Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6
ОглавлениеDaniel Norden lenkte seinen Wagen durch die kleine Straße und hielt nach einem Parkplatz Ausschau.
Er war von seiner Patientin Christina von Berg zu deren Tochter Muriel gerufen worden. Das Kind hatte eine schwere Erkältung und klagte zudem über heftige Ohrenschmerzen. Es würde kein langer Besuch werden, doch Daniel kam gern hierher.
Es war eine schöne Gegend. In den parkähnlichen Grundstücken standen stilvolle alte Villen, die teilweise neu renoviert und sehr gepflegt wurden. Hier hatte man den Wert der alten Häuser erkannt und dementsprechend gehandelt.
Christina von Berg bewohnte mit ihrer vierjährigen Tochter Muriel eine Wohnung im Obergeschoß einer solchen alten Villa.
Ihre Vermieterin, Helene Wolrab, hatte das Haus vor vielen Jahren mit ihrem Mann Kurt zu einem günstigen Preis gekauft. Da die beiden keine Kinder hatten, ließen sie im oberen Stockwerk eine gemütliche Wohnung ausbauen, die sie immer vermietet hatten. So war das Haus bald abbezahlt. In den letzten Jahren vor Kurts Tod hatte die Wohnung allerdings leergestanden, Helene konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, warum eigentlich.
Vor fünf Jahren war der wesentlich ältere Kurt nach kurzem Leiden gestorben, und Helene Wolrab beschloß kurz darauf, die Wohnung renovieren zu lassen.
Sie wollte nicht allein sein und suchte deshalb eine Mitbewohnerin, die ihr ein wenig Gesellschaft leistete und sich hin und wieder um den großen Garten kümmern konnte. Helene war zwar eine rüstige Frau, doch die Zipperlein des Alters machten ihr das Leben hin und wieder recht schwer.
Zum Glück hatte sie in Stöckls nette Nachbarn gefunden. Elfriede Stöckl half ihr regelmäßig im Haushalt, ihr Mann Heinz langte im Garten zu, wenn die Bäume und Sträucher geschnitten werden mußten. Einmal im Jahr kam auch ein Gärtner, der die Beete neu bepflanzte und pflegte.
Der Zufall wollte es, daß Christina die Anzeige des Maklers gelesen und sich die Wohnung angesehen hatte.
Helene Wolrab mochte die
junge hübsche Frau sofort und noch am selben Abend hatten beide den Mietvertrag unterschrieben.
Daniel klingelte an der Tür und wartete vor dem großen, schweren Eisentor.
Helene Wolrab war schon lange Jahre bei ihm in Behandlung und hatte ihm schon manchen Patienten vermittelt, darunter auch die junge Christina von Berg.
Schließlich ertönte ein Summton, und Daniel ging in den Garten. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und eine junge blonde Frau, die die langen Haare zu einem saloppen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, trat heraus.
»Hallo, Herr Dr. Norden. Lieb von Ihnen, daß Sie gleich gekommen sind. Muriel hat solche Schmerzen, daß ich mir nicht mehr zu helfen weiß«, sagte sie ängstlich.
»Guten Tag, Frau von Berg. Ich werde mir die Kleine gleich ansehen.«
Er ließ sich nach oben in die spärlich möblierte Wohnung führen und betrat das Kinderzimmer.
»Na, du kleine Maus, was machst du denn für Sachen?« fragte er freundlich, während er sich an ihr Bett setzte.
Muriel hörte einen Moment auf zu jammern. Ein Lächeln erhellte das vom Fieber gerötete Gesichtchen.
»Mir tun die Ohren so weh, Herr Doktor. Du mußt mir helfen.«
»Dafür bin ich doch hier. Ich werde jetzt mit dem Othoskop in die Ohren schauen. Es ist ein bißchen kalt, aber es tut nicht weh.«
Die Kleine nickte vertrauensvoll und drehte brav den Kopf auf die Seite.
Daniel warf einen Blick durch das Instrument und konnte das deutlich hervorgewölbte Trommelfell sehen.
Er staunte, wie tapfer die Kleine war und wie ruhig sie sich verhielt.
»Kein Wunder, daß du Schmerzen hast. Du hast eine eitrige Mittelohrentzündung. Ohne Antibiotika kommen wir da leider nicht aus«, sagte er zu Christina gewandt, die hinter ihm stand.
»Ich dachte mir schon so etwas. Sie hat die ganze Nacht geweint.«
»Ich schreibe Ihnen ein paar Medikamente auf. Haben Sie Zäpfchen gegen die Schmerzen?« fragte Daniel, als er die Untersuchung beendet hatte.
»Nur noch eines.«
Daniel nickte und stellte dann ein Rezept aus. »Hat sie schon öfter mit den Ohren Probleme gehabt?«
Christina verneinte.
»Das ist gut. Sonst müßten Sie zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt gehen und die Ursache feststellen lassen. Aber so bin ich sicher, daß die Kleine bald wieder gesund ist.«
»Vielen Dank, Herr Doktor.«
»Keine Ursache. Kommen Sie gegen Ende der Woche zur Kontrolle vorbei.«
»Natürlich. Ach, Dr. Norden, hätten Sie noch einen Moment Zeit für Frau Wolrab? Sie hat gefragt, ob Sie noch kurz bei ihr vorbeischauen könnten.«
Daniel sah auf die Uhr.
»Bis zum nächsten Termin habe ich noch Zeit.«
Er verabschiedete sich freundlich von Muriel und Christina und ging nach unten.
Die zartgliedrige alte Dame erwartete ihn bereits.
»Guten Tag, Herr Doktor. Schön, daß Sie sich Zeit nehmen konnten.«
»Hallo, Frau Wolrab. Gut schauen Sie aus«, sagte Daniel und meinte es auch so.
»Sie wollen mir schmeicheln«, antwortete Helene Wolrab mit einem verschmitzten Lächeln.
»Keineswegs. Wenn es Ihnen so gutgeht, wie Sie aussehen, habe ich hier keine Arbeit.«
»Es geht mir tatsächlich sehr gut momentan. Ich habe Sie aus einem anderen Grund hergebeten.«
Daniel sah sie fragend an.
»Es ist wegen Christina. Ich mache mir Sorgen um sie. Es tut mir leid, daß ich Sie damit belästigen muß, aber sie ist doch auch Ihre Patientin.«
»Natürlich, Frau Wolrab. Warum sorgen Sie sich?«
»Tini ist so mager geworden. Sie scheint gar nichts mehr zu essen. Wenn ich sie frage, sagt sie, sie hätte Magenschmerzen. Zu Ihnen will sie deswegen nicht gehen. Sie sagt, sie hätte zur Zeit so viele Auftritte, daß sie es sich nicht leisten kann, krank zu sein.«
»Eine leichtsinnige Einstellung. Das kann leicht schiefgehen«, bemerkte Daniel besorgt. »Ich kann Frau von Berg nicht zwingen, sich behandeln zu lassen.«
Daniel dachte einen Moment nach.
»Sie kommt gegen Ende der Woche mit der Kleinen in meine Praxis. Vielleicht erfahre ich bei dieser Gelegenheit etwas von ihr. Vielen Dank für den Hinweis, Frau Wolrab.«
»Gern geschehen. Und vielen Dank auch. Auf Wiedersehen.«
Daniel verließ die Wohnung und machte sich auf den Weg zu seinem nächsten Patienten.
Was für eine rührende alte Dame, dachte er. Es wäre besser um diese Welt bestellt, wenn es mehr Nächstenliebe gäbe.
Am späten Nachmittag kehrte er von seinen Hausbesuchen zurück. Er wurde bereits von Fee erwartet, die ein sorgenvolles Gesicht machte.
»Hallo Schatz. Was ist los?« fragte Daniel und küßte seine Frau.
»Ich mache mir langsam ernste Sorgen um Jan.«
»Geht es ihm noch nicht besser?«
»Das Fieber geht nicht zurück. Zudem hat er jetzt auch noch einen Hautausschlag.«
»Hat er noch Halsschmerzen?«
»Ja, seine Gaumenmandeln sind geschwollen und mit Belägen bedeckt.«
»Ich sehe gleich nach ihm.«
Besorgt stieg Daniel die Treppe hoch und ging in das Zimmer seines jüngsten Sohnes.
Dieser lag mit fiebrigem Gesicht im Bett.
»Hey, mein Kleiner. Das sieht nicht gut aus mit dir, was!«
»Hallo, Papi, tu was. Mir geht’s so schlecht!«
»Du mußt mir genau sagen, was dir weh tut.«
»Alles.«
»Ja, bitte. So kann ich dir nicht helfen. Ich muß es genau wissen.«
»Der Hals und der Kopf und die Arme und die Beine. Ich kann gar nicht aufstehen und Fernsehen schauen.«
Unwillkürlich mußte Daniel lächeln, obwohl er die Beschwerden des Kindes durchaus ernst nahm.
»Du bist geschwächt vom Fieber. Das hast du nun schon über eine Woche. Es ist zwar nicht so hoch, so um die achtunddreißig, aber das strengt den Körper an.«
»Kannst du das Fieber nicht wegmachen?«
»Ich glaube, wir müssen eine Blutuntersuchung machen.«
Jan sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an.
»Ich will aber nicht mit einer Nadel aufgespießt werden!«
»Reg dich nicht auf, Jan! Kein Mensch wird dich aufspießen. Es ist nur eine ganz dünne Nadel, mit der ein bißchen Blut entnommen wird, das tut gar nicht weh. Ich besorge von Tannte Jenny ein Zauberpflaster, dann spürst du überhaupt nichts mehr.«
»Bestimmt nicht?« fragte der Kleine zweifelnd.
»Großes Indianer-Ehrenwort!« sagte Daniel lächelnd.
»Gut, daß mir die Idee mit dem Zauberpflaster gekommen ist«, sagte er später zu Fee.
»Davon habe ich noch nie gehört. Was ist das?«
»Ein Pflaster, das einen betäubenden Wirkstoff enthält.«
»Eine gute Idee. Es gibt ja auch viele Erwachsene, die eine wahre Spritzen-Phobie haben.«
»Mehr als genug. Jenny kann ein Lied davon singen. In meiner Praxis kommt das Gott sei Dank nicht so häufig vor.«
»Müssen wir uns Sorgen machen um Jan?«
»Ich habe ihn untersucht. Die Lymphknoten sind am ganzen Körper geschwollen. Das gefällt mir nicht. Eine Blutuntersuchung gibt uns hoffentlich Aufschluß. Eine gewöhnliche Erkältung ist das jedenfalls nicht mehr.«
»Der arme Kleine. Er ist so tapfer.«
»Am besten fahre ich jetzt gleich zu Jenny und besorge das Pflaster.«
»Tu das. Dann kannst du ihm morgen früh das Blut abnehmen und gleich ins Labor schicken.«
»Ich werde einen Fahrer mit der Probe in die Behnisch-Klinik schicken. Dort geht die Auswertung schneller.«
Es war bei vielen Ärzten so, wenn es um die eigene Familie ging, bekamen sie Herzklopfen.
*
Christina hatte viele Stunden am Bett ihrer kleinen Tochter verbracht. Obwohl sie nachts nicht viel geschlafen hatte, wollte sie die Kleine nicht allein lassen. Nur kurz war sie zur Apotheke gefahren, um die Medikamente zu holen, die Dr. Norden ihr verschrieben hatte. Frau Wolrab hatte sich inzwischen bereit erklärt, auf Muriel aufzupassen, was sie oft und gern tat.
Endlich war Muriel eingeschlafen. Christina stand vorsichtig auf und verließ leise das Zimmer. Auf dem Flur atmete sie auf. Jetzt würde sie sich erst einmal eine Tasse Kaffee gönnen. Ihr Magen würde ihr das übelnehmen, deshalb nahm Christina vorsichtshalber gleich eine Tablette.
Mit dem heißen Getränk setzte sie sich ans Fenster ihrer Küche und sah hinunter in den Garten. Hier saß sie oft und dachte darüber nach, daß sie sehr viel Glück gehabt hatte, als sie Helene Wolrab kennengelernt hatte.
Ihre eigene Familie war zerrüttet. Die Eltern hatten sich nach jahrelangen Streitereien endlich scheiden lassen, als Christina achtzehn gewesen war. Für sie war es klar, daß sie weder bei ihrer Mutter noch bei ihrem Vater wohnen wollte, um nicht neuerlich Haß zwischen den beiden zu schüren.
So wurde beschlossen, daß Christina eine eigene Wohnung bekommen würde, die die Eltern in den ersten Jahren gemeinsam finanziert hatten.
Inzwischen hatte Christina ihre Ausbildung zur Sängerin abgeschlossen und konnte das Geld für ihren Unterhalt selbst aufbringen.
Für Christina war Helene Wolrab zu einem Familienersatz geworden. Sie liebte sie wie eine Großmutter. Auch Helene fühlte sich zu Tini, wie sie sie liebevoll nannte, sehr hingezogen.
Christina schreckte aus ihren Gedanken hoch. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, daß es das Telefon war.
»Hier von Berg.«
»Tini, hallo, ich bin’s, Lisa.«
»Hi Lisa. Du hast mich vielleicht erschreckt!«
»Warum denn?«
»Ich habe nachgedacht. Dabei bin ich offenbar eingenickt.«
»Du schläfst am hellichten Tag?«
»Muriel ist krank, sie hat Mittelohrentzündung. Ich hab’ die ganze Nacht kein Auge zugemacht.«
»Du Ärmste. »Wie geht es ihr?«
»Der Arzt war heute morgen da. Jetzt schläft sie.«
»Brauchst du mich eigentlich heute abend?«
»Stimmt ja«, rief Christina erschrocken und warf einen Blick auf die Uhr. »Schon viertel nach drei. Das Konzert hatte ich ganz vergessen.«
»Gut, daß du mich hast. Wann soll ich bei euch sein?«
»Schaffst du es bis halb sechs?«
»Kein Problem. Ich komme direkt von der Arbeit zu euch.«
»Du bist ein Engel. Ich wüßte gar nicht, was ich ohne dich täte. Ist es Markus überhaupt recht, wenn du so oft auf Muriel aufpaßt?«
»Ihr beiden habt die älteren Rechte, das weißt du doch. Ich muß Schluß machen. Bis später.«
»Tschüß, Lisa!«
Seufzend stand Christina auf. Über den Sorgen um Muriel hatte sie vollkommen vergessen, daß sie einen Auftritt am Starnberger See hatte. Ihre Agentin hatte ihr als Sopranistin das Engagement als Solistin in einem Chor vermittelt. Zu allem Überfluß war es auch noch ein sehr wichtiges Konzert. Die Presse würde anwesend sein und ein Interview mit ihr führen. Eigentlich hatte sie sich auf diesen Abend sehr gefreut, denn er stellte ein entscheidendes Ereignis für ihre Karriere dar. Christina warf einen Blick in Muriels Zimmer und stellte zufrieden fest, daß sie noch schlief. Sie würde in Ruhe die Partitur studieren können.
*
Die Fahrt in die Behnisch-Klinik dauerte länger, als Daniel erwartet hatte. Der Verkehr war sehr dicht, doch schließlich hatte er das Ziel erreicht. Er stellte sein Auto auf dem Parkplatz für das diensthabende Personal ab und betrat die Klinik durch den Hintereingang.
»Hallo, Schwester Anna. Wissen Sie, wo Jenny Behnisch steckt?« begrüßte er die erfahrene Schwester.
»Wir haben gerade einen Notfall bekommen, Dr. Norden. Eine Frau ist frontal mit ihrem Wagen in ein parkendes Auto aufgefahren. Sie muß es übersehen haben.«
»Hat sie schwere Verletzungen?«
»Sie wird gerade untersucht.«
»Dann muß ich Sie bitten, mir weiterzuhelfen. Ich brauche eines Ihrer sagenumwobenen Zauberpflaster.«
»Braucht das einer Ihrer Patienten?« fragte sie, während sie ein Schränkchen öffnete.
»Nein. Mein kleiner Sohn ist krank. Ich muß ihm Blut abnehmen und habe versprochen, daß es nicht weh tut.«
»Da ist das Zauberpflaster genau das Richtige. Hier, nehmen Sie ein paar mehr mit. Was fehlt ihm denn?«
»Wenn ich das so genau wüßte«, seufzte Daniel. »Ich hoffe, die Blutuntersuchung bringt Aufschluß.«
»Es ist viel schlimmer, nicht zu wissen, womit man es zu tun hat, als wenn man den Feind beim Namen nennen kann.«
»Da haben Sie recht, Schwester Anna. Vielen Dank auch.«
»Gern geschehen. Ach, da kommt Frau Doktor.«
Daniel wandte sich ab. Tatsächlich kam Jenny den Gang mit sehr besorgtem Gesicht entlang.
»Hallo, Daniel. Was führt dich denn hierher?« fragte sie zerstreut.
»Ich habe etwas gebraucht. Du siehst nicht gerade glücklich aus. Anna hat mir von dem Notfall erzählt.«
»Eine tragische Geschichte, hast du ein bißchen Zeit?« fragte sie.
Daniel spürte, daß sie verunsichert war und auf seinen Rat hoffte.
»Es handelt sich um eine junge Frau, die offenbar einen epileptischen Anfall erlitt und deshalb auf ein parkendes Auto aufgefahren ist.«
»Hat sie schwere Verletzungen?«
»Es hätte schlimmer kommen können. Sie hat noch Glück gehabt, außer Prellungen ist nichts passiert. Aber…«
Sie geriet ins Stocken.
»Wo liegt das Problem?«
»Die Untersuchungen haben ergeben, daß sie ein Blutgerinnsel im Kopf hat, das dann wohl die Ohnmacht auslöste.«
»Ist sie jetzt bei Bewußtsein?«
»Ja, und sie wollte die Klinik auch gleich wieder verlassen, weil sie auf dem Weg zu ihrem Frauenarzt war. Er hat eine Hormonbehandlung bei ihr durchgeführt, um ihren Kinderwunsch zu ermöglichen.«
»Dadurch ist das Blutgerinnsel entstanden«, vermutete Daniel.
»Das ist möglich. Es ist eine seltene Komplikation bei solchen Behandlungen, aber es kommt vor.«
»Was willst du jetzt tun, Jenny?«
»Das Blutgerinnsel sitzt direkt an der Hauptschlagader, eine Operation ist sehr riskant.«
»Das gehört in die Hände eines Spezialisten. Du kannst die Verantwortung nicht übernehmen, da sie nicht deine Patientin ist.«
Jenny seufzte schwer, aber sie gab Daniel recht.
»Danke, Daniel. Ich werde die Kollegen verständigen.«
»Halte mich auf dem laufenden.«
»Das mache ich.«
Jenny verabschiedete sich und entfernte sich eilig.
Auch Daniel machte sich schweren Herzens auf den Heimweg.
*
Pünktlich um halb sechs klingelte es an Christinas Haustür.
»Gut, daß du angerufen hast. Ich hätte den Auftritt heute abend glatt vergessen«, bedankte sich Christina und umarmte ihre Freundin.
Sie kannte Lisa Thaler, die wie sie sechsundzwanzig Jahre alt war, seit Kindesbeinen an. Durch dick und dünn waren sie miteinander gegangen und hatten sich auch nicht aus den Augen verloren, als sie ihre Ausbildung begonnen hatten.
Lisa hatte nach dem Abitur ein Kunstgeschichte-Studium absolviert und arbeitete nun in der Staatssammlung. Als Christina erfuhr, daß sie ihr Kind allein würde großziehen müssen, hatte sich Lisa als Taufpatin spontan dazu bereit erklärt, das Babysitting wann immer nötig zu übernehmen. Das hatte sie auch gleich ihrem Freund Markus erklärt, den sie vor einem Jahr kennengelernt hatte.
»Wie geht es meinem kleinen Schatz?« erkundigte sich Lisa, während sie einen kleinen Teddy aus ihrer Tasche hervorzauberte.
