Читать книгу Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9
ОглавлениеDr. Daniel Norden hatte eine so lange Unterhaltung mit Simon Karsten, daß Wendy ungeduldig wurde, denn im Wartezimmer saßen noch fünf Patienten. Es war bereits elf Uhr. Aber sie konnte sich auch denken, daß die beiden ungleichen Männer kein Plauderstündchen hielten, sondern daß Karsten mal wieder ein Problem hatte. Seit Wendy ihn kannte, hatte er immer irgendwelche Probleme, aber sie empfand auch ein ehrliches Mitgefühl für ihn, denn er hatte vor drei Jahren seine junge Frau nach einer sehr kurzen Ehe bei der Geburt des ersten Kindes verloren, das auch nicht überlebt hatte. Es verfolgte ihn anscheinend wie ein schwarzer Schatten.
Simon Karsten war wortkarg und verschlossen, zu Daniel Norden hatte er jedoch ein unbegrenztes Vertrauen und mit ihm konnte er auch offen reden.
»Wäre Sabine nur damals zu Dr. Leitner gegangen, wie Sie es empfohlen hatten«, sagte er jetzt, »aber ihr Vater bestand ja darauf, daß sie bei seinem Freund Rensing entbinden sollte. Jetzt darf man das natürlich nicht mehr erwähnen.«
»Sie haben aber noch Kontakt zu Ihren Schwiegereltern«, stellte Dr. Norden nachdenklich fest.
»Man sieht sich hin und wieder, ich kann es nicht vermeiden. Das macht mir besonders zu schaffen, seit ich Mary Ann kenne. Ja, wir sind uns nähergekommen, und ich will sie heiraten. Ich hätte ja nie gedacht, daß mir eine Frau wieder soviel bedeuten könnte, aber sie ist ganz anders als Sabine, so lebenstüchtig und positiv. Sie gibt meinem Leben wieder einen Sinn.«
»Das ist gut, Herr Karsten, ich freue mich für Sie, ich kenne und schätze Frau Wilkens auch als einen sehr liebenswerten Menschen.«
»Fürchten Sie nicht aber auch, daß sie durch das bigotte Getue des Ehepaares Zander vor den Kopf gestoßen wird?«
»Sie sollten ganz offen und vernünftig mit ihr sprechen. Sie wird doch wissen, daß Sie schon mal verheiratet waren?«
»Natürlich weiß sie es, und wahrscheinlich wird man sie auch genug vor mir gewarnt haben, denn Frau Zander hat ja nichts unversucht gelassen, mich als einen rücksichtslosen Ehemann zu schildern, der seine Frau allein ließ, als sie ihn am nötigsten brauchte. Schließlich war ich schuld in ihren Augen, daß Sabine bei der Geburt gestorben ist, weil sie zu spät in die Klinik kam.«
»Was aber nicht der Wahrheit entspricht«, betonte Dr. Norden.
»Das wissen Sie, und das weiß ich, aber jetzt wollen ihre Eltern nicht zugeben, daß sie auf der Hensing-Klinik bestanden.«
»Das ist oft so, daß die Schuld gern auf andere abgewälzt wird, aber Frau Wilkens wird sich nicht beeinflussen lassen. Wollen Sie schon bald heiraten?«
»In vier Wochen. Mary Ann muß nach Amerika fliegen, um den Nachlaß ihres Vaters zu regeln, der sehr plötzlich gestorben ist. Sie hatten zwar schon viele Jahre keinen Kontakt mehr, seit der Scheidung ihrer Eltern, aber er hat sie tatsächlich zu seiner Alleinerbin eingesetzt. Nun ja, er war ein Eigenbrötler und hatte keine engen Verwandten und auch keine Menschen, die ihm nahestanden. Mary Ann denkt realistisch. So überrascht sie auch war, als sie die Nachricht bekam, sie denkt nicht daran, das Erbe irgendwelchen fremden Menschen zu überlassen. Sie will damit armen Kindern zu einer guten Ausbildung verhelfen. Das ist auch ein Charakterzug, der mir an ihr so gut gefällt.«
»Gibt es denn einen Haken, der Ihnen Sorge bereitet?«
»Ich weiß nicht, wie ich ihr sagen soll, daß ich keine Kinder haben will.«
Daniel Norden sah ihn bestürzt an.
»Warum denn das?« entfuhr es ihm erschrocken.
»Ich könnte es nicht noch einmal ertragen, daß ich meine Frau wegen einer Schwangerschaft verliere.«
»Sie sollten sich nicht in solche abstruse Idee verrennen, Herr Karsten. Sie hatten ein traumatisches Erlebnis, aber warum sollte sich das wiederholen? Sabine hatte eine instabile Konstitution, und leider muß ich sagen, daß sie unbelehrbar war. Sie hat das Rauchen nicht gelassen und auch auf keine Party verzichten wollen, um das einmal ganz deutlich zu sagen. Nicht Sie waren rücksichtslos, sondern sie nahm keine Rücksicht auf das ungeborene Kind. Die Wahrheit ist keine Infamie gegen eine Tote. Sie haben ein Recht auf ihr Leben und auf eine Familie, denn ich weiß, daß Sie sich Kinder wünschten und bin überzeugt, daß Mary Ann im Fall einer Schwangerschaft sehr verantwortungsbewußt wäre.«
»Ich gebe Ihnen ja recht, aber das Beste wäre für uns, wir würden anderswo wohnen und nicht so nahe bei den Zanders. Ich bin gewiß kein Feigling, aber ich kenne die Gehässigkeiten zur Genüge. Diesen möchte ich Mary Ann nicht ausgesetzt sehen.«
Er machte eine gedankenvolle Pause. »Bei mir ist also alles in Ordnung?« fragte er dann.
»Besser können Ihre Werte gar nicht sein.«
»Es ist sehr wichtig für mich, daß Mary Ann sich nicht um meine Gesundheit sorgen muß. Sie ist immerhin zwölf Jahre jünger als ich.«
Dr. Norden lächelte flüchtig. »Was aber einer gesunden Vaterschaft nicht im Wege steht.«
»Das wollen wir dann doch der Vorsehung überlassen«, meinte Simon. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir so geduldig zugehört haben. Die anderen Patienten werden mich zum Teufel wünschen.« Jetzt lächelte er auch, und das milderte seine strengen Gesichtszüge.
Wendy atmete hörbar auf, als er aus dem Sprechzimmer kam, und sie den nächsten Patienten aufrufen konnte. Aber als ihr Simon auch ein freundliches Lächeln schenkte, konnte sie ihm nicht mehr böse sein.
*
Simon fuhr zu seinem Büro. Er war dort mit Mary Ann verabredet, die einige Besorgungen in der Stadt machen wollte für ihre Reise. Er wollte gar nicht daran denken, daß ihre erste Trennung, wenn auch nur für einige Tage, bevorstand.
Simon leitete die Niederlassung eines großen amerikanischen Konzerns, und dort hatte er auch Mary Ann kennengelernt, als sie nach Deutschland kam, um die Kundenbetreuung zu übernehmen.
Sie war eigentlich die geborene Diplomatin, auf jedem noch so glatten Parkett zu Hause, und sie gewann alle Sympathien sofort. Bei ihm hatte es allerdings schon etwas länger gedauert, bis er einen persönlichen Kontakt zu ihr bekam, aber dann hatten sie schnell herausgefunden, daß sie die gleiche Wellenlänge hatten. Er hatte sich gegen diese Gefühle nicht mehr gewehrt. Sie wußte genau, was sie wollte, und sie hatte sich für ihn entschieden, wenn sie das auch nicht publik machen wollte. Er war immerhin ihr Boß.
Wenn sie sein Büro betrat, sah die Welt für ihn plötzlich ganz anders und viel freundlicher aus. Sie hatte eine Ausstrahlung, von der man eingefangen wurde. Manchmal konnte er es immer noch nicht glauben, daß sie ihm ihr Herz geschenkt hatte, denn er war keineswegs der Traummann, dem alle Herzen zuflogen.
Er wirkte eher steif, war immer reserviert und manchmal sogar von einem Hauch Kälte umweht. Aber Mary Ann hatte sofort gespürt, daß diese Abwehr eine Art Panzer war, um sich ja nicht anmerken zu lassen, was er wirklich dachte und fühlte.
Als sie jetzt sein Büro betrat, erhob er sich sofort und er ließ es sich gern gefallen, daß sie ihn umarmte und küßte. Wenn er in ihre schönen violetten Augen blickte, wurde ihm warm ums Herz.
»Alles okay, Darling?« fragte sie.
»Wenn du bei mir bist, gibt es nichts zu klagen.« Er küßte sie auf die Nasenspitze.
»Und wenn ich nicht bei dir bin?« fragte sie mit leisem Lachen.
»Dann ist alles grau und trübe, und ich vermisse dich.«
Noch vor ein paar Monaten hätte er es weit von sich gewiesen, daß ihm eine Frau soviel bedeuten könnte, so tief hatte der Schock über Sabines tragischen Tod in ihm gesessen, aber jetzt war alles anders als mit Sabine. Gerade deshalb versetzte ihn der Gedanke, daß er Mary Ann verlieren könnte, in quälende Angst. Deshalb wollte er keine Kinder, sondern sie ganz für sich haben und mit niemandem teilen.
Mary Ann wußte, daß Sabine bei der Geburt des Kindes gestorben war, dafür hatten schon andere gesorgt, aber das Thema war für sie beide tabu.
Mary Ann war nicht neugierig und schon gar nicht eifersüchtig auf die Vergangenheit. Die Gegenwart gehörte ihnen, und das genoß sie. Sie konnte Gefühl und Verstand kompensieren, und ihr genügte es, daß er sie liebte, ohne Sabines Schatten Raum zu geben.
»Weißt du schon, welchen Flug du nimmst?« fragte er zögernd.
»Freitag abend«, erwiderte sie.
»Dann bin ich am Wochenende allein«, seine Stimme klang rauh.
»Ich komme doch bald wieder«, erwiderte sie tröstend. »Dann sollten wir jetzt aber die Zeit nützen, um sie allein zu verbringen.«
»Willst du damit sagen, daß du dein Büro verläßt?«
»Warum nicht, ich habe noch soviel Urlaub gut, daß mir niemand Desinteresse nachsagen kann. Außerdem habe ich sowieso ein paar wichtige Termine wahrzunehmen.«
»Dann hast du ja gar keine Zeit für mich.«
»Natürlich heißt meine Gesprächspartnerin Mary Ann Wilkens.«
»Ach so, gut, daß du es mir sagst, dann werde ich mich mal vorbereiten. Wo finden die Gespräche statt?«
Ihre lockere, charmante Art bezauberte ihn immer wieder. »Wie wäre es mit Possenhofen?« schlug er vor.
»Einverstanden. Ich habe ja meinen Urlaub schon angekündigt. Dann werde ich mal lieber ganz schnell verschwinden und zu Hause warten, bis du mich abholst.«
»Du wirst nicht lange warten müssen.«
Daß sie schon drei Wochen unter einem Dach lebten, war zum Glück nicht publik geworden. Sie wollten beide vermeiden, daß über sie geredet wurde, denn schließlich war er der Boß.
Er wollte ihr Ansehen nicht aufs Spiel setzen. Wenn Sabines Eltern davon erfahren hätten, würde der Klatsch blühen. Eines Tages mußten sie es ohnehin erfahren, wenn die Hochzeit publik wurde, aber damit wollten sie noch bis zum April warten.
Das war für sie ein guter Monat zum Heiraten, weil sie dann beide Urlaub nehmen konnten für eine lange Hochzeitsreise.
Am liebsten hätte Simon allerdings Mary Ann jetzt nach Amerika begleitet, aber er konnte nicht weg. Wichtige Entscheidungen waren für die Firma zu treffen, und man hatte auch Mary Ann ungern frei gegeben.
Aber auch für sie standen wichtige Entscheidungen bevor.
Simon hatte schon mit ihr gemeinsam überlegt, was ihren Vater wohl veranlaßt haben könnte, sie als Erbin einzusetzen. War es das schlechte Gewissen, weil er sich nicht um sie gekümmert hatte?
Er konnte nur hoffen, daß sie nicht Schwierigkeiten ausgesetzt wurde. Er machte sich darum mehr Gedanken als sie.
Als er heimkam, war sie schon startbereit. Er brauchte auch nicht lange, um ein paar Sachen einzupacken, dann konnten sie schon losfahren. Sie bemerkten die dunkle Limousine nicht mehr, die gerade um die Ecke bog, aber Simon wäre heilfroh gewesen, daß sie nicht mehr mit dem Ehepaar Zander zusammentrafen, denn es war ihr Wagen.
Charlotte Zander hatte sie jedoch mit Argusaugen erspäht.
»Das war doch Simon in weiblicher Begleitung«, sagte sie schrill. »Wie findest du denn das?«
»Soll ich ihn verfolgen?« fragte Alfred Zander mürrisch. »Wir können es ihm nicht verbieten, sich mit einer Frau einzulassen.«
»Ich habe aber noch nichts dergleichen gehört, und schließlich würde es sich gehören, uns davon zu unterrichten.«
»Übertreib bitte nicht, Lotte«, sagte er spöttisch, »er ist uns keine Rechenschaft schuldig, und immerhin ist er ein Mann im besten Alter. Du kannst nicht erwarten, daß er Sabine ewig nachtrauert.«
»Er denkt anscheinend überhaupt nicht mehr an sie. Er hat schon ewig nichts mehr von sich hören lassen«, beschwerte sie sich. »Morgen ist ihr Todestag, deshalb wollte ich ihn sprechen.«
»Er trägt es mir nach, daß ich sie in die Rensing-Klinik brachte, was auch falsch gewesen sein könnte, wenn man bedenkt, was dort letzthin wieder passiert ist.«
»Dafür können wir doch nichts. In anderen Kliniken passiert noch mehr. Ich würde gern wissen, was das für eine Frau war«, lenkte sie ab.
»Wenn es etwas Ernstes ist, werden wir es schon erfahren. Jetzt beruhige dich mal wieder, Lotte, ändern kannst du doch nichts.«
Sie erging sich noch eine ganze Zeit in unwilligen Betrachtungen. Manchmal ging sie ihm schon sehr auf den Geist, aber nach fast fünfzigjähriger Ehe war er auch das gewöhnt.
Für seine einzige Tochter hatte er nur das Beste gewollt. Insgeheim machte er sich auch bittere Vorwürfe, daß er seinen Willen durchgesetzt und sie in die Rensing-Klinik gebracht hatte, denn so konnte er Simon wirklich nicht den geringsten Vorwurf machen, denn er hätte sie in die Leitner-Klinik gebracht. So sehr sich Charlotte auch bemüht hatte, etwas zu finden, was es an dieser Klinik auszusetzen gab, es war ihr nicht gelungen.
Sie fuhren zum Friedhof, um sich zu überzeugen, daß Sabines Grab schön geschmückt war. Charlotte vergoß, wie gewöhnt, viele Tränen, aber sie fand wenigstens nichts auszusetzen.
*
Simon und Mary Ann waren indessen schon in Possenhofen angekommen, in dem hübschen Häuschen, das Simons Vater vor vielen Jahren erworben hatte. Jetzt lebten Simons Eltern schon lange Zeit im Schwarzwald, wo ihnen das Klima besser bekam.
Das Haus war nicht ausgekühlt. Im Winter war die Heizung so eingestellt, daß nichts einfrieren konnte. Ein Rentner aus dem Dorf schaute regelmäßig nach dem Rechten, und so brauchte Simon die Heizung nur ein bißchen weiter aufzudrehen, damit es bald wohlig warm wurde. Mary Ann war ohnehin abgehärtet und sie fühlte sich gleich wohl in dem behaglichen Haus.
Sie hatten unterwegs noch eingekauft, was sie für den Abend und den nächsten Tag brauchten. Sie wollten es sich jetzt gemütlich machen und ihre Zweisamkeit ungestört genießen.
Eine begeisterte Kochkünstlerin war Mary Ann nicht, aber sie brachte ein wohlschmeckendes Essen auf den Tisch. Kalbsgeschnetzeltes mit Reis und Rahmsoße, dazu Erbsen. Sie tranken einen guten Wein und fühlten sich pudelwohl.
»Endlich mal kein Streß, kein Telefon«, sagte Simon erleichtert. »Wir sollten uns öfter dazu Zeit nehmen.«
»Vor allem, wenn wir Kinder haben«, sagte sie träumerisch.
»Ich will keine Kinder, ich will dich für mich haben«, erklärte er so bestimmt, daß sie erschrak.
»Was hast du gegen Kinder, Simon?«
»Im allgemeinen gar nichts, aber ich hätte viel zuviel Angst, dich zu verlieren.«
»Ich verstehe ja, daß dich Sabines Tod tief getroffen hat, aber das passiert doch nicht oft.«
»Man weiß nie, wie das ausgeht. Dich will ich keiner Gefahr aussetzen.«
»Ist das nicht ein bißchen übertrieben, Darling?«
»Du magst es anders sehen, aber für mich wären die Monate die Hölle. Bei Sabine habe ich mir gar nichts gedacht, und irgendwie mag sie auch nicht ganz schuldlos gewesen sein mit ihrer Raucherei und den Partys. Sie wollte ja keine auslassen. Du bist anders, das weiß ich, aber du bist das Wertvollste, was ich habe. Ich liebe dich so sehr, Mary Ann, versteh mich bitte.«
Sie wollte ihn so gern verstehen, doch in diesem einen Punkt hatte sie ihre eigene Meinung, wenn sie diese jetzt auch nicht sagte. Sie wollte dieses Beisammensein vor ihrer Reise ungestört genießen.
*
Nach drei schönen Tagen voller Harmonie stand der Freitag vor der Tür. Mary Ann wollte nicht viel mitnehmen. Was sie brauchte, konnte sie in Atlanta kaufen. Dort war sowieso ein anderes Klima als hier. Sie hatte ihre Kinderjahre dort verbracht, aber sie hatte weder eine gute Erinnerung daran, noch hatte sie Sehnsucht danach. Sie hatte alles gehabt, was ein Kind sich wünschen konnte, nur keine Eltern, die sich verstanden und ihr ein liebevolles Zuhause gaben.
