Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12
ОглавлениеNicola Brandon warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach acht. Erst um zehn Uhr hatte sie einen Termin bei Dr. Martin Sassen, dem Anwalt ihres verstorbenen Mannes. Sie seufzte und setzte sich an den Schreibtisch ihres Hotelzimmers, der direkt am Fenster stand.
Gestern abend war sie mit ihrer Tochter Sarah am Münchener Flughafen gelandet und hatte sich von einem Taxi direkt ins City Hilton bringen lassen. Es war kein erfreuliches Ereignis, das sie in die bayerische Metropole führte.
Ihr Blick verlor sich in dem wolkenverhangenen Himmel. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Zeit, in der ihr Leben noch vollkommen gewesen war.
Nicola Brandon war eine junge, lebenslustige Amerikanerin gewesen, als sie vor fünfundzwanzig Jahren den Deutschen David kennengelernt hatte. Sie studierte gerade Architektur an der Universität von Seattle, als sie eines Tages mit ihren Eltern auf eine Party eingeladen wurde, an der viel Prominenz teilnahm. Erst später am Abend fiel ihr ein attraktiver Mann auf, der etwas abseits stand und sie unablässig beobachtete.
Nicola fühlte sich geschmeichelt, und als er sie auf einen Drink einlud, lehnte sie nicht ab. Es war der Beginn einer wunderbaren Liebesbeziehung, und die Tatsache, daß David vierzehn Jahre älter war als Nicola, betrachtete sie als besondere Herausforderung. Sie brach ihr Studium ab, als die gemeinsame Tochter Sarah geboren wurde. David war viel unterwegs, da seine Modefirma ihren Hauptsitz in München hatte, und beide genossen die wenige Zeit, die sie gemeinsam hatten, in vollen Zügen. Die Modebranche lief hervorragend zu dieser Zeit und Nicola lebte ein angenehmes Leben, das geprägt war von Partys und langen Reisen. Sie besaßen ein schönes, großes Haus mit Köchin, Putzfrau und Kindermädchen und Sarah besuchte die besten Privatschulen der Gegend. Ihr gemeinsames Glück währte viele Jahre, doch es sollte ein jähes Ende finden.
Nicola stiegen die Tränen in die Augen, als sie David in seinen letzten Monaten vor sich sah.
Das Unglück begann damit, daß er sich plötzlich an Kleinigkeiten nicht mehr erinnern konnte. Er vergaß, wo er seine Brille hingelegt hatte und übersah einen wichtigen Geschäftstermin, obwohl ihn seine Sekretärin kurz zuvor daran erinnert hatte. Nicola war überzeugt, daß David zuviel arbeitete und überredete ihn zu einem Erholungsurlaub. Es wurde die letzte glückliche Zeit, die sie miteinander haben sollten. Nach jenen zwei Wochen verschlechterte sich sein Zustand rapide, und die Ärzte stellten einen Gehirntumor fest, der sofort operiert wurde. Selbst zu diesem Zeitpunkt war Nicola noch vorsichtig optimistisch. Sie wollte der Wahrheit nicht ins Auge sehen. Zuerst schien es auch, als sei die Operation erfolgreich gewesen, doch der Eindruck täuschte. Schon nach kurzer Zeit hatte David wieder große Gedächtnislücken, und es wurde festgestellt, daß der Tumor nicht ganz entfernt und erneut gewachsen war. Kurz nach dieser schrecklichen Diagnose fiel er ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachen sollte. An einem Sonntagmorgen schlief er friedlich ein. Nicolas einziger Trost war, daß er nicht lange hatte leiden müssen. Die Beerdigung erlebte sie wie in Trance, und Sarah versuchte ihr so gut wie möglich eine Stütze zu sein.
Seit dem Tod Davids waren zwei Wochen vergangen, als Nicola einen Anruf aus Deutschland erhielt. Ihr Anwalt in Amerika hatte alles Nötige in die Wege geleitet und seinen Kollegen Martin Sassen in München vom Tod seines Mandanten unterrichtet. Dieser war ehrlich bestürzt, denn er kannte David seit vielen Jahren und war mit allen geschäftlichen Angelegenheiten seiner Firma betraut. Vor einigen Jahren hatte David auch sein Testament bei ihm hinterlegt. So kam es, daß Martin Sassen Verbindung mit Nicola Brandon aufnahm und sie bat, zusammen mit ihrer Tochter nach München zu kommen.
Leise klopfte es an die Hoteltür. Nicola schrak aus ihren Gedanken hoch. Sie merkte, daß sie geweint hatte und warf schnell einen Blick in den Spiegel, ehe sie die Tür öffnete.
»Guten Morgen, Mum!« Liebevoll begrüßte Sarah ihre Mutter und sah sie dann prüfend an. »Was ist mit dir? Hast du geweint?« Nicola wehrte müde ab. »Es ist alles in Ordnung, Sasa.«
Zärtlich strich sie ihrer Tochter über die langen Haare. Auch heute, mit fünfundvierzig Jahren, konnte man meinen, daß Nicola die ältere Schwester ihrer Tochter sei. Die Ähnlichkeit war frappierend. Beide hatten das gleiche rotbraune Haar, das Nicola etwas damenhafter hochgesteckt trug. Ihre rehbraunen Augen konnten noch genauso blitzen wie die ihrer zwanzigjährigen Tochter. Im Moment jedoch waren sie vom Weinen gerötet.
»Bitte sei nicht traurig. Ich ertrage das nicht.« bat Sarah leise. Auch sie traf der Verlust des liebevollen Vaters hart. »Ich versuche es«, versprach Nicola schließlich. »Wie spät ist es?«
»Neun Uhr. Hast du schon gefrühstückt?«
»Nein, ich habe keinen Hunger.«
»Du ißt schon seit Tagen viel zu wenig. Ein paar Happen werden dir guttun. Ich freu’ mich schon auf das Essen hier in Deutschland.« Sarah sprach perfektes Deutsch, da ihr Vater stets Wert auf eine zweisprachige Erziehung gelegt hatte. Sie hatte ihn manchmal auf seinen Auslandsreisen begleitet und sich immer gefreut, nach Deutschland zu kommen. Sie liebte die Heimat ihres Vaters sehr, was David mit Freude zur Kenntnis nahm. Amerika war für ihn immer fremd geblieben, doch aus Rücksicht auf seine Frau, die ihre Heimat nicht verlassen wollte, hatte er seinen Lebensmittelpunkt dort gehabt.
Nicola lächelte. »Also gut. Du hast mich überzeugt. Außerdem müssen wir die Zeit bis zehn Uhr ja irgendwie rumkriegen.«
»Bist du aufgeregt?« fragte Sarah, als sie an ihrem Tisch Platz genommen und Kaffee bestellt hatten.
»Schon ein bißchen. Ich bin gespannt, was uns erwartet.«
»Hast du keine Ahnung?«
»Leider nein. Ich habe mich nie um die Geschäfte deines Vaters gekümmert. Das könnte jetzt ein Nachteil sein.« Nicola sagte diese Worte nur vor sich hin. Sie ahnte nicht, wie bitter sie ihr Desinteresse an der Arbeit ihres Mannes noch bereuen würde.
*
Fee Norden war an diesem Morgen früh erwacht. Sie fühlte sich frisch und erholt, obwohl es erst halb sechs war. Daniel schlief noch tief und fest. Sie stand leise auf und schlich aus dem Schlafzimmer. Im ganzen Haus herrschte tiefe Stille. Fee nutzte die Ruhe, um sich ausgiebig zu pflegen. Sie sah zwar immer noch viel jünger aus, als sie war, doch sie wollte, daß das auch so blieb. Daniel neckte sie immer, wenn er sie mit einer pflegenden Maske im Gesicht sah, doch Fee kümmerte sich nicht weiter darum. Sie wußte, daß ihr Mann stolz auf ihre jugendliche Ausstrahlung war. Schließlich war sie fertig. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, zog ihre Lippen mit einem dezenten Lippenstift nach und verließ zufrieden das Badezimmer. Sie hörte Lenni in der Küche mit Geschirr klappern und beschloß, die Kinder zu wecken.
Kurze Zeit später waren alle am Frühstückstisch versammelt. Da die Faschingsfeiern kurz bevor standen, wurde heiß über die Kostüme diskutiert.
»Ich werde Katze«, bestimmte Dési.
»Das wird doch langweilig, du wirst ja immer Katze«, bemerkte Jan.
»Besser als ein blöder Cowboy«, schimpfte sie zurück.
»Ich werd’ kein Cowboy. Ich werd’ Vampir, und dann beiß ich dich!« Drohend erhob Jan die Hände und riß den Mund auf. Dési kreischte ganz erschrocken auf.
»Schluß jetzt, ihr beiden«, mischte Daniel sich streng ein. »Wir haben dieses Jahr in der Schule eine richtige Party!« erzählte Anneka aufgeregt.
»Das ist ja spannend. Wann soll das sein?« erkundigte sich Fee lächelnd. Sie konnte es gar nicht glauben, wie schnell die Zeit verging. Zu gut konnte se sich noch an ihre eigene erste Praty erinnern.
»Die Lehrerin gibt noch einen Brief mit nach Hause. Da steht alles genau drin. Wenn ich bloß wüßte, was ich anziehen soll!«
»Auf dem Dachboden steht die große Verkleidungskiste. Da wird schon was Passendes dabei sein.«
»Und wie steht es mit euch Junge?« fragte Daniel interessiert. »Am Freitagabend ist Faschingsball in der Sporthalle. Ich wollte als Arzt kommen. Hast du noch einen alten Kittel für mich Papi?« fragte Danny hoffnungsvoll.
»Ein altes Stethoskop muß auch noch da sein. Wir machen einen perfekten Doktor aus dir.«
»Super, Papi. Du bist der Beste«, lobte Danny seinen Vater.
»Und was ist mit dir, Felix? Gehst du nicht auf den Schulball?« erkundigte sich Fee.
»Nein, keine Lust. Die Rumhopserei ist nichts für mich«, erklärte er würdevoll.