»Ach, ist der süß«, entfuhr es Christina.
»Ich habe ihn in einem Schaufenster sitzen sehen. Er hat mich so bittend angeschaut, daß ich ihn einfach mitnehmen mußte.«
»Gib ihn nur gleich Muriel. Sie ist wach.«
»Muß ich was beachten heute abend?«
»Die Medikamente hat sie schon bekommen. Für den Abend liegt ein Schmerzzäpfchen im Bad, falls sie es noch braucht. Momentan geht es ihr ganz gut.«
»Was gibt es denn zu essen?« fragte Lisa hungrig und schnupperte.
Es war eine Abmachung zwischen den beiden, daß es immer etwas Warmes gab, wenn Lisa aufpaßte.
»Gemüseeintopf und einen Grießbrei für Muriel. Den hat sie sich gewünscht.«
»Alles klar. Ich glaube, du solltest dich jetzt beeilen«, bemerkte Lisa mit einem Blick auf die Uhr.
In fünf Minuten war Christina umgezogen und geschminkt. »Wie machst du das bloß?« fragte Lisa bewundernd.
Christina sah wirklich umwerfend aus in ihrem schwarzen schlichten Hosenanzug, der einen wunderbaren Kontrast zu den blonden Haaren darstellte. »Aber du hast abgenommen und bist ziemlich blaß.«
»Ich kann zur Zeit wieder nichts essen. Der blöde Magen.«
»Immer das alte Leiden. Hat inzwischen ein Arzt herausgefunden, was es ist?«
»Ich habe mich nicht mehr untersuchen lassen. Einen Ausfall kann ich mir nicht leisten, sonst reicht uns das Geld nicht.«
»Ist es plötzlich wiedergekommen? Du hattest doch lange keine Probleme mehr.«
»Michael macht mal wieder Theater«, sagte Christina knapp.
»Also doch psychosomatisch. Was will er denn?«
»Jetzt will er Muriel.«
Lisa erstarrte. »Er hat doch all die Jahre nichts von ihr wissen wollen. Was ist denn nun in ihn gefahren?«
»Es hat sich inzwischen herausgestellt, daß seine Frau keine Kinder bekommen kann. Er hat ihr seinen Seitensprung gestanden und auch, daß er ein Kind mit mir hat.«
»Und das will sie jetzt haben, klarer Fall. Aber die beiden haben doch gar keine Chance.«
»Rein rechtlich gesehen nicht. Er versucht es auf seine Art.«
»Was heißt das?«
»Michael meint immer noch, daß man alles mit Geld regeln kann. Als ich damals mit Muriel schwanger wurde, hat er mir eine hohe Summe geboten, wenn ich abtreibe. Gott sei Dank bin ich nicht darauf eingegangen.«
»Er will dir das Kind abkaufen?« fragte Lisa fassungslos.
»Sozusagen«, antwortete Christina. »Aber ich muß jetzt wirklich los. Wir können uns später noch darüber unterhalten. Ich glaube nicht, daß es sehr spät wird. Tschüß und vielen Dank erst mal.«
Sie umarmte Lisa, griff nach ihrer Tasche mit den Noten und verließ hastig die Wohnung.
Lisa blieb verwirrt zurück. Doch dann rief Muriel nach ihr und sie wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem kranken Kind zu.
*
Christina erreichte pünktlich die Kirche, in der das Konzert stattfinden sollte. Sie parkte ihren Wagen auf dem Parkplatz und betrat das Gebäude durch einen Seiteneingang. Herr Wolter, der Dirigent, und ein Großteil der Sänger waren schon da und begrüßten sie freundlich.
Sie hatten einige gemeinsame Proben gehabt, mit denen Herr Wolter sehr zufrieden war. Christina arbeitete sehr professionell und übte hart für ihre Auftritte. Alles mußte perfekt sein. Trotzdem verspürte sie leichtes Lampenfieber, als sich die Kirche mit Zuschauern füllte. Auch die Leute von der Presse waren anwesend. Für sie waren Plätze in der ersten Reihe reserviert worden, damit die Fotografen die anderen Gäste nicht störten.
Endlich war es soweit. Christina war froh, als alle Sänger Aufstellung genommen hatten und sie auf die Bühne treten konnte. Der Dirigent wartete, bis der Applaus beendet war, dann hob er den Taktstock und gab das Zeichen für den Anfang.
Es wurde ein wunderbares Konzert, das sogar Christinas Erwartungen übertraf. Sie schaffte es, ihre Probleme zu verdrängen und sich ganz auf die Musik von Bach zu konzentrieren. Ihre Stimme klang klar und rein durch das Kirchenschiff, das eine hervorragende Akustik hatte.
Der Applaus wollte kein Ende nehmen und immer wieder wurde Christina von Herrn Wolter auf die Bühne gebeten. Sie ertrug geduldig das Blitzlichtgewitter der vielen Kameras und bedankte sich strahlend bei den Zuhörern.
»Es ist ein tolles Publikum«, flüsterte sie Herrn Wolter zu, als er sie ein letztes Mal nach vorn holte.
»Sie waren aber auch fantastisch, Frau von Berg. Ich bin beeindruckt.«
»Es hat mir viel Spaß gemacht, mit Ihnen zu arbeiten. Vielleicht ergibt sich wieder einmal die Gelegenheit dazu.«
»Ich werde an Sie denken, da können Sie sicher sein. Aber Sie sollten den Herrn von der Presse nicht zu lange warten lassen. Er ist nebenan.«
Christina seufzte. »Eigentlich würde ich jetzt viel lieber nach Hause fahren. Meine kleine Tochter ist krank.«
»Das tut mir leid. Es dauert aber sicher nicht lange. Und ein guter Artikel wird Ihrer Karriere förderlich sein.«
»Ich bin ja froh, daß man auf mich aufmerksam geworden ist.« Sie gab ihm die Hand. »Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit, Herr Wolter.« Dann ging sie in den Nebenraum, um sich den Fragen des Reporters zu stellen.
»Es freut mich, daß Sie Zeit für ein Interview haben, Frau von Berg«, begrüßte sie der Journalist freundlich.
Er war nicht allein. »Ich bin Konstantin Hübner, und das hier ist mein Fotograf Anian Fürst. Er möchte ein paar Fotos von Ihnen machen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Er wies auf einen Mann Mitte Dreißig, der zurückhaltend etwas abseits stand. Jetzt kam er auf Christina zu und gab ihr die Hand.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Eigentlich habe ich für klassische Musik nichts übrig, aber Sie haben mich heute abend eines Besseren belehrt.«
Christina freute sich über das Kompliment. »Junge Männer halten im allgemeinen nicht viel von Klassik. Das finde ich sehr schade, weil gerade die klassische Musik von zeitloser Schönheit ist und Charakter besitzt. Anders als die Popmusik heutzutage, bei der man ein Lied nicht mehr von dem anderen unterscheiden kann.«
»Darf ich das gleich notieren, Frau von Berg?« fragte Konstantin Hübner eifrig.
Es wurde ein anregendes Gespräch, ganz anders als sich Christina ein Interview vorgestellt hatte. Schließlich wußte Konstantin genug.
»Vielen Dank für Ihre Auskünfte. Gleich morgen früh werde ich den Artikel schreiben und Ihnen dann zusenden, damit Sie korrigieren können, falls ich etwas falsch verstanden habe.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ehrlich gesagt hatte ich schon Angst davor, was Sie aus dem machen, was ich Ihnen gesagt habe. Man hört ja viel von Journalisten, die den Leuten die Sätze im Mund umdrehen.«
»Das mag in der Klatschpresse so sein. Ich lege Wert darauf, authentisch zu sein und möchte weder meine Leser noch die Künstler enttäuschen, über die ich berichte.«
»Das ist eine gute Einstellung«, sagte Christina.
»Darf ich jetzt noch ein paar Fotos von Ihnen machen?« mischte sich nun Anian Fürst ein, der die ganze Zeit still dagesessen und Christina beobachtet hatte.
Sie schaute auf die Uhr.
»Das Gespräch hat schon länger gedauert, als ich dachte.«
»Es geht ganz schnell.« Anian sah sie bittend an.
Christina brachte es nicht übers Herz, ihm den Wunsch abzuschlagen.
»Also gut. Aber es müssen schöne Fotos werden.«
»Versprochen.« Schnell machte sich Anian ans Werk und zeigte Christina, wie sie posieren sollte, damit das Licht in einem bestimmten Winkel auf ihr Gesicht fiel.
Behutsam strich er ihr eine Strähne des langen blonden Haares aus der Stirn.
Christina durchfuhr es bei dieser Berührung. Scheu sah sie ihn an.
Anian lächelte nicht. »Bleiben Sie so. Das ist wunderschön«, sagte er mit rauher Stimme.
Dann war es vorbei. Konstantin Hübner packte seine Unterlagen ein und hielt Christina die Tür auf. Anian folgte den beiden. Vor der Tür verabschiedete sich Konstantin, doch Anian begleitete sie noch bis zu ihrem Wagen.
»Darf ich Sie wiedersehen, Christina?« fragte er schüchtern, als sie eingestiegen war. In dem Interview hatte sie erwähnt, daß sie alleinerziehende Mutter war. Das hatte ihm Mut gemacht.
Sie überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf.
»Ich habe schon einmal eine schlechte Erfahrung gemacht. Ein Mann bat mich wie Sie nach einem Konzert um ein Rendezvous, und ich war so leichtsinnig, mich darauf einzulassen. Ich habe mir geschworen, daß mir so etwas nicht mehr passiert.«
»Es sind nicht alle Männer gleich.«
»Trotzdem. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Ich muß jetzt nach Hause zu meiner kleinen Tochter.«
»Warten Sie! Darf ich Ihnen wenigstens die Fotos zuschicken? Es wird Sie sicher interessieren, wie sie geworden sind.«
»Ja, natürlich.« Christina suchte in ihrer Handtasche und entnahm dann einem kleinen Ledermäppchen eine Visitenkarte.
»Hier ist meine Adresse. Ich vertraue Ihnen, daß Sie mich nicht belästigen werden, sondern nur die Bilder schicken.«
Ohne ein weiteres Wort startete Christina ihr Auto und fuhr davon. Anian stand wortlos da und starrte dem Wagen nach, bis die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren.
»Kommst du endlich, Anian. Wie lange soll ich noch warten?«
Die ungeduldige Stimme seines Kollegen riß ihn aus seinen Gedanken.
»Ich komme ja schon.«
»Was ist los mit dir?« fragte Konstantin erstaunt, als er Anians nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkte.
»Das war die Frau, die ich heiraten werde.«
»Du spinnst ja. Wie kommst du auf so eine Idee?«
»Noch nie was von Liebe auf den ersten Blick gehört?«
Konstantin lachte laut auf. »Du bist ein unverbesserlicher Romantiker. »Nein, an so was glaub’ ich nicht.«
»Schade.«
»Jetzt reiß dich zusammen, Anian. Wenn du wolltest, könntest du an jedem Finger eine Frau haben. Außerdem ist da noch Viola. Hast du die vergessen?«
»Ach, Viola«, antwortete Anian und verdrehte die Augen. »Jeden Abend ist sie auf einer anderen Party und wirft mir vor, daß ich ein Langweiler bin. Nur weil mir dieses mondäne Gesellschaftsleben nicht gefällt.«
»In gewisser Weise hat sie damit recht«, bemerkte Konstantin anzüglich.
»Jedem das Seine«, bemerkte Anian nur.
Christina fuhr vorsichtig auf der Landstraße nach Hause. Sie hatte fast eine Stunde Fahrt vor sich und genug Zeit, über den vergangenen Abend nachzudenken.
Sie wußte nicht, ob sie auf sich wütend sein sollte, weil sie den jungen Fotografen so abgewiesen hatte. Andererseits hatte sie sich nach der Geschichte mit Michael geschworen, sich auf keine Konzertbekanntschaften mehr einzulassen, was nüchtern betrachtet Unsinn war. Christina wußte es, konnte aber nicht raus aus ihrer Haut. Anian Fürst war ihr sehr sympathisch gewesen. Seine Berührung hatte sie in ihrem Innersten getroffen. Doch die bösen Erinnerungen an Michael waren stärker. Christinas Gedanken wanderten zurück zu jenem unheilvollen Tag, als sie ihn kennengelernt hatte.
*
Michael Kunert war Geschäftsführer in einer Künstleragentur und immer auf der Suche nach jungen Talenten. Dabei hatte er Christina von Berg auf einem Konzert in einer kleinen Stadt entdeckt. Er war sofort von ihr fasziniert gewesen. Doch sein Interesse war nicht nur geschäftlicher Natur. Obwohl er seit sieben Jahren mit Iris, einer Tochter aus wohlhabendem Hause, verheiratet war, wußte er noch während des Konzerts, daß er Christina kennenlernen wollte.
Nach ihrem Auftritt ließ er seine Karte in die Garderobe bringen. Die junge, unerfahrene Christina war sehr geschmeichelt und nahm die Einladung zum Essen gern an, zumal Michael Kunert eine sehr attraktive Erscheinung war. Seine blauen Augen waren von vielen Lachfältchen umrahmt, seine Figur tadellos und die grauen Schläfen gaben ihm ein distinguiertes Aussehen.
Christina verliebte sich bis über beide Ohren in ihn, und selbst als er ihr gestand, daß er verheiratet war, verließ sie ihn nicht. Sie meinte in ihm einen väterlichen Freund gefunden zu haben, an den sie sich anlehnen konnte. Immer wieder versprach er ihr, seine Frau zu verlassen, und Christina glaubte ihm. Zu dieser Zeit begannen ihre Magenprobleme. Da sie immer öfter kränkelte, zog sich Michael mehr und mehr zurück und genoß sein Leben in vollen Zügen.
Christina war verzweifelt. Ihr letzter Ausweg war ein Kind, mit dem sie Michael an sich binden wollte. Doch dieser Plan mißlang gründlich. Er bot ihr eine große Geldsumme, damit sie das Kind abtreiben konnte, doch darauf ging Christina nicht ein.
Michael geriet in Panik. Seine Frau durfte nichts von seinem Verhältnis erfahren, da sie ihm seinen aufwendigen Lebensstil finanzierte. Die Beziehung zwischen Christina und Michael war längst zerrüttet, als er ihr ein Schweigegeld anbot. Es fiel ihr schwer, das Geld nicht anzunehmen, denn durch die Geburt von Muriel konnte sie eine Zeitlang nicht auftreten. Doch ihr Stolz siegte, und Christina meisterte die schwere Zeit mit Hilfe ihrer Vermieterin Helene Wolrab und ihrer Freundin Lisa.
Vier lange Jahre sorgte Christina nun schon allein liebevoll für ihre kleine Tochter. Doch jetzt hatte sich das Blatt plötzlich gewendet. Iris Kunert verspürte im Alter von vierzig Jahren einen großen Kinderwunsch. Da sie unter starker Endometriose litt, konnte der Arzt ihr keine Hoffnungen auf ein eigenes Kind machen. Iris war untröstlich und wurde mehr und mehr depressiv. Sie hatte keinen Sinn mehr für Michaels Eskapaden und versorgte ihn nicht mehr mit finanziellen Mitteln. Er fand keinen Zugang mehr zu ihr.
Da hatte er eine Idee. Mit zerknirschter Miene gestand er seiner Frau den Seitensprung mit Christina. Bevor sie wütend werden konnte, erzählte er auch von seiner unehelichen Tochter. Er stellte Christina als verantwortungslose Mutter dar, die ihr Kind nicht anständig versorgte und es lieber heute als morgen loswerden würde.
Iris war von Michaels Geschichte zu Tränen gerührt, denn das kleine Mädchen tat ihr unendlich leid. Sie ahnte nicht, daß er alles nur erfunden hatte. Sie stimmte sofort zu, als er vorschlug, das Kind zu adoptieren.
Michael war stolz auf seine Gerissenheit. Es war ihm zwar klar, daß er rein rechtlich keine Möglichkeiten hatte. Doch er würde einen Weg finden, daß Christina einer Adoption zustimmen würde, da war er sicher.
*
Christina seufzte. Erst heute hatte Michael wieder angerufen und mit geduldiger Stimme auf sie eingeredet.
Sie fühlte, wie sich ihr Magen bei dem Gedanken zusammenzog. Wie lange muß ich noch dafür büßen, daß ich diesem Mann vertraut habe, fragte sie sich verbittert.
Inzwischen war sie fast zu Hause. Sie bog in die schmale Seitenstraße ein und parkte das Auto vor dem Haus. Sie stieg aus, schloß den Wagen sorgfältig ab und wollte eben das große Tor aufschließen, als sie die Gegenwart eines Menschen hinter sich spürte. Sie drehte sich um und schrie auf.
»Mach doch nicht so einen Lärm, Tina. Ich bin’s doch!«
Christina rang nach Atem.
»Michael! Bist du verrückt, mich so zu erschrecken! Was tust du hier mitten in der Nacht?«
»Ich muß mit dir sprechen. Es geht um Muriel.«
»Ich gebe Muriel nicht her, nicht für alles Geld der Welt. Das ist mein letztes Wort.«
»Denk’ doch daran, wie einfach dann alles für dich wäre«, sagte er mit schmeichelnder Stimme.
»Allein an diesen Worten sieht man, daß du nicht weißt, was Liebe ist«, stieß Christina hervor. Plötzlich stöhnte sie auf und krümmte sich zusammen
Michael erschrak. »Was ist los?«
»Mein Magen, er tut so weh.«
»Ach, das schon wieder.« Er machte eine abfällige Handbewegung. »Warum siehst du nicht ein, daß du überfordert bist mit dem Kind? Überleg’ es dir, Tina. Du kennst meine Nummer.«
Mit diesen Worten entfernte er sich und verschwand in der Dunkelheit.
Christina stand immer noch gebeugt vor dem Tor. Langsam ebbte der Krampf ab. Mühsam richtete sie sich auf und ging schleppend ins Haus.
»Da bist du ja endlich. Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht«, begrüßte sie ihre Freundin Lisa und machte Licht im Flur. Dann stieß sie einen Schreckensschrei aus. »Was ist geschehen? Du bist ja totenblaß.«
»Ich halte das nicht mehr aus, Lisa«, flüsterte Christina und brach in Tränen aus.
*
Es war schon dunkel, als Daniel endlich nach Hause kam.
Fee erwartete ihn.
»Hallo, Schatz, da bist du ja endlich.«
»Es war so viel Verkehr. Da ging es leider nicht schneller.«
»Hauptsache, es ist nichts passiert. Hast du das Zauberpflaster? Jan spricht von nichts anderem mehr.«
»Hier, das wird wohl reichen«, sagte Daniel und öffnete seine Tasche, um Fee die Schachtel zu zeigen, die ihm die Schwester gegeben hatte.
»Wie nett von ihr. Sie ist ein richtiger Schatz.«
»Das finde ich auch. Wo ist denn unsere Kinderschar?«
»Jan und Dési schlafen schon. Anneka hört Musik in ihrem Zimmer und die Jungs spielen ein Computerspiel, das sie sich ausgeliehen haben.«
»Hoffentlich keine Schießereien.«
»Du solltest wissen, daß ich so was in unserem Haus nicht dulde«, antwortete Fee leicht ungehalten.
»Natürlich. Entschuldige, Liebes«, sagte Daniel versöhnlich. »Wie geht es Jan?«
»Ich mache mir große Sorgen. Das Fieber ist unverändert, wenn auch nicht zu hoch.«
»Morgen wissen wir mehr.«
An diesem Abend wurden die Lichter im Hause Norden früh gelöscht. Fee fühlte sich abgespannt und war froh, ein wenig ausruhen zu können. Die ständige Sorge um ihren Jüngsten nagte an ihr. Sie nahm ein Buch mit ins Bett und lenkte sich mit der leichten Lektüre ab, bis sie schlafen konnte.