Jetzt hatte sie sogar Angst, möglicherweise ihrer Mutter zu begegnen, die ihr das Erbe neidete.
So realistisch Mary Ann auch denken konnte, und Geld gehörte nun mal zum Leben, es war ihr unbehaglich, daß ihr Vater alles ihr hinterlassen hatte.
Mochten auch die meisten Menschen, mit denen sie zu tun hatte, von ihr denken, daß sie unbeeinflußbar ihre Ziele verfolgte, Simon wußte, wie verletzlich sie war, obgleich sie ihm nicht gestanden hatte, mit welch gemischte Gefühlen sie diese Reise antrat. Es war ihr auch nicht recht, daß er sie zum Flughafen brachte, weil ihr der Abschied unsagbar schwer wurde, aber das konnte sie ihm auch nicht sagen. Er hätte es sich auch nicht nehmen lassen, sie selbst bis zur Lounge zu bringen.
»Welch Trost, daß du nicht lange bleiben wirst«, sagte er. »Bitte, ruf mich jeden Tag an.«
»Wann immer ich Gelegenheit dazu habe«, versprach sie.
Noch eine Umarmung, noch ein Kuß, dann entschwand sie schnell seinen Blicken, und er blieb mit einem Gefühl der Leere zurück.
Er blieb, bis angezeigt wurde, daß die Maschine gestartet war, und dann sah er sie schon hoch droben am Himmel davonziehen.
Er fuhr zurück. Er wußte mit seiner Zeit nichts anzufangen, da niemand mehr im Büro war, und er hätte sich sowieso nicht auf Arbeit konzentrieren können.
Er hatte sich noch nie so allein gefühlt wie jetzt. Ihm wurde ganz bewußt, daß Sabine ihm das niemals gegeben hatte und hätte geben können, was Mary Ann ihm gab.
Unentwegt waren seine Gedanken bei ihr, und als er in seiner gewohnten Umgebung war, kam ihm auch diese verändert vor ohne ihre Gegenwart.
Er schaltete den Fernseher an, aber was da ablief, konnte ihn nicht auf andere Gedanken bringen.
Es war Mitternacht, als das Telefon läutete, aber er war hellwach. Dann hörte er endlich wieder ihre vertraute Stimme.
»Ich bin so froh, dich zu hören«, sagte er mit einer Stimme, die ihm nicht gehorchen wollte.
»Habe ich dich geweckt, Darling?«
»Nein, ich kann nicht schlafen, du fehlst mir.«
»Ich bin gerade erst im Hotel in Atlanta angekommen und habe schon ausgerechnet, daß dort Mitternacht ist. Ich wünschte auch, ich wäre bei dir. Hoffentlich ist das hier schnell abgewickelt.«
»Ich kann es nicht erwarten, bis du wieder bei mir bist, Mary Ann.«
»Ich komme sobald wie möglich. Ich vermisse dich doch auch. Schlaf jetzt, und träum was Schönes.«
»Du auch, mein Liebstes.«
Er hielt den Hörer noch eine ganze Weile in der Hand und wünschte, er könnte sie im Arm halten.
Er schlief unruhig, an schöne Träume war nicht zu denken. Sein Herz schlug unruhig, und ein Angstgefühl trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn.
Es war noch nicht fünf Uhr, als er wieder aufstand und ins Bad ging, um kalt zu duschen. Aber wohler fühlte er sich auch danach nicht.
Er kleidete sich an und entschloß sich zu einem langen Spaziergang. Draußen herrschte eine nahezu beklemmende Stille. Die Straßen waren menschenleer, und in der freien Natur lagen Nebelschleier über den Feldern. Aber endlich konnte er wieder durchatmen, und er lief Stunde um Stunde weiter, was er schon ewig nicht mehr getan hatte. Endlich bekam er auch Hunger und erreichte einen Gasthof, aus dem schon appetitanregende Düfte kamen.
Ein wenig verwundert wurde der frühe Gast schon betrachtet, aber er bekam ein deftiges Frühstück serviert, das ihm erst recht Appetit machte. Er wurde sich dabei bewußt, daß er Mary Ann nicht herbeizaubern konnte. Er mußte sich gedulden bis zu ihrer Rückkehr. Hätte er aber auch nur die geringste Ahnung gehabt, was ihm noch bevorstehen sollte, hätte er den nächsten Flug nach Atlanta gebucht, um bei ihr zu sein. Aber er hatte eben keine Ahnung und Mary Ann an diesem Tag auch noch nicht.
Sie hatte das erste Gespräch mit drei Herren, die Joshua Wilkens’ Nachlaß ordneten und sich dabei gegenseitig belauerten. Von diesen drei war nur Stanley Bratt Mary Ann halbwegs sympathisch, wenn man das auch nicht direkt als Sympathie bezeichnen konnte. Aber er hatte zumindest eine verbindliche Art und eine angenehme Sprache, während die beiden anderen sich in Spitzen und Anzüglichkeiten überboten.
Beeindrucken konnten sie Mary Ann damit nicht. Sie hatte sich vorgenommen, alles als eine geschäftliche Angelegenheit zu betrachten und sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie war es ja gewöhnt, auch mit sehr schwierigen Kunden umzugehen. Das kam ihr jedoch zugute. Man merkte, daß sie nicht zu verblüffen war und scharf kontern konnte. So pendelte sich das Gespräch bald auf sehr sachliche Basis ein.
Daß ihr Vater ein Geizkragen gewesen war, hatte Mary Ann schon früher von den verschiedensten Leuten gehört, aber was sie jetzt hörte, ließ sie ihn mit Dagobert Duck vergleichen, der ihr als Inbegriff von Raffgier und Tücke in Erinnerung war.
Sie enthielt sich einer Bemerkung, aber Stanley Bratt bemerkte doch, daß Joshua anscheinend gar nicht gewußt hatte, was er alles angehäuft hatte.
»Er war so besessen, ständig etwas Neues zu erfinden, daß er den Sinn für ein zufriedenes Leben völlig verloren hatte«, stellte er vorsichtig fest.
»Da er nichts für mich übrig hatte, verstehe ich nicht, daß er mich zur Alleinerbin bestimmte«, erklärte sie.
»Vielleicht wollte er damit der Nachwelt demonstrieren, daß er auch ein fürsorglicher Vater war. Wer kann wissen, was in seinem Superhirn vor sich ging«, sagte James Stockwell zynisch.
Mary Ann überhörte es geflissentlich.
»Bleiben wir jetzt sachlich«, sagte sie kühl.
Schon bei diesem ersten Gespräch mußte sie feststellen, daß es ziemlich lange dauern würde, bis sie sich den richtigen Überblick verschafft hatte. Man hatte aber wohl auch nicht damit gerechnet, daß sie in geschäftlicher Hinsicht so sattelfest war, daß man sie ernst nehmen mußte. Eigentlich hatten die drei Herren gedacht, daß sie ohne viel zu fragen ihre Unterschriften leisten würde. Nun mußten sie sich viele Fragen gefallen lassen.
Da ihr nun jedoch ein Büro zur Verfügung stand und sie sich mit den Unterlagen befassen konnte, war sie froh, als sie an diesem ersten Tag endlich zum Ende kamen und sie sich Ruhe gönnen konnte. Sie sehnte sich nach einem Bad, und danach ließ sie sich das Essen in der Suite servieren, die für sie gebucht worden war. Wenn sie sich auch erst klarwerden mußte, was sie mit dem Nachlaß anfangen wollte, so ein paar Annehmlichkeiten konnte sie sich schon gönnen, ohne daß dies ins Gewicht fiel. Sie hätte auch ein paar Stunden mit Simon telefonieren können, aber dazu war sie nicht fähig. Sie erzählte ihm nur, wie anstrengend der Tag gewesen war und daß sie sich nur nach dem Bett sehnte.
»Wenn ich nur bei dir sein könnte«, sagte er sehnsüchtig. »Ich renne kopflos durch die Gegend und bin mit meinen Gedanken immer bei dir.«
»Ich liebe dich«, sagte sie, aber ihre Stimme klang schon sehr müde.
*
Es war gut, daß Simon während der nächsten Tage viel zu tun hatte und sehr wichtige Entscheidungen zur Debatte standen. So mußte er sich auch auf die Arbeit konzentrieren, und dann wurde er zu einer Konferenz nach Japan beordert, um die er sich nicht drücken konnte. Er sagte Mary Ann, daß er sie von Tokio aus anrufen würde, er wußte allerdings noch nicht, in welchem Hotel er wohnen würde.
»Dann werde ich sehen, daß ich hier vorankomme. Ich bin schon völlig erschöpft. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist«, sagte sie.
Am nächsten Tag wußte sie es, denn nach einer Kreislaufschwäche wurde sie vom Notarzt in eine Klinik gebracht.
Sie wurde gründlich untersucht von einem sehr gewissenhaften Arzt.
»Ich verstehe das nicht, ich war noch nie krank. Umgekippt bin ich erst recht nie«, erklärte sie schwach.
»Sie sind auch nicht krank, wenigstens nicht direkt, Sie sind schwanger«, stellte der Arzt fest.
»Schwanger«, wiederholte sie tonlos.
»Nicht erfreut?« fragte der Arzt beiläufig.
»Es kommt so überraschend. Ich nehme die Pille, und da ist mein Zyklus sowieso gestört.« Ihre Gedanken überstürzten sich, weil sie an Simon dachte und seine Einstellung.
»Es könnte auch eine komplizierte Schwangerschaft werden«, fuhr der Arzt fort. »Ich will Ihnen das nicht verschweigen. Das Becken ist sehr eng. Aber wir sollten erst den Verlauf der Schwangerschaft abwarten.«
»Ich möchte aber genau wissen, welche Komplikationen auftreten könnten.«
»Sie ruhen sich jetzt erst einmal aus, dann besprechen wir es später«, erklärte er. »Es besteht auch die Möglichkeit einer Fehlgeburt. Sie sollten in aller Ruhe überdenken, ob Sie das Kind zur Welt bringen wollen oder zu
einer Schwangerschaftsunterbrechung neigen.«
Sie hielt den Atem an. Der Gedanke schien ihr ungeheuerlich, Simons ungeborenes Kind umzubringen. Ihr wurde wieder schwindelig bei dem Gedanken.
Aber wie sollte sie es ihm beibringen? Würde er nicht sogar
auf einer Abtreibung bestehen? Sie konnte sich das nicht vorstellen.
Es ist unser Kind, ein Kind unserer Liebe, und er wird es auch lieben, dachte sie. Aber wenn es nun nicht so sein würde? Schon kamen ihr wieder Zweifel. Vielleicht hatte er Sabine doch so geliebt, daß er den Gedanken nicht ertragen konnte, sie und das Kind verloren zu haben.
Als sie ihn kennenlernte, war es keine Frage für sie gewesen, ob er Sabine geliebt hatte. Sie war gestorben, nicht mehr anwesend, und schon bald hatte sie auch erkannt, daß sie nicht zwischen ihnen stand und ihr Schatten auch nicht im Hause lebendig blieb. So ganz nebenbei hörte sie dann auch dieses und jenes, was doch nicht so war, als es in einer harmonischen Ehe sein sollte, vor allem der Einfluß ihrer Eltern, die allgegenwärtig waren und es auch bleiben wollten. Aber dem hatte er bald einen Riegel vorgeschoben.
Mary Ann rief sich alles in die Erinnerung zurück, was sie über Sabine wußte, aber es war nicht viel. Sie war die typische verwöhnte Tochter, die jeden Wunsch erfüllt bekam, hübsch anzusehen ohne Ehrgeiz, nach ihrer eigenen Ansicht dazu geboren, zu repräsentieren, immer mit der Mode zu gehen, überall zu sein, wo die Prominenz gesehen werden konnte und wollte. Sie hatte auch den entsprechenden Freundeskreis, der Simon auf die Nerven ging, und so hatte jeder den eigenen Interessen gelebt.
Erst durch Mary Ann war ihm bewußt geworden, wie ein Zusammenleben zwischen Mann und Frau sein sollte, und das hatte er auch gesagt. Sie hatten die gleiche Wellenlänge, die gleiche Antenne und sogar in geschäftlichen Dingen die gleichen Ansichten. Nur in bezug auf Kinder hatten sie noch keinen gemeinsamen Nenner gefunden, aber Mary Ann war ganz zuversichtlich, daß dies auch noch geschehen würde.
Sie war jetzt ganz froh, daß Simon in Japan weilte und anscheinend auch noch keine Zeit zu einem Anruf hatte.
Am Telefon wollte sie ihm ganz gewiß nichts sagen, schwer würde es ihr ohnehin werden, aber sie wollte das Kind, und sie wollte sich auch darauf freuen.
Und warum sollten Komplikationen auftreten? Sie war doch nie krank gewesen, und diese Kreislaufstörungen kamen ganz sicher durch die Zeit und Temperaturunterschiede und den Streß, dem sie doch ausgesetzt gewesen war. Sie war Optimist und hatte eine durchaus positive Einstellung. Nein, sie wollte sich nichts einreden lassen und auch selbst nichts einreden.
Als der Arzt wieder an ihr Bett trat, erklärte sie energisch, daß sie aufstehen und die Klinik verlassen wollte.
Er sah sie ganz bestürzt an.
»Was haben Sie auszusetzen?« fragte er erschrocken.
»Nichts, aber ich fühle mich gesund und sehe nicht ein, warum ich hier liegen soll.«
»Sie sollten sich ein paar Tage schonen.«
»Ich bin kein Mensch, der faulenzen kann. Dann werde ich nämlich unzufrieden. Und ich habe allerhand zu tun, damit ich bald wieder nach München fliegen kann.«
»Ist es da denn soviel schöner?«
»Es ist meine eigentliche Heimat, und dort lebt der Mann, den ich heiraten werde.«
»Ja, wenn das so ist, muß ich wohl Verständnis dafür haben. Aber bleiben Sie doch wenigstens noch diese Nacht.«
»Mein zukünftiger Mann ist zur Zeit in Japan und wird versuchen, mich telefonisch zu erreichen. Mein Handy liegt im Büro, da alles so schnell ging. Er hat keine Ahnung, daß ich in der Klinik bin, was auch gut sein wird, sonst würde er sich nur aufregen. Also, verstehen Sie auch das.«
»Dafür habe ich Verständnis, aber in erster Linie denke ich an Sie und Ihre Gesundheit, Miß Wilkens.«
Er wußte auch, was er dem Namen Wilkens schuldig war. Es war zwar kein seltener Name, aber dieser hatte schon eine besondere Bedeutung in Atlanta. Trotz seines zurückgezogenen Lebens war Joshua ein berühmter Mann gewesen.
Mary Ann kleidete sich an. Sie hatte ein ungutes Gefühl dabei, denn es waren dieselben Sachen, in denen sie in die Klinik gebracht worden war, und sie war es gewöhnt, immer frische Kleidung anzuziehen.
Ein Taxi stand schon bereit, das sie zum Hotel brachte. Sie fühlte sich nicht schlapp, es ging alles nur ein wenig langsamer als sonst, das machten wohl die Medikamente.
Im Hotel angekommen, entkleidete sie sich schnell und ging unter die Dusche. Dann fühlte sie sich gleich wohler. Sie bestellte einen gemischten Salat und eine Käseplatte. Es wurde ihr dazu auch eine Schale Obst und ein Teller leckeres Gebäck serviert. Es gefiel ihr, allein zu sein, es sich gemütlich zu machen und das zu tun, wonach ihr der Sinn stand, und sie hatte Appetit.
Das Telefon läutete nicht, und sie war darüber doch enttäuscht, aber sie wußte, daß solche Konferenzen manchmal bis in die Nacht gingen.
Sie schaltete den Fernseher ein, als sie es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, aber es sagte ihr nicht zu und sie wollte von Politik und Wirtschaft nichts hören, außer klassische Musik, und die bekam sie aus dem Radio. Dabei wurde sie schnell müde und ging zu Bett.
Am Morgen wurde sie vom Läuten des Telefons geweckt. Es war Simon.
»Endlich!« rief sie aus. »Bist du schon wieder zu Hause?«
»So schnell geht es diesmal nicht. Wir fliegen heute noch nach Indien, ein erfolgversprechendes Gespräch hat sich ergeben, aber ich denke, daß wir in zwei Tagen zurückfliegen. Wann kommst du, mein Liebes? Ich habe schreckliche Sehnsucht nach dir.«
»Es wird schon noch eine Woche dauern, Darling. Du ahnst nicht, was ich für Akten wälzen muß, aber eigentlich könnten wir dann einen sehr langen Urlaub machen ohne alle Sorgen, wie die Geschäftslage ist.«
»Du kennst meine Einstellung, und ich glaube auch nicht, daß du dich nach einem Luxusleben sehnst.«
»Das nicht, aber es ist schon ein ganz angenehmes Gefühl, sich gewisse Annehmlichkeiten verschaffen zu können. Das hat mein Vater leider gar nicht verstanden, aber jetzt denke ich an die armen Menschen und vor allem die hungernden Kinder in aller Welt und will ein paar Stiftungen ins Leben rufen. Du könntest die Erfindungen deines Schwiegervaters verwerten. Man muß es ihm lassen, er war ein Genie.«
»Für mich gibt es nichts Wichtigeres als dich. Ich muß jetzt Schluß machen, wir müssen zum Airport. Paß auf dich auf, Mary Ann.«
»Du auch auf dich, Simon, und melde dich gleich, ich mache mir sonst wirklich Sorgen.«
Und sie hatte ein ganz eigenartiges Gefühl, als sie den Hörer auflegte.
So ganz wohl fühlte sie sich auch nicht. Anscheinend mußte sie sich doch noch ein bißchen schonen, und sie hatte jetzt auch die Absicht, sich Zeit zu lassen und sich nicht zu sehr zu strapazieren. Wenn es eine problematische Schwangerschaft werden sollte, mußte dem Kind wenigstens eine Chance gegeben werden. Sie wußte, daß die ersten vier Monate entscheidend waren und wußte jetzt auch, daß sie das Kind haben wollte. Sie war überzeugt, daß Simon zu überzeugen sein würde.