Fee mußte lachen. »Du klingst, als wärst du mindestens hundert Jahre alt. Aber jetzt wird es Zeit. Aber in die Schule mit euch.«
Fee klatschte in die Hände. Die großen Kinder packten ihre Brotzeit ein und verabschiedeten sich mit einem Kuß von ihren Eltern. Daniel blieb noch eine Weile sitzen und trank seinen Kaffee aus, während Fee die beiden Kleinen für den Kindergarten fertig machte. Dann stand auch er auf, um seine Sachen für den heutigen Tag herzurichten.
Martin Sassen hatte sich gründlich auf den Termin mit Nicola und Sarah Brandon vorbereitet. Er hatte die Unterlagen der Firma gründlich durchgearbeitet. Was er da gelesen hatte, stimmte ihn nicht gerade fröhlich. Die Vertriebszahlen in Amerika waren in den letzten Jahren deutlich gefallen und auch das deutsche Geschäft lief alles andere als gut. Als er darüber nachdachte, wie er der Ehefrau und der Tochter seines Mandanten die schlechten Nachrichten möglichst schonend beibringen sollte, meldete seine Sekretärin die beiden auch schon. Dr. Sassen stand auf, schloß seine Anzugjacke und erwartete sie.
»Guten Tag, Herr Dr. Sassen. Ich bin Nicola Brandon, und das hier ist meine Tochter Sarah.« Freundlich reichte sie ihm die Hand.
Martin war sehr erstaunt über das gute Deutsch, das Nicola sprach, und auch ihr Anblick überraschte ihn. So eine jugendliche, schicke Frau hatte er nicht erwartet.
»Es ist mir eine Freude, Sie und Ihre Tochter kennenzulernen, gnädige Frau«, begrüßte er sie formvollendet. Dann deutete er auf zwei bequeme Sessel, die seinem Schreibtisch gegenüber standen.
»Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Ein Glas Wasser bitte«, antwortete Nicola, als sie sich gesetzt hatte. Sie zitterte vor Aufregung.
Martin unterrichtete seine Sekretärin, die kurz darauf mit einer Flasche Wasser und drei Gläsern hereinkam. Dann setzte er sich.
»Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell kommen konnten und möchte Ihnen zuerst mein tiefes Beileid aussprechen«, begann er nachdenklich.
»Danke, Herr Sassen. Kannten Sie meinen Mann näher?«
»Nein, leider nicht. Obwohl ich seine Firma jahrelang in Rechtsangelegenheiten vertrat, traf ich ihn nur selten. Zuletzt war er vor drei Jahren hier, als er sein Testament aufsetzen ließ, das ich heute verlesen werde.«
Nicola nickte nur. Verlegen räusperte sich Martin. Dann fuhr er fort zu sprechen.
Was die beiden Frauen an diesem Vormittag in der Anwaltskanzlei erfuhren, zerstörte ihre ganze Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft.
Die Firma David Brandons stand kurz vor dem finanziellen Ruin. Sie hatten schon vor Jahren große finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, die David nicht mehr auffangen konnte. Als er erkannte, daß das Unternehmen eine Modernisierung nötig hatte, war es bereits zu spät. Dennoch begann er mit der Umstrukturierung, die zusätzliche finanzielle Mittel verschlang. Um seine Frau zu schonen, hatte David ihr nie etwas erzählt. Er war optimistisch und glaubte, die Probleme in den Griff zu bekommen. Er ahnte nicht, daß ihm dazu keine Zeit mehr bleiben würde.
Als Martin seine Ausführungen beendet hatte, schwiegen Nicola und Sarah lange Zeit betroffen. »Was bedeutet das für uns?« fragte Nicola schließlich mit schwacher Stimme.
»Sie haben ein paar Wochen Zeit, vielleicht noch zwei Monate, dann müssen wir ein Insolvenzverfahren einleiten.«
»Dann stehen wir vor dem Nichts.«
Martin nickte wortlos. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte er schließlich.
»Und die wäre?«
»Sie könnten die Firma übernehmen und aus der Krise herausführen, indem Sie die Umstrukturierung Ihres Mannes zu Ende bringen. Allerdings setzt das eine hohe Risikobereitschaft voraus.«
»Ich habe keine Ahnung von dem, was mein Mann gemacht hat. Ich habe keine Berufsausbildung, nur ein abgebrochenes Architekturstudium. Wie sollte ich da in der Lage sein, kaufmännische Entscheidungen zu treffen, um so ein Unternehmen zu retten?« Nicola war zutiefst entsetzt.
»Ich verstehe Ihre Reaktion, Frau Brandon. Aber das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.«
Nicola sank in ihrem Sessel in sich zusammen. »Was soll ich denn jetzt tun?« flüsterte sie hilflos. Doch auch Sarah wußte auf diese Frage keine Antwort. Sie hatte noch keine Berufsausbildung begonnen, sondern hatte die Zeit nach ihrem Schulabschluß zu ausgiebigen Reisen genutzt. Schon jetzt bereute sie es, nicht sparsamer gewesen zu sein. Aber es war zu spät.
Am späten Vormittag erreichte Daniel ein Anruf seines Freundes Martin.
»Daniel, kannst du bitte schnell kommen? Eine Mandantin ist in meiner Kanzlei zusammengebrochen.«
»Ist sie bei Bewußtsein?«
»Nein, was soll ich tun?«
»Leg’ ihre Beine hoch. Meine Sprechstunde ist schon vorbei. Ich bin gleich bei dir.«
Hastig zog Daniel seinen Kittel aus. Er sagte seiner Arzthelferin Bescheid und machte sich sofort auf den Weg in die Kanzlei. Als er dort eintraf, war Nicola wieder bei Bewußtsein. Kurz schilderte Martin, was passiert war. Nicola hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und kurz das Bewußtsein verloren. Als sie wieder zu sich kam, zitterte sie am ganzen Körper und weinte hemmungslos.
Daniel fühlte ihren Puls und maß dann den Blutdruck, während Sarah hilflos daneben stand.
»Sie muß dringend in die Klinik und ruhiggestellt werden!« stellte er schließlich fest. »Ich verabreiche ihr eine beruhigende Injektion, dann verständige ich die Kollegen in der Behnisch-Klinik.«
»Kann ich mitkommen? Ich bin ihre Tochter«, sagte Sarah leise.
»Natürlich«, antwortete Daniel knapp. Er wartete, bis der Krankenwagen die beiden abgeholt hatte. Nicola hatte sich nach der Spritze etwas beruhigt, zitterte aber immer noch am ganzen Körper und war in einer sichtbar schlechten Verfassung.
»Wird es ihr bald wieder bessergehen?« fragte Martin Sassen besorgt.
»Ich hoffe es. Warum ist sie mit den Nerven so fertig?«
»Ihr Mann ist kürzlich nach schwerer Krankheit verstorben, und ich mußte ihr soeben sagen, das seine Firma kurz vor dem Konkurs steht.«
»Das scheint zuviel für sie gewesen zu sein.«
»Ich konnte nicht ahnen, daß sie so reagieren würde«, sagte Martin hilflos.
»Keine Sorgen, alter Junge. Du kannst nichts dafür«, beruhigte ihn Daniel. »Wahrscheinlich war sie psychisch schon sehr labil nach allem, was sie durchgemacht hatte. Ich rufe dich an, wenn ich mehr weiß.« Freundschaftlich klopfte er ihm auf die Schulter.
»Danke, für deine Hilfe, Daniel.«
Als er in seinem Wagen saß, holte er sein Handy aus der Tasche, das er für Notfälle immer bei sich trug. Er wählte die Nummer und informierte seine Frau Fee, daß er nicht zum Mittagessen nach Hause kommen würde. Dann machte er sich auf den Weg in die Behnisch-Klinik, um nach Nicola Brandon zu sehen.
*
Wie so oft ging es am Mittagstisch der Nordens recht lebhaft zu. Sogar Felix und Danny waren schon zeitig zu Hause gewesen, sodaß außer Daniel niemand fehlte. Die Zwillinge berichteten von ihren Erlebnissen im Kindergarten, und Anneka erzählte von der bevorstehenden Faschingsparty. Nur Danny war merkwürdig still und in sich gekehrt. Fee nahm sich vor, nach dem Essen allein mit ihm zu sprechen. Doch ihr Ältester kam ihr zuvor.
»Hättest du nachher kurz Zeit? Ich muß dich was fragen«, raunte er ihr zu, während alle zusammen den Tisch abräumten.
»Natürlich, mein Junge«, antwortete Fee ohne Zögern. Rasch war die Arbeit getan.
Anneka und Felix gingen in ihre Zimmer, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, und die Zwillinge liefen in den Garten, um bei dem milden Wetter draußen zu spielen, während Lenni die Küche aufräumte. So war Fee mit Danny allein.
»Was hast du auf dem Herzen?«
»Kannst du dich an Jana erinnern?«
»Natürlich, das nette blonde Mädchen aus deiner Clique.«
»Genau. Sie macht seit einiger Zeit Babysitting in der Nachbarschaft.«
»Ich finde es gut, wenn ihr jungen Leute euer Taschengeld ein bißchen aufbessert.«
»Das finde ich ja auch. Aber darum geht es nicht. Jana macht sich Sorgen um den kleinen Jungen, auf den sie aufpaßt.«
»Warum?«
»Er weint viel und hat oft blaue Flecken.«
Fees Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Wie alt ist der Kleine?«
»Eineinhalb.«
»Kann er schon laufen?«
»Ja, seit ein paar Wochen.«
»Da ist es möglich, daß die blauen Flecken vom Hinfallen kommen.«
»Er hatte sie aber auch schon, bevor er laufen gelernt hat.«
»Wie lange paßt Jana schon auf ihn auf?«
»Seit einem halben Jahr.«
»Du hast doch einen Verdacht, Danny«, forschte Fee nach.
»Ich habe mich lange mit Jana unterhalten. Sie befürchtet, daß Dominik geschlagen wird.«
»Das ist ein schlimmer Verdacht, den ihr beide da habt.«
»Ich weiß es. Deshalb spreche ich ja mit dir. Ich weiß nicht, was Jana unternehmen soll.«
Nachdenklich blickte Fee vor sich hin. Sie verabscheute Gewalt gegen Kinder zutiefst und wußte, daß sie es immer noch oft genug gab. Dennoch war es schwierig, so ein Vergehen nachzuweisen.