Daniel sah sich noch die Nachrichten an und ging dann auch zu Bett. Lächelnd betrachtete er seine schlafende Frau. Das Buch war aus ihren Händen geglitten und lag neben ihr. Vorsichtig legte er es beiseite und löschte das Licht.
*
Schweißgebadet erwachte Christina in der Nacht.
»Muriel, Muriel, wo bist du?« rief sie schlaftrunken. Erst als sie das Licht angeknipst hatte, fand sie sich zurecht. Erschöpft sank sie in die Kissen zurück. Da hörte sie Schritte aus dem Nebenzimmer.
»Tini, was ist los?« fragte Lisa besorgt, als sie den Kopf zur Schlafzimmertür hereinsteckte. Sie war am Abend nicht mehr nach Hause gefahren, weil es reichlich spät geworden war. Christina hatte ihr das Sofa im Wohnzimmer ausgeklappt, auf dem sie schon öfter geschlafen hatte. Durch Christinas Schreie war sie aufgewacht.
»Ich hatte einen schrecklichen Traum«, stöhnte Christina erschöpft.
»So siehst du auch aus. Du bist ja ganz verschwitzt.«
»Ich habe geträumt, daß Michael Muriel entführt hat. Er hat sie in einem Wald versteckt, und ich bin herumgelaufen und habe sie gesucht. Es war so schrecklich realistisch.«
»Du Arme. Glaubst du wirklich, er würde soweit gehen?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Aber wie er gestern aus dem Dunkel aufgetaucht ist, hatte ich richtig Angst vor ihm.«
»Das hätte jeder gehabt.«
»Auf jeden Fall muß ich etwas unternehmen. Ich kann nicht hier sitzen und warten, bis Muriel etwas passiert. Ich habe das Gefühl, der Traum sollte eine Warnung sein.«
»Was willst du tun?«
»Keine Ahnung.«
Ratlos zuckte Christina die Schultern. Dann faßte sie sich stöhnend auf den Bauch.
»Zuerst mußt du zum Arzt, das steht fest. Wenn du krank bist, kannst du Muriel nicht beschützen. Gleich morgen mache ich einen Termin für dich.«
Die Schmerzen waren zu stark, als daß sich Christina hätte wehren können.
»Wenn es sein muß!« antwortete sie matt.
»Es muß sein. Und jetzt wird geschlafen. Über Michael Kunert denken wir nach, wenn es dir bessergeht.«
»Siehst du noch mal nach der Kleinen?« bat Christina.
»Ja, mach ich. Gute Nacht.« Lisa verließ das Schlafzimmer.
Christina hörte, wie sie leise mit Muriel sprach, die offenbar kurz aufgewacht war. Dann war alles wieder still. Sie löschte das Licht, konnte aber vor Schmerzen nicht einschlafen. Stöhnend warf sie sich von einer Seite auf die andere. Der Traum ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie mußte auf der Hut sein. Doch was würde mit Muriel geschehen, wenn sie ernsthaft krank war?
Über diesen Gedanken schlief Christina gegen Morgen endlich ein.
Es war schon später Vormittag, als sie von Stimmengewirr wach wurde. Plötzlich öffnete sich die Tür und Dr. Norden trat ein.
»Guten Morgen, Frau von Berg.«
»Herr Dr. Norden, was machen Sie denn hier?« fragte Christina erstaunt und richtete sich mühsam im Bett auf.
»Ihre Freundin Lisa hat mich gerufen. Sie sagte, Sie hätten massive Magenprobleme.«
»Ja, stimmt. Magenschmerzen habe ich schon seit Jahren. Aber im Moment ist es besonders schlimm.«
»Waren Sie deswegen schon mal in Behandlung?«
»Ja, aber das ist lange her. Der Arzt sagte, er könne nichts finden.«
»Das heißt, daß die Ursache nie geklärt wurde.«
Christina nickte.
»Ich habe es auf meine psychische Situation geschoben. Es ist nicht immer leicht, für ein Kind allein zu sorgen.«
»Ich halte es sogar für ziemlich schwer und belastend. Trotzdem muß der Ursache auf den Grund gegangen werden. Sie wollen doch wieder ganz gesund werden.«
»Das schon. Aber ich muß arbeiten. Ich kann es mir nicht leisten, krank zu sein.«
»Sie haben eine große Verantwortung, Frau von Berg«, sagte Daniel streng. »Was soll aus Muriel werden, wenn Sie zu krank sind, um für sie zu sorgen?«
Darauf wußte Christina keine Antwort.
Daniel untersuchte sie gründlich und tastete sie gründlich ab. Dann nahm er das Stethoskop ab und steckte es wieder in die Tasche.
»Sie sollten in die Klinik gehen und eine Magenspiegelung vornehmen lassen. Am besten lasse ich gleich einen Krankenwagen kommen.«
Erschrocken blickte sie ihn an. »Aber wer soll auf Muriel aufpassen?«
»Ich habe heute freigenommen, das war kein Problem. Und vielleicht kann Frau Wolrab am Morgen auf sie aufpassen. Natürlich nur tagsüber. Am Abend komme ich immer hierher«, erklärte Lisa, die gerade eingetreten war, um Christina einen beruhigenden Magentee zu bringen.
»Das könnte gehen. Ich glaube nicht, daß Muriel schon wieder so fit ist, daß sie Frau Wolrab nicht überfordert«, sagte Daniel nachdenklich. »Ich werde gleich nach ihr sehen. Und dann rufe ich den Krankenwagen. Den Tee sollten Sie übrigens nicht trinken«, bemerkte er im Hinausgehen. »Für eine Magenspiegelung müssen Sie nüchtern sein.«
»Na, du kleines Mäuschen. Wie geht es dir heute?« fragte Daniel, als er an Muriels Bett saß.
»Hallo, Herr Doktor. Mir geht’s schon viel besser. Das Ohrenweh ist weg.«
»Wie schön. Dann hat meine Medizin also geholfen.«
»Ja, schon«, bemerkte Muriel.
»Das klingt aber nicht sehr überzeugt«, schmunzelte Daniel.
»Sie hat scheußlich geschmeckt«, maulte die Kleine.
»Ein Weilchen mußt du sie aber noch nehmen, damit du auch ganz gesund wirst. Aber du bist sicher eine tapfere Prinzessin.«
»Nein, ich bin eine tapfere Räubertochter«, erklärte Muriel mit blitzenden Augen.
»Das freut mich.«
»Und wie geht es meiner Mami?«
»Deiner Mami geht es leider nicht so gut wie dir. Ich muß sie mitnehmen ins Krankenhaus. Aber Lisa bleibt bei dir«, erklärte er schnell, als er das erschrockene Gesicht des Kindes sah.
»Kommt Mami bald wieder?«
»Natürlich. Wir müssen eine Untersuchung machen, weil sie immer Magenschmerzen hat. Das dauert nicht lange.«
»Machst du sie gesund?«
»Das verspreche ich dir«, sagte Daniel und freute sich über das strahlende Kinderlachen, das Muriels Gesicht jetzt erhellte.
Wenn Jan nur auch wieder so lachen könnte, dachte er bei sich. Er hatte ihm heute morgen das Zauberpflaster in die Armbeuge geklebt. Nach einer kurzen Einwirkzeit war die Haut betäubt, und Jan spürte nichts von dem kleinen Stich der Nadel. Die Röhrchen mit der Blutprobe hatte Daniel direkt in die Behnisch-Klinik gebracht. Das Ergebnis müßte bald vorliegen, und er erwartete es mit Spannung.
Nach dem Gespräch mit Muriel rief er in der Behnisch-Klinik an, um einen Krankenwagen in die Buchenstraße anzuordnen. Lisa hatte unterdessen mit Helene Wolrab gesprochen, die die Betreuung der kleinen Muriel gern übernahm.
Endlich kam der Wagen, der Christina in die Klinik bringen sollte. Sie verabschiedete sich von Muriel und versuchte, ihre Sorgen vor der Kleinen zu verbergen. Diese war jedoch so abgelenkt von einem Buch, das Lisa ihr vorlas, so daß ihr der Abschied nicht schwerfiel. Leise bat Christina ihre Freundin, gut auf Muriel aufzupassen. Deutlich hatte sie den Traum der vergangenen Nacht vor sich. Sie konnte nicht ahnen, wie schnell er sie einholen sollte.
Daniel stieg in seinen Wagen und folgte dem Krankenwagen in die Behnisch-Klinik. Dort angekommen, begleitete er Christina auf die Innere Abteilung, wo sie bereits erwartet wurde. Er sprach kurz mit dem zuständigen Arzt und verabschiedete sich herzlich von Christina, die von den Schwestern schon auf die Magenspiegelung vorbereitet wurde. Dann machte er sich auf die Suche nach Jenny Behnisch. Sie hatte die Blutprobe von Jan am Morgen in Empfang genommen und direkt ins Labor bringen lassen. Die Befunde mußten ihr bereits vorliegen.
Endlich fand er sie.
»Hallo Jenny. Hast du die Ergebnisse von der Blutuntersuchung?«
»Ja, Daniel. Komm bitte mit in mein Zimmer«, sagte sie mit ernstem Blick.
»Was ist los?«
»Ich fürchte, ich habe keine gute Nachricht für dich«, erklärte sie stockend und schloß die Tür. Aus einer Mappe holte sie einige Papiere und reichte sie Daniel wortlos.
Dieser überflog sie kurz und wurde blaß.
»Leukämie!« sagte er schließlich mit rauher Stimme.
»Leukämieverdacht«, verbesserte ihn Jenny.
»Aber die Leukozyten sind stark vermehrt. Und beim Abtasten habe ich geschwollene Lymphknoten festgestellt. Vermutlich sind auch Milz und Leber vergrößert. Das sind typische Symptome für Leukämie.«
»Es fehlt noch die Analyse des Blutausstrichs. Wenn sich dort Leukämiezellen finden, bestätigt sich der Verdacht. Du solltest das Ergebnis noch abwarten«, bemühte sich Jenny, Daniel zu beruhigen.
Doch dieser hörte ihr nicht mehr zu. Er wanderte unruhig auf und ab und warf immer wieder einen Blick auf den schriftlichen Befund in seinen Händen. Schließlich blieb er stehen.
»Ich muß es Fee sagen«, murmelte er bedrückt. Dann verließ er das Zimmer.
*
Inzwischen war die Magenspiegelung beendet. Dr. Janssen blickte besorgt auf Christina, die sich ein Tuch vor den Mund hielt. Der Eingriff war mit einem leichten Beruhigungsmittel durchgeführt worden, trotzdem stellte sich oft ein Brechreiz ein.
»Wir müssen sofort operieren, Frau von Berg. Sie haben ein Magengeschwür, das in den Bauchraum durchgebrochen ist. Es besteht die Gefahr eines Schocks und einer Bauchfellentzündung.«
Christina sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. »Vor Jahren hat mir ein Arzt gesagt, meine Magenschmerzen wären psychosomatisch.«
»Am Anfang kann das durchaus so gewesen sein. Jetzt sieht es leider anders aus. Sie müssen mir bitte das hier unterschreiben.«
Er hielt ihr ein Formular mit einer Einverständniserklärung hin. »Sollen wir Ihre Angehörigen informieren?«
»Ich muß meine Freundin anrufen. Sie betreut mein Kind. Ich dachte, ich käme heute wieder nach Hause.«
»Daraus wird leider nichts. Ihr Zustand ist sehr ernst. Wenn wir nicht sofort eingreifen, besteht Lebensgefahr. Geben Sie der Schwester die Telefonnummer, sie erledigt das Telefonat für Sie.«
Mit zitternden Fingern notierte Christina Lisas Nummer und reichte sie der Schwester. Dann bekam sie eine Beruhigungsspritze und wurde in den Operationssaal geschoben.
Als das Telefon klingelte, schloß Helene Wolrab gerade leise die Tür von Muriels Zimmer. Das gemeinsame Spiel hatte die Kleine so ermüdet, daß sie eingeschlafen war.
»Hier bei von Berg«, meldete sich Helene.
»Guten Tag, Frau Wolrab, hier spricht Lisa.«
»Hallo, Lisa. Haben Sie was von Tini gehört?« fragte Helene aufgeregt.
»Sie ist gerade im OP und wird heute nicht nach Hause kommen.«
»O Gott, ist es was Schlimmes?«
»Der operierende Arzt wird mich später noch mal anrufen. Was Genaueres kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Vielleicht weiß ich mehr, wenn ich heute abend komme. Soll ich was mitbringen?«
»Ich kann nicht einkaufen gehen mit der Kleinen.«
»Dann besorge ich ein paar Sachen.«
»Ist gut, vielen Dank.« Helene Wolrab legte den Hörer auf und seufzte. Warum hat Tini immer nur Pech im Leben, fragte sie sich.
In ihre Gedanken hinein läutete erneut das Telefon.
»Hallo, spreche ich mit Christina von Berg?«
»Nein, hier ist Wolrab. Wer sind Sie?«
»Michael Kunert. Ich bin der Vater von Muriel.«
Vor Schreck wurde Helen Wolrab blaß. Sie kannte natürlich die ganze Geschichte dieser unglücklichen Beziehung, hatte aber selbst nie Bekanntschaft mit Michael gemacht.
»Christina ist nicht zu Hause.«
»Wann kommt sie wieder?«
»Das kann dauern. Sie ist im Krankenhaus. Und soviel ich weiß, sind Sie daran nicht unschuldig«, entfuhr es Helene.
»Hat sie das erzählt?« fragte Michael erbost.
»Das geht Sie gar nichts an.«
»Was ist mit meinem Kind?« lenkte er ab.
»Muriel ist bestens versorgt.«
Helene wurde ungeduldig. Sie überlegte, wie sie das Gespräch schnell beenden konnte. Doch Michael Kunert war hartnäckig. Er schwieg kurz und fuhr dann in versöhnlichem Ton fort.
»Das bezweifle ich nicht, Frau Wolrab. Es tut mir leid, daß ich so unfreundlich war. Wie geht es Tina denn?«
»Ich weiß es nicht. Sie wird gerade operiert.«
»In welcher Klinik?«
»Das möchte ich Ihnen nicht sagen.«
»Wie Sie wollen. Das finde ich auch so heraus«, stellte Michael mit schneidender Stimme fest.
»Lassen Sie Christina in Ruhe. Sie haben ihr genug Leid zugefügt.«
»Und Sie sollten Ihre Nase nicht in die Angelegenheiten fremder Menschen stecken.«
Mit diesen Worten legte er
auf.
Helene war außer sich. Sie dachte einen Moment nach und wählte dann die Nummer, die Lisa ihr hinterlassen hatte. Atemlos berichtete sie von den beiden Telefonaten, doch Lisa beruhigte sie.
»Sie haben ja nicht gesagt, in welcher Klinik Tini liegt.«
»Ach, ich hätte das Krankenhaus gar nicht erwähnen dürfen. Es ist mir so herausgerutscht.« Helene war untröstlich.
»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Wolrab. Er hat es auf das Kind abgesehen, und das ist bei Ihnen in guten Händen.«
»Ich hüte Muriel wie meinen Augapfel.«
»Das weiß ich. Ich bin pünktlich da.«
»Ich warte mit dem Essen auf Sie.«
»Haben Sie noch was zu Hause?«
»Ich habe noch Kotelett eingefroren. Dazu mache ich Kartoffelsalat.«
»Sehr schön. Bis später.«
Noch ehe Helene den Hörer aufgelegt hatte, tönte eine zarte Mädchenstimme aus dem Kinderzimmer.
»Leni, gibt’s heute Kartoffelsalat?«
Helen lächelte und ging zu Muriel, die eben erwacht war.
»Ich weiß doch, was du gern magst. Und du mußt tüchtig essen, damit es dir bald bessergeht.«
»Mir geht’s schon ganz gut. Darf ich aufstehen? Im Bett ist es so langweilig.«
»Du siehst wirklich nicht mehr so blaß aus. Wenn du dich warm anziehst, kannst du mir beim Kartoffelschälen helfen. Aber später gehst du wieder ins Bett. Versprochen?«
»Versprochen. Du bist soooo lieb, Leni.«
Die Kleine kletterte aus dem Bett und drückte Helene einen Kuß auf die Wange.
Michael Kunert war inzwischen nicht untätig gewesen. Nach dem Telefon mit Helene Wolrab war er sehr zufrieden. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen. Er ließ sich von seiner Sekretärin die Nummern sämtlicher Kliniken im Umkreis geben. Schon der zweite Anruf war ein Volltreffer. Er gab sich als Herr von Berg aus, der auf der Suche nach seiner Frau war. Er erzählte der Schwester, daß seine Frau heute vormittag überraschend eingeliefert worden war und die Haushälterin sich nicht an den Namen des Krankenhauses erinnern konnte. Die junge Schwester am Telefon der Behnisch-Klinik glaubte der Geschichte und bestätigte, daß tatsächlich eine Frau von Berg eingeliefert worden sei. Michael Kunert bedankte sich höflich und machte sich sofort auf den Weg.
Die Operation war erfolgreich verlaufen. Christina lag im Wachraum und schlug die Augen auf. Durch die direkt in die Blutbahn verabreichte, gut verträgliche Narkose fühlte sie sich kaum erschöpft und hatte kaum Wundschmerzen. Als die Tür geöffnet wurde, drehte sie neugierig den Kopf.
»Frau von Berg, wie geht es Ihnen?« fragte die Schwester und kam an ihr Bett.
»Erstaunlich gut. Ich habe oft Horrorgeschichten gehört, wie schlecht es einem nach einer Vollnarkose geht.«
»Diese Zeiten gehören Gott sei Dank der Vergangenheit an. Die Narkosemittel werden immer schonender und die Dosierungstechnik ausgefeilter.
»Was für ein Glück, in einem modernen Zeitalter zu leben.«
»Das kann man wohl sagen. Übrigens haben Sie Besuch.«
»Besuch?« fragte Christina und überlegte fieberhaft. Die einzigen beiden Menschen, die dafür in Frage kamen, waren ihre Freundin Lisa und Helene Wolrab. Und die eine war im Büro, die andere paßte auf Muriel auf. Zu ihren Eltern hatte Christina nur ein sehr loses Verhältnis, das zudem seit der Geburt von Muriel noch mehr abgekühlt war. Die würden sie sicher nicht besuchen.
»Ihr Mann ist da«, erklärte die Schwester strahlend.
»Mein Mann?« fragte Christina erstaunt, doch die Schwester hatte das Zimmer schon verlassen, um den Besucher hereinzubitten.
»Hallo, Schatz, wie geht es dir?« fragte Michael mit einem spöttischen Lächeln.
»Michael. Woher weißt du, daß ich hier bin?«
Christina war fassungslos.
»Deine Babysitterin war so freundlich, mir zu sagen, daß du in einer Klinik bist. Der Rest war ein Kinderspiel für mich.«
»Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Du weißt, warum ich hier bin. Und solange ich mein Ziel nicht erreicht habe, hast du keine Ruhe vor mir.«
»Du wirst Muriel niemals bekommen. Rein rechtlich gesehen hast du keine Chance. Bei der Geburt habe ich keinen Vater angegeben.«
»Das weiß ich selbst.«
»Dann ist ja alles klar.«
»Nichts ist klar. Ich gebe mich nicht so schnell geschlagen. Ich will dir einen Vorschlag machen.«
Christina schloß erschöpft die Augen.
»Was für einen Vorschlag?« seufzte sie schließlich.
»Solange du in der Klinik bist, wird Muriel mit zu mir und meiner Frau kommen. Dort wird sie bestens betreut. Wenn du wieder gesund bist, lassen wir die Kleine entscheiden, wo sie in Zukunft leben will.«
»Du bist wahnsinnig, Michael!« entfuhr es Christina.