Sie ließ sich Zeit mit der Morgentoilette, dann bestellte sie das Frühstück und stellte das Radio an. Zuerst hörte sie nicht genau hin, sondern frisierte sich, aber dann horchte sie plötzlich auf. ›Die Firmenmaschine mit achtzehn Passagieren mußte in Sibirien notlanden und sofort wurden Rettungsmaßnahmen eingeleitet, aber bisher konnte die genaue Position noch nicht geordert werden‹, hörte sie die Ansage.
Sie begann zu zittern.
Sie mahnte sich zur Ruhe. In Rußland flogen viele Flugzeuge und bestimmt gab es auch mehr Firmenflugzeuge, die zu dieser Zeit unterwegs waren. Sie wollte sich erst einmal genau erkundigen, wann und wo dieser Zwischenfall sich ereignet hatte und um welche Firma es sich handelte. Sie gehörte doch nicht zu den Schwarzsehern, die gleich immer das Schlimmste vermuteten.
Dennoch war ihr der Appetit vergangen, und sie konnte an nichts anderes denken. Aber an wen konnte sie sich wenden, um Näheres zu erfahren? Ob ihre Firma ihr da Auskunft geben konnte?
Die Direktion würde telefonisch keine Auskunft geben. Sie kannte die Gepflogenheiten. Sie konnte in München anrufen, aber war das nicht ein wenig übereilt? Sie wartete auf die nächste Radiomeldung und schaltete auch den Fernsehapparat ein. Geduld mußte sie haben, aber endlich kam eine neue Meldung zu dem Flugzeugunglück.
Rettungsmannschaften wären auf dem Wege zu der Unglücksstelle, die sich aber in einem sehr unwegsamen Gebiet befände. Unter den Passagieren befinden sich auch fünf europäische Topmanager, zwei Deutsche, zwei Engländer und ein Franzose, dessen Ehefrau und zwei Kinder, mehrere Techniker, zwei Piloten und zwei Stewardessen. Es wurden auch mehrere Notsignale aufgefangen.
Mehr konnte man vorerst nicht sagen.
Es ist Simons Maschine, dessen war sich Mary Ann jetzt sicher. Sie war wie betäubt und erst wieder gegenwärtig, als Stanley Bratt anrief und fragte, ob sie wieder wohlauf sei.
»Nicht so ganz«, redete sie sich heraus. »Ich bleibe im Hotel und ruhe mich aus.«
Er wünschte ihr gute Besserung und meinte, daß sie sich schonen solle, denn eigentlich würde alles auch so geregelt.
Es war ihr jetzt auch völlig gleichgültig, wie die Abwicklung weiter vor sich ging. Sie wollte wissen, wo Simon war und wie es ihm ging. Auf keinen Fall wollte sie an Schlimmes denken. Und doch wurde die Angst immer größer.
Sie rechnete aus, daß es in München jetzt früher Nachmittag sein müßte und entschloß sich, im Büro anzurufen.
Dr. Mattes meldete sich, was sie schon sehr verwunderte, denn sonst war immer seine Sekretärin am Telefon. Er schien erschrocken zu sein, als sie ihren Namen nannte.
»Wo sind Sie jetzt, Frau Wilkens?« fragte er überstürzt. Sie hatte sich schwer daran gewöhnt, ›Frau‹ genannt zu werden, und auch jetzt gefiel es ihr nicht.
»Immer noch in Atlanta. Können Sie mir sagen, wo Dr. Karsten zu erreichen ist?«
»Das kann ich leider nicht, wir sind zur Zeit sehr beunruhigt. Er sollte auf dem Weg nach Moskau sein, und wir haben erfahren, daß eine Maschine notlanden mußte, wissen allerdings nicht, ob er mit dieser geflogen ist.«
»Ich habe es im Radio gehört und mache mir Sorgen. Ich kann von hier aus momentan leider auch nichts erfahren und würde Sie bitten, mich zu benachrichtigen, wenn Sie mehr wissen. Natürlich wäre ich erleichtert, wenn er in Sicherheit wäre.«
»Wir auch. Geben Sie mir bitte Ihre Telefonnummer.«
Das tat Mary Ann. Ihre Stimme zitterte dabei, und ihr kamen jetzt tatsächlich die Tränen. Ihre Nerven waren bis aufs äußerste gespannt. Sie saß zusammengesunken in einem Sessel. Das Frühstück war unberührt. Blicklos starrrte sie vor sich hin.
»Es darf dir nichts passiert sein, Simon«, murmelte sie. »Du mußt leben, ich werde dich suchen, wenn sie dich nicht finden. Ich brauche dich, ich kann ohne dich nicht leben.«
Sie brauchte einen klaren Verstand, das wurde ihr jetzt bewußt. Sie war die Tochter von Joshua Wilkens und mußte Verbindung zu einflußreichen Leuten aufnehmen. Stanley Bratt konnte ihr dazu vielleicht verhelfen.
Sie trank ein Glas Wasser und rief ihn dann an. Sie überlegte kurz, dann bat sie ihn, zu ihr ins Hotel zu kommen, sie hätte etwas sehr Dringendes mit ihm zu besprechen. Selbstverständlich war er sofort dazu bereit.
Gedankenlos aß sie ein paar Häppchen, während sie auf ihn wartete, da sie nun doch ein ganz flaues Gefühl im Magen gehabt hatte. Dann trank sie auch einen Schluck Tee, und weil der schmeckte, eine ganze Tasse davon.
Wenig später kam Stanley Bratt. Er war erschrocken über ihre Blässe, und als sie dann stockend ihr Anliegen vorbrachte, war er auch erst einmal fassungslos.
»Das ist wirklich ein Schock«, sagte er bedauernd. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte genaue Informationen haben, und wenn es möglich ist eine private Suchaktion organisieren.«
»Das wird in Rußland kaum möglich sein«, erklärte er heiser.
»Aber ich könnte eine Suchaktion doch finanzieren. Ich möchte auch selbst hinfliegen. Bitte, beschaffen Sie mir Informationen, was möglich zu machen ist.«
»Ich kann Sie verstehen, aber es wird sehr, sehr schwierig sein, privat etwas zu unternehmen. Wenn das Flugzeug und die Passagiere gefunden werden, wenn sie verletzt sind und in Krankenhäuser gebracht werden, wird es wohl eher möglich sein, eine Einreise zu bekommen. Ich werde mich sofort darum kümmern, Genaueres zu erfahren. Vielleicht sind auch Amerikaner an Bord, das würde hilfreich sein.«
Mary Ann verschlang die Hände ineinander. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Bratt. Momentan fühle ich mich so hilflos wie noch nie zuvor. Es handelt sich schließlich um meinen zukünftigen Mann, den ich über alles liebe«, sagte sie tonlos.
»Ich hoffe, daß ich Ihnen helfen kann. Ich sage Ihnen sofort Bescheid, wenn ich Einzelheiten erfahren habe.«
Sie war wieder allein, lief geistesabwesend im Zimmer umher, stand eine ganze Zeit am Fenster und schaute zum Himmel empor, und unwillkürlich betete sie, was sie schon lange nicht mehr so bewußt getan hatte.
Sie werden dich finden, Darling, flüsterte sie, und ich werde zu dir kommen und dich heimbringen. Du mußt leben.
Unentwegt dachte sie es, und vielleicht waren es doch ihre Gedanken, die ihn erreichten und ihn ins Bewußtsein zurückholten. Es war finster um ihn, und es war kalt, obgleich die Sonne schien. Aber er konnte sie nicht sehen, er konnte überhaupt nichts sehen, er war blind. Er begriff es nicht. Er stöhnte, während seine Hände ertasteten, daß er zwischen Trümmern lag. Er griff nach einer Hand, die noch kälter war als seine. Er vernahm Geräusche, das Bellen von Hunden und rief um Hilfe, aber er wußte nicht, ob man seine heisere Stimme überhaupt hören konnte. Dann verließ ihn wieder das Bewußtsein.
*
Mary Anns Angst kannte indessen schon keine Grenzen mehr. Es fröstelte sie, und sie zitterte wie Espenlaub. Sie dachte jetzt nicht an das Baby, sie dachte nur an Simon. Sie durchlebte die schlimmsten Stunden ihres Daseins, und alles Geld der Welt konnte ihr nicht helfen, obgleich sie Stanley Bratt gesagt hatte, er solle für die Suche nach Simon und den anderen Vermißten flüssig machen, was irgend möglich war von ihrem Erbe. Er ließ alle Verbindungen spielen, aber niemand konnte ihm helfen, und es gab noch immer keine neuen Nachrichten.
Der Tag ging zu Ende, die Nacht brach an, und Mary Ann konnte sich nicht vorstellen, wie das Wetter in der Sibirischen Tundra war, ob es dort Tag oder Nacht sei, und wann sie endlich die notgelandete Maschine finden würden. Vielleicht war von dieser nicht viel übriggeblieben und die Passagiere waren Wind, Wetter und Kälte ausgesetzt. Man stellte sich ja unwillkürlich vor, daß es überall in Rußland eiskalt sein müsse.
Mary Ann konnte nicht schlafen, sie lag mit offenen Augen auf ihrem Bett und starrte zur Decke, an der bizarre Schatten tanzten.
Es war fünf Uhr morgens, als ihr Telefon läutete. Es war Bratt, der ihr mit heiserer, müder Stimme sagte, daß er soeben ein Fax bekommen hätte. Die Machine sei gefunden und die Verletzten würden nach Nowosibirsk ins Krankenhaus geflogen.
Mary Ann überlegte nur eine Sekunde. »Besorgen Sie mir einen Flug dorthin«, bat sie.
»Sie werden für Rußland ein Visum brauchen, Mary Ann«, meinte er.
»Das wird doch möglich zu machen sein«, sagte sie mit wiedererwachter Energie. »Erkundigen Sie sich bitte, an wen ich mich wenden muß. Sie haben mir doch gesagt, daß man mit Geld alles erreichen kann.«
Er müsse warten, bis Tag sei, erklärte er mit einem schweren Seufzer. Da wurde es Mary Ann erst bewußt, wie früh es noch war.
Die Zeit wollte nicht verstreichen, bis es richtig hell wurde, dabei brauchte kaum eine Stunde zu vergehen. Aber Bratt hatte ihr schon gesagt, daß sie so früh keinen einflußreichen Mann erreichen würde. Sie mußte wieder warten. Sie konnte nicht einfach nur telefonieren, wie sie es in München gekonnt hätte, aber dann kam ihr in den Sinn, daß es in München schon viel später war, und sie rief Dr. Mattes im Büro an. Er war sehr zurückhaltend, anscheinend wollte er ihr schlechte Nachrichten vorenthalten, aber auf ihr Drängen sagte er ihr dann doch, daß sie nur erfahren hätten, daß Simon sich unter den Verwundeten befände, die nach Nowosibirsk gebracht worden wären.
»Wir haben schon alles in die Wege geleitet, damit er nach München gebracht wird, wenn er transportfähig ist«, erklärte er zögernd. »Wann das allerdings sein kann, konnte man nicht sagen.«
»Ist er schwer verletzt?« fragte Mary Ann zitternd.
»Sie sind alle wohl erheblich verletzt«, erwiderte Dr. Mattes. Mehr wußte er auch nicht zu sagen.
»Ich werde zurückkommen, wenn ich von hier aus nichts unternehmen kann«, erklärte sie gepreßt. »Inzwischen werde ich jeden Betrag zur Verfügung stellen, der nötig ist. Ich möchte, daß auch den anderen Verletzten geholfen wird.«
»Wollen wir das Beste hoffen«, sagte Dr. Mattes, doch seine Stimme klang auch nicht gerade zuversichtlich.
Hat er mir alles gesagt, was er weiß, überlegte Mary Ann, oder will er mich nur schonen?
Ihre Unruhe wuchs, aber sie mußte noch lange warten, bis sie die nächste Nachricht bekam, den ganzen Tag und eine lange Nacht, die nicht zu Ende gehen wollte.
*
Die Verletzten waren ins Krankenhaus gebracht worden. Es war ein alter Bau, düster und nicht auf dem neuesten Stand, den man in den großen Kliniken in Europa und Amerika gewöhnt war, aber die Ärzte waren ausgezeichnet geschult und bemühten sich mit wirklicher Hingabe um alle Verletzten. Sie wollten zeigen, daß auch sie fähig waren, selbst in schlimmsten Fällen das Menschenmögliche zu tun. Sie wußten nicht, ob es sich um hochangesehene Manager oder Wissenschaftler handelte oder um Passagiere, die zufällig mit dieser Maschine geflogen waren, weil noch Plätze frei waren. Sie konnten auch noch nicht wissen, daß die junge Frau mit dem dreijährigen Kind die Ehefrau des Chefingenieurs war, der zu den Schwerstverletzten gehörte und außerdem die Tochter eines amerikanischen Diplomaten. Sie und das Kind waren wie durch ein Wunder nur leicht verletzt, wenn auch unterkühlt, aber beiden ging es schon bald besser. Im Grunde war es sowieso ein Wunder, daß es keine Toten gegeben hatte, wenigstens bisher noch nicht. Der Pilot und seine Crew hatten eine Meisterleistung bei der Notlandung vollbracht.
Sally Lesson, die sehr tapfere Stewardeß, konnte sogar Auskunft über die Passagiere geben und die meisten Namen nennen. So wurde auch zum ersten Mal der Name Simon Karsten registriert, als deutscher Staatsangehöriger, leitender Direktor, wohnhaft in München.
Als Verletzungen wurden aufgeführt: eine Kopfverletzung, die eine Erblindung nach sich gezogen hatte, die noch von Spezialisten untersucht werden mußte. Dazu ein rechtsseitiger Schlüsselbeinbruch, mehrere Rippenbrüche. Nur zwei weitere Passagiere waren noch schwerer verletzt als er.
Mary Ann wurde es allerdings ganz schonend beigebracht, dennoch war es schlimm genug für sie und es deprimierte sie zusätzlich, daß sie nicht sofort bei ihm sein konnte.
Eiskalt wurde es ihr, als ihr in den Sinn kam, was es für Simon bedeuten würde, blind zu sein, während es für sie nur wichtig war, daß er lebte. Sie wünschte nichts so sehr, als daß er auch weiterleben würde, aber wollte er das, wenn er nicht mehr sehen konnte, wenn er ständig auf die Hilfe anderer angewiesen war?
Sie machte sich selber Mut, redete sich ein, daß man jetzt sehr viel machen konnte bei schlimmen Behinderungen, warum nicht auch bei einer Erblindung? Vielleicht war sie überhaupt nur vorübergehend. Sie wollte positiv denken, wie sie es immer getan hatte, aber vor allem wollte sie so schnell wie nur möglich bei ihm sein.
*
Stanley Bratt gab sich alle Mühe, ein Visum für Mary Ann zu bekommen, aber er wurde vertröstet mit der Erklärung, daß eine Ausnahme nicht gemacht werden könnte, weil es nicht sicher sei, wie lange die Verletzten in Nowosibirsk bleiben würden, da sie aus fünf verschiedenen Nationalitäten stammten. Die diplomatischen Vertreter dieser Länder hätten bereits Eingaben gemacht, daß ihre Landsleute in die jeweiligen Heimatstädte geholt werden konnten.
So entschloß sich Mary Ann, umgehend nach München zu fliegen, um dort neue Nachrichten abzuwarten und etwas zu unternehmen. Die Nachlaßangelegenheiten waren in den Hintergrund getreten. Sie erteilte Stanley Bratt die notwendigen Vollmachten, und er versprach ihr, daß sie sich auf ihn verlassen könne.
Sie hatte die Gewißheit, über soviel Geld verfügen zu können, wie sie möglicherweise für Simon brauchen würde.
In ihrem Kopf herrschte ein so gewaltiges Durcheinander, daß sie keine klaren Gedanken fassen konnte. Sie war so nervös, wie nie zuvor in ihrem Leben, dachte aber nicht daran, daß die Schwangerschaft dabei auch eine Rolle spielen konnte. In der Angst um Simon war alles andere nebensächlich geworden.
Bratt hatte ihr einen Flug gebucht und brachte sie auch zum Airport. Er war sehr besorgt um sie, denn sie war sehr blaß und unkonzentriert.
»Sie können sich auf mich verlassen, Mary Ann«, versicherte er nochmals. »Sie können mich jederzeit erreichen, und wenn es nötig sein wird, komme ich auch nach München. Natürlich bekommen Sie ausführliche Berichte über die Abwicklung, die selbstverständlich ganz in Ihrem Sinne erfolgen wird. Ich hoffe, daß alles sich zum Guten für Sie und Mr. Karsten entwickelt.«
Er meinte es gut, aber es rauschte an ihren Ohren vorbei.
Teilnahmslos saß sie dann im Flugzeug und winkte nur ab, wenn die Stewardessen sich nach ihren Wünschen erkundigten.
Übermüdet, wie sie nach den durchwachten Nächten war, schlief sie dann glücklicherweise ein, so daß die Zeit für sie schneller verging. Nur die letzten drei Stunden des Fluges war sie wach. Sie aß auch einen Toast, trank Tee und hörte Radio.
Es kam auch eine Meldung, daß alle bei der Notlandung verletzten Passagiere außer Lebensgefahr wären, und sie konnte endlich aufatmen.
Ihre Maschine landete überpünktlich in München. Da sie nur Handgepäck dabei hatte, war sie schnell abgefertigt, setzte sich in ein Taxi und ließ sich zu ihrer Wohnung bringen. Sie war froh, daß sie die noch nicht aufgelöst hatte, denn plötzlich hatte sie Hemmungen, in Simons Haus zu wohnen, solange er nicht anwesend war.
Dann kamen ihr auch seine Schwiegereltern in den Sinn, die über die Notlandung möglicherweise besser informiert waren als sie.
*
Besser informiert waren Alfred und Charlotte Zander nicht, aber sie waren tatsächlich unterrichtet worden, daß Simon sich in der Unglücksmaschine befunden hatte und schwer verletzt war.
Sie hatten bereits darüber diskutiert, daß sie möglicherweise die Erben sein könnten, wenn er sterben würde, und sie bemühten sich schon darum, Zutritt zu seinem Haus zu erhalten, was ihnen aber nicht gelang.
So kalt und berechnend, wie sie die Heirat ihrer Tochter eingefädelt hatten, dachten sie auch jetzt eher an Simons Tod als an seine Genesung.