»Einen Rat kann ich dir so spontan auch nicht geben. Ich werde darüber nachdenken und mit Papi sprechen. Vielleicht hat er Erfahrung, wie man mit so einem Verdacht umgeht.«
»Das ist lieb von dir, Mami.«
»Ich finde es gut von euch, daß Ihr Euch Gedanken macht. Wir werden eine Lösung finden, da bin ich mir sicher.« Dann fiel ihr noch etwas ein. »Wie oft ist Jana bei dieser Familie?«
»Einmal pro Woche am Nachmittag und öfter mal abends am Wochenende.«
»Hat der Kleine noch Geschwister?«
»Nein. Die Mutter will auch keine Kinder mehr, hat Jana gesagt. Sie hatte sich das mit dem Kind wohl ganz anders vorgestellt.«
Fee schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, daß sich manche Frauen Kinder anschafften, wenn sie offenbar nicht bereit waren, so eine große Verantwortung zu übernehmen.
Den ganzen Nachmittag ließ sie Dannys schlimmer Verdacht nicht los. Sie konnte es kaum erwarten, bis Daniel endlich nach Hause kam, um mit ihm darüber zu sprechen.
Nicola Brandon lag apathisch in ihrem Bett in der Behnisch-Klinik. Sie hatte eine Infusionsnadel im Arm, durch die sie beruhigende und kreislaufstabilisierende Medikamente bekam. Nach dem schlimmen Weinkrampf, den sie gehabt hatte, wirkte ihre Ruhe fast gespenstisch auf Sarah. Sie war außer sich vor Sorge um die Gesundheit ihrer Mutter. Nach all den schlimmen Nachrichten der letzten Zeit hatte sie gedacht, jetzt würde es wieder bergauf gehen, aber es schien imm nur noch schlimmer zu werden.
Schließlich hielt sie es am Bett ihrer Mutter nicht mehr aus.
»Ich gehe ein bißchen im Park spazieren«, sagte sie leise, doch Nicola reagierte nicht. Mit glasigen Augen starrte sie in die Leere. Seufzend stand Sarah auf und verließ den Raum. Die Sonne schien an einem wolkendurchzogenen Himmel, trotzdem zog Sarah ihre Strickjacke fröstelnd enger um sich. Lange ging sie spazieren und nahm keine Notiz von den Kranken, die das schöne Wetter zu einem Ausflug nutzten. Dann setzte sie sich auf eine Bank und sah ein paar Vögeln zu, die sich um ein paar Brotkrumen stritten. Unwillkürlich mußte sie lächeln.
»Manchmal wäre ich auch gerne ein kleiner Spatz, der sorglos in den Tag hineinleben kann«, bemerkte auf einmal eine Stimme neben ihr. Sarah schrak zusammen und sah sich um.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte der junge Mann bedauernd, der neben der Bank stand. Er trug einen weißen Arztkittel, was sie wegen seines jugendlichen Aussehen verwunderte.
»Ist schon gut. Ich war in Gedanken«, antwortete sie freundlich.
Er hatte ihren prüfenden Blick bemerkt. »Ich bin Sebastian Streidl und Assistenzarzt hier. Dank meines Aussehens werde ich leider immer mit den Zivildienstleistenden verwechselt. Aber ich besitze den Führerschein schon seit sieben Jahren.« Seine Augen blitzten spitzbübisch.
Trotz ihres Kummers mußte Sarah lächeln.
»Ich hätte Sie tatsächlich nicht viel älter als zwanzig geschätzt. Aber seien Sie doch froh, daß man Sie für jünger hält, als Sie sind. Wenn das in zwanzig Jahren noch genauso ist, haben Sie sicher nichts dagegen.«
»Da könnten Sie recht haben. Darf ich fragen, ob Sie Patientin hier sind, oder ist das zu neugierig?« fragte er direkt.
»Meine Mutter wurde heute eingeliefert. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch«, erklärte Sarah freimütig und war froh, mit einem Menschen darüber sprechen zu können.
»Das tut mir leid. Wie geht es ihr?«
»Ich weiß es nicht. Sie liegt in ihrem Bett und starrt nur in die Luft. Deshalb bin ich ein bißchen nach draußen gegangen.«
»Kommen Sie aus München?«
»Nein, ich bin Amerikanerin, genau wie meine Mutter. Mein Vater war Deutscher, und München war seine Heimatstadt. Er ist vor zwei Wochen gestorben. Wir sind zur Testamentseröffnung hier.«
»Das tut mir leid«, sagte Sebastian bedauernd. Aus seinen Augen sprach ehrliches Mitgefühl. »Sind Sie ganz allein hier?«
»Die einzigen Menschen, die ich hier kenne, sind der Rechtsanwalt und ein Arzt.«
Sebastian dachte einen Moment nach. »Ich habe um fünf Uhr Schluß. Wenn Sie Lust haben und es der Zustand Ihrer Mutter erlaubt, können wir eine Kleinigkeit miteinander essen, und Sie erzählen mir alles. Sie sehen so aus, als könnten Sie einen guten Zuhörer brauchen.« Aufmunternd lächelte er ihr zu. Er hatte ein fröhliches Jungengesicht, und Sarah fühlte sich eigentümlich getröstet in seiner Gegenwart. Deshalb stimmte sie nach kurzer Überlegung zu.
»Kommen Sie um sieben in die Hotelhalle des City Hilton. Ich warte dort auf Sie.«
»In Ordnung. Ich freue mich.« Er gab ihr die Hand und kehrte dann zu seiner Arbeit zurück.
Sarah blickte ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand. Ein kleiner Hoffnungsschimmer tauchte vor ihr auf, und sie bemerkte, wie sie sich auf den Abend freute.
Inzwischen war Daniel in der Behnisch-Klinik eingetroffen und war gleich zu Nicola gegangen. Diese lag immer noch regungslos da. Sie wandte nicht einmal den Kopf, als er eintrat. Leise setzte sich Daniel an ihr Bett und betrachtete sie eine Weile. Dann fühlte er ihren Puls und maß den Blutdruck. Beide Werte waren zwar noch nicht normal, gaben jedoch keinen Anlaß mehr zu großer Sorge. Daniel war sich sicher, daß es Nicola in ein paar Tagen wieder so gut gehen würde, daß sie die Klinik verlassen konnte. Er ahnte vorerst nicht, daß ihr psychischer Zustand Grund zu großer Sorge geben würde.
Als Daniel an diesem Abend endlich nach Hause kam, wurde er schon sehnlichst von Fee erwartet. Doch sie mußte sich noch gedulden, denn zuerst hatten die Kinder ein Recht auf die Aufmerksamkeit ihres Papis. Sie lachten und scherzten viel miteinander und Daniel zog zu Dannys großer Freude einen gut erhaltenen Arztkittel und ein ausgedientes Stethoskop aus der Tasche. Die Sachen wurden gleich ausprobiert und da Danny inzwischen beinah so groß wie sein Vater war, machte er eine wirklich gute Figur.
»Da wächst die Konkurrenz heran«, stellte Daniel stolz fest, als er seinen Sohn betrachtete.
»Schade, das du mein großer Bruder bist. Sonst würde ich dich bestimmt heiraten«, bemerkte Anneka, und alle lachten.
»Jetzt ist aber Schluß mit den Lobeshymnen, sonst wird der junge Mann noch eingebildet«, warf Fee ein und stand auf, um Jan und Dési nach oben zu bringen.
Endlich kehrte Ruhe ein im Haus Norden. Fee und Daniel saßen im Wohnzimmer, und Fee schüttelte ihm ihr Herz aus. Daniel hörte nachdenklich zu.
»Das ist eine schwierige Sache«, sagte er schließlich, als Fee geendet hatte. »Stell dir vor, die Eltern werden der Kindesmißhandlung beschuldigt und es stellt sich heraus, daß es nicht stimmt. Wie stehen diese Leute dann da?«
»Andererseits kann es wirklich sein, daß der kleine Dominik geschlagen wird, und keiner unternimmt etwas. Das ist ja das große Problem in unserer Gesellschaft, daß niemand mehr Verantwortung für den anderen übernehmen will.«
»Ich verstehe deine Sorgen, mein Schatz. Ich muß eine Nacht darüber schlafen, vielleicht fällt mir eine Lösung ein.«
*
Jenny Behnisch hatte einen recht ruhigen Kliniktag hinter sich. Es hatte keine Notfälle gegeben, und die angesetzten Operationen waren ausnahmslos gut verlaufen. Bevor sie jedoch nach Hause ging, warf sie noch einen Blick in das Zimmer von Nicola Brandon. Es war halb sechs Uhr abends, und die Schwester sammelte gerade die Tabletts wieder ein, auf denen das Abendessen serviert worden war. Nicola hatte nichts davon angerührt.
»Sie müssen etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen, Frau Brandon«, sagte Jenny, als sie das Tablett unberührt dort stehen sah.
»Das habe ich ihr auch gesagt, aber sie wollte nichts. Ich kann sie doch nicht zwingen.« Im Laufe des Nachmittags war etwas Leben in sie zurückgekehrt und sie hatte ein paar, wenn auch belanglose Sätze mit ihrer Tochter gesprochen.
»Ich habe keinen Hunger, Frau Doktor«, sagte Nicola mit matter Stimme.
»Heute kann ich das verstehen. Sie haben viel Schlimmes erlebt in letzter Zeit. Aber morgen müssen Sie mir versprechen zu essen.«
»Ich habe so viele Probleme. Wie könnte Essen da eine Rolle spielen?« Nicola war verzweifelt.
»Sie werden sehen, wenn Sie wieder zu Kräften gekommen sind, ist alles halb so schlimm. Und Sie haben ja Ihre Tochter. Sie wird Ihnen sicher helfen, nicht wahr?« Jenny wandte sich an Sarah.
