es ist doch peinlich, vor so vielen Leuten über Liebe und so zu reden«, erklärte Dési altklug, und Fee verbiß sich ein Lachen.

»Was für ein nettes Mädchen«, lobte auch Daniel. »Ich kann verstehen, daß du dich so für sie eingesetzt hast.«

»Ehrlich gesagt konnte ich das nicht ahnen, als ich sie an diesem Abend im Gebüsch aufgelesen habe. Aber es beweist mal wieder, daß es sich durchaus lohnt, hilfsbereit zu sein. Eine schöne Erfahrung wäre uns verwehrt geblieben.«

»Du bist einfach unverbesserlich«, erklärte Daniel mit einem liebevollen Lächeln. Dann kamen Schorsch Leitner und Familie Gordon an ihren Tisch, und sie verbrachten den Rest der Feier in fröhlicher Runde.

*

Die Wochen zogen ins Land und Benjamin war inzwischen ein rundliches Baby mit Grübchen in den Wangen geworden und quietschte vergnügt, wenn man sich mit ihm befaßte. Alles in allem war er der Stolz der ganzen Familie, und entgegen Schorschs Befürchtungen gab es keinerlei Eifersüchteleien bei seiner Betreuung. Marlene und Yasmin pflegten einen ähnlichen Erziehungsstil und diskutierten Meinungsverschiedenheiten sofort aus. So gab es keine Mißverständnisse. Im übrigen war Yasmin sehr erleichtert, nicht die volle Verantwortung für ihren Sohn allein tragen zu müssen. Sascha und Marlene gaben ihr die Möglichkeit, endlich ihre Jugend genießen zu können.

Die Taufe war ein voller Erfolg gewesen, und manche Freundschaft war geschlossen worden, die ein ganzes Leben halten sollte. So blieb Hilde Merker der Familie Gordon treu ergeben, und als der Umzug in das neue Haus anstand, ergab es der Zufall, das in einem Wohnblock in der Nähe eine geeignete Wohnung frei wurde. Wie selbstverständlich siedelte Frau Merker mit um.

Bald hatten sich alle in ihrem neuen Heim eingewöhnt, und Yasmin schloß schnell Freundschaften in ihrer neuen Schule. Sie war ein allseits beliebtes Mädchen, und viele Jungen suchten ihre Freundschaft, doch sie blieb vorerst ihrem Versprechen treu, das sie Sascha gegeben hatte. Sie war sich sicher, daß eines Tages ein besonderer Mann ihren Weg kreuzen würde, doch bis dahin war noch viel Zeit.

*

Die Sonne Siziliens schien warm, doch es wehte ein kühler Wind, so daß es zu kalt war, um am Strand zu sitzen. So nahmen Marlene und Sascha mit der Terrasse des Hotels vorlieb, während Yasmin mit dem inzwischen fast zweijährigen Benjamin fröhlich lachend im Garten zwischen den Zitronenbäumen Fangen spielte. Es war Frühjahr, und Sascha hatte sein Versprechen eingelöst und war mit seiner Familie in ein Land gereist, in dem die Zitronenbäume blühten. Yasmins Schule wegen fiel die Reise zwar etwas kürzer als geplant aus, was der Freude daran jedoch keinen Abbruch tat.

»Genauso ist es in dem Buch beschrieben, das du mir damals im Krankenhaus geschenkt hast«, sagte Marlene verträumt und ließ den Blick über den prächtigen Garten schweifen. Wenn sie an diese Zeit zurückdachte, erschien es ihr wie eine Ewigkeit, seit Yasmin und Benjamin das Glück und die Erfüllung in ihr Leben gebracht hatten, nach der sie sich so lange umsonst gesehnt hatten.

»Steht dort auch etwas über die Liebe geschrieben?« fragte Sascha zärtlich und führte ihre Hand an die Lippen.

»Nein, nicht daß ich mich erinnern könnte«, gab Marlene nachdenklich zurück. »Aber ich glaube nicht, daß ich mehr über die Liebe erfahren könnte, als ich ohnehin dank euch dreien schon weiß.«

Mit einem dankbaren Lächeln schloß sie die Augen und nahm den Duft der Zitronenblüten in sich auf, der sie immer an ihr einmaliges Glück erinnern würde.

Familie Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman

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