Davon hatte Mary Ann glücklicherweise keine Ahnung. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Wohnung. Alles war ihr fremd geworden, und Simon fehlte ihr überall.
Sie meinte schließlich, daß es besser für sie war, wieder ihrer Arbeit nachzugehen, bis Simon nach München gebracht wurde, und rief Dr. Mattes an, was er dazu meinte.
Natürlich wäre er froh, wenn sie ihren Posten wieder übernehme, meinte er. Es sei sowieso ein wenig aus den Fugen geraten und es wäre ja nicht damit zu rechnen, daß Simon in absehbarer Zeit zurückkam.
So erschien Mary Ann anderntags wieder im Büro und konnte von vertrauten Gesichtern ablesen, wie bestürzt man war über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Aber sie nahm sich zusammen und fand sich auch bald wieder zurecht, um festzustellen, daß Arbeit auch eine gute Medizin sein konnte.
Es war nur bedrückend, daß so spärliche Nachrichten aus Nowosibirsk eintrafen, aber Dr. Mattes und ihre Kollegen teilten ihre Sorgen und versuchten sie aufzumuntern. Geahnt hatten es die meisten schon lange, daß die Beziehung zwischen Simon und Mary Ann bedeutend enger war, als sie gezeigt hatten.
So durchsichtig Mary Ann auch wirkte, sie überwand die Schwäche und fand zu gewohnter Tatkraft zurück. Es half ihr, die schweren Tage zu überwinden, und auch die Sympathie, die ihr entgegengebracht wurde, half ihr.
*
Währenddessen begriff Simon langsam, was mit ihm geschehen war, daß er sich kaum rühren und vor allem nichts sehen konnte. Er verstand nur ein bißchen Russisch, aber eine Ärztin sprach recht gut Deutsch und klärte ihn dann auch über seinen Zustand auf.
Er gehörte nicht zu den Menschen, die alles gleich in den schwärzesten Farben malten, und er steckte auch nicht den Kopf unter die Decke. So schnell gab er nicht auf.
Aber er dachte auch, was wohl Mary Ann empfand und ob er ihr zumuten konnte, mit ihm zusammen diese Prüfung zu bestehen. Ihm wäre es jetzt lieber, das Gedächtnis verloren zu haben als das Augenlicht. Er konnte nicht begreifen, wie das geschehen konnte, weil er der Einzige war, der das durchmachen mußte. Er konnte mit zwei anderen Kollegen, die mit ihm in einem Raum lagen, reden. Die konnten sehen. Einer von ihnen hatte allerdings einen Arm verloren und konnte damit auch nicht so recht fertig werden, aber Simon meinte, daß man einen Arm durch eine Prothese ersetzen konnte.
Immerhin konnten sie über ihr Schicksal reden und versuchten, sich gegenseitig aufzurichten. Wieso das passieren mußte, konnten sie nicht begreifen. Das Warum hatten die Untersuchungen auch noch nicht herausgefunden. Möglicherweise war es eine Materialermüdung gewesen.
Endlich bekamen sie auch Grüße und Nachrichten von ihren Verwandten übermittelt, aber wie sehr sich Mary Ann bemüht hatte, etwas um seinen Zustand zu erfahren, erfuhr Simon nicht. Fast drei Wochen vergingen, bis ihnen gesagt wurde, daß sie mit einem Sanitätsflugzeug in ihre Heimat gebracht werden würden. Die Formalitäten waren endlich abgeschlossen. Simon konnte sich vorstellen, welche Schwierigkeiten dazu überwunden werden mußten.
Für Mary Ann war es eine Erlösung, als ihr gesagt wurde, wann das Flugzeug ankommen würde. Sie hatte mit Dr. Norden schon darüber gesprochen. In welcher Klinik Simon untergebracht werden sollte, denn es mußten nicht nur seine Augen gründlichst untersucht werden, auch die anderen Verletzungen mußten noch behandelt werden. Dr. Norden hatte mit Professor Haberland gesprochen, der als Chirurg mit Professor Leine, einer Kapazität für Amaurose zusammenarbeitete. Sie wollten sich dieses schwierigen Falles annehmen, wobei natürlich auch maßgebend war, daß Geld keine Rolle dabei spielte. Daniel Norden war schon immer bestürzt, wie sehr das Geld doch bei so manchen Kollegen eine Rolle spielte, aber andererseits war es auch eine Garantie, daß sie sich ernsthaft bemühten. Fee konnte sich darüber sehr echauffieren, und Danny meinte trocken, daß sich der Papi daran doch auch mal ein Beispiel nehmen konnte. Daniel ärgerte sich nur darüber, welche Beschränkungen ihnen bei der Behandlung von Kassenpatienten auferlegt wurden, für die komplizierte Operationen unbezahlbar waren.
Er bedauerte auch, daß Dr. Jenny Behnisch nicht die Möglichkeiten in ihrer Klinik hatte, solche Patienten zu versorgen.
Er hatte Mary Ann dazu verholfen, Simon vom Flughafen abholen zu dürfen. So war sie mit dem Taxi hingefahren, um dann im Sanitätswagen mit Simon zur Klinik zu fahren. Sie war schrecklich aufgeregt und wurde unruhig, weil sie doch ziemlich lange warten mußte, bis die Maschine landete.
Simon war ruhiggestellt worden und ohne Bewußtsein, als er in den Sanitätswagen umgebettet wurde. Mary Ann hätte ihn fast nicht erkannt, wenn sie nicht gewußt hätte, daß er es war, so elend sah er aus.
Ihr kamen die Tränen, aber ein Schluchzen konnte sie unterdrücken. Sie umschloß seine dünnen Finger ganz behutsam, weil sie ihr so zerbrechlich vorkamen, aber ihr war es, als bewege er sich jetzt ganz leicht.
»Simon-Darling, ich bin jetzt bei dir. Du bist wieder in München.«
Ob er sie verstehen konnte? In seinem Gesicht regte sich nichts, aber die Wimpern zitterten leicht, und sein Herzschlag war kräftiger.
»Er wird noch einige Zeit schlafen«, sagte der Arzt. »Das ist auch besser so. Es war für alle Beteiligten anstrengend, bis die Maschine starten konnte.«
»Gab es viele Schwierigkeiten?« fragte Mary Ann.
»Die Russen scheinen in ständiger Angst zu leben, daß man ihnen an den Kragen will. Aber vielleicht dachten sie auch, daß die Ärzte mitfliegen wollten.«
»Vielleicht wollten sie das auch«, sagte Mary Ann nachdenklich. »Verdenken würde ich es ihnen nicht.«
Dann kam die Aufforderung, daß Simon in den OP zu bringen sei. Mary Ann lernte noch Professor Haberland kennen, der sehr höflich und freundlich war, eine markante Erscheinung, der seine Wirkung auf Frauen sicher nicht verfehlte, aber für Mary Ann gab es keinen anderen als Simon, wenn der auch in einem so bedauernswerten Zustand war.
Professor Haberland erklärte ihr, daß sie in den nächsten Stunden ruhig nach Hause gehen könne.
»Der Patient ist jetzt in einem stabilen Zustand, und wir werden nachprüfen, ob er bisher richtig versorgt wurde und was wir noch für ihn tun können.«
»Für ihn wird sein Augenlicht am wichtigsten sein«, sagte Mary Ann gepreßt.
»Der Kollege Leine wird alles tun, um ihm zu helfen, aber anscheinend war die Kopfverletzung schwer und ist noch nicht verheilt, das kann sich auch negativ auf das Sehvermögen auswirken. Wir wissen nicht, was in den Köpfen der Passagiere vor sich ging in den letzten Minuten vor dem Sturz, der auch sicher einen beträchtlichen Sauerstoffverlust mit sich brachte.«
»Wir konnten leider sehr wenig in Erfahrung bringen. Ich habe kein Visum bekommen, um nach Nowosibirsk zu fliegen. Wir können wohl dankbar sein, daß wenigstens Simon und seine Kollegen nach München gebracht wurden.«
»Es war allerdings mit großen Schwierigkeiten verbunden«, erklärte Professor Haberland, »und die russischen Kollegen haben einen äußerst knappen Krankenbericht geschickt. Aber wir wollen uns ja auch selbst ein Bild machen, und zumindest ist festzustellen, daß die Patienten gut versorgt wurden.«
»Ich hoffe so sehr, daß ich bald mit Simon sprechen kann«, sagte Mary Ann beklommen.
»Das wird morgen mit Sicherheit möglich sein. Dann wissen wir auch einiges mehr.«
Damit mußte sich Mary Ann zufriedengeben, beruhigt war sie nicht. Sie fuhr zu Simons Haus, um dort alles in Ordnung zu bringen. Es war alles noch so, wie sie es verlassen hatte. Es mußte durchgelüftet werden, und die Möbel waren mit Staub bedeckt. Sie wollte die Putzfrau nicht um sich haben und machte sich selbst an die Arbeit. Damit konnte sie sich die Zeit nutzbringend vertreiben. Was Mary Ann auch machte, sie machte es gründlich. Sie war so in die Arbeit vertieft, daß sie nicht aufblickte.
Plötzlich aber vernahm sie ein Räuspern, und als sie aufsah, stand jemand vor dem offenen Wohnzimmerfenster, ein weibliches Wesen mit einer auffallenden Kopfbedeckung.
Eine hohe, schrille Stimme fragte: »Wer sind Sie, was machen Sie hier?«
»Darf ich eine Gegenfrage stellen? Wer sind Sie und was wollen Sie?«
»Ich bin die Schwiegermutter von Herrn Dr. Karsten, Charlotte Zander«, kam die empört klingende Antwort.
Ach du lieber Himmel, dachte Mary Ann.
»Und nun erwarte ich eine Antwort, wer Sie sind und was Sie hier zu tun haben.«
»Sie sehen es, ich wische Staub. Mein Name ist Wilkens, ich bin eine Kollegin von Dr. Karsten.« Sie meinte, daß das ausreichte, aber sie kannte Charlotte Zander nicht, der es nicht entging, daß Mary Ann eine attraktive Frau war.
»Soso, eine Kollegin, und Sie dürfen sich allein hier aufhalten? Wo ist mein Schwiegersohn?«
Mary Ann überlegte, ob sie bei der Wahrheit bleiben oder eine Ausrede finden sollte. Sie wählte den goldenen Mittelweg. »Dr. Karsten wurde bei einem Flugzeugunglück schwer verletzt und ist erst seit heute in einer Klinik in München«, erwiderte sie, nicht ahnend, daß die Zanders zumindest über die dramatische Notlandung informiert waren.
»In welcher Klinik?« fragte Charlotte schrill.
»In der Uni-Klinik, die Abteilung ist mir nicht bekannt«, redete sich Mary Ann heraus.
»Und Sie können hier schalten und walten, wie Sie wollen?«
»Es muß Ordnung gemacht werden.«
»Das kann eine Putzfrau machen, ich werde meine schicken.«
»Das ist nicht nötig, es ist Dr. Karsten recht, wenn ich mich darum kümmere.«
»Mir ist das nicht recht. Ich kenne Sie nicht.«
»Jetzt kennen Sie mich doch. Sie können sich bei der Firma nach mir erkundigen.«
»Sind Sie dort auch als Putzfrau tätig?« fragte Charlotte boshaft.
»Ich bin PR Managerin«, erwiderte Mary Ann gelassen.
Ein stechender Blick durchbohrte sie förmlich, aber das konnte sie auch nicht erschüttern.
»Mein Schwiegersohn hat Sie nie erwähnt.« Ein bißchen unsicher klang das jetzt doch.
»Wozu auch? Ich weiß nicht, wie oft Sie ihn treffen, aber Sie dürfen überzeugt sein, daß er gegen meine Anwesenheit in seinem Haus nichts einzuwenden hat. Er wird in nächster Zeit allerdings noch keine Besuche empfangen dürfen.«
»Das haben Sie wohl nicht zu bestimmen. Wir werden es sehen.« Und damit rauschte sie von dannen.
Mary Ann atmete auf. Jetzt wußte sie also, wie Charlotte Zander war, und warum Simon nichts mit ihr zu tun haben wollte.
Sie schloß jetzt die Fenster, um vor weiteren Überraschungen sicher zu sein. Es war ja möglich, daß sie ihren Mann auch herschickte.
Sie brauchte allerdings noch ein paar Stunden, bis alles so war, wie sie es haben wollte. Dabei stellte sie doch fest, daß sie manches gern ändern würde.
Sie wollte es mit Simon besprechen. Ein Schrecken durchzuckte sie bei dem Gedanken, ob er es dann auch sehen könnte.
Eines aber stand für sie fest: Was immer auch geschehen würde, sie würde ihn niemals verlassen.
Sie versank in Nachdenken. Irgendwie erschien ihr jetzt alles merkwürdig. Die große Erbschaft gerade zu dieser Zeit, das Unglück, die Angst um Simon, und nun doch wieder die Sicherheit, die das Geld ihnen brachte und ihr erlauben würde, ganz für ihn da zu sein.
Vielleicht war es auch besser, sie würden sich ein anderes Zuhause einrichten, in dem auch Sabines Eltern keinen Zutritt hatten. Wenn so boshafte und gehässige Bemerkungen ihr auch nichts anhaben konnten, von Simon mußte sie alles fernhalten, was ihn verletzen konnte.
Es war schon ganz dunkel, als sie zu ihrer Wohnung fuhr. Sie fand ein Fax von Stanley Bratt vor, der sie bat, ihm doch eine Nachricht zukommen zu lassen, was sich inzwischen bei Simon ergeben hatte. Sie möge ihn auch anrufen, damit er mit ihr über den Verkauf von Joshuas Haus sprechen könne, für das er mehrere Angebote erhalten hätte.
Jetzt ging ihr durch den Sinn, ob sie vielleicht mit Simon nach Atlanta übersiedeln sollte, weit weg von München, wo er doch an manches aus der Vergangenheit erinnert wurde.
Aber hier hatten sie sich kennengelernt, hier hatte ihre Liebe begonnen, und sie waren glücklich gewesen. Warum sollten sie es nicht wieder sein?
Sie mußte innerlich zur Ruhe kommen. Sie mußte Simon Halt geben, ihm Mut machen, sie mußte auch an das Kind denken.
*
Um diese Zeit wachte Simon kurz auf. »Mary Ann«, flüsterte er. »Wo bist du?«
Die Schwester wußte nicht, was sie sagen sollte, denn Simon war noch ein gänzlich Fremder für sie, ein Patient wie jeder andere. Niemand sonst hätte auch gewußt, wer Mary Ann war, denn sie hatte nur mit dem Professor gesprochen. Simon bekam eine Infusion und schlief wieder, es war so auch besser für ihn. Er wäre sonst ins Grübeln gekommen.
Mary Ann fiel es ein, daß sie Dr. Norden benachrichtigen mußte, aber jetzt war es schon zu spät. Sie wollte es am nächsten Morgen gleich nachholen. Bratt konnte sie anrufen, denn in Atlanta war helllichter Tag, und die Verbindung war ausgezeichnet. Sie erzählte ihm, was sich bisher getan hatte, sie aber noch nichts Genaues wüßte und mit Prognosen vorsichtig sein müsse. Mit dem Verkauf des alten Hauses in Atlanta ließ sie ihm völlig freie Hand, viel wert sei es wohl nicht mehr. Er meinte, sie würde sich wundern, wieviel geboten würde, natürlich würde er das höchste Gebot annehmen.
Mary Ann war froh, daß sie sich so auf ihn verlassen konnte. Sie hatte wirklich Glück im Unglück und brauchte sich nicht verlassen zu fühlen. Mit solchen Gedanken konnte sie sich dann endlich zur Ruhe begeben und schlief tatsächlich in dieser Nacht auch ganz tief.
*
Norden hatten sich ziemlich lange unterhalten, nachdem Fee gefragt hatte, ob Daniel Nachricht über Simon Karsten erhalten hätte.
Er hatte aber nur erfahren, daß der Transport gut verlaufen und er nun in der Uni-Klinik sei.
»Eine schwere Zeit für die nette Mary Ann«, meinte Fee. »Ob sie ihm treu bleibt, wenn er blind bleiben wird?«
»Ganz bestimmt, sie ist keine Frau, die gleich das Handtuch wirft. Hoffentlich machen seine Schwiegereltern ihr nicht das Leben schwer.«
»Er hat doch mit ihnen nichts mehr zu schaffen«, meinte Fee. »Frau Zander ist eine nicht gerade angenehme Person. Um sie macht manch einer einen großen Bogen. Sei froh, daß du nie mit ihnen zu tun hattest, mein Schatz.«
»Das kannst du laut sagen, Feelein. Leider gibt es mehr von der Sorte. Man sollte nicht meinen, was manche Schwiegermütter so alles anrichten können. Frau Axmann hat mir heute auch wieder ihr Leid geklagt. Es ist zu jedem Kindergeburtstag dasselbe, wenn ihre Schwiegermutter aufkreuzt. Was würdest du wohl machen, wenn du solche Schwiegermutter hättest, Feelein?«
»Ich würde deutlich meine Meinung sagen.«
»Und wenn ich meiner Mutter die Stange halten würde?«
»Würdest du nicht, weil dir der Ehefrieden wichtiger wäre. Aber warum sollten wir überhaupt darüber reden, es gibt keine solchen Probleme bei uns und wir verstehen uns sogar mit der sogenannten Stiefmutter bestens.«
»Man soll sich auch nicht einmischen. Wie oft fragen mich andere Mütter um Rat, was sie tun sollen, wenn die Kinder von den Großeltern zu verwöhnt werden oder wenn der Vater zu streng ist. Wenn ich dann hin und wieder doch mal sage, wie ich mich in solchem Fall verhalten würde, machen sie große Augen und lenken gleich ein, daß sie es ja auch mit keinem verderben wollen. Es sind ganz wenige Mütter selbst konsequent in der Erziehung.«
»Bist du doch auch nicht.«
»Wieso denn nicht?«
»Wie oft hast du schon Hosen und T-Shirts umgetauscht, weil sie unseren Trabanten nicht gefallen haben.«
»Das ist doch was anderes, mein Schatz. Das ist der persönliche Geschmack, den man akzeptieren muß.«
»Wenn du es so siehst«, meinte er lächelnd.