»Natürlich werde ich das, Mum. Das weißt du doch, oder?« Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Ach, mein Kind. Ich habe mir deine Zukunft ganz anders vorgestellt.«
»Das macht doch nichts. Wir werden gemeinsam einen Weg finden, da bin ich mir sicher.«
»Ich will dich in diese Sache nicht hineinziehen. Damit muß ich allein fertig werden.«
»Bitte machen Sie sich nicht so viele Gedanken, Frau Brandon. Das ist in Ihrer Situation nicht gut für Sie.« Mitfühlend drückte Jenny die Hand ihrer Patientin. Dann verabschiedete sie sich von Nicola und winkte Sarah unmerklich, damit sie ihr nach draußen folgte.
»Sie müssen Ihre Mutter positiv beeinflussen. Einen Nervenzusammenbruch darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Ich weiß es. Aber was soll ich tun?« fragte Sarah verzweifelt.
Jenny erkannte, daß auch sie am Ende ihrer Kräfte war.
»Sie sollten jetzt ins Hotel gehen und sich ausruhen. Sie müssen zuerst an sich denken. Denn wer sollte Ihrer Mutter jetzt helfen, wenn nicht Sie. Und das können Sie nur, wenn Sie stark sind. Tun Sie etwas für sich.«
Sarah nickte müde. Der lange Flug und die Aufregung des Tages steckten ihr in den Gliedern. Sie verabschiedete sich von Jenny und ging dann noch einmal zu ihrer Mutter. Nicola hatte die Augen geschlossen und schien tief zu schlafen. So schloß Sarah leise die Tür und machte sich auf dem Weg zur Pforte. Dort ließ sie sich ein Taxi rufen, das sie ins Hotel bringen sollte. Während der Fahrt dachte sie an Sebastian und bereute es fast, sich mit ihm verabredet zu haben. Sie fühlte sich ausgelaugt und nicht in der Lage, am Abend auszugehen.
Als sie hinter sich die Tür des Hotelzimmers schloß, seufzte Sarah vor Erleichterung. Es war erst kurz nach sechs, so blieb noch Zeit für ein heißes Bad. Danach würde es ihr bessergehen. Sie öffnete die Minibar, während das Wasser in die Wanne lief und nahm schließlich eine Flasche Piccolo heraus. Mit dem Glas in der Hand stieg sie in den duftenden Schaum und versuchte für ein paar Minuten, all ihre Sorgen hinter sich zu lassen.
Eine Stunde später erschien Sarah wie versprochen in der Hotelhalle. Sie hatte sich ein wenig zurechtgemacht, das rotbraune Haar zu einer raffinierten Frisur zusammengesteckt und sich dezent geschminkt. Dazu trug sie einen dunklen schlichten Hosenanzug, der ihre schlanke Figur unterstrich.
Sebastian, der schon auf sie wartete, war sprachlos, als er Sarah erblickte, obwohl sie nicht geschminkt gewesen war, aber er hatte nicht geahnt, daß sie sich in eine solche Schönheit verwandeln konnte. Fast wurde er verlegen, was selten bei ihm vorkam, und er war froh, das auch er einen Anzug gewählt hatte.
Sarah begrüßte ihn freundlich. »Hallo Sebastian. Gut sehen Sie aus«, sagte sie und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Er hatte die lockigen schwarzen Haare, die er etwas länger trug, nach hinten gekämmt, was ihm ein seriöses Aussehen gab, doch die braunen Augen blitzten immer noch jugendhaft.
»Danke für das Kompliment, das ich gleich zurückgeben darf. Ich bin geblendet.«
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Charmeur«, lachte Sarah. Auf einmal war sie froh, der Versuchung nicht nachgegangen und die Verabredung abgesagt zu haben.
»Das bin ich eigentlich auch nicht«, gab Sebastian ehrlich zu und bot Sarah den Arm. »Wohin darf ich Sie führen, meine Dame?« fragt er.
»Wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich gern hier im Hotel bleiben. Im Prospekt habe ich gesehen, daß es hier eine gemütliche kleine Bar gibt, wo man auch eine Kleinigkeit essen kann.«
»Warum nicht.« Sebastian war sofort einverstanden. Er war ein feinfühliger Mensch und hatte schnell erkannt, daß Sarahs Augen müde wirkten. So stiegen sie hinab in die Bar und stellten fest, da der Hotelprospekt nicht übertrieben hatte. Es war wirklich sehr gemütlich, und sie fanden einen Platz, wo man auch eine Kleinigkeit essen kann.
Für beide wurde es ein wirklich schöner Abend. Zwar sprachen sie viel über Sarahs Probleme doch Sebastian war sehr geschickt darin, in allem den guten Kern zu sehen. So fühlte sie sich wirklich viel hoffnungsvoller, als er sie schließlich gegen elf Uhr zum Aufzug brachte.
»Es war ein wunderbarer Abend mit dir, Sarah«, sagte er mit rauher Stimme und sah ihr tief in die Augen. Sarah wurde ganz aufgeregt und senkte den Blick.
»Du hast mich mit deiner Sichtweise der Dinge sehr weiter geholfen. Ich sehe alles viel positiver als noch heute Nachmittag. Ich bin froh, daß ich unsere Verabredung nicht abgesagt habe.«
»Das hättest du getan?« fragte Sebastian mit gespieltem Entsetzen. Sarah mußte lachen, als sie seine weit aufgerissenen Augen sah
»Es ist schön, wenn du lachst«, sagte er und wurde wieder ernst. »Ich möchte dein Lächeln gern noch öfters sehen. Darf ich?« fragte er leise.
»Ja!« antwortete Sarah. Dann drückte sie ihm schnell einen Kuß auf die Wange und stieg in den Aufzug, der eben gekommen war. Die Türen schlossen sich und sie träumte von einem Wiedersehen, während sie nach oben fuhr.
*
In dieser Nacht lag Nicola lange wach und grübelte. Durch die beruhigenden Medikamente fühlte sie sich wie gelähmt, doch ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Da sie sich nie über ihre finanzielle Situation hatte Sorgen machen müssen, war sie von den Problemen, die nun drohend vor ihr standen, hoffnungslos überfordert. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, den sie zunächst nicht zulassen wollte. Doch die fixe Idee kreiste in ihrem Kopf und ließ sie nicht mehr los. Schließlich war der Gedanke zu einem Plan gereift. Nicola seufzte tief. Endlich wurde sie innerlich ruhiger und schlief schließlich ein.
Dennoch war es kein erholsamer Schlaf. Sie träumte wirre Dinge und war froh, als die Schwester sie am Morgen weckte.
»Guten Morgen, Frau Brandon, haben Sie gut geschlafen?« fragte sie freundlich, während sie die Vorhänge beiseiteschob und die Morgensonne durch das Fenster schien.
»Ja. Ich fühle mich richtig gut heute«, log Nicola und setzte sich im Bett auf. »Nur diese Nadel hier im Arm ist ziemlich lästig«, beschwerte sie sich mit Blick auf die Infusion.
»Die Medikamente sind sehr wichtig für Ihre Nerven«, erklärte Schwester Gabi und schüttelte Nicolas Bettdecke auf.
»Mir geht es aber wieder ausgezeichnet. Können Sie mich nicht befreien?» fragte sie.
»Es tut mir leid, Frau Brandon. Diese Entscheidung muß der Arzt fällen. Herr Dr. Norden wollte heute Vormittag vorbeischauen. Sprechen Sie mit ihm darüber.« Gabi holte das Blutdruckmeßgerät, überprüfte den Puls und trug alles in eine Karteikarte ein. »Ihr Werte sind tatsächlich nicht mehr so schlecht wie gestern«, stellte sie zufrieden fest. »Ich bringe Ihnen jetzt Ihr Frühstück. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«
»Kaffee bitte.«
Die Schwester nickte und verschwand, um kurz darauf ein gut gefülltes Tablett zu bringen. Angewidert blickte Nicola auf das Brötchen und den Aufschnitt. Sie verspürte immer noch keinen Appetit. Doch als sie den prüfenden Blick der Schwester spürte, setzte sie ein Lächeln auf.
»Wunderbar. Ich sterbe fast vor Hunger.« Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.
Schwester Gabi plauderte ein paar Minuten mit ihr und verließ dann mit mit einem freundlichen Gruß das Zimmer. Nicola setzte die Kafeetasse ab. Doch dann erinnerte sie sich daran, daß die Ärzte ihr nur Glauben schenken würden, wenn sie auch aß und schnitt das Brötchen in zwei Hälften, bestrich es mit Butter und belegte es großzügig mit dem Aufschnitt. Dann legte sie die beiden Hälften zusammen, wickelte sie in die beigelegte Serviette und ließ das Päckchen in ihrer Handtasche verschwinden.
Als Dr. Norden kurz darauf hereinkam, war das Tablett fast leer. Erfreut warf er einen Blick darauf. »Guten Morgen, Frau Brandon. Es freut mich, daß sie schon wieder Appetit haben. Wie geht es Ihnen?«
»Guten Morgen, Herr Doktor. Heute geht es mir viel besser. Ich möchte Sie bitten, mich von dieser lästigen Infusion zu befreien.«
Prüfend schaute Daniel sie an. Dann stand er auf und warf einen Blick in das Krankenblatt. »Nun, der Blutdruck hat sich weitgehend normalisiert. Wie fühlen Sie sich sonst?«
»Wie gesagt, es geht mit gut. Ich möchte mich für meinen Ausrutscher gestern entschuldigen. Viel lag sicher auch an der Anstrengung. Sie wissen schon, der lange Flug, die Zeitumstellung.« Sie lächelte Daniel zu.
»Also gut. Aber Sie müssen mir versprechen, sich zu schonen. So einen Nervenzusammenbruch darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Er kann beispielsweise schwere psychische Störungen nach sich ziehen, die nicht leicht zu behandeln sind.«
»Ich verspreche es Ihnen, Herr Doktor, wenn Sie mir nur diese Nadel ziehen.« Nicola gab sich alle Mühe, überzeugend zu wirken.
»Wenn sie Sie so sehr stört, können wir auf orale Medikamente umsteigen«, sagte Daniel und klingelte nach der Schwester. Leise gab er ihr die Anordnung, die Infusion zu entfernen und statt dessen Tabletten bereitzustellen. Dann verabschiedete er sich von Nicola und versprach, am nächsten Tag wieder vorbeizuschauen.