»Sag das nicht zu mir!« drohte er mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen. »Wenn du nicht einverstanden bist, hole ich mir die Kleine ohne dein Einverständnis. Überleg es dir. Ich komme wieder.«
Mit einem arroganten Lächeln verließ er das Zimmer.
Christina brach in verzweifeltes Schluchzen aus. Als Dr. Janssen kam, um sich nach seiner Patientin zu erkundigen, erschrak er.
»Um Gottes willen, was ist mit Ihnen?« rief er und holte sofort das Blutdruckmeßgerät. »Sie dürfen sich nicht so aufregen. Das ist gefährlich in Ihrem Zustand.«
»Er will mein Kind entführen!« stieß sie hervor.
»Wer?«
»Der Vater. Wir sind getrennt. Vier Jahre lang hat er sich nicht für Muriel interessiert. Und jetzt will er sie mir wegnehmen.«
»Beruhigen Sie sich, Frau von Berg. Sicher ist das ein Mißverständnis.«
»Das ist es nicht!« rief sie verzweifelt.
Dr. Janssen rief eine Schwester und gab ihr leise Anweisungen. Sie nickte und verschwand, um kurz darauf mit einer Spritze zurückzukommen.
»Sie bekommen jetzt von mir ein Beruhigungsmittel, damit Sie nicht kollabieren. Solange Sie schlafen, setze ich mich mit dem Vater Ihres Kindes in Verbindung. Wie ist sein Name?«
»Michael Kunert«, sagte Christina schwach. Die Spritze begann bereits zu wirken. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
»Das war knapp. Wieso hat sie sich plötzlich so aufgeregt?«
»Sie hatte Besuch.«
»Besuch? Wie konnten Sie das zulassen, Schwester? Frau von Berg ist frisch operiert.«
»Ich weiß. Aber er sagte, er wäre ihr Mann.«
Betreten schlug die Schwester die Augen zu Boden.
»Es ist ja noch mal gutgegangen«, sagte Dr. Janssen etwas freundlicher. »In Zukunft erhält Frau von Berg nur Besuch, wenn er vorher mit mir abgesprochen ist.«
»Ja, Herr Doktor«, flüsterte die Schwester und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen.
Dr. Janssen stand noch eine Weile an Christinas Bett. Er betrachtete das hübsche Gesicht, das von den blonden, lockigen Haaren eingerahmt war. Ihre Züge waren jetzt ganz entspannt. So jung und attraktiv und schon soviel Kummer, dachte er bedauernd.
Dann riß er sich von dem bezaubernden Anblick los, um sein Versprechen einzulösen und nach Michael Kunert zu suchen.
*
Daniel saß im Auto, das er auf dem für Ärzte reservierten Parkplatz vor der Behnisch-Klinik abgestellt hatte und starrte auf sein Handy.
Er konnte sich nicht entschließen, die Nummer von zu Hause zu wählen, um Fee die schreckliche Nachricht mitzuteilen. Er überlegte kurz, und nach einem Blick auf die Uhr entschloß er sich dazu, gleich nach Hause zu fahren. Er hatte erst am Nachmittag Sprechstunde und es war erst kurz nach zwölf.
Lenni öffnete die Tür, als die den Wagen durchs Küchenfenster sah.
»Hallo, Herr Doktor. Sie können gleich essen, wenn Sie wollen.«
»Nein danke, Lenni. Ich habe heute keinen Hunger. Ist meine Frau zu Hause?« fragte er müde.
»Sie ist oben bei Jan. Ist etwas passiert?«
Lenni kannte ihren Herrn Doktor gut.
»Das kann man so sagen. Aber ich möchte zuerst mit Fee allein sprechen.«
»Natürlich. Ich hole sie gleich.«
»Hast du die Ergebnisse von Jans Blutuntersuchung?« fragte Fee atemlos, als sie das Wohnzimmer betrat, in dem Daniel auf sie wartete.
»Ja.«
»Und?«
»Ich habe keine guten Nachrichten.«
»Was ist mit unserem Kleinen?« fragte Fee zitternd.
»Er hat wahrscheinlich Leukämie«, stieß Daniel hervor.
Fee schwieg lange, um das Unfaßbare zu begreifen.
»Bist du ganz sicher?« fragte sie schließlich tonlos.
»Es fehlt nur noch das Ergebnis eines Blutausstrichs. Aber alle Symptome sprechen dafür, daß es tatsächlich Leukämie ist.«
»Sag, daß es nicht wahr ist«, bat sie mit Tränen in den Augen. Sie hatte schon viele schreckliche Dinge gesehen, und besonders die krebskranken Kinder mit den großen, traurigen Augen berührten sie. Nun sollte auch ihr Jan ein solches Kind sein.
»Wir müssen das Ergebnis des Ausstriches abwarten.«
»Wann wird es da sein?«
»Ich weiß es nicht. Jenny ruft bestimmt an.«
»Soll ich Jan in die Klinik zur Untersuchung bringen? Ein Ultraschall von Leber und Milz muß gemacht werden. Bei Leukämie sind diese Organe vergrößert.«
Fee suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, die schreckliche Diagnose doch noch zu widerlegen.
»Das ist keine schlechte Idee.«
Daniel nahm seine Frau in die Arme und umschloß sie fest. So standen sie eine Zeitlang eng umschlungen und suchten Trost und Halt bei dem geliebten Menschen.
Schließlich löste sich Fee. »Die Kinder kommen gleich nach Hause. Sie dürfen nichts merken.«
Tatsächlich gelang es den beiden, beim Mittagessen recht unbeschwert zu wirken. Nur die sensible Anneka bemerkte die nachdenkliche Miene ihres Vaters.
»Was hast du, Papi?« fragte sie nach dem Essen. Sie setzte sich auf seinen Schoß und umschlang seinen Hals.
»Bist du dazu nicht schon zu groß?« fragte Daniel lächelnd, genoß die Vertrautheit mit seiner großen Tochter aber sichtlich.
»Für so was ist man nie zu groß!« antwortete Anneka mit Überzeugung.
»Ich will aber auch mal!« quengelt Dési eifersüchtig und versuchte, sich zwischen Anneka und ihren Papi zu schieben.
»Du hast jetzt Sendepause, kleine Nervensäge«, wies Anneka sie zurecht.
»Warum bist du so unfreundlich?« erkundigte sich Daniel erstaunt.
»Das weiß sie ganz genau, nicht wahr, Dési?« wandte sie sich an ihre kleine Schwester.
Diese verzog schmollend den Mund.
»Sie hat meine ganze Tüte Gummibärchen aufgegessen, die ich neulich von Frau Aicher fürs Gassigehen mit dem Hund bekommen habe.«
»Das ist wirklich nicht nett von dir, Dési«, tadelte sie Daniel.
»Aber du hast immer gesagt, wir sollen teilen. Und Anneka hat nicht geteilt«, beschwerte sich Dési lautstark.
»Du auch nicht. Und jetzt Schluß damit«, beendete Fee ungeduldig den Streit. »Ich fahre jetzt mit Jan in die Klinik. Es müssen ein paar Untersuchungen gemacht werden.«
»Fehlt ihm was Schlimmes?« fragte Danny besorgt.
»Das wissen wir noch nicht genau«, redete sich Daniel heraus.
»Anneka, du zeigst Lenni bitte deine Hausaufgaben, wenn du damit fertig bist.«
»Mach ich, Mami. Magst du noch einen Kaffee, Papi?« fragte sie fürsorglich.
»Lieb von dir! Gern.«
Sie eilte in die Küche, während die anderen Kinder Lenni beim Tisch abräumen halfen, um sich dann in ihre Zimmer zurückzuziehen.
Schließlich war Daniel zu seiner Nachmittagssprechstunde aufgebrochen, und Fee hatte Jan auf den Klinikbesuch vorbereitet. Nachdem sie ihm erklärt hatte, daß er nicht gepiekst werden würde, fand er es sehr spannend, und sie betrachtete ihn mit Tränen in den Augen. Dann riß sie sich zusammen und trug Jan die Treppe hinunter, um ihn in die Klinik zu fahren.
*
Anian Fürst stand in der Dunkelkammer seines Fotolabors und entwickelte Bilder. Als selbständiger Fotograf arbeitete er für mehrere Magazine und hatte oft abends zu tun. So blieb tagsüber Zeit für organisatorische Dinge und die Entwicklung der Fotos. Er träumte davon, einen eigenen Bildband mit Portraits verschiedenster Künstler zu veröffentlichen, und Christina war ohne es zu wissen sein erstes Motiv gewesen. Natürlich mußte sie ihr Einverständnis geben, worüber Anian insgeheim sehr froh war. So hatte er einen Vorwand, diese für ihn so faszinierende Frau anzurufen. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen und an ihr Gesicht und die wunderschöne Stimme gedacht. Er konnte nicht anders, er mußte sie wiedersehen.
Ungeduldig wartete er darauf, daß die Fotos trocken wurden. Endlich war es soweit. Vorsichtig hob er das erste Bild hoch und betrachtete es kritisch.
Es war perfekt.
Nachdem die Spannung von ihm abgefallen war, unterzog er auch die anderen Fotos einer sorgfältigen Prüfung. Anian war fasziniert. Christina war nicht nur schön, sie war noch dazu außerordentlich fotogen. Diese Umstände trafen sich nicht oft, das wußte er aus eigener Erfahrung. Wie oft hatte Viola einen Streit vom Zaun gebrochen, weil sie mit seinen Fotos, die er von ihr gemacht hatte, nicht zufrieden war. Er konnte ihr nicht begreiflich machen, daß es nicht an seiner Technik sondern an ihrem Gesicht lag, daß die Bilder nicht ihrer Erwartung entsprachen.
Mit den Fotos in einer Mappe verließ Anian die Dunkelkammer. Er legte sie auf den Tisch und holte die Visitenkarte aus der Tasche, die Christina ihm gestern gegeben hatte.
Versonnen betrachtete er sie. Dann faßte er einen Entschluß. Gleich am Nachmittag würde er zu ihr fahren, um ihr die Bilder zu zeigen. Sie würde ihn nicht abweisen, dessen war er sich sicher.
Er war so in Gedanken versunken, daß er nicht hörte, wie Viola die Tür aufschloß. Erst als sie den Schlüssel nachlässig auf die Kommode warf, schreckte er hoch.
»Hast du mich erschreckt!« fuhr er sie an.
»Das ist ja eine freundliche Begrüßung«, antwortete sie beleidigt.
»Entschuldige, ich war gerade in Gedanken.«
Sie zündete sich eine Zigarette an und setzte sich an den Tisch. Dabei ließ sie Anian nicht aus den Augen.
»Was ist los mit dir?«
»Was soll schon sein?« wich er ihr aus. »Wieso bist du nicht im Büro?«
»Ich habe Mittagspause. Leo will mit mir essen gehen, und ich möchte mich vorher etwas frisch machen.« Sie schaute auf die Uhr. »Aber ich habe noch eine gute halbe Stunde Zeit.«
Sie griff nach der Mappe, öffnete sie und betrachtete aufmerksam die Fotos.
»Bitte laß das«, sagte Anian gereizt und versuchte, ihr die Bilder wegzunehmen.
»Ist das deine Neue?« fragte Viola spöttisch. »Hübsches Kind. Ich fragte mich, warum du solche Fotos nur von anderen machen kannst und nicht von mir.«
»Das habe ich dir schon tausendmal erklärt.«
»Schön. Es spielt auch keine Rolle mehr.« Viola stand auf, drückte ihre Zigarette aus und legte die Fotos auf den Tisch.
»Was soll das heißen?«
»Leo will mich mit nach Amerika nehmen. Ich soll dort in seiner Produktionsfirma arbeiten. Ich denke, ich sage zu.«
Anian runzelte die Stirn. Er dachte an Leo Hardenberg, einen Draufgänger, wie er im Buch stand. Aber er hatte viel Charme und ein gutes Händchen, was das Geschäft betraf. Viola kannte ihn seit einigen Jahren und wußte, auf was sie sich einließ.
»Das ist doch wunderbar. Auf so eine Chance hast du immer gewartet«, sagte er schließlich.
»Es macht dir also nichts aus, daß ich von hier fort gehe?« fragte Viola schnippisch.
»Wir sind uns doch beide im klaren darüber, daß unsere besten Zeiten hinter uns liegen, Viola. Es hat nur bis heute keiner ausgesprochen.«
»Du hast nie einen Versuch gemacht, mich zu halten«, warf sie ihm vor und ging auf und ab.
»Wir passen nicht zueinander. Das weißt du so gut wie ich.«
»Trotzdem hättest du dich ein bißchen mehr bemühen können.«
Sie stand jetzt vor ihm und sah ihn herausfordernd an. Doch sie hatte keine Macht mehr über ihn.
»Es hätte keinen Sinn gehabt. Wir sind zu verschieden.«
Zornig funkelte Viola ihn an. Mit so einer klaren Abfuhr hatte sie nicht gerechnet. Sie war es gewohnt, die Zügel in der Hand zu halten. Doch diesmal war Anian ihr zuvorgekommen. Sie hatte erwartet, daß er sie anflehen würde, nicht zu gehen. Das wäre in ihren Augen ein würdiger Abgang gewesen. Verzweifelt suchte sie nach Worten.
»Es tut mir leid, daß ich so deutlich werden mußte«, sagte Anian versöhnlich.
»Das macht nichts. Es ärgert mich nur, daß du mir zuvorgekommen bist.«
Anian mußte lächeln. So kannte er Viola. Sie hatte viele Schwächen, doch ehrlich war sie immer zu ihm gewesen.
»Nicht böse sein. Du wirst ein neues Opfer finden.«
»Meinst du wirklich?«
»Da bin ich ganz sicher.«
»Ich eigentlich auch.«
»Wann fliegst du?«
»Wenn alles klappt in einer Woche.« Viola warf einen Blick auf die Uhr. »Jetzt muß ich mich beeilen. Leo wartet.«
»Ich muß auch los«, sagte Anian und zog seine schwarze Lederjacke an. Nachdenklich sah Viola ihn an, während sie an der Schlafzimmertür lehnte.
»Schade eigentlich, daß es nicht geklappt hat mit uns. Du bist so ein attraktiver Typ«, sagte sie versonnen.
»Danke für das Kompliment«, antwortete er und griff nach der Mappe und den Autoschlüsseln.
»Viola!«
»Ja?«
»Es war eine schöne Zeit mit dir.«
Er meinte es ehrlich. Dann verließ er die Wohnung.
Zuerst fuhr Anian in die Redaktion, um seine Bilder für die Reportage abzuliefern. Er hatte von jedem Negativ gleich zwei Abzüge gemacht, damit Christina alle ansehen konnte.
Konstantin Hübner musterte sie anerkennend.
Nach einem kurzen Gespräch verabschiedete sich Anian und macht sich auf den Weg zu Christina. Er war sehr aufgeregt, als er durch die ihm unbekannte Gegend fuhr. In diesem Teil der Stadt war er nicht oft gewesen.
Er hielt in der Buchenstraße vor dem großen eisernen Tor. Bevor er ausstieg betrachtete er die schöne alte Villa. Dann faßte er sich ein Herz, schloß die Wagentür und drückte beherzt auf den Klingelknopf. Die Stimme einer älteren Dame ertönte aus der Sprechanlage.
»Ja bitte?«
»Ich bin Anian Fürst. Ist Frau von Berg nicht da?« Im Hintergrund hörte er eine Kinderstimme, die sich neugierig nach dem Besucher erkundigte.
»Frau von Berg ist nicht da. Sie ist verreist«, antwortete die Dame knapp.
»Davon hat sie gestern abend gar nichts gesagt«, stellte Anian verwundert fest.
»Kennen Sie Christina näher?«
»Nein, das nicht. Ich bin Fotograf. Ich habe sie gestern abend nach dem Konzert fotografiert und versprochen, die Abzüge vorbeizubringen.«
»Wenn das so ist, können Sie kurz heraufkommen«, antwortete Helene Wolrab beruhigt und drückte den Summer. Sie hatte befürchtet, Michael Kunert könnte sie noch einmal belästigen. Deshalb war sie mißtrauisch.
Wohlwollend begrüßte sie den gutaussehenden Mann, der die Treppe hinaufgestiegen war.
»Helene Wolrab ist mein Name. Ich bin die Vermieterin von Frau von Berg.«
»Und ich bin Muriel«, drängte sich das kleine Mädchen vor und musterte den Besucher unverhohlen. »Bist du ein Freund von Mami?«
»Ich würde es gern werden«, antwortete Anian ehrlich. »Deshalb bin ich auch gekommen. Schade, daß deine Mami nicht da ist.«
»Sie ist im Krankenhaus. Und ich darf sie nicht besuchen, weil ich selber krank bin«, antwortete Muriel mit kindlichen Eifer.
»Willst du wohl still sein, Muriel«, entfuhr es Helene Wolrab.
Verwirrt schaute Anian die beiden an.
»Im Krankenhaus? Sie sagten doch, sie ist verreist.«
Die ganze Situation war Helene sichtlich peinlich. Doch Anian wartete gar nicht auf eine Antwort. Er kniete sich hin, damit er besser mit Muriel sprechen konnte.
»Was fehlt deiner Mami, Kleine?«
»Sie hat immer Bauchschmerzen. Und heute morgen war der Doktor da. Der ist ganz lieb. Er hat mich wieder gesund gemacht. Und Mami auch, das hat er mir versprochen.«
»Jetzt reicht es aber. Rein mit dir, du kleine Räubertochter. Sonst bist du gleich wieder krank.«
Energisch schob Helene das Kind in die Wohnung. Murrend verschwand es in ihrem Zimmer.
Anian richtete sich mit besorgtem Gesicht auf.
»Es sollte niemand erfahren, wissen Sie. Ich habe heute schon viel Ärger gehabt, weil ich jemanden verraten habe, daß Christina in der Klinik ist.«
»Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten«, entschuldigte sich Anian. »Wie geht es Frau von Berg?«
»Sie mußte operiert werden. Einzelheiten kann ich Ihnen nicht erzählen. Das muß Christina selbst entscheiden.«
Anian stand da und überlegte kurz. »Ich habe eine Bitte. Hier ist meine Nummer. Können Sie mich anrufen, wenn Sie etwas von Christina gehört haben? Es ist sehr wichtig für mich. Bitte!« Flehend sah er Helene Wolrab an. Diese war gerührt von seiner offensichtlichen Sorge um Christina. Zögernd nahm sie die Karte.
»Also gut. Ich gebe Ihre Bitte weiter an Lisa Thaler, einer guten Freundin von Christina. Sie wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Und geben sie das bitte der Kleinen mit einem schönen Gruß von mir!« Er öffnete die Mappe und entnahm ihr eine Portraitaufnahme von Christina. »Das macht ihr die Trennung von ihrer Mami vielleicht ein bißchen leichter.«
Überrascht betrachtete Helene das Foto. »Das ist ein zauberhaftes Bild«, sagte sie bewundernd. »Vielen Dank, auch im Namen von Muriel.«
Mit schweren Schritten ging Anian die Treppe hinunter. Alle Leichtigkeit war aus seinem Herzen gewichen. Die Nachricht von Christinas Krankheit hatte ihn wie ein Keulenschlag getroffen. Zu gern wäre er sofort an ihr Krankenbett geeilt. Im Moment blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als auf eine Nachricht zu warten.
*
An diesem Tag verließ Lisa Thaler ihre Arbeitsstätte früher als gewohnt. Sie hatte ihrem Chef kurz die Situation geschildert, und dieser hatte sich äußerst kooperativ gezeigt. So konnte sie am frühen Nachmittag zu sich nach Hause fahren, um ihren Anrufbeantworter abzuhören und ein paar Sachen zu packen. Der Arzt hatte sie kurz über den Verlauf der Operation informiert, und Lisa war froh über die positive Nachricht gewesen. Christina mußte jedoch mindestens zwei Wochen in der Klinik bleiben.