»Da wir schon mal bei den Familienbanden sind, fahren wir Ostern zur Insel?«
»Hatten wir das nicht bereits entschieden?«
»Wenn nichts dazwischenkommt.«
»Dann werden wir dafür sorgen, daß nichts dazwischenkommt.«
Dafür bekam er einen besonders zärtlichen Kuß. Sie freuten sich, wenn sie mit den Eltern zusammen sein konnten. Und die konnten es immer kaum erwarten, ihre Enkelkinder um sich zu haben.
*
Ein neuer Tag brach an, Mary Ann war sehr früh wach, aber sie fühlte sich gut, da sie die ganze Nacht geschlafen hatte. Sie wollte zuversichtlich sein und verdrängte trübe Gedanken. Sie nahm sich auch Zeit für das Frühstück und fuhr danach gleich zu Dr. Nordens Praxis. Er war gerade erst gekommen, und Wendy ließ Mary Ann gleich ins Sprechzimmer. Sie erstattete ihm ausführlich Bericht, soweit ihr das möglich war, aber er konnte ihr die Sorge wegen der Blindheit von den Augen ablesen.
»Sie dürfen zuversichtlich sein«, sagte er tröstend. »Ich habe schon mehrere Fälle mit traumatischer Blindheit nach schweren Unfällen erlebt, und Professor Leine ist eine wirkliche Kapazität.«
»Ich bin optimistisch, aber ich kenne Simon, er wird sich am liebsten verkriechen wollen und meint, daß er mir das nicht zumuten kann.«
»Machen Sie sich jetzt nicht schon Gedanken. Wie fühlen Sie sich überhaupt selbst gesundheitlich?« Er hatte sie forschend gemustert, aber nicht gesagt, daß sie erschöpft wirkte. Er kannte sie ja ganz anders, viel vitaler und ohne diese umschatteten Augen.
»Ich bin tatsächlich schwanger«, sagte sie leise. »Ich glaube, jetzt ist schon der dritte Monat.«
»Dann sollten Sie auf jeden Fall zur Kontrolluntersuchung zu Dr. Leitner gehen.«
»Ich weiß nicht, wie Simon es aufnehmen wird«, fuhr sie stockend fort. »Jetzt brauche ich es ihm ja noch nicht zu sagen, aber wenn er wieder sehen kann, wird es ihm nicht entgehen, und dann könnte es ein Schock für ihn sein. Es war doch auch ein Schock für ihn, als Sabine bei der Geburt starb, und mir wurde auch eine Risikoschwangerschaft prophezeit.«
Dr. Norden überlegte, wie sie wohl selbst darüber denken mochte. Er wagte die Frage, ob sie eine Schwangerschaftsunterbrechung in Betracht ziehe.
»Nein, nein«, widersprach sie heftig, »ich will das Kind, aber ich muß jetzt auch Rücksicht auf Simons körperliche und seelische Verfassung nehmen. Er wird noch mehr als vorher mich allein für sich haben wollen.«
»Es wird so manches nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, sagte Dr. Norden aufmunternd. »Es ist auch für einen Mann schön, in einem Kind weiterleben zu dürfen, und er war jetzt dem Tod doch sehr nahe. Das verändert den Menschen auch. Sabines Tod hat ihn auch ins Grübeln gebracht, nicht nur deshalb, weil sein Schwiegervater unbedingt seinen Willen durchsetzen mußte und sich Sabine mehr nach ihm richtete als nach ihm. Sie blieb auch in der Ehe die verwöhnte Tochter. Ich kannte sie zwar nur flüchtig, aber mir wurde soviel erzählt von Patientinnen, daß ich mir ein Bild von ihr machen konnte, und ich glaube auch nicht, daß sie sich ihrem Mann zuliebe geändert hatte. Sie sind eine andere Frau und für ihn wohl die Richtige.«
»Wenn man das nur immer ganz genau wüßte«, sagte Mary Ann leise. »Es ist soviel geschehen in diesen wenigen Wochen, womit man nicht rechnen konnte, und ich hätte niemals gedacht, daß wir durch solchen Schicksalsschlag plötzlich getrennt werden könnten. Mir vorzustellen, daß es ein Abschied für immer sein könnte, als ich nach Atlanta flog, quält mich heute noch, und weil ich so dankbar bin, daß wir wieder zusammen sein können, ist mir schon ziemlich bange, daß ausgerechnet das Baby eine Krise auslösen könnte.«
»Ich kann ja verstehen, daß Simon sich um Sie sorgt, aber er wird sich auch klarwerden darüber, wie sehr Sie sich um ihn sorgen mußten und auch jetzt noch müssen. Es wird ihm doch sicher helfen, daß Sie auch bei ihm bleiben, wenn er sein Augenlicht vielleicht für immer verliert.«
»Ich glaube eher, daß er meint, es sei ein zu großes Opfer für mich, das er nicht annehmen will. Dann ist da auch noch Frau Zander, mich friert es bei dem Gedanken an ihren Blick.«
»Sie sind ihr begegnet, Mary Ann?«
Sie erzählte ihm von dem Zwischenfall, und er nickte gedankenvoll. »Das sieht ihr ähnlich. Sie verändert sich nicht, oder höchstens noch mehr zum Nachteil. Sie sollten sich nicht zu sehr von solchen Nebensächlichkeiten beeinflussen lassen. Sie werden bestimmt noch öfter mit ihr konfrontiert werden, mit ihrem Mann auch. Das sind Menschen, die sich Geltung verschaffen wollen. Es wurmt sie, daß Simon nicht zu Kreuze vor ihnen gekrochen ist. Warten Sie ab, wie sich bei Simon alles entwickelt.«
»Werden Sie sich auch um ihn kümmern? Für diese Ärzte im Klinikum ist er doch nur ein Patient wie alle anderen.«
»An dem sie aber bedeutend mehr verdienen«, sagte Daniel ironisch, »das verschafft ihm schon eine Sonderbehandlung. Aber Haberland wie auch Leine handeln nach ethischen Grundsätzen. Sie werden ihr Bestes tun.«
Und Mary Ann konnte sich auch nicht beklagen, als sie dann in der Klinik eintraf. Sie wurde äußerst zuvorkommend behandelt. Allerdings mußte Professor Leine ihr sagen, daß noch Tage vergehen würden, bis er eine endgültige Prognose stellen konnte.
Die Kopfverletzung mußte erst ausheilen, und die Gehirntätigkeit mußte genau kontrolliert werden.
»Es könnte mehr schaden als nützen, wenn man den Patienten jetzt mit belastenden Untersuchungen quälen würde«, erklärte er. »Es wird ihm auch helfen, wenn seine Psyche wieder ins Gleichgewicht kommt. Ihre Nähe wird ihm bestimmt sehr helfen.«
Mary Ann seufzte in sich hinein. Sie hoffte es ja so sehr, aber sie wurde den Gedanken doch nicht los, daß Simon anders reagieren könnte, als sie es sich sehnlichst wünschte. Sie saß an seinem Bett, streichelte seine Hände und sagte ihm, was sie fühlte. Manchmal schien es ihr, als würde er lächeln, aber dann vernahm sie auch ein leises, schmerzvolles Stöhnen.
Sie blieb zwei Stunden, aber Simon erwachte nicht. Zum Mittagessen war sie mit Dr. Mattes verabredet. Es gab einiges zu besprechen, was sie im Büro nicht ungestört tun konnten.
Er war sehr ernst und zeigte sich besorgt um sie.
»Sie sollten ganz abschalten, Mary Ann«, meinte er. »Frau Egger ist sehr bemüht, daß alles in Ihrem Sinne läuft, aber die Firmenleitung wird uns ein paar Leute aus den Staaten schicken, was natürlich nicht bedeutet, daß Sie Ihre Stellung verlieren könnten.«
»Mir ist das jetzt ziemlich egal«, erklärte sie. »Mein Erbe verschafft mir Bewegungsfreiheit. Manchmal ist Geld eben doch sehr nützlich.«
»Und es kam zur rechten Zeit, das ist die ausgleichende Gerechtigkeit. Es würde aber allen sehr leid tun, wenn Sie nicht mehr zurückkommen würden.«
Mary Ann dachte wieder an das Baby, aber darüber wollte sie noch nicht sprechen.
Dr. Mattes begleitete sie zur Klinik. Er wollte Simon wenigstens sehen, wenn er auch nicht mit ihm sprechen konnte. Auch für ihn war es kaum vorstellbar gewesen, daß dieser imponierende Mann so hilflos und bedauernswert in einem Krankenbett lag und nicht wußte, was um ihn vor sich ging.
»Es ist immerhin fast ein Wunder, daß niemand bei diesem Drama ums Leben kam«, sagte Dr. Mattes tonlos. »Da fragt man sich doch, warum sie noch nach Moskau fliegen sollten.«
»Das habe ich mich auch dauernd gefragt«, bestätigte Mary Ann, »und dann wird so ein Theater wegen eines Visums gemacht. Aber jetzt ist er ja wenigstens hier.«
Sie blieb bei Simon, Dr. Mattes fuhr mit einem Taxi zum Büro zurück, nachdem Mary Ann ihm versprochen hatte, ihn gleich zu benachrichtigen, wenn Simon ansprechbar sein sollte. Ob er sich dann aber überhaupt noch erinnern konnte, woran er zuletzt gearbeitet hatte? Das fragte sie sich auch, während sie ihn wieder beobachtete. Und dann, siebzehn Uhr war vorbei, schlug er endlich die Augen auf. Er blickte verwirrt um sich, aber dann huschte ein heller Schein über sein blasses Gesicht, als er Mary Anns Stimme vernahm.
»Daß du bei mir bist«, flüsterte er kaum vernehmbar, aber sie konnte ihm die Worte von den Lippen ablesen.
»Ich werde immer bei dir sein, Darling.«
Ihre Stimme zitterte leicht.
»Ich kann mich nicht erinnern, was mit mir passiert ist, du mußt mir helfen, Liebes. Was ist geschehen?«
»Du warst mit ein paar anderen Kollegen aus Paris und London auf einer Konferenz in Japan und ihr solltet wohl noch nach Moskau fliegen. Die Maschine mußte in Sibirien notlanden, und es war eine Bruchlandung. Ihr wart alle beträchtlich verletzt und wurdet nach Nowosibirsk ins Krankenhaus gebracht. Ich war zu der Zeit in Atlanta und bekam nur spärliche Nachrichten.«
»Ich kann mich daran überhaupt nicht erinnern«, sagte er schleppend.
»Du warst wohl die ganze Zeit im Koma.«
»Und weshalb warst du in Atlanta?« fragte er mühsam.
»Mein Vater war gestorben, und ich mußte den Nachlaß regeln. Kannst du dich daran auch nicht erinnern?«
Er bewegte verneinend den Kopf. »Es ist alles dunkel, ein schrecklicher Zustand.« Aber seine Sprache wurde etwas deutlicher. »Ich habe Durst«, erklärte er.
Sie läutete nach der Schwester, die auch sofort kam. »Herr Karsten hat Durst«, erklärte Mary Ann.
»Ich werde es dem Arzt sagen«, erwiderte Schwester Gerda und eilte hinaus.
»Ich will doch nur etwas trinken«, sagte er unwillig.
»Du hattest eine schwere Kopfverletzung, da sind sie wohl vorsichtig. Ich bin so froh, daß wir es erreicht haben, daß du und die beiden anderen hergebracht wurden.«
»Hast du schon mit ihnen gesprochen?«
»Nein, wie heißen sie?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Was soll das werden?« stöhnte er.
»Es wird alles wieder gut«, sagte sie tröstend und streichelte seine Wange.
Die Schwester kam mit dem Arzt zurück und einem Medikamentenwagen.
Dr. Wegner war noch ziemlich jung und verbreitete gute Laune.
»Sie bekommen jetzt eine Infusion, die lindert den Durst«, erklärte er.
»Warum nicht ein Glas Wasser?« fragte Simon ungeduldig.
»Sie könnten sich verschlucken, und dann können Adern platzen, das dürfen wir nicht riskieren. Haben Sie noch etwas Geduld, dann normalisiert sich alles. Sie können von Glück sagen, daß Sie wenigstens wieder sprechen können.«
»Aber ich kann mich an fast nichts erinnern.«
»Können Sie ihm sagen, wie seine Kollegen heißen?« bat Mary Ann den Arzt.
»Pierre Chevraux und Charles Cameron. Kommt jetzt eine Erinnerung?«
»Wie geht es ihnen?«
»Auch nicht besser als Ihnen. Die Angehörigen wurden verständigt, und Mrs. Cameron ist vorhin eingetroffen.«
»Ich werde mich mit ihr bekannt machen, wenn sie einverstanden ist«, sagte Mary Ann.
»Es ist wie ein Puzzlespiel«, murmelte Simon. »Alles nur Bruchstücke.«
»Wir werden sie schon zusammensetzen«, meinte Mary Ann aufmunternd. Sie konnte indessen beobachten, wie die Infusion durch den Schlauch tropfte.
Dr. Wegner sagte, daß er später wiederkommen würde. Es wurde bereits nach ihm gerufen.
»Geht es besser?« fragte die Schwester.
Als Simon nickte, ging auch sie.
»Wie lange soll das denn noch gehen?« fragte Simon müde.
»Bis du wieder gesund bist. Du mußt halt Geduld haben, Liebster.«
»Du kennst mich doch. Ich weiß ja nicht mal, wie lange ich schon in diesem Zustand bin. Ich habe keinen Begriff mehr für Zeit. Mir kommt es vor, als wäre es hundert Jahre her, daß ich noch Entscheidungen treffen konnte.«
»Es sind jetzt genau dreißig Tage.« Mary Ann wollte ihn nicht täuschen. Es konnte seine Abwehrkräfte mobilisieren, wenn er aus diesem Zustand heraus wollte. Er war nicht der Mensch, der resignierte.
»Dreißig Tage, guter Gott, wer vertritt mich eigentlich?«
»Das macht vorerst Dr. Mattes. Die Firmenleitung schickt jetzt ein paar Leute aus den Staaten.«
»Ich kenne die Brüder, sie werden mich ausschalten.«
»Das schafft keiner, aber es braucht dich nicht zu tangieren. Du hast die finanzielle Freiheit, alles zu tun, was du tun willst und was dir Freude macht.«
»Du meinst doch nicht etwa mit deinem Erbe? Das käme für mich überhaupt nicht in Frage. Ich werde jetzt schleunigst wieder auf die Beine kommen und es ihnen zeigen.« Aber dann hielt er erschrocken inne. »Aber was ist mit meinen Augen?«
»Du darfst dich jetzt vor allen Dingen nicht aufregen. Die Hornhaut ist nicht beschädigt. Es liegt an der Augenhinterwand, wenn ich den Professor richtig verstanden habe. Es hätte gleich etwas unternommen werden müssen, aber dazu hatten sie wohl in Nowosibirsk keine Möglichkeiten. Aber Professor Leine hat mir Hoffnung gemacht, daß deine Chancen gut stehen, da du jetzt entsprechend behandelt werden kannst. Es sind auch diesbezüglich große Fortschritte zu verzeichnen, aber deshalb mußt du noch ruhiggestellt werden.«
»Wenn es sich lohnt, werde ich das auch noch auf mich nehmen«, seufzte er, »aber wenn ich bind bleibe, wirst du dir einen anderen Partner suchen.«
»Das könnte dir so passen. Jetzt machst du dir nicht solche Gedanken. Du mußt nur positiv denken. Ich werde bei dir bleiben, komme, was da wolle, und wenn ich mich mit deiner Schwiegermutter anlegen muß.«
»Du wirst doch nichts mit ihr zu tun bekommen.«
»Sag das nicht, ich habe sie schon kennengelernt.« Jetzt fiel es ihr leicht, über diese Begegnung zu sprechen. Sie wollte seine Meinung hören.
»Das sieht ihr ähnlich«, sagte er aufgebracht. »Ich wette, daß sie sich schon Gedanken gemacht haben, daß ich sterben könnte und sie dann erben.«
»Denkst du das wirklich?«
»Ich kenne sie.«
»Nun regst du dich darüber auf. Ich habe keine Angst vor ihr. Und jetzt sollst du lieber schlafen.«
»Warte nur, bis sie mit ihrem Mann aufkreuzt. Ich habe sie leider zu spät kennengelernt, sonst hätte ich es mir überlegt, Sabine zu heiraten. Aber sie hat auch unter ihren Eltern gelitten, sie war anders. Nur auch nicht die richtige Frau für mich. Das bist du.«
»Und du würdest mich wegschicken, wenn es nicht so klappt mit den Augen?«
»Bedenke doch, was das bedeutet.«
»Ich weiß nur, daß es viele blinde Menschen gibt, die Höchstleistungen vollbringen.«
»Du hast den besten Mann verdient.«
»Den habe ich gefunden.«
Sie küßte ihn zärtlich, und sie hätte jetzt sogar über das Baby gesprochen, wenn er nicht eingeschlafen wäre.
Sein Gesicht hatte jetzt einen grüblerischen Ausdruck, und sie konnte sich denken, daß er auch im Schlaf nicht frei war von Gedanken. Sie erlebte es ja auch manchmal beim Schlafen, daß sich etwas in ihrem Kopf abspielte, was man nicht als Traum bezeichnen konnte, sondern eher als Vision.
Jedenfalls war es für sie nur wichtig, ihn aufzumuntern und anzuspornen, voller Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Sie war erleichtert, daß sie mit ihm über Charlotte Zander gesprochen hatte und seine Reaktion kannte. Er erwartete keine Toleranz von ihr. Sie hatte schon einmal bei einer früheren Bekannten erlebt, daß es anders sein konnte, wenn der Mann seine erste Frau verloren hatte, aber von der Erinnerung nicht loskam. Darüber war dann auch diese Ehe in die Brüche gegangen.
Sie fuhr jetzt heim. Die Spannung legte sich. Sie würde nicht kapitulieren. Sie würde um den Mann und um ihre Liebe kämpfen. Sie war dankbar, daß es ihnen beschieden gewesen war, sich wiederzusehen und es kein Abschied für immer geworden war. Es hätte so sein können, wenn das Schicksal es nicht so gut mit ihnen gemeint hätte.