Nicola ließ sich erschöpft in die Kissen zurückfallen. Es ging ihr bei weitem nicht so gut, wie sie es vorgab, und die Infusion wirkte immer noch. Doch Hauptsache war, daß der erste Teil ihres Plans geglückt war. Jetzt konnte sie sich tagsüber ausruhen und darauf warten, daß die betäubende Wirkung nachließ.
*
Der Freitag war gekommen, und am Nachmittag herrschte große Aufregung im Haus Norden. Annekas Party sollte in zwei Stunden in ihrem Klassenzimmer beginnen, und Danny legte sich sein Kostüm für den Schulball zurecht. Auch Felix hatte sich inzwischen dazu entschlossen, doch hinzugehen. Alle seine Freunde wollten kommen, und so konnte er es sich nicht leisten, dieses wichtige Ereignis zu versäumen.
»Mami, wo steht denn hier Faschingskiste?« rief er, als er Fee auf den Weg nach oben, gefolgt von Anneka, die immer noch kein passendes Kostüm gefunden hatte.
»Ich komme schon und zeige sie dir«, rief sie. Sie wußte genau, daß es keinen Sinn hatte zu erklären, wo sie stand. Felix würde sie doch nicht finden. »Da ist sie ja«, sagte sie und zeigte auf eine große Kiste in der Ecke. Dann setzte sie sich auf einen alten Schemel, um zu verschnaufen. Anneka lief gleich hin und zerrte sie aus der Ecke heraus. Sie
schien sehr schwer zu sein. Voller Erwartung hob sie den Deckel hoch und stieß einen Juchzer aus. Die Schachtel war bis obenhin gefüllt mit alten Faschingskostümen, Hüten und Perücken. Felix und Anneka wühlten in den Sachen, und Fee lachte Tränen, während die beiden die unterschiedlichsten Kostüme anprobierten. Schließlich entschied sich Anneka für ein rotes Fransenkleid und einen Haarreif mit Teufelshörnchen. Das Minikleid hatte Fee vor Jahren selbst einmal auf einem Faschingsball getragen. Es war recht eng geschnitten und reichte Anneka bis zu den Füßen, was sehr hübsch aussah. Felix hatte den alten Smoking seines Vaters entdeckt, der freilich zu groß war. Doch Fee versprach, Lenni zu bitten, einen Abnäher in die Hose zu machen und die Beine nach innen umzuschlagen und festzustecken. Mit einem passenden Hut war auch sein Faschingskostüm perfekt. Zufrieden gingen die drei hinunter, und Lenni versprach, gleich ans Werk zu gehen.
Schließlich war es Zeit und Fee brachte Anneka in die Schule. Ihre Party begann schon um fünf Uhr und sollte um neun Uhr zu Ende sein, während der Ball der Großen erst um acht Uhr vom Schuldirektor eröffnet wurde.
»Ich bin so aufgeregt, Mami. Das ist meine erste richtige Party«, sagte Anneka und zappelte in ihrem Autositz.
»In deinem Alter durfte ich noch gar nicht fortgehen. Da gab es so etwas gar nicht«, stellte Fee versonnen fest.
»Wie alt warst du, als du auf deine ersten Partys warst?« fragte Anneka interessiert.
»Das weiß ich noch genau. Ich war fünfzehn und zum ersten Mal richtig verliebt.«
»Ui, hat er dich geküßt?« Anneka kicherte.
»Wir haben nur Händchen gehalten, weil die Eltern meiner Freundin immer wieder hereingeschaut haben. Das waren noch eine ganz andere Zeit als heute, wo Eltern nichts mehr zu sagen haben.«
»Wenn ich mal eine Party gebe, dürft ihr auch dabei sein. Das verspreche ich dir, Mami.«
Fee mußte lächelte. »Das ist süß von dir, Bärchen.« Sie hielt den Wagen vor dem Schulgebäude, in das zahlreiche, fantasievoll maskierte Kinder liefen. »Viel Spaß. Ich hole dich um neun Uhr wieder ab. Aber komm nicht nach draußen. Ich mag nicht, daß du allein in der Dunkelheit rumstehst«, ermahnte sie ihre Tochter.
»Wo denkst du hin, Mami? Das würde ich nie tun. Hallo Klara!« rief Anneka ihrer Freundin zu. Rasch verabschiedete sie sich von ihrer Mami und verschwand dann zwischen lachenden, aufgeregt tuschelnden Mädchen.
Fee sah ihnen eine Weile sinnend hinterher. Die Zeiten hatten sich wirklich geändert. Die Kinder waren viel reifer und selbständiger als früher, und sie war sich nicht sicher, ob das immer ein Vorteil war. Die Kinder mußten viel selbstbewußter erzogen werden und früh einige Entscheidungen treffen können, da die Umwelt es von ihnen verlangte.
Schließlich startete Fee den Motor und fuhr nach Hause, wo sie schon Felix und Danny in ihren Kostümen antraf. Die beiden sahen wirklich toll aus.
»Kannst du uns nachher in die Sporthalle bringen, Mami?« fragte Danny mit einem bittenden Blick. »Ich habe ein paar Freunden versprochen, daß du sie mitnimmst.«
»Dann kann ich ja nicht nein sagen, nicht wahr«, lächelte Fee.
»Eigentlich nicht. Aber Ulis Vater holt uns wieder ab. Dann können Papi und du schon mal schlafen gehen, wenn ihr müde seid.« Danny drückte ihr einen Kuß auf die Wange.
»Soll ich Jana auch abholen?«
»Nein, sie muß heute abend Babysitten.«
»Am Abend des Faschingsballs?«
»Ja, sie hat schon lange zugesagt, da wußten wir den Termin von dem Ball noch gar nicht.«
»Das ist wirklich schade.«
»Finde ich auch. Sie ist nämlich sehr nett«, grinste Danny verlegen.
»Bist du eigentlich in sie verknallt?« erkundigte sich Felix, der der Unterhaltung gelauscht hatte.
Doch er erhielt eine klare Abfuhr von seinem großen Bruder. »Das geht dich gar nichts an, Kleiner. Von solchen Sachen verstehst du nichts.«
»Ist mir auch egal«, bemerkte Felix trocken und wandte sich dann wieder seinem Kostüm zu. Fee schüttelte lachend den Kopf, mischte sich jedoch nicht ein. Sie wußte, daß sich ihre Söhne mochten und sah die gelegentlichen Wortgefechte recht gelassen.
Die Fahrt am Abend übernahm Daniel und lieferte einen ganzen Wagen voll Teenager vor der Sporthalle ab. Da viele Lehrer am Schulball teilnahmen, mußte er sich keine Sorgen machen, daß die Jugendlichen Unsinn machen würden. Es wurde kein Alkohol ausgeschenkt, und trotzdem waren die Bälle jedes Jahr wieder ein voller Erfolg. Das bewies, daß man auch ohne aufputschende Drogen fröhlich sein und ausgelassen feiern konnte. Danny und Felix versprachen, spätestens um Mitternacht wieder zu Haus zu sein und Daniel erlaubte es, da der Höhepunkt des Balles, die große Tombola, erst um elf Uhr aufgelöst wurde. Felix durfte das erste Mal so lange dabei sein. Das hatte er der Fürsprache seines Bruders zu verdanken.
Fee verlebte mit ihrem Mann einen ruhigen Abend. Sie schwelgten in Jugenderinnerungen und sprachen über ihre ersten Parties, an denen sie hatten teilnehmen dürfen. Schließlich wurde es Zeit, Anneka abzuholen. Daniel ließ es sich nicht nehmen, Fee zu begleiten.
Das Fest war noch in vollem Gange. Das Klassenzimmer war ganz ausgeräumt und mit Luftschlangen und Luftballons dekoriert. Es war verdunkelt, und die Musik spielte laut, während viele Kinder tanzten. Es dauerte noch eine Weile und Fee und Daniel unterhielten sich inzwischen mit Annekas Lehrerin. Schließlich flammte das Licht auf. Anneka kam atemlos auf ihre Eltern zu.
»Schade, daß es schon aus ist«, keuchte sie, sichtbar erschöpft vom vielen Tanzen.
»Bist du denn noch gar nicht müde?« fragte Daniel erstaunt.
»Meine Beine tun mir ganz schön weh. Aber am liebsten würde ich gleich morgen wieder eine Party feiern«, erklärte sie, als sie sich die Jacke anzog.
»Dann wäre es ja nichts Besonderes mehr«, gab Fee zu bedenken.
»Stimmt auch wieder.« Sie hatten sich von der Lehrerin und den Freundinnen verabschiedet, die auch langsam alle abgeholt wurden. Anneka kuschelte sich ins Auto.
»Ich hab’ sieben Mal mit Jungs getanzt«, stellte sie zufrieden fest.
»Ist das viel oder wenig?« fragte Daniel.
»Johanna hat nur einmal getanzt und Rebecca zweimal.« Man konnte den Triumph in ihrer Stimme hören.
»Dann hat es dir also Spaß gemacht?« Doch vom Rücksitz kam keine Antwort mehr. Anneka war mit einem seligen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.
Wie fast alle Mütter konnte Fee fast keinen Schlaf finden, bis ihre Kinder zu Hause waren. Sie lag schon lange im Bett und las, als kurz nach zwölf ein Auto vorfuhr. Kurz darauf drehte sich der Schlüssel im Schloß, und sie konnte hören, wie die Tür leise geschlossen wurde. Vorsichtig stiegen ihre beiden Jungen die Treppe hinauf und kicherten immer wieder, nicht ohne sich gegenseitig zur Ruhe zu mahnen. Zufrieden löschte Fee das Licht. Die beiden sollten nicht das Gefühl haben, überwacht zu werden, denn Fee wußte, daß sie ihren Kindern vertrauen konnte. Mit dem angenehmen Gefühl, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der durch nichts gestört wurde.