Lisas Freund Markus murrte ein wenig, weil er so lange auf sie verzichten sollte, als sie ihm telefonisch Bescheid sagte. Er war allerdings auch froh über den guten Verlauf der Operation. Und als Lisa ihm erlaubte, sie in Christinas Wohnung zu besuchen, war er versöhnt.
Helene Wolrab und Muriel hatten einen vergnügten Tag verbracht. Helene, von Muriel liebevoll Leni genannt, staunte, wie schnell das Kind wieder zu Kräften kam.
»Bist du nicht müde, Kleines?«
»Gar nicht, Leni. Mir geht’s wieder richtig gut.«
»Laß mich mal fühlen, ob du Fieber hast.« Sie legte ihre feingliedrige Hand auf die Kinderstirn. »Offenbar nicht«, stellte sie dann zufrieden fest.
»Darf ich morgen wieder raus? Bitte, bitte, es ist so schön draußen.«
Helene wiegte den Kopf.
»Ich weiß nicht so recht, ob das schon das Richtige ist nach deinen Ohrenschmerzen.«
»Frische Luft ist gesund, und ich setze auch ganz bestimmt eine Mütze auf«, antwortete Muriel altklug.
»Du gibst nicht auf, was?« schmunzelte Helene. »Wir fragen Lisa, wenn sie heute abend kommt.«
»Och, die sagt bestimmt nein«, murrte die Kleine.
»Gegen eine Viertelstunde hat sie sicher nichts einzuwenden.«
»Glaubst du?« Muriel strahlte schon wieder. Sie war ein sonniges Kind und ließ sich leicht von ihrem Kummer ablenken.
Da klingelte es.
»Wer kann das sein?« fragte Helene und warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist erst vier.«
»Ich frag’ mal.« Muriel war schon aufgesprungen und zur Sprechanlage gelaufen.
»Ich bin es, Süße, mach mal auf«, ertönte Lisas Stimme, und Muriel drückte den Summer.
»Na so was, Sie sind schon da?« begrüßte Helene sie überrascht.
»Ich hab’ ein bißchen früher Schluß gemacht heute. Hier sind die Einkäufe. Ich muß noch mal in den Wagen und meine Sachen holen.«
Helene nahm ihr die beiden großen Tüten ab und brachte sie mit Muriels Unterstützung in die Küche.
»Ich bin ja so gespannt, was drin ist«, schnatterte Muriel und fing an auszupacken. »Nur Gemüse und Obst und Milch. Schade.«
»Vielleicht ist hier was für dich drin!«
Lisa, die gerade ebenfalls die Küche betreten hatte, deutete auf die zweite Tasche.
Eifrig packte Muriel alles aus. Endlich fand sie ganz unten eine Packung Kinderpralinen.
»Danke, Lisa, du bist so lieb. Lecker, darf ich gleich eine essen?«
Ungeduldig fingerte sie an der Verpackung herum.
»Nichts da. Zuerst wird gegessen. Als Nachspeise kannst du dann eine haben. Den Rest haben wir auf für morgen«, meldete sich Helene resolut. Sie hatte den Herd eingeschaltet und ein köstlicher Geruch nach gebratenem Kotelett zog durch die Küche. »Sie können bitte den Kartoffelsalat holen, Lisa. Er steht in der Speisekammer. Und du, Muriel, deckst bitte den Tisch.«
Schließlich saßen sie um den lustig gedeckten Tisch und ließen sich das Essen schmecken.
»Den Kartoffelsalat hab’ ich ganz allein gemacht«, erzählte Muriel stolz.
»Wirklich?« tat Lisa erstaunt.
»Na ja, fast ganz allein«, gab sie dann zu. »Ich muß dich was Wichtiges fragen, Lisa.«
»Was denn, mein Schatz?«
»Darf ich morgen eine kleine Viertelstunde rausgehen? Ich hab’ auch gar kein Ohrenweh mehr.«
Flehend sah sie ihre Patentante an.
»Das kann ich nicht entscheiden, Kleines. Da muß ich den Doktor anrufen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Wenn ich es gleich mache, erreiche ich ihn vielleicht noch.« Schnell stand sie auf und erledigte das Telefonat.
»Alles klar. Herr Dr. Norden ist einverstanden. Aber du mußt eine Mütze aufsetzen.«
Während Muriel vor Freude um den Tisch herumtobte, saß Lisa nachdenklich am Tisch.
»Was ist mit Ihnen?« fragte Helene besorgt.
»Ach nichts, Frau Wolrab. Herr Dr. Norden klang nur eben sehr bedrückt. So kenne ich ihn gar nicht.«
»Hat er etwas von Tini erfahren?«
»Darüber haben wir gar nicht gesprochen. Ich hatte vorhin ein Telefon mit Dr. Janssen von der Behnisch-Klinik. Er hat Tini operiert.«
Knapp schilderte sie die Vorfälle des Nachmittags.
Helene war schockiert.
»Dieser schreckliche Mensch! Er hat ihr doch schon genug angetan. Warum läßt er sie nicht endlich in Ruhe?«
»Ich verstehe es auch nicht«, seufzte Lisa und erhob sich, um den Tisch abzuräumen. »Hoffentlich erreicht Dr. Janssen diesen Kunert. Was ist denn das für ein Foto?« fragte sie überrascht, als sie am Buffet vorbeiging und ihr Blick auf das Bild fiel, das Anian Fürst vorbeigebracht hatte.
»Ach, das habe ich ganz vergessen. Heute nachmittag war ein sehr netter junger Mann da. Er wollte zu Christina. Muriel hat ausgeplaudert, daß sie in der Klinik ist. Da hat er die Fotografie dagelassen. Er hat sie gestern nach dem Konzert gemacht und Tini versprochen, die Bilder zu bringen.«
Versonnen betrachtete Lisa den Abzug. »Er scheint sehr viel Talent zu haben. Das ist ein zauberhaftes Bild.«
»Nicht wahr? Er hat mich gebeten, ihn zu informieren, wenn wir Nachricht von Christina haben.« Helene holte eine Visitenkarte aus ihrer Rocktasche hervor und reichte sie Lisa.
»Anian Fürst«, las Lisa laut. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster und versuchte sich zu erinnern. »Stimmt, er macht viele Fotos für das Kulturmagazin, das ich abonniert habe. Der Name des Fotografen steht immer kleingedruckt unter den Bildern.«
»Er scheint ein sehr seriöser, sehr netter Mann zu sein. Und er war ehrlich besorgt.«
»Dann werde ich den Herrn Fürst mal anrufen«, sagte Lisa und griff zum Hörer.
Es wurde ein ungewöhnlich langes Telefonat, und Lisa hatte einen schwärmerischen Gesichtsausdruck, als sie in die Küche zurückkam. Helene hatte inzwischen fertig aufgeräumt und frischen Kaffee aufgebrüht.
»Ihre Menschenkenntnis scheint Sie nicht zu täuschen, Frau Wolrab«, stellte Lisa fest.
»Das freut mich. Aber wie kommen Sie darauf?«
»Herr Fürst scheint in der Tat ein sehr netter Mann zu sein. Er hat sehr offen mit mir gesprochen und gestanden, daß er sich unsterblich in Tini verliebt hat.«
»Kennt er sie schon länger?«
»Erst seit gestern abend. Es war Liebe auf den ersten Blick.«
»Wie romantisch!«
»Leider nicht. Tini wollte ihn nämlich nicht wiedersehen. Sie schob es auf eine unerfreuliche Erfahrung, die sie gemacht hat.«
»Dieser Kunert hat ihr alles verpfuscht. Das einzig gute an dieser Beziehung war das Kind. Muriel ist ein Goldstück.«
»Das ist sie wirklich. Wo ist sie eigentlich?«
»Sie ist vorhin mit aus dem Zimmer gegangen, als Sie telefoniert haben. Wahrscheinlich spielt sie in ihrem Zimmer.«
Besorgt ging Lisa hinaus. »Muriel, wo bist du?« rief sie und warf einen Blick in das Kinderzimmer. Es war leer. Da fiel ihr Blick auf die geöffnete Haustür.
Anian konnte nach dem Telefonat mit Lisa keine Ruhe finden. Sie hatten sehr ausführlich und offen miteinander gesprochen und Lisa hatte die Schwierigkeiten erwähnt, in denen Christina steckte.
Schon jetzt fühlte sich Anian für die kleine Familie verantwortlich, auch wenn Christina ihn abgewiesen hatte. Er war fest entschlossen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ruhelos wanderte er in seiner Wohnung auf und ab, bevor er sich entschloß, in seinem Stammlokal einzukehren, um sich abzulenken.
Er kam spät wieder, da er einen alten Jugendfreund getroffen hatte. Trotzdem schlief er in dieser Nacht sehr unruhig. Seine Gedanken waren bei Christina und Muriel.
Am Morgen stand er auf und fühlte sich wie gerädert. Nach einer kalten Dusche fühlte er sich etwas besser und schaltete wie gewohnt das Radio ein. In den Morgennachrichten erfuhr er von besonderen Ereignissen und fühlte sich besser auf den kommenden Tag vorbereitet. Während die Nachrichten liefen, brühte er sich eine Tasse Kaffee auf. Eine Meldung erregte jedoch seine Aufmerksamkeit.
»Seit gestern abend, achtzehn Uhr, wird die vierjährige Muriel von Berg vermißt. Sie ist etwa einen Meter groß, hat blondes lockiges Haar und blaue Augen. Bekleidet ist sie mit einer geblümten Leggings, einer roten Jacke und gelben Gummistiefeln. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Anian erstarrte.
Im nächsten Moment war er am Telefon und wählte die Nummer von Christina. Lisa meldete sich mit hoffnungsvoller Stimme.
»Hier bei von Berg. Mein Name ist Thaler.«
»Hallo Frau Thaler. Hier spricht Anian Fürst. Ich habe eben die Morgennachrichten im Radio gehört.«
»Oh, Anian, es ist schrecklich. Ich mache mir solche Vorwürfe«, schluchzte Lisa auf.
»Was ist denn geschehen?«
Sie brauchte eine ganze Weile, ehe sie antworten konnte.
»Muriel ist verschwunden. Sie ist gestern abend hinausgelaufen, während ich mich mit Frau Wolrab unterhielt. Wir haben es beide nicht bemerkt.«
Sie konnte nicht weitersprechen.
»Wenn es Ihnen recht ist, komme ich sofort.« Da Anian keine Antwort erhielt, legte er den Hörer auf. Er holte seine Lederjacke, steckte Handy und Schlüssel ein und war schon auf dem Weg in die Buchenstraße.
*
Christina ahnte glücklicherweise von alldem nichts. Sie hatte seit der Beruhigungsspritze geschlafen und war auch nicht aufgewacht, als die Schwester am Abend kam, um Blutdruck und Fieber zu messen.
Mitten in der Nacht erwachte sie kurz. Sie hatte einen beunruhigenden Traum gehabt, an den sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern konnte, da ihr kleiner Schatz Muriel bei Lisa und Helene Wolrab gut aufgehoben war, seufzte sie nur und fiel dann in einen tiefen Genesungsschlaf.
Ein Teil des Klinikpersonals hatte am Morgen die Nachricht des verschwundenen kleinen Mädchens mit Bestürzung gehört. Da kaum jemand wußte, daß Christina eine Tochter hatte, erfuhr diese jedoch vorerst nichts von dem tragischen Verschwinden. Auch Lisa ließ sich nichts anmerken, als die mit Christina telefonierte. Sie bemühte sich, ihre Stimme leicht und unbeschwert klingen zu lassen, was ihr nicht ganz gelang.
Als Christina sich erkundigte, ob etwas nicht in Ordnung sei, schob sie eine unruhige Nacht vor. Noch hatte Lisa die Hoffnung, Muriel unversehrt wiederzufinden.
Kurz nach dem Telefonat klingelte es an der Tür.
Lisa bestätigte mit zitternden Fingern die Sprechanlage.
»Wer ist da?« fragte sie aufgeregt.
»Anian Fürst. Darf ich raufkommen?«
Er konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme hören, als sie bejahte.
»Entschuldigen Sie, wenn ich hier einfach so reinplatze«, sagte er unsicher, als sie ihm die Tür öffnete.
»Kommen Sie herein«, wurde ihm knapp geantwortet. Er betrat die Wohnung und erschrak, als er Frau Wolrab erblickte. Die zarte alte Dame saß leichenblaß in einem Sessel und blickte starr vor sich hin.
»Sie braucht einen Arzt!« stieß er hervor.
»Dr. Norden war schon da. Er hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. In zwei Stunden sieht er wieder nach ihr.«
»Dann ist es ja gut. Ich hatte gerade das Schlimmste befürchtet«, sagte er leise. »Guten Tag, Frau Wolrab«, grüßte er sie freundlich.
Helene warf ihm einen leeren Blick zu und nickte kaum merklich. Sie sprach kein Wort.
»Geht es ihr gut?« fragte Anian, als er in der Küche am Tisch saß.
»Sie hat einen Schock. Ihr Zustand wird sich erst wieder bessern, wenn wir Muriel gesund und munter wiederhaben.«
»Bitte erzählen Sie mir genau, was passiert ist. Ich möchte helfen, Muriel zu suchen.«
Viel konnte Lisa nicht berichten, aber sie ließ nicht das kleinste Detail aus.
»Während ich telefonierte, muß sie sich ihre Gummistiefel und den Mantel angezogen haben. Weder Frau Wolrab noch ich haben etwas bemerkt.«
»Können sich Kinder in diesem Alter schon allein anziehen?« fragte Anian erstaunt. Er erinnerte sich an das zarte kleine Mädchen.
»Muriel ist sehr selbständig. Es macht ihr Spaß, Erwachsene mit ihren Fähigkeiten zu verblüffen.« Lisa hielt inne.
Anian ahnte, was sie dachte.
»Bitte, verlieren Sie die Hoffnung nicht. Wir werden sie finden.«
»Das hat die Polizei auch gesagt. Das Schlimmste ist, daß Michael auch nicht auffindbar ist«, antwortete Lisa leise.
»Es wäre ein merkwürdiger Zufall, wenn er genau in dem Moment hier aufkreuzt, wenn Muriel aus dem Haus kommt«, gab Anian zu bedenken.
»Vielleicht war er schon länger hier und hat die günstige Gelegenheit genutzt.«
»Wie dem auch sei. Ich werde jetzt gehen und Muriel suchen. Vielleicht hat sie sich nur verlaufen. Kann sie das Gartentor öffnen?«
»Zumindest ist es nicht abgesperrt.«
»Haben Sie ein Foto von Muriel?«
»Ja.« Kurzentschlossen holte Lisa ihre Brieftasche und nahm ein Paßfoto heraus. Sie reichte es Anian, der es kurz betrachtete und dann einsteckte.
Schließlich verabschiedete er sich. »Ich melde mich, sobald ich etwas weiß!«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Lisa dankbar. »Leider haben wir nicht mehr viel Zeit. Die Polizei drängt darauf, mit Christina zu sprechen.«
»Halten Sie die Beamten hin. Christinas Gesundheit ist diese Geschichte sicher nicht zuträglich.«
Mit diesen Worten verschwand er und machte sich auf die scheinbar aussichtslose Suche nach der kleinen Muriel.
*
Fee hatte die Nacht mit Jan in der Klinik verbracht. Am Nachmittag waren einige Untersuchungen durchgeführt worden, die den schrecklichen Verdacht auf Leukämie nicht widerlegen konnten. Das Ultraschallbild wies eine deutlich vergrößerte Milz auf, und auch die Leber war geschwollen.
Fee war verzweifelt, wollte es ihren kleinen Sohn aber nicht merken lassen. Dieser ließ alles geduldig über sich ergehen und freute sich, als der Fernseher angeschlossen wurde, so daß er sich ein wenig ablenken konnte. Da die Krankheit ihn recht anstrengte, war er aber während einer Trickfilmserie eingeschlafen.
Fee dagegen verbrachte eine unruhige Nacht, in der sie kaum Schlaf fand. Am Morgen hörte auch sie von dem verschwundenen Kind, konnte jedoch an diesem fremden Schicksal keinen Anteil nehmen. Ihr eigenes Kind war jetzt das wichtigste auf der Welt für sie. Die Stunden schleppten sich dahin, ohne daß etwas geschah.
Daniel besuchte die beiden am Vormittag, doch auch er hatte keine neuen Nachrichten. Bedrückt schauten aus dem Fenster.
Plötzlich klopfte es.
»Herein!« rief Daniel.
»Da bist du ja. Ich habe dich schon überall gesucht.«
»Hallo, Jenny. Wo sonst sollte ich sein als bei meinem Sohn«, sagte er.
Ratlos sah Jenny Behnisch auf den Jungen, der zwischen seinen Eltern auf dem Bett saß. Dann wandte sie sich wieder an Daniel. »Freut ihr euch denn gar nicht?«
»Über was sollen wir uns freuen?« fragte er müde.
»Über das Ergebnis des Blutausstrichs.«
»Welches Ergebnis? Ich habe nichts bekommen.«
Daniel sah Jenny fragend an.
»Hat dich Dr. Maier denn nicht informiert?«
»Er wollte mich vorhin sprechen. Aber ich habe das auf später verschoben, weil ich zuerst Jan besuchen wollte.«
»Dann ist mir alles klar«, sagte Jenny und lächelte.
»Manchmal solltest du einen Kollegen zuerst zu Wort kommen lassen.«
»Meine Familie geht vor.«
»Das verstehe ich voll und ganz.«
»Wo ist denn das Problem?«
»Dr. Maier sollte dich darüber informieren, daß Jan an Pfeifferschem Drüsenfieber leidet. Er hat keine Leukämie!«
Es dauerte einen Augenblick, ehe Fee und Daniel die Tragweite dieser Worte ganz begriffen hatten.
»Pfeiffersches Drüsenfieber, natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?« fragte Daniel schließlich mit rauher Stimme.
»Es kommt häufig vor, daß diese Krankheit mit Leukämie verwechselt wird. Die Symptome sind zu ähnlich. Allein der Blutausstrich bringt Sicherheit. Wenn darin keine Leukämiezellen enthalten sind, ist die Sache klar.«
Eine Zentnerlast fiel von Daniels Schultern. Er hob Jan hoch und schloß ihn fest in seine Arme.
Fee dagegen war mit den Nerven fertig. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Tut dir was weh, Mami?« fragte Jan, als er die Tränen seiner Mutter bemerkte.
»Nein, mein Kleiner. Ganz im Gegenteil. Es ist alles wunderbar«, sagte Daniel leise und drückte ihn an sich.
Nach einer Weile befreite sich Jan aus der Umarmung. »Aber was ist denn dann los?« fragte er ungeduldig. Er konnte die ganze Aufregung nicht verstehen.
Fee wischte sich die Tränen ab. »Wir haben gedacht, du hättest eine ganz schlimme Krankheit. Aber Jenny hat uns gerade gesagt, daß alles in Ordnung ist. Deshalb freuen wir uns so.«
»Und warum weint ihr dann?«
Fee mußte lachen. »Das ist bei Erwachsenen manchmal so.«
Kurze Zeit später konnte Jan mit seiner Mami das Krankenhaus verlassen. Daniel hatte noch ein Gespräch mit Jenny. Bei der Gelegenheit ließ er sich den neuen Befund zeigen und studierte ihn mit aller Sorgfalt. Schließlich legte er das Papier zur Seite.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich über dieses Schreiben bin.«
»Vermutlich hat dir ein Befund noch nie soviel Freude gemacht«, stellte Jenny lächelnd fest.