*
Charlotte Zander konnte sich nicht lange genug über die Begegnung mit Mary Ann auslassen. Es ging ihrem Mann langsam auf die Nerven.
»Du mußt dich erkundigen, was das für eine Person ist, Alfred«, forderte sie schrill. »Sie macht sich in dem Haus breit, als würde es ihr gehören. Anscheinend weiß sie nicht, daß es mit unserem Geld eingerichtet wurde.«
»Jetzt halt aber mal die Luft an, Charlotte. Das Haus war eingerichtet, als Sabine ihn geheiratet hat. Verdreh die Tatsachen nicht.«
»Sabine hat aber viel verändert, und sie hat uns dauernd auf der Tasche gelegen.«
»Weil er nicht wissen sollte, wie teuer ihre Kleidung ist. Ich habe mich auch manchmal gefragt, warum sie soviel Geld ausgeben muß. Du hast dir soviel nicht leisten können, als wir jung waren, und du hattest einen geizigen Vater.«
Daran wollte Charlotte nicht gern erinnert werden, so wechselte sie dann doch das Thema, denn aus ihrem Bekanntenkreis war auch so manches zu berichten, was nicht ihren Beiklang fand. Eigentlich hatte sie bei allen anderen etwas auszusetzen, nur bei sich selbst nicht. Später erinnerte sie ihren Mann aber doch noch mal daran, daß er sich über Mary Ann Wilkens erkundigen sollte, und ob sie wirklich eine leitende Stellung in der Firma hätte.
Das interessierte Alfred Zander allerdings auch. Sabine war schließlich eine bequeme Frau gewesen, die keine anderen Ambitionen hatte, als durch Eleganz in der Gesellschaft zu glänzen. Mit ihrem Wissen war es nicht weit her gewesen, wenn sie sich auch gut zu unterhalten wußte über all das, was ihr wichtig erschien. Im nachhinein mochte es wohl so aussehen, als wäre es ihr so bestimmt gewesen, ihr junges Leben so intensiv zu genießen. Aber wie wäre alles gekommen, wenn sie länger gelebt hätte und Simon einer Frau begegnet wäre, die andere Qualitäten hatte, die seinen Interessen mehr entsprachen? Die beiden Zanders zerbrachen sich gern die Köpfe über Dinge, die bereits der Vergangenheit angehörten, aber man mußte ihnen das eine zugute halten, daß Sabine ihr einziges Kind war und sie sich schon auf das Enkelkind gefreut hatten. Und es war ja auch so, daß Simon unter dem Verlust gelitten hatte.
*
Auch bei dem Ehepaar Norden war das Gesprächsthema wieder Simon Karsten und Mary Ann gewesen, denn jetzt hatte Daniel einen neuen Fall, der Parallelen mit diesem aufwies. Eine junge Frau, ihr Name war Carola Gassmann, war seit einem halben Jahr verheiratet und erwartete ein Baby. Ihr Mann war mit einem Kamerateam nach Israel und Palästina geschickt worden. Es war Dr. Norden durchaus verständlich, daß sie Angst um ihn hatte. Davon hatte er Fee erzählt, und die reagierte so spontan, wie er sie kannte.
»Ich verstehe nicht, daß er keine Rücksicht auf seine schwangere Frau nimmt und sich lieber einen weniger gefährlichen Job gesucht hat«, sagte Fee.
»Es ist nun mal sein Beruf, und sie hat es gewußt, als sie ihn geheiratet hat«, meinte er. »Es muß ja nicht gleich was passieren.«
»Wie schnell was passieren kann, wissen wir ja durch Simon Karsten, und der ist nicht in ein Krisengebiet geflogen.«
»Ein Mann steht auf einer Verkehrsinsel und wartet auf Grün, und als die Ampel umschaltet, kommt ein Auto angerast und überfährt ihn. Der Mann ist tot und hat sich keineswegs in Gefahr begeben, mein Schatz. Wie nennt man so was?«
»Schicksal«, erwiderte sie beklommen.
»Also ist man nirgends sicher.«
»Wo du recht hast, hast du recht«, räumte sie ein.« Hoffen wir, daß Herr Gassmann gesund zurückkommt.«
»Es wäre auch zu schrecklich, wenn so ein kleines Wesen zur Welt kommt und seinen Vater nicht mal kennenlernt. Glaubst du, ich mache mir darüber keine Gedanken?«
»Das weiß ich doch.«
Am nächsten Tag hatte Mary Ann zum ersten Mal starke Beschwerden, und sie bekam es mit der Angst.
Ausgerechnet jetzt, wo es für Simon kritisch wurde, weil die ersten Reaktionsproben für die Augen stattfinden sollten. Sie fuhr gleich morgens zu Dr. Norden, aber er schickte sie zu Dr. Leitner, nachdem er mit ihm telefoniert hatte. Und der hatte zufällig Zeit und konnte Mary Ann gleich untersuchen.
Er war ganz anders als Dr. Norden, sehr konzentriert und ernst bei der Sache, und er war sehr wortkarg. Aber er war ihr gleich sympathisch, weil er nicht viel herumredete und ihr dann sehr ruhig und verständlich erklärte, daß sie tatsächlich mit einer nicht leichten Schwangerschaft rechnen müsse. Sie brauche viel Ruhe und sollte zumindest in den nächsten Wochen, bis sie den vierten Monat überstanden hatte, viel liegen.
Sie erklärte ihm ihre Situation. »Ich muß alle Aufregungen von Simon fernhalten, und er weiß nicht, daß ich schwanger bin.«
»Sie wollen es ihm nicht sagen?« fragte Dr. Leitner verwundert.
»Seine erste Frau ist bei der Geburt gestorben, und er hat Angst, mich auch zu verlieren.«
»Dann wird er Verständnis haben, daß Sie sich schonen müssen.«
»Sie verstehen das vielleicht nicht, aber ich kann es ihm nicht sagen. Ich will das Kind zur Welt bringen, aber ich muß mir etwas einfallen lassen. Wenn er doch nur sein Augenlicht wiederbekäme, dann könnte er sich auf der Insel der Hoffnung ein paar Wochen erholen und ich kann sagen, daß ich in der Firma unabkömmlich bin und sehen, wie ich die Wochen überstehe. Sollte ich doch noch eine Fehlgeburt bekommen, darf er es nicht erfahren, aber ich kann mein Kind nicht töten lassen, das kann ich nicht!«
»Sie haben sich schon viele Gedanken darüber gemacht«, sagte er.
»Von dem Tage an, als ich erfahren habe, daß es eine Risikoschwangerschaft werden wird. Ich wollte jetzt noch kein Kind, weil ich wußte, wie Simon denkt, aber als ich es erfuhr, stand es für mich fest, daß ich es bekommen will. Ich hatte mir schon vorgenommen, in Amerika zu bleiben, um es dort zur Welt zu bringen. Aber dann geschah das Unglück, und Simon brauchte meine Hilfe. Er braucht sie immer noch, aber ich kann ihm nicht helfen, wenn er sich Sorgen um mich macht. Ich bete, daß ihm das Augenlicht wiedergegeben wird, dann wird es etwas einfacher.«
Es überraschte sie selbst, daß sie so offen mit Dr. Leitner sprechen konnte, aber er war ein vertrauenerweckender Arzt. Sie war froh, daß Dr. Norden sie zu ihm geschickt hatte.
»Sie sollten beachten, daß Sie sich nicht verkrampfen, sich entspannen bei jeder Gelegenheit und sich viel aber vorsichtig bewegen. Sie sollten nur leicht verdauliche Speisen essen, Reis und Nudeln, Fisch und auch mal mageres Fleisch, kein Obst, das den Magen reizen kann, keinen Bohnenkaffee und keinen schwarzen Tee.«
»Und natürlich auch keinen Alkohol«, fügte sie hinzu.
»Ein Gläschen Prosecco kann nicht schaden ab und zu.« Jetzt lächelte er sogar flüchtig.
Mary Ann überlegte. »Aber es wird doch ein gesundes Kind werden?« fragte sie beklommen.
»Es wird sich nehmen, was es braucht, ohne Rücksicht auf Ihre Beschwerden, die sicher auf eine Wirbelverletzung in Kindertagen zurückzuführen ist.«
»Ich kann mich nur erinnern, das ich einmal vom Pferd gestürzt bin, weshalb mir das Reiten dann verboten wurde.«
»Aber Sie haben anderen Sport getrieben.«
»Allerdings. Ich hatte auch keine Schmerzen mehr.«
»Sport kann manchmal auch schädlich sein, aber das sagt einer, der kaum Sport getrieben hat und trotzdem manchmal unter Rückenschmerzen leidet. Ich hoffe, daß Sie die schlimmste Zeit überwinden. Kommen Sie bitte regelmäßig zur Kontrolluntersuchung.«
Er hatte ihr ein paar Tropfen gegeben und ihr auch ein Rezept dafür geschrieben. Anscheinend halfen sie, denn sie hatte nicht mehr die krampfartigen Schmerzen.
»Manchmal sind sie auch psychisch bedingt«, sagte Dr. Leitner. »Sie sitzen jetzt viel am Krankenbett und machen sich Gedanken, die Sie belasten. Sie sollten sich selbst auch gut zureden und nicht nur Ihrem Zukünftigen.«
»Ich werde mir Mühe geben. Vielen Dank, Herr Doktor.«
Sie fühlte sich tatsächlich besser und fuhr nun zur Klinik. So sehr sich Simon freute, er erkundigte sich doch, ob sie so oft und solange vom Büro fernbleiben könne, und da kam ihr der Gedanke, mehr Arbeit als Ausrede zu benutzen. Sie mußte es nur mit Dr. Mattes absprechen, damit er das auch sagte, wenn er Simon besuchte.
»Ich bin ja froh, wenn du bei mir bist, aber wir können doch nicht beide arbeitslos werden.«
Er dachte gar nicht daran, daß sie jetzt eine reiche Frau war.
Noch war er sehr schwach und schlief viel, da wurde ihm auch nicht so bewußt, daß er nicht sehen, nicht lesen konnte, aber es würde ihm doch von Tag zu Tag bessergehen. Wenn er dann viel allein war, kam er sicher ins Grübeln und machte sich noch mehr Gedanken um die Zukunft als jetzt.
»Du meinst also, ich sollte mehr im Büro sein, als bei dir«, meinte sie ganz beiläufig.
»Natürlich freut es mich, wenn du bei mir bist, aber ich weiß doch auch, wie unentbehrlich du eigentlich bist und will nicht, daß du meinetwegen deine berufliche Karriere aufs Spiel setzt, Mary Ann. Ich weiß, wieviel dir daran liegt.«
Sie konnte ihm nicht sagen, daß ganz andere Pflichten auf sie warteten, die ihr bedeutend wichtiger waren, als ihre berufliche Karriere, von der sie sich insgeheim schon verabschiedet hatte.
»Für mich ist am wichtigsten, daß du bald ganz gesund wirst und dann ein paar Wochen auf der Insel der Hoffnung neue Kräfte schöpfen kannst. Ich habe das schon mit Dr. Norden besprochen. Ich kann dann in dieser Zeit meiner Arbeit gerecht werden.«
»Ich soll allein auf diese Insel?« fragte er düster. »Das will mir nicht gefallen.«
»Es wird dir bestimmt gefallen, Simon. Es muß wunderschön sein dort.«
»Wie wollte ich es genießen, wenn ich nichts sehen kann und du nicht bei mir bist?«
Sie merkte schon, daß er sich mit dem Gedanken gar nicht anfreunden konnte, aber sie gab nicht nach. Sie erklärte ihm, wie wichtig die Therapie für ihn wäre nach dem langen Krankenlager.
»Du meinst es zu gut mit mir, du denkst überhaupt nicht an dich selbst«, sagte er leise.
Ihr Gewissen schlug, denn dabei dachte sie ja auch an sich. Sie schalt sich feige, aber sie hatte nur Angst, daß das werdende Kind zwischen ihnen stehen könnte, sie sogar trennen würde. Es mußte erst auf der Welt sein, gesund und munter, wie sie auch, bevor er es erfahren durfte. Aber konnte sie das durchhalten? Sie war plötzlich so voller Zweifel, daß ihr zum Weinen zumute war.
»Du bist so still, mein Liebes, ich habe dich doch nicht verärgert? Ich tue ja alles, was du willst, um gesund zu werden, sonst würde das Leben doch sinnlos für mich. Ich könnte es mir nicht verzeihen, dich an mich zu binden, wenn ich behindert bleibe.«
»Rede nicht so was, rede es dir nicht ein«, sagte sie energisch. »Ich liebe dich, und das wird sich niemals ändern.«
»Und ich liebe dich, mehr als alles auf der Welt.«
Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn lange und zärtlich, aber dann kam ihr wieder in den Sinn, daß er bald merken würde, daß sich ihr Körper veränderte, wenn sie sich so nahe waren. Was sollte sie nur tun? Was war besser, zu reden oder doch zu schweigen?
»Ich werde jetzt ins Büro gehen«, erklärte sie, und du wirst eine Runde schlafen.«
»Ich schlafe doch dauernd, wie es mir vorkommt, für Jahre im voraus.«
»Es trägt aber zur schnelleren Genesung bei.«
»Wenn du es sagst«, seufzte er.
Ein kühler Wind wehte, als sie die Klinik verließ, und da sah sie zum Glück noch Dr. Mattes kommen. Sie atmete erleichtert auf.
»Ich wollte gerade ins Büro kommen, um mit Ihnen zu sprechen«, sagte sie hastig. »Ich habe eine große Bitte an Sie.«
»Ist schon erfüllt«, erwiderte er.
Sie erklärte ihm, was sie auf dem Herzen hatte, ohne allerdings ihre Schwangerschaft zu erwähnen.
»Simon hat Angst, daß wir beide arbeitslos werden«, sagte sie lächelnd. »Da er anscheinend nicht wahrhaben will, daß wir es uns jetzt leisten könnten, selbst etwas aufzubauen und er sich keinesfalls Sorgen um die Zukunft machen soll. Sie dürfen ihm nicht verraten, daß ich in der Firma gar nicht gebraucht werde.«
»Was auch nicht stimmt, Sie werden sogar sehr gebraucht. Es kann Sie bisher niemand ersetzen, und wir wären heilfroh, wenn Sie wenigstens ab und zu die Räder in Schwung bringen, sonst werden wir womöglich alle arbeitslos.«
»Jetzt übertreiben Sie aber«, winkte sie ab.
»Ich übertreibe nicht. Die hohen Herren zeigen sich sehr unzufrieden und sie haben anscheinend auch nicht die richtigen Leute, für Simons und Ihren Posten.«
»Das hätte ich wirklich nicht gedacht. Gut, ich werde kommen, und Simon wird sich daran gewöhnen, Radio zu hören und selbst zu einer schnelleren Genesung alles Mögliche beizutragen.«
»Ich kann mir aber vorstellen, daß es deprimierend sein muß, nichts sehen zu können und die Angst zu haben, daß es so bleiben könnte.«
»Es wird nicht so bleiben«, erklärte Mary Ann mit fester Stimme. »Muntern Sie ihn bitte auch auf.«
»Ich werde mir Mühe geben.«
Er hielt ihre Hand ein paar Sekunden fest. »Sie sind eine bewundernswerte Frau, Mary Ann, das möchte ich einmal gesagt haben.«
Bewundernswert, dachte sie, als sie sich in ihren Wagen setzte. Wenn er ahnte, wie es in mir aussieht!
*
Im Büro wurde sie beinahe enthusiastisch begrüßt, woraus sie doch schließen konnte, daß sie sehr vermißt worden war. Es lag auch vieles im argen, und es machte ihr auch wieder Spaß, ein Programm zu erstellen, nach dem sich die Mitarbeiter richten konnten. Es herrschte ein ziemliches Chaos.
Natürlich erkundigten sie sich auch nach Simon, aber zu ihm hatten sie eine größere Distanz gehabt als zu Mary Ann. Persönliche Kontakte hatte es da nicht gegeben. Deswegen wunderte sich auch mancher, daß Mary Ann einen so engen Kontakt zu ihm hatte.
Sie machte sich darüber keine Gedanken. Sie kannte einen Simon, den wohl sonst niemand so gut kennengelernt hatte.
Sie hatte in wenigen Stunden sehr viel geschafft, und als Dr. Mattes kam, war er hocherfreut, sie noch anzutreffen.
Er hatte ein gutes Gespräch mit Simon geführt und den Eindruck gewonnen, daß er sehr zuversichtlich sei.
Mary Ann verließ das Büro erst gegen achtzehn Uhr und fuhr dann noch mal zur Klinik.
Simon war gerade wieder untersucht worden und sichtlich erschöpft. Er schlief bald ein, ohne daß sie viel gesprochen hatten, aber Mary Ann hatte dann noch Gelegenheit, kurz mit Professor Leine zu sprechen, der noch wegen eines anderen Patienten in der Klinik geblieben war.
»Ich denke, daß wir jetzt mit einer gezielten Therapie beginnen können«, erklärte er. »Es sind keine Blutungen mehr zu befürchten, die Verletzungen sind gut verheilt, das EEG ist beruhigend. Es wird wahrscheinlich ein längerer Prozeß sein, und eine Sehschwäche könnte vorerst bleiben, aber wenn alles funktioniert, wie ich es mir vorstelle, kann man diese auch bessern. Mit dem Laser kann man sehr viel erreichen und auch die Linsen sind so hoch entwickelt, daß sie sehr hilfreich sind. Hoffen wir also das Beste.«
»Das tue ich«, nickte Mary Ann.
Sie hatte auch bei den Ärzten einen Stein im Brett, weil sie nicht jammerte und überflüssige Fragen stellte, sondern immer sachlich blieb und nicht gleich Wunder erwartete.
Die Schwestern hatten großen Respekt vor ihr, weil sie so liebevoll und geduldig mit Simon umging.
Mary Ann war an diesem Tag aber auch froh, als sie die Füße hochlegen konnte. Sie hatte sich einen Tee zubereitet und einen Schinkentoast, den Fernseher eingeschaltet und es sich auf dem Sofa bequem gemacht.