*
Jenny Behnisch hatte alles andere als einen ruhigen Abend. Sie war in der Klinik aufgehalten worden, und als sie sie endlich gegen zehn Uhr verlassen wollte, erhielt sie einen Notruf. Bei dem Anrufer handelte es sich um den Vater der Schülerin Jana Steffens, der Mitschülerin von Daniel Nordens Sohn Danny. Sie hatte am Abend auf den kleinen Dominik Jobst aufgepaßt, nachdem seine Mutter ausgegangen war. Der Vater war wie oft nicht zu Hause. Dominik war bereits im Schlafanzug und Jana brauchte ihm nur noch seinen Abendbrei füttern. Als sie ihn liebevoll in den Arm nahm, um ein wenig mit ihm zu kuscheln, begann er plötzlich schrecklich zu weinen. Jana erschrak, denn sie dachte, sie hätte ihm weh getan und versuchte, den Kleinen zu beruhigen. Doch es gelang ihr nicht. Die Zeit verging, und Dominik schrie und schrie, sodaß es Jana mit der Angst bekam. Sie telefonierte mit dem schreienden Kind auf dem Arm mit ihrem Vater, der sich ins Auto setzte, und seiner Tochter zur Hilfe kam. Herr Steffens warf nur einen kurzen Blick auf das Kind, das inzwischen blau angelaufen war und entschloß sich, in der nächstgelegenen Klinik anzurufen.
Jenny Behnisch nahm den Anruf entgegen und erläuterte Herrn Steffens den kürzesten Weg in das Krankenhaus. Kurze Zeit später traf sein Wagen vor der Notfallstation der Behnisch-Klinik ein. Manfred Steffen begleitete seine Tochter, die das jämmerlich weinende Kind im Arm hatte.
»Was ist geschehen?« fragte Jenny besorgt.
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn in den Arm genommen, um mit ihm zu kuscheln, und da hat er fürchterlich zu weinen begonnen.«
Jana war den Tränen nahe.
»Ich untersuche ihn sofort.« sagte Jenny und nahm Dominik hoch.
»Ist das Ihr Kind?« fragte sie, während sie ihn auszog.
»Nein, ich bin die Babysitterin. Die Mutter ist ausgegangen heute abend und ich weiß nicht, wohin.«
»Sehen Sie sich das an!« Jenny war entsetzt, als sie das Kind bis auf die Windel ausgezogen hatte. Er war übersät mit blauen Flecken. Der linke Arm ausgerenkt. Ist ja gut, mein Kleiner.« Jenny versuchte, das wimmernde Kind zu beruhigen.
»Das ist mir gar nicht aufgefallen. Er war schon umgezogen, als ich heute abend kam«, stammelte Jana. »Wahrscheinlich habe ich ihm weh getan, als ich ihn auf den Arm genommen habe.«
»Wir werden ihn sofort röntgen. Es ist nicht auszuschließen, daß er noch weitere Verletzungen hat.«
Manfred Steffens und Jana begleiteten Dominik in den Röntgenraum.
Jenny erklärte dem diensthabenden Arzt kurz, welche Aufnahmen sie benötigte. Dann blieb Dominik mit einer Schwester allein zurück. Manfred Steffens beruhigte seine weinende Tochter.
»Wie konnte das passieren?« fragte Jenny fassungslos.
»Ich habe ihm nichts getan«, wimmerte Jana.
»Das glaube ich dir«, versuchte Jenny sie zu beruhigen. »Hast du eine Vorstellung davon, was geschehen ist?«
Jana schüttelte den Kopf und putzte sich die Nase. Ihrem Gesichtsausdruck sah man an, daß sie mit sich kämpfte.
»Du mußt mit uns sprechen. Jana. Hab’ keine Angst, es wird die nichts passieren.«
»Ich glaube, daß Dominik geschlagen wird«, stieß sie auf einmal hervor.
Manfred Steffens starrte seine Tochter ungläubig an.
»Seit wann hast du den Verdacht?« fragte er heiser.
»Schon länger. Ich wollte mit niemandem darüber sprechen, bevor ich mir nicht sicher bin.«
»Das ist ein schwerer Verdacht.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich ja nichts gesagt. Nur mit Danny Norden hab’ ich einmal darüber geredet.« Jana stiegen erneut die Tränen in die Augen.
»Meine erste Vermutung war auch, daß das Kind mißhandelt wurde«, bestätigte Jenny zu Manfred Steffens gewandt. »Es war richtig von Ihnen, mit dem Kleinen hierher zu kommen.«
Schließlich brachte die Schwester die Röntgenaufnahmen, gefolgt von dem Arzt, der Jenny beiseite nahm und mit einem ernsten Gesichtsausdruck mit ihr sprach. Diese nickte hin und wieder und wandte sich dann Jana und Manfred Steffens zu.
»Dominik hat einen ausgerenkten Arm. Außerdem haben wir eine Schädelfraktur festgestellt und einen alten Bruch am Schienbein. Das Kind wird vermutlich seit langem schwer mißhandelt.«
»Das ist ja grauenvoll«, sagte Manfred Steffens mit rauher Stimme.
»Leider kommt es heutzutage immer noch öfter vor, als man denkt«, bemerkte Jenny. »Wir behalten Dominik hier und versorgen ihn ärztlich. Den Arm renke ich gleich ein, das ist normalerweise eine Kleinigkeit. Vorher erhält er ein geeignetes Schmerzmittel, damit er nicht mehr leiden muß. Mit der Mutter wird sich die Polizei in Verbindung setzten.«
»Wird Dominik wieder gesund?« schluchzte Jana.
»Mach dir keine Sorgen. Körperlich wird er wieder ganz gesund werden. Ob er seelische Schäden davonträgt, kann ich jetzt noch nicht sagen. Auf jeden Fall muß dafür gesorgt werden, daß ihm kein Leid mehr zugefügt wird.«
»Kann ich ihn besuchen?«
»Das wird die Polizei entscheiden, die sicher mit dir sprechen will. Aber ich glaube schon.« Aufmunternd lächelte Jenny Jana an, die sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. »Morgen früh sollten Sie sich bei der Polizei melden. Ich setze mich heute schon mit der zuständigen Stelle in Verbindung. Wenn Sie mir bitte Ihre Adresse und die der Mutter geben«, sagte sie zu Janas Vater. Er entnahm seiner Brieftasche eine Visitenkarte und notierte auf der Rückseite die Anschrift, die Jana ihm nannte. Dann reichte er Jenny die Karte und verabschiedete sich. Jenny blickte Vater und Tochter nach, wie sie Arm in Arm die Klinik verließen. Es war ein tröstlicher Anblick. Dann machte sie sich auf den Weg, um nach Dominik zu sehen.
Von all der Aufregung hatte Nicola Brandon natürlich nichts mitbekommen. Sie hatte sich den ganzen Tag über sehr ruhig verhalten, denn sie wollte unter gar keinen Umständen auffallen. Als Sarah zu Besuch kam, gab sie vor, sehr müde zu sein, so daß ihre Tochter die Klinik bald wieder verließ.
Martin Sassen erkundigte sich telefonisch nach seiner Mandantin und stellte zufrieden fest, daß sie einen sehr guten Eindruck machte, was auch Daniel Norden nur bestätigen konnte. Niemand ahnte etwas von Nicolas großer Verzweiflung, die sie geschickt vor allen verbarg. Und doch richtete sich ihr ganzes Denken auf die Nacht, in der sie ihren Plan endlich ausführen konnte. Ungeduldig schaute sie immer wieder auf die Uhr und sah zu, wie dieZeit verrann. Es wollte und wollte nicht später werden. Mehr als einmal seufzte sie tief, bis ihr eine Idee kam. Sie ließ sich Papier und Stift von einer Schwester bringen und verbrachte lange Zeit damit, einen Brief zu schreiben. Endlich schien sie mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Sorgfältig faltete sie das Blatt zusammen, schrieb einen Namen darauf und verstaute ihn in der Schublade ihres Nachtkästchens. Erschöpft lehnte sich Nicola in die Kissen zurück und lächelte zufrieden. Nun mußte sie nur noch abwarten, daß es Nacht wurde und Ruhe in der Klinik einkehrte. Mit diesem Gedanken schlief sie schließlich ein. Sie erwachte auch nicht, als die Schwester ihr das Abendessen brachte. Diese stellte das Tablett leise ab, um die Patientin nicht zu stören und zog behutsam die Vorhänge zu.
Nicola schreckte aus einem bösen Traum hoch und schaute sich verwirrt um. Ihr Zimmer war nur schwach beleuchtet, und es herrschte gespenstische Stille um sie herum. Endlich konnte sie sich wieder erinnern. Sie schlug die Bettdecke zurück und setzte sich vorsichtig auf. Als ihre nackten Füße den kalten Boden berührten, zuckte sie erschrocken zurück, stand dann aber entschlossen auf. Zufrieden stellte sie fest, daß die Wirkung der Medikamente endlich nachgelassen hatte. Ohne Schwindelgefühl konnte sie auf und ab gehen, und es strengte sie auch nicht zu sehr an. Nachdem sie sich angezogen hatte, öffnete sie leise die Schranktür und holte ihre kleine Reisetasche hervor, die Sarah ihr am Tag zuvor mitgebracht hatte. Schnell waren ihre persönlichen Dinge eingepackt. Während sie ihren Mantel zuknöpfte, sah sie sich noch einmal um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Da fiel ihr der Brief ein, der immer noch in der Schublade des Nachttischs lag. Leise holte sie ihn hervor und legte ihn sorgfältig auf das Kopfkissen ihres Bettes. Dann nahm sie die Reisetasche in eine und ihre Handtasche in die andere Hand und öffnete behutsam die Zimmertür.
Erleichtert stellte Nicola fest, daß das Schwesternzimmer am anderen Ende des schwach beleuchteten Ganges lag. Sie konnte leise Stimmen hören, es war jedoch niemand zu sehen.
Schnell huschte sie um eine Ecke und befand sich kurz darauf vor einem Aufzug. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie sich in die Parkgarage fahren ließ. Ihre Flucht aus der Klinik schien geglückt zu sein. Auch in der Parkgarage traf sie keine Menschenseele. Es schien, als würde alle Welt schlafen.
Endlich trat sie hinaus in die kühle Nachtluft und erschauerte. Sie blieb einen Moment stehen und hielt ihr erhitztes Gesicht in den Nachtwind. Dann sah sie sich suchend um und entdeckte nicht weit entfernt einen Taxistand. Der freundliche Taxifahrer brachte Nicola wie vereinbart zum Hauptbahnhof. Er wunderte sich kurz über den schweigsamen Fahrgast, denn es kam nicht oft vor, daß eine Frau mit Reisegepäck mitten in der Nacht ein Taxi suchte. Doch ungewöhnliche Dinge passierten zu häufig in seinem Berufsalltag, so daß er nicht lange darüber nachdachte.