»Das kann man wohl sagen. Obwohl ich bei meinen Patienten natürlich auch immer froh bin, wenn sich ein böser Verdacht nicht bestätigt. Aber das kann man nicht vergleichen.«
»Das glaube ich dir sofort. Ich freue mich jedenfalls sehr für euch. Was geschieht jetzt mit Jan?«
»Eine konkrete Behandlung gibt es ja bei Pfeifferschem Drüsenfieber nicht. Er wird ein paar Wochen zu Hause bleiben müssen, das ist alles.«
»Wenigstens kennst du jetzt den Namen seiner Krankheit. Das macht vieles leichter.«
Daniel konnte Jenny ohne Einschränkung zustimmen. Dann wechselten sie das Thema und kamen auf den Fall des verschwundenen Kindes zu sprechen. »Hat Frau von Berg schon etwas erfahren?« erkundigte sich Daniel.
»Bis jetzt noch nicht. Sie ist noch nicht stabil genug.«
»Wie ist die Operation verlaufen?«
»Ohne Probleme. Aber gestern mußte sie noch eine böse Überraschung erleben.«
»Davon habe ich schon gehört.«
»Sie hat sich mehr aufgeregt, als sie in ihrem Zustand verkraften kann.«
»Ich werde zu ihr gehen und mit ihr sprechen. Vielleicht kann ich mehr über den Vater des Kindes erfahren, ohne daß sie Verdacht schöpft.«
»Tu das.« Jenny verabschiedete sich von Daniel, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen.
Während Anian unterwegs war, um nach Muriel zu suchen, verbrachten Lisa und Helene einen unruhigen Vormittag. Ständig klingelte das Telefon, und Lisa mußte ununterbrochen lästige Anfragen nach Interviews ablehnen. Als es an der Tür klingelte, war sie wütend. Sie drückte den Knopf der Sprechanlage.
»Wir geben keine Interviews, und Fotos dürfen Sie auch nicht machen«, schimpfte sie ohne eine Begrüßung.
»Mein Name ist Zettler von der Kriminalpolizei«, meldete sich eine Stimme.
»Oh, entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewußt. Kommen Sie doch herauf.« Sie öffnete die Tür und erwartete den Kommissar mit seinem Kollegen.
Er begrüßte sie freundlich. »Es tut mir leid, daß ich so grob war. Aber den ganzen Tag belästigt uns die Presse schon. Ich bin mit den Nerven am Ende.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete Zettler und nahm im Wohnzimmer Platz.
»Haben Sie schlechte Nachrichten?« fragte Lisa angstvoll.
»Nein, ich habe gar keine Nachrichten. Deshalb bin ich hier. Ich brauche nähere Informationen von Ihnen über Herrn Kunert.«
»Aber das habe ich dem Kollegen heute nacht doch schon alles erzählt.«
»Ich habe noch ein paar Fragen.«
Lisa berichtete noch einmal ausführlich, was sie über Michael Kunert wußte.
Endlich war der Kommissar zufrieden. »Wir werden jetzt Frau Kunert aufsuchen. Vielleicht kann sie uns Näheres über den Verbleib ihres Mannes sagen.«
»Informieren Sie mich dann?«
»Sie hören von mir.« Damit war das Gespräch beendet.
Die Polizisten verließen die Wohnung und stiegen in ihr Fahrzeug.
»Hast du die Adresse von Kunert notiert, Georg?« fragte Helmut Zettler seinen Kollegen.
»Hier ist sie.«
Kurze Zeit später trafen sie vor dem schmucken Einfamilienhaus von Iris und Michael Kunert ein.
»Ja, bitte?« fragte Iris verwundert, als sie die Tür öffnete. Sie war eine schlanke, hochgewachsene Frau mit dunklen Haaren, der man ihr Alter nicht ansah.
»Sind Sie Frau Kunert?«
»Ja, um was geht es?«
»Mein Name ist Zettler, Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege Georg Weidner.«
Iris erschrak. »Ist etwas passiert?«
»Wir müssen mit Ihrem Mann sprechen. Ist er zu Hause?«
»Nein, er ist auf Geschäftsreise.«
»Dürfen wir trotzdem hereinkommen?«
»Natürlich, bitte.« Iris öffnete die Tür ganz, um die Beamten einzulassen. Sie führte sie ins Wohnzimmer, das mit Antiquitäten aus aller Welt eingerichtet war.
»Sehr schön haben Sie es hier«, lobte Zettler und sah sich bewundernd um.
Iris war geschmeichelt.
»Nicht wahr? Ich bin sehr stolz auf meine Antiquitätensammlung.«
»Haben Sie beruflich damit zu tun?«
»Nein. Es ist ein Hobby von mir.«
»Ein sehr kostspieliges, nehme ich an.«
»In der Tat. Meine Eltern haben mir ein Vermögen hinterlassen, das es mir erlaubt, solche Hobbys zu pflegen«, erklärte Iris bereitwillig.
»Und Ihr Mann?«
»Michael? Er arbeitet als Geschäftsführer einer Künstleragentur.«
»Wo ist er jetzt?«
»Wie ich schon sagte, auf Geschäftsreise. Warum wollen Sie das wissen?«
»Ihr Mann steht unter dringendem Verdacht, ein Kind entführt zu haben.«
»Was sagen Sie da?« fragte Iris entsetzt.
»Sagt Ihnen der Name Christina von Berg etwas?«
»Ja. Sie war die Geliebte meines Mannes. Er hat es mir kürzlich erst gestanden.«
»Wußten Sie, daß es aus dieser Verbindung ein Kind gibt?«
»Auch das weiß ich. Wir wollen die Kleine zu uns nehmen. Die Mutter läßt sie ziemlich verwahrlosen und ist hoffnungslos überfordert mit der Erziehung.«
»Hat Ihnen Ihr Mann diese Geschichte aufgetischt?«
»Ich bitte Sie, Herr Kommissar, wie sprechen Sie über meinen Mann?«
Iris war empört.
»Sind Sie je auf die Idee gekommen, daß Ihr Mann Sie belügen könnte?«
»Warum sollte er das?«
»Das müssen Sie besser wissen als ich.«
Iris schwieg. Man sah ihrer Miene an, daß sie fieberhaft nachdachte. Schließlich entschloß sie sich zu sprechen.
»Michael wollte mir helfen. Mein Kinderwunsch blieb unerfüllt, und ich wurde depressiv. Da gestand er mir, daß er ein Kind mit einer anderen Frau hat. Er hat mir versprochen, alles zu regeln, damit wir das Mädchen bald adoptieren können. Seitdem geht es mir psychisch viel besser. Ich habe wieder eine Aufgabe. Sogar das Kinderzimmer habe ich schon eingerichtet. Wollen Sie es sehen?«
»Sie werden das Kind nicht adoptieren.«
»Warum nicht?«
»Wir vermuten, daß Ihr Mann seine Tochter entführt hat. Muriel von Berg ist seit gestern abend verschwunden. Erst gestern nachmittag war Ihr Mann bei Frau von Berg in der Klinik und hat ihr gedroht.«
Iris war sprachlos. »Aber er ist seit vorgestern in Italien.«
»Können Sie das beweisen?«
»Wir können ihn auf seinem Handy anrufen.«
»Das ist eine gute Idee. Versuchen wir’s.«
Der Versuch scheiterte. Michael Kunert ging nicht an den Apparat.
»Wahrscheinlich ist er gerade im Gespräch«, murmelte Iris hilflos.
»Ihr Mann hat Sie in jeder Hinsicht belogen. Christina von Berg ist keine schlechte Mutter, die ihr Kind vernachlässigt. Sie ist auch nicht überfordert, sondern liegt im Krankenhaus. Dort hat Ihr Mann sie besucht und gedroht, er werde ihr das Kind wegnehmen, wenn sie es nicht freiwillig herausgibt. Er hat bei der Frischoperierten eine postoperative Krise verursacht.«
»Bitte hören Sie auf. Ich kann nicht mehr!«
Iris begann zu weinen. Das alles war zu viel für ihre ohnehin angeschlagene Psyche.
Kommissar Zettler erhob sich. »Bitte informieren Sie mich umgehend, wenn Sie etwas von Ihrem Mann hören. Hier ist meine Nummer.« Er reichte ihr eine Karte und verabschiedete sich.
Zurück blieb eine am ganzen Körper zitternde Iris. Sie mußte einsehen, daß sie sich all die Jahre in ihrem Mann getäuscht hatte.
*
Lenni lief erfreut auf die Straße, als sie Fees Wagen vorfahren sah. Daniel Norden hatte sie telefonisch über die frohe Nachricht informiert.
»Ich bin ja so glücklich«, sagte sie, während sie Jan liebevoll aus dem Wagen half. »Schnell ins Bett mit dir, mein Kleiner, damit du dich ordentlich erholen kannst.«
»Schon wieder ins Bett!« maulte Jan. Er wollte viel lieber Fernsehen schauen. Aber Lenni war unerbittlich.
»Nichts da. Das Fernsehen läuft dir nicht davon.« Sie brachte ihn nach oben ins Bett.
Fee hörte die beiden noch eine Weile diskutieren, dann war alles still.
Schließlich kam Lenni die Treppe leise herunter. »Er schläft!« lächelte sie.
»Es war ja doch alles sehr aufregend für den Kleinen. Noch dazu ist er krank, wenn auch nicht so schlimm wie befürchtet«, seufzte Fee.
»Sie sehen müde aus«, stellte Lenni besorgt fest.
»Das bin ich auch. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Wenn Sie möchten, können Sie gleich Mittag essen und sich dann hinlegen.«
»Ich brauche nichts zu essen. Nur ein bißchen Ruhe. Kann ich Ihnen die Kinder überlassen?«
»Selbstverständlich, Frau Doktor. Aber ein wenig Suppe sollten Sie essen. Das gibt Kraft«, erklärte sie eifrig.
»Überredet. Was täten wir nur, wenn wir Sie nicht hätten!«
Lenni errötete, so sehr freute sie sich über das Kompliment. Sie brachte eine Grießnockerlsuppe, und Fee merkte, wie hungrig sie war, als ihr der köstliche Duft in die Nase stieg.
Nachdem sie gegessen hatte, warf sie noch einen Blick in Jans Zimmer. Friedlich lag er in seinem Bett und nur die Nasenspitze schaute heraus. Fee lächelte glücklich. Schließlich legte sie sich hin und schlief sofort ein.
Anian war schon lange in den Straßen unterwegs. Es war nicht leicht, die Orientierung zu behalten, denn es handelte sich um ein typisches Villenviertel. Kleine Straßen führten an den herrschaftlichen Häusern in den großen Gärten vorbei. Es gab keine freien Plätze oder gar Geschäfte, so daß man leicht den Überblick verlor. Für ein Kind war es geradezu unmöglich, sich nicht zu verlaufen.
Es waren nicht viele Menschen auf den Straßen an diesem sonnigen Vormittag, aber jedem, den Anian traf, zeigte er Muriels Bild, jedoch ohne Erfolg. Schließlich taten ihm die Beine weh, und auch sein Magen meldete sich. Er beschloß, die Suche zu unterbrechen. Unschlüssig stand er auf dem Gehsteig und versuchte sich zu erinnern, in welche Richtung er gehen mußte, als er ein leises Weinen vernahm. Aufgeregt drehte er sich um und versuchte die Richtung zu erkennen, aus der das Geräusch kam. Er rief Muriels Namen, bekam jedoch keine Antwort. Schließlich verstummte das Weinen. Anian lief an den Gärten entlang und spähte hinein.
Er rief noch einmal und erschrak, als eine dünne Stimme über seinem Kopf antwortete.
»Muriel?« rief er noch einmal.
»Ja!«
»Wo bist du?«
»Im Baumhaus.«
»So ein Mist, wo ist hier ein Baumhaus?« fluchte Anian und bog die Zweige eines Strauches auseinander. Da entdeckte er in dem Garten, an dessen Zaun er gerade stand, gut verborgen in den Zweigen einer Fichte das kleine Häuschen. Es schien solide gezimmert, hatte ein Fensterchen und eine Strickleiter, die in einem Loch im Boden des Hauses endete. Das war offenbar der einzige Weg, um hineinzugelangen.
Ohne einen weiteren Gedanke zu verschwenden, öffnete Anian das Gartentor und lief zu dem Baum.
»Muriel! Geht es dir gut?«
»Wer bist du?«
»Ich bin Anian. Ich habe dir gestern das Foto von deiner Mami geschenkt. Erinnerst du dich?«
»Ja.«
»Geht es dir gut?« wiederholte er angstvoll seine Frage.
»Ja. Aber ich trau’ mich nicht runter.«
Anian atmete auf.
»Hab’ keine Angst. Ich komme und hole dich.« Er betrachtete mißtrauisch die Strickleiter, die einen etwas morschen Eindruck machte und lief dann kurz entschlossen zum Haus. Dort klingelte er energisch. Es dauerte eine Weile, bis ihm geöffnet wurde.
»Ja, bitte?« fragte eine Dame mittleren Alters. Sie hatte ein weinendes Kleinkind auf dem Arm.
»Haben Sie eine Leiter?«
Entgeistert starrte die Frau Anian an. Dieser bemerkte seinen Fehler.
»Entschuldigen Sie, ich bin so aufgeregt. Mein Name ist Anian Fürst, und ich habe soeben in Ihrem Baumhaus ein kleines Mädchen gefunden, das seit gestern abend verschwunden ist.«
Die Frau fand ihre Fassung wieder. Sie stellte das Kleinkind auf den Boden und sah ihn überrascht an.
»Doch nicht die kleine Muriel?« rief sie aus.
»Kennen Sie sie?« fragte Anian überrascht.
»Aber natürlich. Mein Sohn ist in derselben Kindergartengruppe wie Muriel. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich heute morgen die schreckliche Nachricht hörte.«
»Bitte, ich brauche schnell eine Leiter. Sie traut sich nicht herunter.«
»Natürlich. Ich sage gleich Johannes Bescheid.« Sie rief ins Haus, und kurz darauf erschien ein älterer Herr im Hausmeisterkittel. »Johannes hilft mir bei der Instandhaltung des Hauses. Mein Mann ist selten zu Hause, und für solche Dinge hat er schon gar keine Zeit«, erläuterte sie, während sich die beiden Männer begrüßten. Schnell wurde eine Leiter geholt und an den Stamm der mächtigen Fichte gelehnt.
»Ich habe Rüdiger immer gesagt, daß das Baumhaus zu hoch ist, aber er wollte nicht hören«, beschwerte sich Frau Ebert und beobachtete angstvoll, wie Anian hinaufstieg.
»Muriel, wo bist du?« rief er, während er den Kopf durch das enge Loch steckte.
»Hier. Bitte halte mich fest.« Die Kleine krabbelte auf allen vieren auf Anien zu und klammerte sich an ihm fest.
Erleichtert schloß er sie fest in die Arme. So standen sie eine ganze Weile eng umschlungen und weinten Freudentränen. Schließlich löste sich Anian von Muriel und sah sie an.
»Jetzt mußt du ganz tapfer sein, kleine Prinzessin. Wir müssen wieder runter hier.«
»Ich weiß. Aber jetzt bist du bei mir. Da kann mir nichts passieren«, antwortete Muriel.
Hoffentlich hat sie recht, dachte Anian, während er den nicht ungefährlichen Abstieg begann. Mit einem Arm umklammerte er Muriel, mit der anderen Hand hielt er sich an den Sprossen der Leiter fest.
Endlich erreichten sie den sicheren Boden. Begeistert klatschten Frau Ebert und Johannes Beifall.
Vorsichtig stellte Anian Muriel auf den Boden.
»Geschafft, Prinzessin«, stellte er erleichtert fest. »Wie geht es dir?«
Die Kleine strahlte ihn an. Sie hatte die schlimmen Stunden allein in dem Baumhaus offenbar gut verkraftet, denn in ihren Augen blitzte es schon wieder.
»Gut. Es war ganz schön spannend. Ein richtiges Räubertochter-Abenteuer.«
Alle lachten, und Anian schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich glaube, von dir kann ich noch viel lernen. Was hast du dir nur dabei gedacht, als du da raufgeklettert bist?«
»Och, ich wollte doch nur ein bißchen spielen. Es ist so doof, immer nur drin zu sein.«
»Hast du gefragt, ob du rausgehen darfst?«
»Ja, den Herrn Doktor. Der hat’s erlaubt!«
»Und Lisa und Frau Wolrab?« forschte Anian weiter.
Betreten blickte Muriel zu Boden. »Ich wollte doch gleich wiederkommen!« murmelte sie.
»Das ist gründlich schiefgegangen. Wir haben uns alle große Sorgen gemacht, Muriel!« sagte Anian streng.
»Na, es ist ja alles noch einmal gutgegangen«, mischte sich Frau Ebert ein. »Darf ich Sie auf eine Tasse Tee einladen?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich werde Muriel besser sofort nach Hause bringen.«
»Sie haben recht. Auf jeden Fall freue ich mich sehr, daß alles in Ordnung ist. Und Rüdiger muß sich etwas einfallen lassen mit diesem unmöglichen Baumhaus. Das ist einfach nicht kindgerecht«, tadelte sie.
»Stimmt doch gar nicht. Das ist toll«, stellte Muriel entrüstet fest.
»War dir denn nicht kalt heute nacht?« fragte Anian.
»Nein, da sind Decken oben, und was zum Essen ist auch da. Ich hab’ ein paar Kekse genascht.« Schuldbewußt sah sie Frau Ebert an, die herzhaft lachte.
»Weißt du was, du kommst mal zum Spielen her. Hast du Lust?«
»Au ja!« freute sich Muriel.
»Aber nur, wenn jemand da ist, der auf euch aufpaßt«, wandte Anian ein. Dann verabschiedete er sich von der freundlichen Frau Ebert und ihrem Hausmeister, nachdem diese ihm den Heimweg erklärt hatten.
Anian staunte, denn es war gar nicht weit.
Zufrieden kuschelte sich Muriel in seine Arme. Das Abenteuer hatte sie doch müde gemacht, zumal sie vor kurzem noch krank gewesen war. Ansonsten schien sie keinen Schaden genommen zu haben.
Lisa wollte ihren Augen nicht trauen, als sie aus dem Fenster blickte und Anian mit Muriel im Arm die Straße entlanggehen sah.
»Frau Wolrab, sie kommen!« rief sie außer sich vor Erleichterung.
Helene Wolrab hatte sich immer noch nicht gefangen und sah Lisa mit leerem Blick an.
»Wer kommt?« fragte sie müde.
»Muriel kommt. Herr Fürst hat sie gefunden. Ich mache den beiden schnell die Tür auf.«
»Wie kann das sein?«
»Wir werden es gleich erfahren.«
Lisa war gerade an der Tür, als es auch schon klingelte. Sie drückte den Türöffner, und kurze Zeit später darauf standen Anian und Muriel vor ihr.
»Mein kleiner Schatz. Da bist du ja wieder«, rief Lisa. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, als sich die Kleine mit einem Ausruf der Freude in ihre Arme warf.
»Wo bist du denn gewesen?«
Anian stand etwas abseits und beobachtete die rührende Szene. Als er sah, daß sich Helene Wolrab unsicher den Gang in Richtung Haustür tastete, eilte er ihr zu Hilfe.
Ihr Gesicht war gekennzeichnet von ungläubigem Staunen. »Ich habe gefürchtet, daß ich das Kind nie wiedersehe«, stammelte sie leichenblaß.
»Es ist ja alles noch mal gutgegangen. Wie fühlen Sie sich, Frau Wolrab?« fragte Anian besorgt.
»Sehr schwach. Ich möchte mich gern hinlegen.«
Fragend sah Anian zu Lisa, die Muriel immer noch in den Armen hielt, das Gespräch aber unter Tränen mitverfolgte. Als sie Anians Blick bemerkte, nickte sie, stellte Muriel auf den Boden und führte Helene ins Wohnzimmer. Dort bettete sie sie auf die Couch.
»Ich werde Dr. Norden rufen«, sagte sie, als sie die Wohnzimmertür leise hinter sich geschlossen hatte.