Die Nachrichten brachten nichts Erfreuliches. In Palästina hatten wieder zwei Bomben Menschenleben gefordert, und bei einer Schießerei war auch ein Reporter getötet worden. Mary Ann fror es gleich, als sie das hörte. Sie war gegen jede Gewalt, aber man konnte nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und sagen, daß all dies einen nichts angehe, wenngleich man auch machtlos war.
Dann wurde auch noch von einem Flugzeugabsturz berichtet, bei dem aber alle Passagiere ums Leben gekommen waren. Mary Ann dachte daran, wie viele Angehörige jetzt wieder weinten, die vergeblich auf ihre Lieben warteten. Das wenigstens war ihr erspart geblieben. Ihr Kind brauchte nicht ohne Vater aufzuwachsen, aber würde Simon dieses Kind auch lieben?
*
Fee und Daniel Norden hörten auch die Schreckensnachricht von dem Reporter, der erschossen worden war. Gleich kam Fee der entsetzliche Gedanke, daß es sich um Jürgen Gassmann handeln könnte.
»Es gibt auch andere Reporter, die sich dort aufhalten«, sagte Daniel. »Gassmann ist doch gerade erst gestartet.« Aber nach einem längeren Schweigen sagte er, daß es schrecklich wäre, wenn Frau Gassmann eine solche Nachricht bekäme.
Da läutete das Telefon, und er wurde von Carola Gassmanns Mutter zu der jungen Frau gerufen, die die Schreckensnachricht tatsächlich bekommen hatte.
Ihm war die Kehle eng, und seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen, als er Fee sagte, daß ihre Ahnung leider richtig gewesen sei.
»Die arme kleine Frau«, sagte Fee erschüttert.
Daniel Norden war schon an der Tür, und Anneka kam zu Fee und fragte, warum der Papi noch mal fort müsse.
»Ein Notfall, mein Kleines. Schlafen die Zwillinge?«
»Ganz fest. Ich war ganz leise. Kann ich noch ein bißchen bei dir bleiben?«
»Fehlt dir etwas, Anneka?« fragte Fee besorgt.
»Ich mag es nicht, wenn Papi abends zu einem Notfall gerufen wird. Das ist doch nie etwas Gutes.«
»Es gehört nun mal zum Arztberuf. Er kann meistens helfen.«
»Aber manchmal nicht, und dann ist er auch traurig.«
So wird es heute auch sein, dachte Fee. Hoffentlich verliert Frau Gassmann ihr Baby nicht, damit ihr wenigstens etwas bleibt von diesem kurzen Glück.
Und wieder kamen die Gedanken, warum es so oft gerade die traf, die sich so gut verstanden. Warum mußte überhaupt dieser Terror sein und die Gewalt unter den Völkern?
»Du denkst viel nach, Mami«, sagte Anneka leise, »ich muß auch viel nachdenken. Warum streiten sich Geschwister oder Eltern mit ihren Kindern? Verstehst du das?«
»Menschen sind halt verschieden, mein Kleines. Da genügt oft eine Kleinigkeit, ein Mißverständnis, ein falsches Wort, und schon eskaliert der Streit.«
»Aber man kann sich doch wieder vertragen.«
»Ja, aber es fällt so manchen auch schwer, den ersten Schritt zu tun.«
Anneka umarmte sie. »Ich bin so froh, daß ihr nicht streitet und wir über alles reden können.«
»So soll es auch sein, aber leider machen sich die Menschen das Leben oft selber schwer. Man sollte auch mal in den Spiegel schauen und sich fragen, ob man im Recht ist und auch sagen: Es tut mir leid, wenn man andere verletzt hat.«
Anneka nickte, Fee bekam noch einen zärtlichen Kuß, dann ging sie hinauf in ihr Zimmer.
Fee wartete auf Daniel, aber sie mußte noch eine ganze Zeit warten.
*
Carola Gassmann war zusammengebrochen, als sie die Nachricht bekommen hatte, daß ihr Mann getötet worden war. Ihre Mutter hatte sich keinen anderen Rat gewußt, als Dr. Norden anzurufen. Sie hatte Angst um Carola und das ungeborene Kind.
Ihr war es nicht recht gewesen, daß ihr Schwiegersohn diesen Auftrag angenommen hatte. Sie meinte, daß er auch auf andere Weise sein Brot verdienen könne und war bereit, die junge Familie zu unterstützen. Aber das hatte Jürgen nicht gewollt. Er liebte seinen Beruf, und Carola hatte gewußt, daß er auch mal in Gefahrengebiete geschickt wurde. Es müsse ja nichts passieren, hatte sie auch zu ihrer Mutter gesagt, aber nun war es doch passiert.
Sie war fünfundzwanzig Jahre und seit achtzehn Monaten verheiratet. Jürgen war ein paar Mal in Krisengebieten gewesen, aber immer heil zurückgekommen.
Sie war als Rechtsanwaltsgehilfin auch während der Schwangerschaft berufstätig. Sie hatte einen sehr netten, rücksichtsvollen Chef. So hatte sie gemeint, daß die Arbeit sie ablenkte, wenn Jürgen unterwegs war.
Dr. Norden fand sie in einem so desolaten Zustand vor, daß er sie in die Klinik bringen wollte, aber Frau Gassmann meinte, daß sie ihre Tochter auch versorgen könne, wenn der Schock erst mal überwunden war. Sie sei früher ja Krankenschwester gewesen, und für Carola sei es besser, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Sie war eine resolute Frau und sagte auch offen ihre Meinung.
»Das hätte ja nicht sein müssen, daß Jürgen sich in solche Gefahren begeben hat, ein paar Monate vor der Geburt des Kindes. Aber ich durfte ja nichts sagen. Nun ist sie allein mit dem Baby.«
»Machen Sie ihr nicht das Herz noch schwerer, Frau Gassmann«, sagte Dr. Norden begütigend. »Ihre Tochter braucht jetzt eine starke Stütze.« Er fühlte den Puls, der sich aber in den letzten zehn Minuten kaum gebessert hatte. Er hatte das Sauerstoffgerät aus seinem Wagen geholt. Damit konnte er ihr helfen und sie in die Wirklichkeit zurückrufen. Sie sah ihn aus leeren Augen an.
»Jürgen«, schluchzte sie auf, »es darf doch nicht wahr sein! Ich will es nicht glauben! Er kommt wieder, sagt, daß er wiederkommt!«
In solchen Momenten fühlte sich Dr. Norden hilflos. Wie sollte, wie konnte er da trösten? Dieser Schmerz würde lange anhalten. Er wußte, wie sehr sie ihren Mann liebte.
»Sie müssen jetzt an das Baby denken, Frau Gassmann, an Ihren Sohn«, sagte er sanft und hielt ihre beiden Hände.
»Wir haben uns doch so auf ihn gefreut, wie könnte ich mich jetzt noch freuen. Warum mußte das geschehen?«
»Wenn ich darauf eine Antwort wüßte. Ich verstehe Ihren Schmerz. Ich finde es schrecklich und unbegreiflich, was da in der Welt geschieht, aber wie könnten wir es verhindern?«
»Er hätte nicht gehen müssen«, warf Carolas Mutter ein.
Carolas Gesicht erstarrte.
»Du verstehst das nicht, du hast ihn nie verstanden.« Da sie es nicht ertrug, daß an ihrem Mann Kritik geübt wurde, erwachte in ihr der Widerstand.
»Es ist wohl doch so, daß einem überall etwas Schlimmes passieren kann, wenn es einem bestimmt ist. Das hat Jürgen immer gesagt. Hast du dich auch gefragt, warum Papa sich an dem stürmischen Tag ins Auto gesetzt hat, um dann in die Schneewehe zu geraten, Mama? Er hätte das Unwetter doch abwarten können.«
»Es hat ihn überrascht«, erklärte Marga Gassmann mit gekränkter Miene.
Indem sie ihren Mann verteidigte, erwachten Carolas Lebensgeister wieder. So schmerzlich der Verlust auch für sie sein mochte, sie wollte es nicht hinnehmen, daß ihre Mutter Jürgen falsches Handeln vorwarf.
Es war ein hartes Schicksal, aber er hatte dem nicht entfliehen können. Genauso konnte es jeden Menschen treffen im Straßenverkehr, bei einem Spaziergang, durch die Hand von Terroristen. Wieviel tausend Menschen waren in New York gestorben, ahnungslos in welcher Gefahr sie sich an jenem Morgen befanden, und Jürgen war in vielen Krisengebieten gewesen, in denen ihm nichts passiert war.
»Ich will an unser Kind denken, an meinen kleinen Jürgen«, sagte sie tapfer zu Dr. Norden. »Ich werde ihm erzählen, daß sein Vater ein mutiger Mann mit Prinzipien war. Das wußte ich, als ich ihn geheiratet habe.«
Und Dr. Norden dachte, daß Marga Gassmann genau das Gegenteil von dem erreicht hatte, was sie mit ihrer Kritik beabsichtigt hatte. Er konnte jetzt einigermaßen beruhigt nach Hause fahren.
Fee atmete auf, als sie seine entspannte Miene sah. »Sie hat den Schock überwunden«, erklärte er. »Ihre Mutter hat so ein paar Bemerkungen gemacht, die sie aufgerüttelt haben. Auf ihren Mann läßt sie nichts kommen.«
»Frau Gassmann ist doch eigentlich auch eine nette Frau«, stellte Fee nachdenklich fest. »Aber Schwiegermütter haben wohl meistens ein kompliziertes Verhältnis zu ihren Schwiegersöhnen.«
»Eigentlich mehr zu Schwiegertöchtern«, meinte Daniel, »aber man muß es ihr nachsehen, sie ist halt besorgt um ihre Tochter. Jetzt wird sie sich zusammenreißen und nichts mehr gegen Jürgen Gassmanns Einsatz sagen.
»Und wie geht es Simon Karsten?«
»Mit jedem Tag besser, wie ich hörte. Morgen werde ich ihn besuchen. Mary Ann hält sich tapfer. Sie ist wirklich eine erstaunliche Frau, aber in bezug auf das Baby hat der gute Karsten sie wohl mächtig verunsichert.«
»Es war ein Schock für ihn, als seine Frau bei der Geburt starb. Aber das gehört wirklich zu den seltenen Fällen, und wie es scheint, hat er jetzt doch seine große Liebe gefunden.«
»Die er nicht verlieren will. Ich meine nur, daß er jetzt, da er selbst dem Tod ganz schön nahe war, sich auch Gedanken machen wird, daß das Schicksal seine eigenen Gesetze hat.«
»Zufall und Schicksal sind umstrittene Begriffe. Eine ganze Anzahl Menschen sind der Überzeugung, daß sie selbst über den Ablauf ihres Lebens bestimmen.«
»Und wenn sie mal vom Blitz getroffen werden oder von einem anderen tödlichen Schlag, wird es ihnen nicht bewußt, daß sie darauf überhaupt keinen Einfluß hatten.«
»Dieses Thema werden wir niemals ausdiskutieren, mein Schatz. Wir wollen dankbar sein, wenn wir vom Schlimmsten verschont bleiben wie bei Jans Krankheit. Das war für uns auch ein Schock.«
Ihre Augen füllten sich bei dem Gedanken gleich mit Tränen, und Daniel nahm sie beruhigend in die Arme.
»Es ist ja gutgegangen, mein Liebes, aber ich meine, daß auch das Pfeiffersche Drüsenfieber für den Kleinen beängstigend genug war. Wir wissen, daß auch Leukämie bei Kindern gute Heilungschancen hat. Man darf die Hoffnung niemals aufgeben, solange ein Herz schlägt.«
*
Simon machte sich sehr ernsthafte Gedanken, aber sie gingen in eine andere Richtung, als Daniel und Fee Norden hofften. Er dachte darüber nach, was ihm die Zukunft bringen würde, wenn er blind bliebe. Obgleich ihm Professor Leine erklärt hatte, daß er nicht blind zu nennen sei, hatte er wenig Hoffnung, daß sein Augenlicht wiederkehrte. Er meinte, daß er längst wenigstens Umrisse erkennen müsse, aber es war nur ein leichter Nebel, der sich bei den Untersuchungen bewegte.
Er dachte an Mary Ann, diese vitale, erfolgreiche schöne Frau, der alle Türen offenstanden. Er konnte nicht erwarten, daß sie ihr Leben auf ihn einstellte, auf alles verzichtete, was ihr wichtig war. Er konnte ihr das Leben an der Seite eines behinderten und zu einem Schattendasein verdammten Mannes nicht zumuten und mußte einen Weg suchen, ihr die Trennung leicht zu machen, wenn es auch noch so schmerzhaft für ihn werden würde. Aber gerade weil er sie so liebte, wollte er, daß sie ein glückliches Leben führen konnte.
Professor Leine hatte ihm Hoffnung gemacht, aber auch erklärt, daß es lange dauern konnte, bis er ein ganz normales Leben wie früher führen konnte. Und er wußte genau, daß er sich in seiner Position Schwächen gar nicht leisten konnte. Es ging ja nicht um ihn allein, sondern um ein großes Unternehmen mit vielen Angestellten, deren Arbeitsplätze gesichert werden mußten. Die Konkurrenz war knallhart, das hatte er ja kürzlich erst in Tokio erlebt.
Mary Ann und er hatten sich perfekt ergänzt, privat wie auch im beruflichen. Simon wollte auch gar nicht in Betracht ziehen, daß sie dank ihres Erbes auf ihre berufliche Karriere verzichten würde. Daran dachte sie bestimmt nicht, und ihn wollte sie nur damit aufmuntern, daß sie jetzt Geld genug hätten, um ihn aller Sorgen zu entheben. Aber der Gedanke, sich auf ihre Kosten ein angenehmes Leben zu verschaffen, deprimierte ihn eher.
So grübelte er stundenlang, wenn sie nicht bei ihm war, wie er es ihr klarmachen konnte, daß er sich so eine gemeinsame Zukunft nicht vorstellen könnte. Aber andererseits war ein Leben ohne sie auch nicht vorstellbar.
So klammerte er sich dann doch an die Hoffnung, daß er wieder würde sehen können wie früher, eine Position, wie er sie hatte, ausfüllen zu können.
*
Mary Ann hatte mit Dr. Norden verabredet, daß sie nicht zur selben Zeit in der Klinik bei Simon zusammentreffen wollten. Sie hoffte, daß Dr. Norden im Gespräch Simons geheime Gedanken erforschen konnte.
Sie spürte, daß in ihm etwas vor sich ging, worüber er mit ihr nicht sprechen wollte, und sie ahnte sogar, was ihn beschäftigte. Aber da sie ihm auch etwas verschwieg, war sie unsicher.
Simons Miene hellte sich auf, als Dr. Norden kam. »So sehen wir uns wieder«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln, das eher wie eine Grimasse wirkte.
»Es tut mir sehr leid, daß wir uns unter solchen Umständen wiedersehen, aber ich bin auch erleichtert, daß Sie sich auf dem Wege der Genesung befinden, Herr Karsten.«
»Bis auf die Augen, und ich hege Befürchtungen, daß es noch lange dauern wird, bis sich auch das normalisiert.«
»Wie ich hörte, ist doch Professor Leine sehr zuversichtlich.«
»Es sind ja nicht seine Augen, aber ich will nicht ungerecht sein. Er gibt sich die erdenklichste Mühe, und jetzt ist ja wenigstens die Verletzung verheilt, die ja wohl schuld hatte an diesem Zustand. Was mich beschäftigt ist die lange Dauer, die auch Mary Ann viel Geduld abverlangt. Hat sie mal mit Ihnen gesprochen?«
»Sie ist auch sehr zuversichtlich«, erwiderte Dr. Norden ausweichend. »Ihr ist es am wichtigsten, daß Sie leben.«
»Aber auf die Dauer bin ich doch eine Belastung für sie.«
»Das reden Sie sich nur ein. Ihr Zustand ändert nichts an der Tatsache, daß Sie einander lieben und zusammenbleiben werden, wie Sie es geplant hatte.«
»Es hat sich aber doch einiges geändert. Es ist gut, wenn ich mal mit einem vernünftigen und realistischen Menschen darüber sprechen und Ihre Meinung hören kann. Und ich bitte Sie, ganz offen zu sein. Ich weiß doch gar nicht, wie es bei mir weitergehen wird, ob ich jemals wieder einen solchen Posten ausfüllen kann. Auch ob ich überhaupt noch fähig bin, mit Mary Ann so zusammenzuleben, wie es zwischen Mann und Frau sein soll.«
»Wieso hegen Sie daran Zweifel?« fragte Dr. Norden, nun doch erschrocken.
»Ich liege schon Wochen und Wochen. Die Verletzungen waren schwer, das hat man mir ja wohldosiert beigebracht. Ich bin mit mir selbst unzufrieden, uneins, und neige dazu, alles negativ zu sehen. Dann ist da Mary Ann, die mitten im Leben steht, erfolgreich, beliebt. Sie hat doch alle Chancen, einen anderen Partner zu finden.«
»Es würde ihr nicht gefallen, daß Sie so denken. Warum machen Sie sich das Leben so schwer?«
»Weil es schwer ist. Bei mir hat sich alles verändert. Mary Ann ist so, wie sie immer war. Sie kann doch nur noch Mitleid für mich empfinden.«
»Das stimmt aber nicht. Ich weiß, daß sie Sie liebt und keinen anderen Mann haben will. Sie können so glücklich sein wie früher, Sie könnten Kinder haben, die Frohsinn in Ihr Leben bringen.«
Simon hob abwehrend die Hand. »Soll Mary Anns Leben auch noch gefährdet werden? Um Himmels willen! Sie wissen doch, wie gefährlich eine Schwangerschaft sein kann.«
»Wollen wir nicht die Kirche im Dorf lassen, Herr Karsten? Sie haben doch selbst oft genug mit mir darüber gesprochen, daß Ihre Frau sich überhaupt nicht auf die Schwangerschaft einstellte und der Arzt ihres Vertrauens sie nicht warnte, wie schädlich ihre Lebensweise sein könnte.«
»Ihr Vater hatte ihr diesen Arzt eingeredet, auf mich hat sie nicht gehört. Sie würde sich nicht ans Haus fesseln lassen, war ihr Argument, sie sei jung und wolle etwas vom Leben haben. Ich wäre mehr mit meinem Beruf verheiratet. Ich sollte jetzt nicht mehr darüber reden, aber…«
»Aber Sie sollten das nicht auf Mary Ann projizieren. Sie hat eine andere Lebensweise und Einstellung. Sie reden davon, daß Sie sie nicht verlieren wollen, aber andererseits sind Sie der Ansicht, daß es zwischen Ihnen nicht mehr so wie früher sein könnte und Sie ihr die Freiheit geben wollen. Das würde Mary Ann ganz gewiß nicht gefallen, und Sie sollten solche Überlegungen besser beiseite lassen.«
»Ich glaube aber auch nicht, daß Mary Ann Kinder haben will. Ihre Karriere war ihr immer wichtiger.«
Das Karrieredenken lag ihm wohl schon zu lange im Blut, und wie er sich Sorgen um seine eigene berufliche Karriere machte, meinte er, daß sie auch für Mary Ann eine wichtige Rolle spielte. Man konnte es ihm nicht übelnehmen. Er hatte sich alles aus eigener Kraft erarbeiten müssen, denn er war in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Das erfuhr Dr. Norden auch erst bei diesem Besuch, denn Simons imponierende Persönlichkeit erweckte unwillkürlich den Eindruck, daß ihm diese in die Wiege gelegt wurde.