Am Bahnhof angelangt, holte Nicola zuerst einmal einen Kofferkuli, auf dem sie ihre Reisetasche abstellte. Dann kaufte sie sich an einem Stand eine Tasse starken Kaffee und ein Sandwich. Ihre letzte Mahlzeit lag Stunden zurück, und endlich verspürte sie wieder Hunger. Es schien ein gutes Zeichen zu sein. Während ihres kleinen Imbisses genoß Nicola die Stimmung auf dem Bahnhof, auf dem es kaum Unterschiede zwischen Tag und Nacht zu geben schien. Menschen mit Rucksäcken auf den Schultern gingen an ihr vorüber und suchten das richtige Gleis, während andere sich an den zahlreichen Ständen mit Reiselektüre versorgten.
Trotz der späten Stunde wurde überall gelacht und gesprochen und vielen Menschen sah man die Freude über die bevorstehende Reise an. Schon immer hatte Nicola die eigenartige Stimmung auf großen Bahnhöfen geliebt, und sie hätte noch Stunden dem bunten Treiben zusehen können. Doch schließlich raffte sie sich seufzend auf und ging, den Kofferkuli schiebend, auf eine der großen Anzeigetafeln zu, die über die Ankunft und Abfahrt der Züge informierten. Genau studierte sie die Zielbahnhöfe und versuchte sich an einen der Orte zu erinnern. Sie war ein paar Mal mit ihrem Mann in Europa gewesen und hatte dort schöne Reisen gemacht, aber sie konnte sich schlecht an die Namen der Städte erinnern, die sie besucht hatte. Plötzlich fiel ihr Blick auf den Zug München-Verona und mit einem Mal wußte Nicola, wohin sie fahren würde. Bilder stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, und sie meinte, die wunderbaren Klänge der Oper Aida zu hören, die sie mit David vor vielen Jahren besucht hatte. Von dort aus waren sie weitergefahren in ein hübsches, kleines Hotel am Gardasee, in dem sie ein paar glückliche Tage miteinander verbracht hatten. Damit stand Nicolas Entschluß fest. Sie wollte jenes wunderschöne Hotel wiederfinden und all die schrecklichen Dinge vergessen, die sie in den letzten Tagen erfahren mußte. Nicht einen Gedanken verschwendete sie an Sarah, und sie dachte auch nicht an Martin Sassen, als sie ein Ticket löste und auf die Abfahrt des Zuges wartete. Ihr einziger Wunsch war zu vergessen, und sie war bereit, alles dafür zu tun.
*
Es war erst kurz nach sieben Uhr, als das Klingeln des Telefons Daniel aus seinem wohlverdienten Schlaf riß. Er warf einen Blick auf die Uhr, um dann tief zu seufzen. Anscheinend war es ihm nicht vergönnt, wenigstens einmal am Samstagmorgen auszuschlafen. Er vergewisserte sich, daß Fee weiterschlief und schloß dann leise die Schlafzimmertür.
»Hallo Daniel. Entschuldige die frühe Störung. Hier spricht Jenny«, tönte die aufgeregte Stimme seiner Kollegin und Freundin an sein Ohr.«
»Jenny, was ist passiert?« fragte er überrascht und war mit einem Schlag hellwach.
»Stell dir vor, Nicola Brandon ist heute nacht verschwunden.«
»Was soll das heißen?«
»Sie hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen.«
»Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«
»Auf ihrem Bett lag ein Brief an ihre Tochter Sarah. Ich habe ihn natürlich nicht gelesen, aber ich weiß nicht, wo ich Sarah finden kann.«
»Das kann ich dir auch nicht sagen.«
»Was soll ich denn jetzt tun?« Jennys Stimme klang verzweifelt.
Daniel strich sich mit der Hand über die Augen und dachte einen Augenblick nach. »Martin Sassen weiß, in welchem Hotel die beiden abgestiegen sind. Ich werde ihn sofort anrufen«, sagte er.
»Das ist lieb von dir. Sagst du mir dann Bescheid?«
»Du hörst entweder von mir oder gleich von Martin.« Damit beendete er das Telefonat.
Inzwischen war auch Fee wach geworden und kam verschlafen die Treppe herunter. »Was ist denn passiert?«
»Eine Patientin, die vor ein paar Tagen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, hat die Klinik heute nacht verlassen.«
»Das ist ja unerhört«, empörte sich Fee.
»Ich glaube, die Ärmste ist vollkommen überfordert. Wahrscheinlich wußte sie keinen Ausweg, wie sie sonst mit ihren Problemen fertig werden sollte.« Kurz schilderte er Fee, was er über Nicola Brandon wußte.
»Das ist eine tragische Geschichte. Aber selbst kleine Kinder wissen, daß Weglaufen sinnlos ist.«
»Es gibt eben bestimmte Lebenssituationen, in denen man völlig irrational handelt. Ich muß Martin jetzt anrufen. Er weiß, wo sich die Tochter von Nicola Brandon aufhält. Das wird ein schöner Schreck für sie sein.«
In der Tat war Sarah fassungslos, als sie von Dr. Sassen über das Verschwinden ihrer Mutter informiert wurde.
»Das sieht ihr gar nicht ähnlich, daß sie wegläuft. Hoffentlich ist nichts anderes passiert!« sagte sie außer sich vor Sorge.
»Frau Dr. Behnisch hat gesagt, Ihre Mutter hätte einen Brief für Sie hinterlassen. Am besten fahren Sie gleich in die Klinik, damit wir Gewißheit haben.«
Wie erstarrt ließ Sarah den Hörer sinken. Doch ihre Verzweiflung dauerte nicht lange. Sie war ein junger, unverbrauchter Mensch. Zwar hatte sie der Tod ihres Vaters sehr mitgenommen, und auch die Eröffnung des Anwalts war nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Doch sie ließ sich nicht so leicht entmutigen. Schnell siegte ihr gesunder Menschenverstand, und sie stand auf, um sich anzuziehen und in die Klink zu fahren.
Mit zitternden Händen nahm Sarah dann den Brief entgegen, den Jenny Behnisch ihr reichte. Sie faltete ihn auseinander und las atemlos die Zeilen, die ihre Mutter in ihrer schwungvollen Handschrift geschrieben hatte.
Meine liebste Sarah. Du hast eben erfahren, daß ich die Klinik verlassen habe. Ich bin in der Nacht gegangen, weil ich nicht wollte, daß mich jemand aufhält. Wenn alles so läuft, wie ich es geplant habe, bin ich auf dem Weg nach Süden, um alles hinter mir zu lassen. Bitte sei nicht böse mit mir, aber ich fühle mich im Moment nicht imstande, das alles auch nur einen Moment länger zu ertragen. Du hast recht, wenn Du nun sagst, daß Weglaufen feige ist. Es ist auch sicher keine Lösung. Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Mach Dir bitte keine Sorgen um mich, ich liebe Dich und werde mich bald melden. Deine Mum.
Fassungslos starrte Sarah auf den Brief, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. »Sie ist tatsächlich davongelaufen«, stellte sie dann ungläubig fest.
Jenny, die Sarah die ganze Zeit beobachtet hatte, legte den Arm um ihre Schulter. »Vielleicht braucht Ihre Mutter ein bißchen Abstand, um wieder zu sich zu kommen.«
»Aber es paßt so gar gar nicht zu ihr.«
»Das kann ich nicht beurteilen. Sie sollten jetzt Dr. Sassen informieren.«
»Gleich. Ich brauche jetzt erst ein bißchen frische Luft, um wieder klar denken zu können.« Damit verabschiedete sie sich von Jenny Behnisch und ging hinaus in den Park. Es herrschte mildes Frühjahrswetter, aber der Himmel war bewölkt. Sarah zog fröstelnd die Jacke enger um sich und wanderte ziellos in dem Garten umher. Plötzlich entdeckte sie Sebastian, den jungen Assistenzarzt, der gerade einen Patienten im Rollstuhl in die Klinik zurückbrachte.
»Sebastian, warte«, rief sie ihm zu. Er blieb erstaunt stehen und blickte sich suchend um. Als er Sarah erkannte, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Rasch rief er eine Schwester herbei, der er Anweisung gab, den Patienten auf die Station zu bringen. Dann kam er auf Sarah zu, die atemlos vor ihm stehenblieb.
»Entschuldige, daß ich dich störe. Aber ich muß unbedingt mit dir sprechen.«
»Du störst mich nicht. Was ist geschehen?« fragte er besorgt, als er Sarahs Blick bemerkte. Ohne es zu merken, waren ihr Tränen in die Augen gestiegen, die ihr jetzt über die Wangen rannen.
»Ach, Sebastian«, stieß sie nur hervor.
Zärtlich nahm er sie in die Arme und hielt sie fest, bis ihre Tränen versiegten. Dann ließ er sie vorsichtig los, holte ein Papiertaschentuch aus seinem Kittel und reichte es ihr.
»Danke«, flüsterte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Was ist passiert, mein Mädchen?« fragte er mitfühlend. Forschend blickte er sie an.
Sarah berichtete kurz von der Flucht ihrer Mutter. »Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Ich habe zwar noch Geld, aber dieses teure Hotel kann ich mir nicht länger leisten«, endete sie leise. Es war ihr sichtlich unangenehm, aber sie wußte instinktiv, daß Sebastian sie verstehen würde.
»Das ist doch kein Problem. Du kannst bei meiner Mutter wohnen. Sie hat sicher nichts dagegen.«
»Das geht doch nicht, Sebastian. Wir kennen uns kaum.«
»Ich kenne dich gut genug. Und seitdem meine Schwester ausgezogen ist, lebt Mutsch allein in dem großen Haus. Über ein bißchen Gesellschaft freut sie sich sicher.«
»Bist du sicher?« Sarah war immer noch skeptisch.
»Natürlich. Paß auf. Du rufst jetzt den Anwalt an und erklärst ihm das Verschwinden deiner Mutter. Inzwischen spreche ich mit Mutsch. Komm mit, ich zeige dir ein Zimmer, wo du ungestört telefonieren kannst.« Er nahm Sarah bei der Hand und zog sie mit sich.