»Was ist mit Leni?« fragte Muriel besorgt.
»Ich fürchte, die Aufregung war ein bißchen viel für sie.«
»Aber mir ist doch nichts passiert«, konstatierte sie arglos.
»Das konnten wir ja nicht wissen, Kleines«, sagte Lisa ernst. Dann ging sie zum Telefon und wählte die Nummer von Dr. Norden. Auch er freute sich über alle Maßen, daß Muriel wieder gesund und munter aufgetaucht war. Er versprach, in seiner Mittagspause gleich vorbeizukommen, um nach Helene Wolrab
zu schauen. Dann erinnerte er Lisa daran, die Polizei zu informieren.
Lisa erschrak. »Das hab’ ich in der Aufregung ganz vergessen.«
»Sie sollten es gleich erledigen. Bis später, Frau Thaler.«
»Vielen Dank, Herr Doktor.«
Glücklicherweise erreichte Lisa Kommissar Zettler sofort. Auch er äußerte sich erleichtert über Muriels Auftauchen und versprach, die Suche sofort abzubrechen. Trotzdem war der Fall für ihn noch nicht erledigt. Auch wenn es nicht seine Pflicht war, so interessierte er sich dennoch dafür, wo Michael Kunert steckte, damit er Christina von Berg und ihre Tochter in Zukunft nicht mehr belästigte.
Darüber sprach er allerdings nicht mit Lisa.
Endlich waren alle Telefonate erledigt, und Lisa konnte sich endlich bei Muriels Retter bedanken. Als sie nach ihm suchte, fand sie ihn in Muriels Zimmer. Er machte ihr ein Zeichen, daß sie leise sein sollte, denn die Kleine war soeben eingeschlafen. Liebevoll strich er ihr über die lockigen Haare und schlich dann aus dem Zimmer.
Lisa stand in der Tür und beobachtete die Szene. Wie liebevoll er mit ihr umgeht, dachte sie bei sich. Er wäre ein wundervoller Vater für sie. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie schließlich, als sie in der Küche saßen. Anian hatte ein Glas Bier vor sich stehen, aus dem er einen tiefen Schluck nahm, während sie ihm etwas zu essen machte.
»Das war doch selbstverständlich«, antwortete er. »Bitte erzählen Sie mir, wo sie sie gefunden haben.«
Anian schilderte genau seine hoffnungslose Suche, und Lisa hörte ihm ergriffen zu. Als er geendet hatte, blickte sie ihn voll tiefer Zuneigung an.
»Sie sind ein wahrer Engel«, sagte sie gerührt.
»Sie dürfen nicht übertreiben. Ich habe eben Glück gehabt.«
»Und Sie haben nicht aufgegeben. Aber jetzt will ich Sie nicht länger mit meinen Fragen belästigen. Sie sind sicher sehr hungrig. Lassen Sie es sich schmecken.«
Anian bedankte sich. Er war wirklich hungrig und aß das Kotelett und den Kartoffelsalat, der vom Vortag übriggeblieben war, mit großem Appetit. Noch während er aß, klingelte es an der Tür.
Lisa sprang auf.
»Das wird Dr. Norden sein.«
So war es auch. Der Arzt begrüßte sie freundlich und ging gleich zu Helene Wolrab.
Nachdem er ihren Blutdruck gemessen hatte, wiegte er bedenklich den Kopf.
»Was ist mit mir, Herr Doktor?« fragte Helene schwach.
»Ich würde Sie gern zur Beobachtung in die Klinik schicken. Sie haben einen Schock erlitten. Ein paar Tage Erholung würden Ihnen guttun.«
»Sie haben mein vollstes Vertrauen.«
»Das ehrt mich. Dann veranlasse ich alles Nötige.« Daniel griff nach seinem Handy und informierte die Kollegen in der Behnisch-Klinik. Sie versprachen, sofort einen Krankenwagen zu schicken.
Daniel wartete bei Helene Wolrab, bis der Wagen eintraf.
Lisa hatte unterdessen mit Helenes Einverständnis einige Sachen aus ihrer Wohnung geholt und in eine Reisetasche gepackt. Als Daniel erwähnte, daß sich Christina in derselben Klinik befand, war Anian einen kurzen Moment versucht, gleich mitzufahren, um sie zu besuchen. Doch er wollte sie nicht überfallen. Sie sollte zur Ruhe kommen und erst richtig gesund werden.
*
Seit dem Besuch des Kommissars hatte Iris Kunert keine ruhige Minute mehr gehabt. Sie ahnte, daß Kommissar Zettler mit seiner Vermutung recht haben könnte und ihr Mann sie schon seit Jahren belog.
Bis zu dem Tag, an dem Michael ihr seinen Seitensprung gestanden hatte, hatte sie keinen Verdacht geschöpft. Er war immer äußerst zuvorkommend und liebenswürdig und hatte sich keine Blöße gegeben. Die große Leidenschaft war es schon lange nicht mehr zwischen ihnen gewesen, darüber waren sich beide im klaren, doch nach siebzehn Jahren Ehe hielt Iris diesen Umstand für ganz natürlich. Wenn sie allerdings jetzt darüber nachdachte, sah sie die Beziehung zu ihrem Mann in einem neuen Licht. All die kleinen Ungereimtheiten, wenn er ihr erklärte, warum er am Wochenende nicht bei ihr sein konnte, die vielen Geschäftsreisen und die horrend hohen Kreditkartenabrechnungen ergaben plötzlich einen Sinn. Ihre Depressionen hatten Iris in den letzten Jahren die Sinne vernebelt, doch plötzlich sah sie sonnenklar. Es war wie ein heilsamer Schock.
Eine gesunde Wut überkam Iris. Nach einer durchwachten Nacht, in der sie ein Resümee gezogen hatte, beschloß sie, sich von Michael zu trennen und ihm alle finanziellen Mittel zu entziehen. Sie war so klug gewesen, bei ihrer Eheschließung einen Ehevertrag aufzusetzen, den Michael zähneknirschend unterschrieben hatte. So hatte er auch keine rechtlichen Möglichkeiten, bei einer Scheidung einen Teil des Vermögens einzuklagen.
Als der Anruf von Kommissar Zettler kam, daß Michael in der Angelegenheit von Berg entlastet war, da es sich nur um einen Kinderstreich gehandelt hatte, fühlte Iris sich erleichtert. Alle Last war nun von ihren Schultern genommen, da sie sich indirekt mitschuldig am Verschwinden Muriels gefühlt hatte.
In dieser Stimmung traf Michael Kunert seine Frau an, als er am frühen Nachmittag das Haus betrat. Sie saß auf der weißen Ledercouch im Wohnzimmer und sah umwerfend aus.
Mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen begrüßte sie ihn. »Hallo Schatz. Darf ich fragen, wo du gewesen bist?«
»Das weißt du doch. Ich war in Bozen auf einem Nachwuchswettbewerb für junge Sänger.« Er runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht?« fragte er unsicher.
»Hast du nicht gehört, daß die kleine Muriel von Berg verschwunden ist?«
Michael wurde blaß. »Davon habe ich keine Ahnung«, antwortete er wahrheitsgemäß.
Iris genoß ihren Triumph in vollen Zügen. Sie wollte ihn aufs Glatteis führen, und das schien zu gelingen. »Gott sei Dank hast du ein gutes Alibi. Kommissar Zettler geht nämlich davon aus, daß du die Kleine entführt hast. Es ist nämlich bekannt geworden, daß du Christina von Berg bedroht und unter Druck gesetzt hast.«
Michaels Entsetzen war unübersehbar. Fieberhaft überlegte er eine Ausrede, während seine Frau sein wechselhaftes Mienenspiel amüsiert beobachtete.
»Hör zu, Iris. Ich muß mit dir reden«, sagte er schließlich.
Er kämpfte sichtlich mit sich, und die Worte kamen nur zögernd über seine Lippen.
»Ich höre!«
»Ich habe alles doch nur dir zuliebe getan«, beteuerte er.
»Das ehrt dich. Aber das ist nur die eine Seite. Du hast mich belogen. Du hast mir erzählt, Christina von Berg sei eine schlechte Mutter und überfordert obendrein. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein.«
Schuldbewußt blickte er zu Boden. »Das habe ich nur für dich getan!«
»Ich sehe das anders. Mir ist seit gestern einiges klargeworden, mein Lieber. Aber das sage ich dir später. Was ist mit deinem Alibi? Soll ich deinen Chef anrufen und mich nach dem Wettbewerb in Bozen erkundigen?« fragte sie maliziös lächelnd.
»Bitte, tu das nicht«, flehte er erschrocken.
»Was hast du zu verbergen? Ich bin mir sicher, daß eine andere Frau im Spiel ist. Wie heißt sie?«
Michael blickte erstaunt auf. »Woher weißt du das?«
»Ich bitte dich, Micha, ich kann doch eins und eins zusammenzählen.«
»Also gut. Es ist Melanie.«
Bei diesen Worten verengten sich Iris’ Augen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihre beste Freundin Melanie also!
»Seit wann?« fragte sie mit schneidender Stimme.
»Bitte, Iris, du darfst dich nicht aufregen. Das ist nicht gut für deine Nerven.«
»Ich entscheide selbst, was gut ist für mich und was nicht.« Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Beantworte meine Frage!«
»Seit zwei Jahren«, flüsterte Michael mit gesenktem Blick.
Iris sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. Ihre Absätze klapperten auf dem hellen Marmor.
Michael wagte nicht, sie anzusehen.
Schließlich blieb sie vor ihm stehen.
»Ich bin froh, daß alles so gekommen ist. Diese Ereignisse haben mir endlich die Augen geöffnet. Unterbewußt habe ich schon lange gespürt, daß etwas nicht stimmt zwischen uns und habe mich in einen Kinderwunsch hineingesteigert, weil ich dachte, ein Kind könnte unsere Beziehung retten. Heute weiß ich, wie falsch ich lag. Aber daß es ausgerechnet Melanie ist, mit der du mein Geld verjubelst, das werde ich dir nicht verzeihen. Niemals! Und jetzt hast du fünf Minuten Zeit, deine Koffer zu packen und zu ihr zu gehen. Ich habe meine Zeit schon viel zu lange mit dir verschwendet. Ab heute genieße ich mein Leben wieder. Und zwar ohne dich!«
Die letzten Worte hatte sie fast geschrien. Sie verlor nie die Kontrolle über sich, doch auf einmal merkte sie, wie gut es tat, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.
»Ich kann dir alles erklären«, versuchte er es noch einmal. Doch ein Blick seiner Frau genügte, daß er verstummte.
Kurze Zeit darauf verließ Michael Kunert mit gesenktem Kopf das Haus seiner Frau.
*
Helene Wolrab war gut untergebracht in der Behnisch-Klinik. Die Schwestern kümmerten sich rührend um sie, und sie genoß die Ruhe nach all der Aufregung. Der Schreck über Muriels Verschwinden saß tief, und nachts wachte sie oft schweißgebadet auf. Sie hatte das Gefühl einer tiefen Müdigkeit in sich, was Daniel Norden große Sorgen bereitete.
»Wie geht es Ihnen heute, Frau Wolrab?« fragte er, als er sie eines Morgens vor seiner Sprechstunde kurz besuchte.
»Ganz gut, Herr Doktor«, antwortete sie mit einem matten Lächeln. »Aber die rechte Lebenslust mag sich nicht mehr einstellen.«
»Ich mache mir große Sorgen um Sie. Organisch gesehen sind Sie völlig gesund. Und doch sind Sie immer noch sehr schwach.«
»Ich weiß nicht, ob das alles noch Sinn macht.«
»So dürfen Sie nicht reden. Schauen Sie sich doch um. Der Frühling kommt, die Vögel singen wieder und Sie haben eine nette Untermieterin mit einer reizenden Tochter. Was wollen Sie mehr?«
»Ich fühle mich mitschuldig am Verschwinden von Muriel. Ich darf gar nicht dran denken, was alles hätte geschehen können«, antwortete Helene.
»Bei Kindern ist man vor Überraschungen nie gefeit, egal wie sehr man sie behütet. Und es ist doch alles wieder gut. Freuen Sie sich nicht darüber?«
»Doch, natürlich. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr für noch mehr Aufregung.«
»Das Leben hat doch auch viele schöne Seiten.«
»Das bestreite ich gar nicht.«
»Ich bitte Sie, Frau Wolrab. Versuchen Sie es noch einmal. Mir zuliebe«, bat Daniel sie lächelnd.
Sie sah ihn an. »Sie sind ein sehr guter Arzt. Ich werde darüber nachdenken. Und jetzt bin ich müde.«
Daniel stand noch eine Weile an ihrem Bett. Helene hatte die Augen geschlossen. Schließlich verabschiedete er sich leise und verließ das Krankenzimmer.
»Was ist mit dir, Daniel?« fragte Jenny, als sie ihn mit ernster Miene auf dem Krankenhausflur traf.
»Ich mache mir Sorgen um Frau Wolrab. Sie macht einen sehr müden Eindruck. Hoffentlich geht ihr die Energie zum Weiterleben nicht aus.«
»Was fehlt ihr denn?«
»Sie hatte einen schweren Schock. Christina und Muriel von Berg wohnen bei ihr und sind eine zweite Familie für sie geworden. Das Verschwinden von Muriel hat sie sehr mitgenommen.«
»Muriel sollte sie so schnell wie möglich besuchen und ihr neuen Lebensmut machen.«
»Du hast recht. Ich werde noch heute mit Frau Thaler sprechen. Sie soll mit Muriel hierher kommen.«
Nachdem er sich von Jenny verabschiedet hatte, betrat Daniel leise Christinas Zimmer. Sie hatte in einem Buch gelesen, das sie jetzt aufs Bett sinken ließ.
»Hallo, Herr Dr. Norden. Sie sind ja ganz schön früh auf den Beinen.«
»Ich muß mich doch nach meinen Sorgenkindern erkundigen«, lächelte er.
»Ich bin kein Sorgenkind mehr. Gestern abend haben mich Lisa und Muriel besucht. Den beiden scheint es prächtig zu gehen. Das beruhigt mich sehr.«
»Es ist sehr wichtig für Ihre Genesung, daß Sie positiv in die Zukunft schauen. Haben Sie etwas von Michael Kunert gehört?«
»Stellen Sie sich vor, Lisa bekam gestern abend einen Anruf von seiner Frau. Sie hat erzählt, daß er sie angelogen hat und sie mir das Kind niemals wegnehmen wollte. Sie hat ihn rausgeworfen«, berichtete Christina vergnügt.
»Dann droht Muriel von ihm keine Gefahr mehr?«
»Ich denke nicht. Er ist froh, wenn er keine Verantwortung übernehmen muß.«
Dann verdunkelte sich ihre Miene. Offenbar war ihr etwas Unangenehmes eingefallen.
»Woran denken Sie?«
»In der Nacht bevor ich operiert wurde, hatte ich einen schrecklichen Traum, in dem Muriel von Michael entführt wurde. Es klingt vielleicht lächerlich, aber ich hatte das Gefühl, gewarnt worden zu sein. In den ersten Tagen hier in der Klinik war ich sehr verzweifelt, daß ich mein Kind nicht beschützen konnte. Aber der Traum hat sich ja Gott sei Dank nicht bewahrheitet.«
»Trotzdem ist es gut, auf seine innere Stimme zu hören«, stellte Daniel fest.
Christina bemerkte den ernsten Unterton in seiner Stimme. »Ist etwas geschehen, wovon ich nichts weiß?« fragte sie überrascht.
»Sie haben sich jetzt soweit erholt, daß Sie ein Recht auf die Wahrheit haben.«
Christina erschrak. »Was ist passiert?«
Daniel schilderte ihr die Vorkommnisse, die sich ein paar Tage zuvor zugetragen hatten. Er versäumte es auch nicht zu erwähnen, daß sich Helene Wolrab auch in der Klinik befand. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, wie er betonte.
Christina lauschte mit angehaltenem Atem.
»Der junge Mann, Anian Fürst heißt er, hat sich vorbildlich benommen. Ich habe es selten erlebt, daß sich ein Fremder so selbstlos eingesetzt hat, um ein Kind zu retten«, schloß Daniel seinen Bericht.
»Und das alles haben Sie mir verschwiegen?«
Christina konnte es nicht glauben.
»Ihre Gesundheit ging vor.«
»Dann war der Traum tatsächlich eine Warnung, und ich konnte nichts unternehmen.«
»Statt dessen wurde Muriel ein rettender Engel geschickt, um es romantisch auszudrücken.«
Eine zarte Röte war in Christinas Gesicht, als sie an Anian dachte, den sie so entschieden abgewiesen hatte. Vielleicht sollte sie in Zukunft doch mehr auf ihr Herz hören, und nicht nur dem Verstand folgen.
»Wo ist Herr Fürst jetzt?« fragte sie leise.
»Soviel ich weiß, ist er für zwei Wochen beruflich verreist. Ihre Freundin Lisa weiß mehr darüber.«
Daniel erhob sich.
»Eine Frage noch, Herr Dr. Norden. Kann ich Leni besuchen? Es tut mir so leid, daß die Ärmste wegen uns so leiden mußte.«
»Vielleicht tut ihr ein Besuch ganz gut. Ehrlich gesagt mache ich mir ein bißchen Sorgen um sie. Aber sie ist eine starke Persönlichkeit.«
»Gemeinsam schaffen wir es!« antwortete Christina inbrünstig.
Ihr war auf einmal so leicht ums Herz, daß sie an nichts Negatives denken konnte.
Kaum hatte Daniel das Zimmer verlassen, griff Christina nach dem Telefon, das neben dem Bett stand. Mit zitternden Händen wählte sie ihre eigene Nummer, um mit Lisa zu sprechen, die ja Urlaub hatte, um Muriel betreuen zu können.
»Hier spricht Mami, hallo mein Mäuschen«, begrüßte sie ihre Tochter, die den Hörer abnahm.
»Mami, wie geht’s dir?« rief Muriel freudig.
»Prächtig. Ich glaub’, ich darf bald heimgehen. Und was machst du so?«
»Ich bin wieder ganz gesund. Morgen darf ich in den Kindergarten gehen. Mir ist eh schon so langweilig.«
»Das ist schön. Kann ich mal mit Lisa sprechen?«
»Ja, klar. Wir besuchen dich heute noch. Tschüß!«
Damit reichte Muriel den Hörer weiter. Lisa wußte nicht, was sie sagen sollte, als sie Christinas Stimme hörte.
»Tini, ich muß dir was erklären«, stammelte sie.
»Nicht nötig. Dr. Norden hat mir vorhin von eurem Abenteuer erzählt.«
Erleichtert atmete Lisa auf. »Hoffentlich hast du dich nicht zu sehr aufgeregt.«
»Es ist ja alles gut gegangen.«
Sie zögerte.
»Dank Anian«, setzte sie dann leise hinzu.
»Er ist ein wahrer Schatz. Und Muriel hat ihn schon ins Herz geschlossen«, erzählte Lisa.
»Warum ist er überhaupt zu uns gekommen?« forschte Christina nach.
»Er wollte dir die Fotos bringen.«
»So schnell?«
»Als er hörte, daß du in der Klinik bist, hat er Muriel eines geschenkt. Ich bringe es nachher mit, es wird dir gefallen.«
»Wo ist Anian jetzt? Ich bin nicht sehr freundlich zu ihm gewesen und möchte mich gern entschuldigen und bedanken.«
»Das wird schlecht gehen. Er ist beruflich unterwegs.«
»Hast du seine Handy-Nummer?«
»Ja. Er hat sie dagelassen, damit Muriel mit ihm telefonieren kann.«
»Die beiden scheinen sich wirklich zu mögen. Dabei ist Muriel nicht vertrauensselig«, meinte Christina erstaunt.
»Die beiden haben einen Draht zueinander. Das sieht man sofort. So einen Vater wünsche ich der Kleinen«, fügte Lisa hintergründig hinzu.