Schnell war alles geklärt. Martin Sassen konnte Sarah, zumindest was ihre finanzielle Situation betraf, vorerst beruhigen. Eine Entscheidung, was nun mit der Firma ihres Vaters geschehen sollte, mußte erst in zwei Wochen endgültig gefällt werden. Bis dahin würde sich Nicola sicher gemeldet haben, dessen war sich Martin sicher. So wie er sie kennengelernt hatte, konnte er nicht glauben, daß sie eine leichtfertige Frau war. Dennoch war Martin froh, als Sarah erzählte, daß sie bei der Mutter eines Freundes wohnen konnte. Das würde ihre finanzielle Situation etwas entschärfen. Freimütig berichtete Sarah ihm von ihrer Bekanntschaft mit Sebastian Streidl, und Martin nahm sich vor, noch am selben Tag Erkundigungen über den jungen Mann bei Jenny Behnisch einzuholen.
Henriette Streidl, genannt Henni, war eine Frau Anfang Fünfzig, die mit beiden Beinen im Leben stand. Als ihr Mann vor zehn Jahren überraschend an einem Herzinfarkt starb, waren die beiden Kinder aus dem Gröbsten heraus. Schon damals bewohnten sie ein schönes altes Haus mit einem großen Garten, das seit Generationen in Familienbesitz war. Henni arbeitete seit Jahren sporadisch in einem kleinen Fotolabor in der Nachbarschaft, doch seit ihre Tochter Maria ausgezogen war, fühlte sie sich doch recht einsam in dem großen Haus. Ihr Sohn Sebastian bewohnte zwar das Dachgeschoß, doch als Assistenzarzt hatte er viele Dienste und war nur unregelmäßig zu Hause. So freute sie sich tatsächlich, als er anrief und fragte, ob eine Freundin für einige Zeit bei ihr wohnen könne. Voll Feuereifer machte sie sich an die Arbeit. Sie lüftete Marias Zimmer gründlich, bezog das Bett frisch und wischte den schönen alten Parkettboden. Schließlich stellte sie eine Vase mit frischen Blumen auf den kleinen Schreibtisch und betrachtete zufrieden ihr Werk.
Nachdem Sebastian mit seiner Mutter telefoniert hatte, war Sarah mit dem Zug ins Hotel gefahren, um ihre Sachen zu packen und auszuchecken. Dann wartete sie in der Hotelhalle, bis er seinen Dienst beendet hatte und sie abholte, um sie zu seiner Mutter zu bringen. Er hatte ihr vorsorglich nicht erzählt, daß er im selben Haus wohnte, da er Sarah nicht erschrecken wollte.
Henni begrüßte Sarah herzlich und führte sie gleich in ihr Zimmer, damit sie ihre Sachen auspacken konnte. Bis Sarah fertig war, nutzte Henni die Gelegenheit, um ein paar Sätze mit ihrem Sohn zu wechseln. Dieser erzählte offen, wie er Sarah kennengelernt hatte und gab seiner Mutter zu verstehen, wie gern er sie bereits hatte. Als Sarah fertig ausgepackt hatte, kam sie die Treppe herunter. Unsicher blickte sie sich um, in welches Zimmer sie gehen sollte und folgte dann den Stimmen.
Als sie das Wohnzimmer betrat, wurde sie bereits von Henni und Sebastian erwartet. Es gab Kaffee und frischen Kuchen, und Sarahs anfängliche Zweifel wurden spätestens jetzt zerstreut. Man unterhielt sich angeregt, und am Abend war klar, daß Henni und Sarah Freunde werden würden.
*
Der Zug München-Verona fuhr über eine Weiche, und Nicola wurde durchgeschüttelt. Dabei erwachte sie und blickte sich um. Am Fenster zogen hohe Berge vorbei, an deren Hängen malerische kleine Dörfer lagen. Der Morgen war bereits angebrochen und der Himmel wolkenverhangen.
Nicola streckte sich und rieb sich den schmerzenden Nacken. Sie saß allein in einem Abteil und genoß es, mit niemandem sprechen zu müssen. Jetzt stand sie auf und machte sich auf den Weg, um sich ein wenig frisch zu machen. Unterwegs traf sie einen Zugbegleiter und erkundigte sich, wie lange sie noch unterwegs sein würden.
Der junge Mann gab freundlich die gewünschte Auskunft, und nach einem Blick auf die Uhr stellte Nicola Brandon fest, daß sie noch genügend Zeit hatte, um im Zugrestaurant zu frühstücken. Dort angekommen, setzte sie sich an einen freien Tisch und bestellte Kaffee und ein Croissant. Langsam regten sich Gewissensbisse in ihr, daß sie ihre Tochter Sarah so allein in der fremden Stadt gelassen hatte. Dann kam ihr der Gedanke, daß vielleicht nach ihr gesucht wurde. Unsicher sah sie sich um. Es waren nicht viele Menschen im Speisewagen, und keiner schien auf Nicola Brandon zu achten. Kurz darauf kehrte sie in ihr Abteil zurück und fühlte sich immer noch unwohl. Da sie keine Lust hatte zu lesen, schaute sie aus dem Fenster und stellte fest, daß der Zug das Gebirgsmassiv verlassen hatte und durch eine flache Gegend fuhr. An der Vegetation konnte man erkennen, daß man sich jetzt sehr viel südlicher befand. Oleander wuchsen in der Nähe der Gleise, und die typischen Pinienwäldchen standen zwischen vereinzelten Häusern. Lange konnte die Fahrt nun nicht mehr dauern.
Tatsächlich meldete der Zugführer kurze Zeit später über Lautsprecher das bevorstehende Ende der Reise und bedankte sich bei seinen Gästen. Nicola Brandon wunderte sich, denn so etwas kannte sie nur von Flugreisen. Doch sie hatte nicht viel Zeit. Sie hob ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz, zog ihren Mantel an, obwohl inzwischen die Sonne schien und stellte sich erwartungsvoll auf den Gang. Trotz ihrer Gewissensbisse fühlte sie sich seltsam befreit. Alle Last schien von ihr gefallen zu sein.
Mit quietschenden Bremsen fuhr der Zug in den Bahnhof von Verona ein und hielt kurze Zeit später an. Die Türen öffneten sich, und Nicola Brandon stieg vorsichtig aus. Unschlüssig stand sie auf dem Bahnsteig und überlegte, in welche Richtung sie gehen mußte. Sie beobachtete die Menschen, die fröhlich lachend aus dem Zug ausstiegen und teilweise von Verwandten oder Freunden abgeholt wurden. Die fremde Sprache klang eigenartig in ihren Ohren, und plötzlich fühlte sie sich sehr einsam. Verloren sah sie sich um. Dann gab sie sich einen Ruck und folgte der Richtung, in der die meisten Menschen den Bahnhof verließen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, denn als sie aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie trat, sah sie gleich einen Taxistand. Während der Zugfahrt hatte sie lange Zeit darüber nachgedacht, wie das Hotel hieß, in dem sie früher mit David so glückliche Tage verlebt hatte, doch sie konnte sich nicht erinnern. So hatte sie beschlossen, sich mit dem Taxi an den Gardasee bringen zu lassen, um dann vor Ort eine Unterkunft zu suchen.
Erfreut stellte Nicola Brandon fest, daß der Taxifahrer sehr gut Englisch sprach und erzählte ihm ihr Anliegen. Gleich erklärte er sich bereit, sie in einen kleinen Ort am Ufer des Gardasees zu bringen, wo er ein hübsches kleines Hotel kannte.
Nicola Brandon stimmte erfreut zu und stieg in den Wagen ein. Sie hatte nicht gedacht, daß es so leicht sein würde, sich in Italien zurechtzufinden. Die Fahrt dauerte nicht zu lange, und als sie am Ziel ankamen, stellte sie fest, daß ihr Chauffeur nicht übertrieben hatte. Es handelte sich um ein schlichtes weißes Haus, das in einem bezaubernden Garten stand. Nicht weit entfernt leuchtete das Blau des Sees durch die Bäume, und Nicola Brandon wußte sofort, daß sie hier die Ruhe finden würde, die sie so nötig hatte.
Sie bedankte sich bei dem Taxifahrer, bezahlte und betrat dann das Haus. An der Rezeption stand eine Italienerin, die gebrochen Deutsch sprach und Nicola Brandon ein schönes Zimmer mit Seeblick zuwies.
Sofort eilte ein junger Mann herbei, der sich um das Gepäck kümmerte und sie zu ihrem Zimmer brachte. Sie gab ihm ein kleines Trinkgeld und schloß endlich erleichtert die Tür hinter sich. Dann drehte sie sich um und musterte ihr neues Zuhause. Sie stand in einem spärlich möblierten Raum, der aber durchaus behaglich war in seiner Kargheit. Das große weiße Eisenbett bildete den Mittelpunkt und einen schönen Kontrast zu dem dunkelbraun gebeizten Kleiderschrank und dem Schreibtisch aus dem gleichen Holz. Weiße Vorhänge verbargen eine kleine Tür, die hinaus auf den Balkon führte. Dort fühlte man sich wie in einer Laube, denn er war über und über bewachsen mit Bougainvillea und bot einen atemberaubenden Blick auf den See und die nähere Umgebung.
Sinnend stand sie draußen, als sie eine tiefe, männliche Stimme aus ihren Gedanken riß.
»Es ist ein verzauberter Ort, der verletzte Seelen zu heilen vermag!« Nicola Brandon erschrak fürchterlich, denn gerade das waren ihre Gedanken gewesen. Suchend blickte sie sich um, sah jedoch niemanden. Da entdeckte sie im Garten unter sich einen Mann, der auf Krücken gestützt in die gleiche Richtung schaute wie sie. Er war allein und hatte offenbar mit sich selbst gesprochen. Still stand Nicola Brandon da und beobachtete ihn interessiert. Er hatte ganz kurz geschnittenes dunkles Haar und eine durchtrainierte, männliche Figur. Über seiner hellen, sportlichen Hose trug er an einem Bein eine lange Schiene.