»Das entscheide immer noch ich«, erklärte Christina und war froh, daß Lisa ihr flammend rotes Gesicht nicht sehen konnte. Sie notierte die Nummer, die Lisa ihr durchgab und verabschiedete sich dann.
*
Schweren Herzens war Anian zu der lange geplanten Fotoreportage aufgebrochen. Die Reise führte ihn durch mehrere Städte, in denen er Sehenswürdigkeiten in ungewöhnlichen Perspektiven aufnehmen sollte. Die Arbeit interessierte ihn sehr, dennoch war er mit seinen Gedanken ständig bei Christina und Muriel.
Am Abend, wenn er nach dem Essen mit seinem Team allein im Zimmer saß, kam er ins Grübeln. Konnte er hoffen, daß Christina seine Liebe erwiderte? Manchmal war er sich sicher, daß auch sie die Magie zwischen ihnen gespürt haben mußte. Dann geriet er wieder ins Wanken und konnte sich nicht vorstellen, sie je überzeugen zu können, so deutlich war ihre Abweisung gewesen. Um so überraschter war er, als er eines Tages auf seinem Handy eine Nachricht empfing.
Christina war dafür extra abends in den Klinikgarten gegangen, da sie wußte, daß Handys im Krankenhaus verboten waren. Lange hatte sie überlegt, was sie ihm schreiben sollte und beschränkte sich schließlich auf herzliche Dankesworte.
Prompt erhielt sie eine Antwort, und es entspann sich ein lebhafter Schriftwechsel, bis Anian schließlich darum bat, sie anrufen zu dürfen.
Christina war mehr als einverstanden damit, da sie in der noch kalten Frühlingsluft zu frieren begann. Kaum hatte sie ihr Zimmer wieder betreten und war in ihr warmes Bett geschlüpft, da klingelte auch schon der Apparat. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie, als sie die tiefe, wohlklingende Stimme von Anian erkannte.
Sie telefonierten fast zwei Stunden miteinander, und Christina schien es, als würde sie ihn schon ewig kennen. Sie fanden, daß sie viele gemeinsame Interessen hatten, lachten über die gleichen Dinge und schwiegen schließlich in tiefem Einverständnis.
Als Christina den Hörer endlich behutsam auflegte, hatte sich alles verändert. Obwohl er nicht von seiner Liebe zu ihr gesprochen hatte, hatte sie doch die Zärtlichkeit in seiner Stimme wie sanftes Streicheln auf der Haut empfunden. Wohlig schmiegte sie sich in die Kissen. Sie sah ihn deutlich vor sich und erinnerte sich an seine sanften dunklen Augen, bevor sie einschlief.
Ruhig und entspannt konnte sie schlafen, keine bösen Träume störten ihren Schlummer.
*
In den folgenden Tagen gab es ausgesprochen schönes mildes Frühjahrswetter.
Langsam erholte sich Helene Wolrab. Sie bekam jetzt täglich Besuch von Christina, die wann immer es möglich war, Muriel mitbrachte. Oft sprachen sie von Muriels großem Abenteuer, was Helene half, die schlimmen Stunden zu verarbeiten. Eines Tages kam Christina mit einer besonders guten Nachricht.
»Stell dir vor, Lenchen, morgen dürfen wir alle zusammen nach Hause gehen!«
»Wirklich! Das ist ja eine schöne Überraschung.« Helene freute sich aufrichtig. Lange Tage hatte sie gefürchtet, ihr Zuhause nie mehr wiederzusehen, doch mit Hilfe von Muriels kindlichem Ungestüm und einer nicht wiederzuerkennenden Christina war das scheinbar Unmögliche wahr geworden.
»Und in ein paar Tagen wird Anian auch zurück sein«, sagte Christina wie zu sich selbst.
»Du freust dich wohl sehr auf ihn!« stellte Helene lächelnd fest.
Selbst in ihrem schlechten Zustand war ihr Christinas Veränderung nicht verborgen geblieben.
»Ich bin mir nicht sicher«, war die überraschende Antwort.
»Was ist los, Kindchen?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn ja erst einmal gesehen. Und das ist Wochen her.«
»Aber ihr telefoniert doch jeden Tag.«
»Ja, schon. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll.«
»Warum läßt du es nicht einfach auf dich zukommen? Hab Vertrauen zu dir selbst. Du wirst es schon richtig machen.«
Christina sah sie zweifelnd an. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten, aber im Innern war sie zuversichtlich. Das wurde ihr nur noch nicht so richtig bewußt.
Am nächsten Morgen holte Lisa zusammen mit Muriel die beiden Genesenden nach Hause. Christina sollte sich noch zwei Wochen schonen, ehe sie wieder mit den Proben begann. Auch Helene Wolrab war noch etwas schwach auf den Beinen. Sie fühlte sich jedoch bedeutend besser und lehnte eine Betreuung durch Christina kategorisch ab. Ein bißchen Bewegung würde ihr guttun und dafür sorgen, daß sie schneller wieder fit würde, stellte sie überzeugt fest.
»Endlich wieder daheim«, seufzte Christina, als sie die Wohnungstür aufschloß.
Lisa folgte ihr mit dem Gepäck und Muriel sprang wie ein junges Kätzchen um sie herum und freute sich.
»Warum bist du nur so aufgedreht?« wunderte sich Christina.
Dann stockte ihr der Atem.
»Überraschung!« riefen Muriel und Lisa wie aus einem Mund.
In der Küchentür stand Anian und lachte fröhlich, als er Christinas Gesicht sah.
»Was machst du denn hier?« stammelte sie. »Du wolltest doch erst in ein paar Tagen kommen.«
»Ich habe es nicht mehr ausgehalten ohne euch!« sagte er und machte einen Schritt auf sie zu.
Weiter kam er nicht. Muriel stürzte sich auf ihn, und er fing sie lächelnd auf.
»Nicht so wild, kleine Räubertochter, ich bin nicht mehr so jung wie du!«
»Ich spiel’ trotzdem mit dir, da hast du Glück.«
Sie machte ein trotziges Gesicht, als alle lachten. »Ist doch wahr. Große Jungs sind oft so richtig blöd. Aber du nicht!« Sie schmiegte sich an Anian.
»Das ist ein tolles Kompliment«, bedankte er sich.
Mit einem entschuldigenden Blick auf Christina und Lisa folgte er Muriel, die ihn ins Kinderzimmer zog.
»Ist es nicht unglaublich?« fragte Lisa, als sie Christinas Blick bemerkte.
»Ich wußte, daß sie ihn mag. Aber jetzt bin ich sprachlos. Seit wann ist er da?«
»Er ist gestern abend zurückgekommen. Seit heute morgen nervt er mich, wie er dich begrüßen soll. Aber das hat Muriel Gott sei Dank auf ihre ungestüme Art geklärt.«
Christina mußte lächeln. »Mir ist es genauso gegangen. Ich habe mit Leni darüber gesprochen.«
»Warum macht ihr es euch so schwer?« fragte Lisa kopfschüttelnd. »Ihr wißt, daß ihr euch liebt. Wo ist also das Problem?«
»Das verstehst du nicht.«
»Offenbar nicht. Aber ich überlasse euch jetzt eurem Schicksal. Ich muß mich mal wieder im Büro blicken lassen.«
Lisa umarmte ihre Freundin herzlich.
»Vielen Dank für alles. Wie soll ich das nur je wieder gutmachen?«
»Darüber reden wir ein anderes Mal«, sagte Lisa geheimnisvoll und verließ lachend die Wohnung.
Christina ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. Leise Geräusche drangen aus dem Kinderzimmer an ihr Ohr. Sie schloß die Augen.
*
Als Christina erwachte, war es still um sie. Verwirrt richtete sie sich auf und sah in die dunklen, sanften Augen, von denen sie so oft in letzter Zeit geträumt hatte.
»Anian«, flüsterte sie und spürte, wie ihr Herz wild zu klopfen begann. »Wo ist Muriel?«
»Sie besucht Frau Wolrab. Ich hoffe, wir haben ein paar Minuten für uns allein«, antwortete er mit rauher Stimme.
»Wie lange habe ich geschlafen?« stammelte sie verlegen.
»Ich weiß es nicht. Ich habe dich eben hier schlafend gefunden. Es war ein wunderschöner Anblick.«
Ein nie gekanntes Gefühl durchströmte Christina bei diesen zärtlichen Worten, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Er bemerkte es bestürzt. »Hab ich was Falsches gesagt?« fragte er unsicher.
»Nein, nein«, beruhigte sie ihn. »Es ist nur… ich war noch nie so glücklich.«
»Ich werde alles tun, damit das so bleibt«, flüsterte er zärtlich.
Ohne ein Wort zu sagen, schmiegte sie sich eng an ihn und ließ den Tränen freien Lauf. Als sie sich beruhigt hatte, trocknete er ihr behutsam das Gesicht. Sie hob den Kopf und sah ihn voller Liebe an. Da beugte er sich über sie und küßte ganz zart ihre Lippen. Christina erbebte und erwiderte seine Küsse. Ihre Unsicherheit schmolz dahin, bis nichts als eine tiefe Vertrautheit übrig war. Endlich lösten sie sich voneinander.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht!« gestand sie ihm zögernd.
»Mir ging es genauso. Hundertmal habe ich überlegt, was ich dir zuerst sagen soll.«
»Manchmal bedarf es nicht vieler Worte.«
Zärtlich streichelte sie sein Gesicht, um sich jede Linie genau einzuprägen.
Wieder beugte sich Anian über sie, um sie leidenschaftlich zu küssen.
*
Fee Norden stand in Jans Zimmer und blickte hinunter in den Garten. Es war frühlingshaft warm, und sie hatte ihrem jüngsten Sohn erlaubt, ein wenig draußen zu spielen.
Maulend hatte er ihr versprochen, nicht herumzutoben, da er seine Krankheit immer noch nicht ganz überstanden hatte.
Glücklich lächelnd wandte sie sich schließlich ab.
»Ist es nicht herrlich, Lenni?« Bei Sonnenschein ist man gleich ein anderer Mensch.«
»Da geb’ ich Ihnen recht. Sogar die Arbeit geht einem leichter von der Hand.«
»Ist heute schon Post gekommen?«
»Sie liegt drüben auf der Anrichte.«
»Danke, Lenni.«
Fee nahm den Stapel Briefe an sich und ging hinüber ins Eßzimmer. Sie genoß es, einen freien Vormittag zu haben und schenkte sich eine Tasse Tee ein, um dann in Ruhe die Post durchzusehen.
Ein Kuvert erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Es war aus schönem, marmoriertem Papier, geziert mit einer schwungvollen Handschrift. Da der Brief an Familie Dr. Norden adressiert war, holte Fee den silbernen Brieföffner und schlitzte es vorsichtig auf. Zwei Eintrittskarten fielen heraus und ein Schreiben lag bei.
Lieber Dr. Norden, auf diese Weise möchte ich mich herzlich bei Ihnen für Ihre Fürsorge und Mühe bedanken. Da Ihre Frau sicherlich oft auf Sie verzichten muß, dachte ich, ein gemeinsamer Konzertbesuch wäre eine gute Idee. Ich hoffe, Sie können meiner Einladung folgen. Mit besten Grüßen Christina von Berg
Fee legte den Brief beiseite und betrachtete die Eintrittskarten.
Es handelte sich um ein klassisches Konzert, in dem die Sopranistin Christina von Berg Werke von Mozart vortragen würde. Fee freute sich sehr. Sie liebte Mozart und bedauerte es sehr, daß sie nicht öfter Gelegenheit zu einem Konzertbesuch hatte.
Als Daniel am Mittag nach Hause kam, zeigte sie ihm gleich den Brief.
»Sieh mal, Daniel, was heute gekommen ist. Es war an Familie Norden adressiert, deswegen habe ich ihn geöffnet«, entschuldigte sich Fee.
»Ich habe keine Geheimnisse vor dir, das solltest du inzwischen wissen.«
»Darum geht es gar nicht. Ich finde immer noch, daß Post eine Privatangelegenheit ist.«
»Nicht so streng, Frau Doktor«, lächelte Daniel und nahm das Kuvert, das ihm Fee hinhielt.
Auch er freute sich sehr über die willkommene Abwechslung. Der Termin wurde im Kalender festgehalten und beide hofften, daß nichts dazwischenkommen würde.
Sie hatten Glück, was keine Selbstverständlichkeit war.
Endlich kam der große Tag des Konzertes. Es war Christinas erster öffentlicher Auftritt nach ihrer Operation, und sie war schöner als je zuvor. Nervös hatte sie auf den Termin hingefiebert und sich perfekt vorbereitet, wie es ihre Art war. Alle Menschen, die ihr wichtig waren, hatte sie zu dem Ereignis eingeladen. Lisa und ihr Freund Markus kamen, ebenso wie Helene Wolrab und die Familie Norden.
Anian durfte natürlich auch nicht fehlen und dieser Umstand machte Christina besonders nervös.
Das Konzert war restlos ausverkauft, was nicht nur an Christinas klangvoll schöner Stimme, sondern auch an dem renommierten Orchester lag, das sie begleitete.
Langsam füllte sich der Saal. Wie immer fieberte Christina auf den Moment hin, daß sie endlich auf die Bühne treten konnte. Sie wußte aus Erfahrung, daß alle Nervosität von ihr abfallen würde, wenn dieser Moment gekommen war.
Auch die Familie Norden war schon anwesend und wartete gespannt auf das Konzert.
Fee sah bezaubernd aus in ihrem schwarzen Kostüm, das ihre schlanke Figur noch betonte.
Daniel betrachtete sie liebevoll.
»Man sollte nicht meinen, daß du fünf Kinder geboren hast«, raunte er ihr stolz zu.
»Alles eine Frage der Disziplin«, antwortete sie lächelnd. »Der Smoking steht dir aber auch nicht gerade schlecht.« Da ertönte schon der Gong, der sie auf ihre Plätze rief.
Schließlich hatten alle Gäste Platz genommen.
Anian und alle anderen Freunde saßen in der vordersten Reihe und waren genauso aufgeregt wie Christina.
Der Dirigent hob den Taktstock und klopfte gegen das Pult. Schlagartig verstummte das Raunen im Saal. Leise erhob sich die Musik im Raum, schwoll an und wurde wieder leiser, als Christinas glockenreine Stimme einsetzte. Das Publikum war verzaubert. Die Sopranistin war noch nicht auf der Bühne zu sehen, nur ihre Stimme schallte durch den Saal.
Anian lief es eiskalt den Rücken hinunter. Erst einmal hatte er Christina singen hören, und sie hatte die Liebe zur klassischen Musik in ihm erweckt. Aber jetzt war es noch mehr. Nie hatte er dabei sein dürfen, wenn sie geprobt hatte. Jetzt verstand er den Grund. Sie wollte perfekt sein für ihn.
Die Tränen stiegen ihm in die Augen, so sehr spürte er die Liebe in ihrer Stimme.
Auch alle anderen waren ergriffen. Nachdem Christina geendet hatte, herrschte tiefe Stille im Saal. Erst nach und nach erhob sich der Applaus. Doch dann waren die Zuhörer wie entfesselt. Sie erhoben sich von ihren Sitzen und klatschten frenetisch Beifall.
Christina verbeugte sich immer wieder. Der Stolz und die Freude über ihren Erfolg waren in ihrem Gesicht zu lesen. Plötzlich hob sie die Hände und bat um Ruhe.
Anian ließ sich erstaunt auf seinen Platz sinken.
»Verehrtes Publikum, liebe Freunde. Ich weiß, daß es ungewöhnlich ist, hier vor Ihnen zu sprechen, aber dies ist auch ein ungewöhnliches Ereignis, das ohne die Mithilfe vieler Freunde nie stattgefunden hätte. Ich war schwer krank und hätte um ein Haar das Liebste in meinem Leben verloren. An dieser Stelle möchte ich diesen Freunden meinen Dank aussprechen, ohne sie namentlich zu nennen. Sie wissen, daß sie gemeint sind.«
An dieser Stelle hielt Christina inne und ließ ihre Blicke suchend über die erste Reihe schweifen.
Endlich traf ihr Blick Daniel und Fee Norden. Sie lächelte und Daniel machte ihr ein Zeichen, daß er verstanden hatte. Dann fuhr sie fort.
»In dieser schweren Zeit ist mir ein Mensch an die Seite gestellt worden, der mir gezeigt hat, was wahre Liebe bedeutet. Ich meine nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern die Liebe zu den Menschen. Dafür danke ich ihm und widme ihm folgendes Lied. Vielen Dank.«
Anian hatte den Kopf in die Hände gestützt und versuchte, seine Rührung zu verbergen. Doch als Christina sein Lieblingslied anstimmte, ein modernes Liebeslied, konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten.
Lisa, die neben ihm saß, bemerkte es und legte ihm den Arm um die Schulter. Auch ihre Augen glitzerten verdächtig.
Nur Helene Wolrab lächelte vergnügt vor sich hin. Es war geschehen, was sie schon lange gehofft hatte, und sie war sehr zufrieden. Muriel würde einen guten Vater haben und Christina einen liebenden Mann. Was konnte es Besseres geben auf der Welt?
»Eine schönere Liebeserklärung kann es nicht geben«, flüsterte Fee und nahm die Hand ihres Mannes, der sie fest drückte.
Endlich war das Konzert vorbei. Der Vorhang war gefallen, und Christina saß erschöpft allein in der Garderobe, nachdem sie sich beim Orchester und dem Dirigenten für die gute Zusammenarbeit bedankt hatte.
Da klopfte es leise.
»Herein«, rief Christina.
Leise wurde die Tür geöffnet, und Anian kam herein.
»Störe ich?« fragte er vorsichtig.
Christina lächelte. »Natürlich nicht. Komm doch her.«
Er schloß die Tür und kam auf sie zu, um sie zärtlich in die Arme zu nehmen.
»Niemals hat mir ein Mensch etwas Schöneres gesagt«, flüsterte er und küßte zart ihren Nacken.
»Ich habe lange überlegt, wie ich dir danken kann. Jedes Wort schien mir zu banal zu sein.«
»Du dankst mir genug, indem du mir deine Liebe schenkst.«
»Ach, Anian«, seufzte Christina und verlor sich in seinem leidenschaftlichen Kuß, den Anian zärtlich erwiderte.
Am nächsten Abend waren Anian und Christina endlich einmal alleine. Sie hatten Muriel ins Bett gebracht und genossen den schönen Abend auf dem Balkon. Eine Amsel sang ihr Abendlied, und die Sonne ging flammend rot unter.
»Es ist so schön, daß es fast kitschig ist«, meinte Christina, als sie die Szenerie beobachtete.
»Echte Dinge können niemals kitschig sein. Genauso wie wahre Liebe niemals kitschig ist.«
»Warum reden die Menschen dann immer so abfällig über die wirklich schönen Dinge?«
»Es ist heute nicht mehr in, über Gefühle zu sprechen. Viele fürchten, sich lächerlich zu machen.«
»Schade eigentlich«, bedauerte Christina ehrlich.
»Das finde ich auch. Aber du hast bewiesen, daß auch das Gegenteil möglich ist. Dein Publikum hat dich geliebt für deine Worte.«
»Das war nicht schwer, Anian.«
Liebevoll sah sie ihn an, als er sie fest in die Arme schloß. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Sonne schließlich am Horizont versank. Und mit dem schwindenden Tageslicht verstummte auch die Amsel.
Unvermutet begann Christina leise zu singen. Sie sang noch einmal Anians Lieblingslied in die erwachende Nacht. Alle Welt sollte Zeuge sein.
Als sie geendet hatte, blinkten die ersten Sterne am Himmel. Über ihnen verglühte eine Sternschnuppe. Sie nahmen es als gutes Omen für ihre gemeinsame Zukunft.