»Sie werden meine Einstellung zu Kindern vielleicht besser verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß auch meine Mutter bei der Geburt des zweiten Kindes starb. Ich war damals fünf Jahre und habe es miterlebt, weil es sich in der Wohnung abspielte. Wir mußten immer sehr sparen. Mein Vater war Kriegsinvalide und froh, daß er eine Stellung als Hausverwalter bekam. Er mußte hart arbeiten, weil er dauernd für irgend etwas gebraucht wurde. Das spornte schon beizeiten meinen Ehrgeiz an, mich nicht so herumkommandieren zu lassen. Meine Mutter half ihm, wo sie nur konnte, aber sie kränkelte ständig, und meine kleine Schwester lebte dann gerade ein paar Stunden, meine Mutter noch zwei Tage. Es war eine Horrorvorstellung für mich, so was noch einmal zu erleben. Ich hatte Sabine wirklich gern, und es versetzte mich in Panik, als sie die Geburt nicht überlebte. Da schwor ich mir, niemals Kinder haben zu wollen. Jetzt hätte ich nicht mal das Recht dazu, denn was sollten sie mit einem behinderten Vater anfangen.«
»Mir gefällt es nicht, daß Sie so negativ denken, Herr Karsten. Bedenken Sie auch, was Sie im Leben alles schon erreicht haben. Sie dürfen nicht resignieren, das verdient auch Mary Ann nicht.«
»Sie verdient nur das Allerbeste. Sie ist eine wunderbare Frau. Sie dürfen mir glauben, daß es ein schrecklicher Gedanke für mich ist, ohne sie leben zu sollen, aber noch schrecklicher wäre der Gedanke, daß sie an meiner Seite unglücklich würde.«
Dr. Norden spürte, wie zerrissen er war, mit sich selbst nicht fertig wurde und überlegte, wie es ihm ergehen würde, wäre er in seiner Lage. Er hatte schon fast zwanzig Jahre mit Fee gelebt und war für jeden Tag dankbar. Sie war eine wundervolle, anbetungswürdige Frau. Ohne sie würde er sich verloren fühlen. Erst kürzlich hatten sie erlebt, daß eins ihrer Kinder schwer erkrankte und man auf das Schlimmste gefaßt sein mußte. Sie hatten sich beide nie so hilflos gefühlt, aber sie hatten sich aneinander geklammert, sich Mut zugesprochen und für das Leben ihres kleinen Sohnes gebetet.
Was hätte er jetzt Simon Karsten noch sagen können?
Er konnte nur hoffen, daß ihm das Augenlicht so bald wie nur möglich wiedergegeben würde und sein Leben wieder in normale Bahnen geriet. Dann würden sich alle Probleme wahrscheinlich von selbst lösen.
»Halten Sie mich jetzt für einen Feigling, Dr. Norden?« fragte Simon.
»Nein, für einen Menschen, der sich alles sehr zu Herzen nimmt. Das sah man Ihnen früher nicht an. Aber ich hoffe, daß Sie mit Mary Ann sehr glücklich werden.«
»Wir waren es«, sagte Simon leise. »Es wäre schön, wenn es wieder so sein könnte.«
»Dann glauben Sie daran. Vielleicht finden Sie den Glauben, auf der Insel der Hoffnung Heilung zu finden. Da gibt es eine Quelle, die wir die Quelle der Liebe getauft haben.«
»Glauben Sie auch an Wunder?«
»Ich habe schon manche erlebt, und Sie sollten auch daran glauben, da Sie leben.«
Nun hatte Simon wieder Grund, über vieles nachzudenken.
*
Mary Ann war sehr gespannt, wie das Gespräch zwischen Simon und Dr. Norden verlaufen sein mochte. Sie lief auf dem Vorplatz der Klinik hin und her, da sie ja wußte, wann Dr. Norden zu Simon gefahren war. Langsam wurde sie unruhig, aber dann kam er doch endlich. Sie kam sich vor wie ein Schulmädchen, das einen Verweis von seinem Lehrer erwartete.
»Warum schauen Sie mich so ängstlich an, Mary Ann?« fragte Dr. Norden.
»Sie waren lange bei Simon.«
»Es war ein gutes Gespräch, das mir manches verriet, was ich nicht wußte und auch nicht ahnen konnte. Die Vergangenheit nagt viel mehr an ihm, als er zugeben will.«
»Wahrscheinlich weiß ich auch nicht alles. Wenn man glücklich ist, denkt man nicht an das, was zurückliegt. Es war auch nie wichtig für mich, aber jetzt möchte ich auch das mit ihm teilen.«
»Es erklärt jedenfalls, warum er keine Kinder will.«
Er ging mit ihr in den Park und erzählte ihr, was er über Simons Eltern erfahren hatte.
»Ich wußte, daß sie wenig Geld hatten, aber über den Tod seiner Mutter hat er nie gesprochen. Er ist sensibler, als man ihm zutraut, aber ich kenne seine empfindsame Seite und stelle keine Fragen, wenn er nicht von selbst redet.«
»Einerseits hat er Angst, Sie zu verlieren, andererseits fürchtet er, daß Sie mit ihm unglücklich werden könnten. Er ist hin- und hergerissen.«
»Das habe ich schon gespürt, aber wenn ich ihm von dem Baby erzähle, könnte das sowieso zur Trennung führen, zumindest auf eine Zeit, denn ich glaube fest daran, daß wir füreinander bestimmt sind. Es könnte ja tatsächlich eintreten, daß ich eine schlechte Phase habe, davor hat er auch Angst.«
»Ich weiß nicht, welches der richtige Weg ist, aber ich hoffe, Sie werden ihn finden. Er braucht Sie tatsächlich. Hoffen wir, daß mit seinem Augenlicht auch wieder eine positive Einstellung kommt. Haben sich die Zanders mal wieder in Erinnerung gebracht?«
»Bisher nicht, jedenfalls nicht per Telefon oder wenn ich zu Hause war.«
Sie begleitete Dr. Norden noch zu seinem Wagen und bedankte sich, daß er sich soviel Zeit für Simon und für sie genommen hatte.
Er hätte es gern getan, erwiderte er.
Sie atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie die Klinik wieder betrat, und auch vor seinem Krankenzimmer schöpfte sie noch einmal tief Atem.
Er hob leicht den Kopf, als sie eintrat. »Schön, daß du schon kommst, ich werde nämlich in zehn Minuten zur Untersuchung abgeholt.«
Sie küßte seine trockenen Lippen. »Vielleicht ist heute ein guter Tag«, sagte sie weich.
»Dr. Norden hat mich besucht, es war sehr nett. Er nimmt sich wirklich Zeit, das gibt es selten. Du brauchst aber nicht hier zu warten, bis ich von der Untersuchung zurückkomme, mein Liebes.«
»Ich möchte aber wissen, was dabei herausgekommen ist.«
»Wir können dann ja noch telefonieren. Du brauchst auch mal Ruhe.«
»Die habe ich jeden Abend. Ohne dich ist es langweilig zu Hause.«
»Ist sonst alles in Ordnung?«
»Alles bestens.«
»Ist dir nicht bange, wenn du allein in dem Haus bist?«
»Manchmal ist es schon ein komisches Gefühl, wenn es irgendwo knackt oder der Wind so pfeift, aber Angst habe ich nicht.«
»Im Büro geht auch alles nach Wunsch?«
»Nach Wunsch nicht gerade, die zwei Typen, die aus Amerika gekommen sind, sind keine großen Hilfen. Sie fühlen sich hier auch nicht wohl.«
»Dann schick sie wieder zurück.«
»Das kann ich doch nicht, Darling.«
»Sprich mit Mattes, er wird es schon machen.«
Er kam ihr energischer vor als in den letzten Tagen. Ob das Dr. Nordens Verdienst war? Aber da kam schon Schwester Thilde, um Simon zu holen. Er wurde gleich mit dem Bett zur Untersuchung gefahren, und Mary Ann begleitete ihn noch dorthin, wo sie von Professor Leine mit größter Zuvorkommenheit begrüßt wurde.
Es war ihr fast peinlich, weil es tatsächlich so aussah, als hätte er ein persönliches Interesse an ihr, und sie war froh, daß Simon ihn nicht sehen konnte.
Sie gab Simon einen zärtlichen Kuß. »Wir telefonieren nachher«, sagte sie und nickte dem Professor nur zu.
Schwester Thilde schien leicht irritiert zu sein, aber jetzt entfernte sich Mary Ann sehr schnell. Sie fuhr nach Hause.
Kaum hatte sie Teewasser aufgesetzt, da läutete es, und siehe da, das Ehepaar Zander stand vor der Tür.
Hätte ich es heute nur nicht beschrieen, dachte Mary Ann. Aber sie brachte ein höfliches Lächeln zustande.
»Sie wohnen ja tatsächlich hier«, sagte Charlotte Zander anzüglich.
»Simon liegt noch immer in der Klinik«, kam die kühle Erwiderung.
»Wir wollten ihn besuchen, aber er wurde gerade untersucht«, erklärte Alfred Zander. »Wie steht es denn um ihn?«
»Er macht erfreuliche Fortschritte. Am besten wird es sein, Sie rufen in der Klinik vorher an, wann Sie ihn besuchen können.«
»Wir dachten, hier mal nach dem Rechten zu sehen, aber da Sie ja hier wohnen, wird schon alles in Ordnung sein.«
»Worauf sich Simon verlassen kann. Es ist auch alles vorhanden, was ins Haus gehört«, fügte sie spöttisch hinzu.
»Sie mißverstehen unser Interesse, wir würden Sie gern kennenlernen, da Sie ja anscheinend die Nachfolgerin unserer Tochter sind«, sagte Charlotte betont.
»Sie sollten sich besser bei Simon erkundigen, welche Rolle ich spiele. Ich möchte betonen, daß ich eine unabhängige, selbständige Frau bin und nicht etwa von Simon ausgehalten werde.«
Das Ehepaar hatte indessen schon einige Erkundigungen eingezogen und mehr Gutes erfahren, als ihnen lieb war. Deshalb waren sie ja doppelt neugierig.
Mary Ann dachte jedoch nicht daran, sich auf eine längere Unterhaltung mit ihnen einzulassen.
»Sie müssen mich bitte entschuldigen, aber ich muß heute abend noch zu einer Besprechung«, erklärte sie.
»Ich werde Simon gern ausrichten, daß Sie hier waren.«
Konsterniert und verärgert entschwand das Ehepaar grußlos, was Mary Ann aber nichts ausmachte. Sie konnte sich aber vorstellen, daß sie draußen auf der Lauer lagen, um sich zu überzeugen, ob sie das Haus tatsächlich verließ, aber sie konnten ruhig merken, daß sie nur eine Ausrede gebraucht hatte, um sie los zu werden. Sie hoffte nur, daß sich Simon nicht auch mit ihnen herumärgern mußte.
Sie mußte unwillkürlich wieder über seine Beziehung zu Sabine nachdenken. Wahrscheinlich war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, daß er ihre Eltern mitheiratete, als er sich in die hübsche Sabine verliebte. Es war typisch für beruflich sehr engagierte Männer, daß sie in bezug auf Frauen spontane Entscheidungen trafen. Manchmal ging das ja auch gut, und bestimmt dachte keiner daran, daß sie schon nach kurzer Zeit der Tod wieder trennen konnte. Wahrscheinlich hätte diese Ehe sowieso keinen Bestand gehabt, weil sich die Eltern dauernd eingemischt hätten und Sabine sich nie ganz von ihnen gelöst hätte.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, schaltete Mary Ann den Fernseher an. Es kam ein Rate-Quiz, das ihr Spaß machte. Zweimal hatte sie es auch mit Simon angeschaut, der dafür aber nur ein müdes Lächeln hatte, weil er alles wußte. Jetzt, da sie wußte, daß er noch in einem bescheidenen Milieu aufgewachsen war, wunderte sie sich, woher er soviel Wissen bezogen hatte, während in der Gegenwart immer mehr darüber geredet wurde, wie sehr es den jungen Leuten an Allgemeinbildung mangelte. Man redete immer von der Erbmasse, von der Erziehung, aber so konnte das wohl auch nicht stimmen, denn nicht nur Simon, sondern auch sehr viele Intellektuelle hatten nicht die Voraussetzungen gehabt, die die Reichen ihren Kindern verschaffen konnten auf den teuersten Privatschulen, denen es auch egal war, wie lange ihre Sprößlinge dann studierten, um wenigstens sagen zu können, daß sie studiert hätten. In den meisten Fällen brauchten sie sich im Leben ja nie selbst zu beweisen, sondern konnten ihren Hobbys und Vergnügungen leben, weil genügend Geld dafür vorhanden war.
Mary Ann war nur halb bei der Sache bei dem Quiz, aber sie mußte lachen, als ein Lehrer an einer ganz einfachen Geographiefrage scheiterte und dann sagte, daß dies nie sein Fach gewesen sei.
Jetzt konnte Mary Ann aber ganz begreifen, daß sich Simon Sorgen um seine Zukunft machte, da er immer auf sich allein gestellt gewesen war auf seinem Weg nach oben. Sie begriff auch, daß er zuviel Charakter hatte, um mit ihrem Geld Sicherheit zu erhoffen.
Geld hatte in ihrem Leben keine wichtige Rolle gespielt, aber jetzt konnte sie sich doch an den Gedanken gewöhnen, daß man sich damit Vorteile verschaffen und das Leben leichter machen konnte.
Davon konnte sie Simon nicht überzeugen, jedenfalls noch nicht. Aber war er jemals zu überzeugen, wenn er von dem Baby erfuhr?
Sie wollten immer aufrichtig zueinander sein, das hatten sie sich versprochen. Aber sie hatte ihm das Baby verheimlicht, und wenn es auch edle Motive gewesen waren, sie zweifelte, daß er es verstehen würde. Mit jedem Tag, der verging, würde alles schwieriger werden, wenn man es ihr erst ansah.
Sie befand sich in einer Zwickmühle, aber aus der konnte ihr niemand heraushelfen, nur sie selbst.
Und was dann? Das war die Frage, die sie sich immer wieder stellte.
Das Gespräch zwischen Dr. Norden und Simon hatte ihr die Entscheidung auch nicht erleichtert, und dann noch dieses Ehepaar Zander, das sich immer wieder in Erinnerung bringen mußte.
War es nicht das Beste, sie würde wieder nach Amerika fliegen, weit genug weg von allem, bis sie ihr Baby zur Welt gebracht hatte? Würde ihr Simon nicht verzeihen, wenn es ein gesundes Kind war und sie die Geburt gut überstanden hatte? Aber würde es auch so sein, wie sie es sich vorstellte? Es war noch fünf Monate Zeit, und in diesem fünf Monaten konnte viel geschehen.
Ein Sturm kam auf, rüttelte an den Fenstern und pfiff ums Haus. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen und ließ die Jalousien herunter, aber die dämpften die Geräusche auch nicht.
Es hatte keinen Sinn, jetzt schon zu Bett zu gehen, schlafen konnte sie ganz sicher nicht.
Ihr kam eine Idee. Sie setzte sich hin und schrieb einen Brief an Simon. Für alle Fälle und was immer auch geschehen sollte. Er sollte wissen, was in ihr vor sich ging und wie sehr sie ihn liebte.
Es war Mitternacht, als sie sich endlich zur Ruhe begab. Sie schlief auch bald ein, weil sie sich alles von der Seele geschrieben hatte, was sie ihm so gern selbst hätte sagen wollen.
*
Am nächsten Morgen läutete früh das Telefon. Es war Dr. Mattes, der sie bat, ins Büro zu kommen, weil Gäste aus Japan gekommen seien, mit denen Simon damals auch zusammengekommen war.
Sie rief Simon an.
Seine Stimme klang recht munter, und er sagte, daß sie den Japanern Grüße von ihm ausrichten möge. Er würde am liebsten auch dabeisein, aber ihm stünde schon wieder eine Untersuchung bevor. Er käme sich vor wie ein Versuchskaninchen. Mary Ann mußte lachen.
»Langsam kehrt dein Humor zurück«, freute sie sich.
Sie betrachtete sich diesmal länger im Spiegel und stellte fest, daß sie sich verändert hatte.
Ernster und nachdenklicher war sie geworden, und das hatte ihr Gesicht geprägt, aber vielleicht war es auch die Schwangerschaft. Man konnte sie ihr nicht ansehen, nur ihr Hosenbund war enger geworden. Bald würde sie neue Sachen kaufen müssen.
Im Büro wurde sie von der vierköpfigen Delegation fast feierlich empfangen und wurde nach Simon gefragt. Sie richtete seine Grüße aus.
Mr. Kishi erklärte, daß er Simon besuchen wolle, falls sie so freundlich sein würde, ihn zu begleiten.
»Gern, er wird sich freuen«, erwiderte Mary Ann.
Die Konferenz verlief sachlich, war aber erfolgreich. Sie zog sich über fast vier Stunden hin, aber Mary Ann wußte von Simon, daß die Japaner auch einen ganzen Tag ohne Essen überstanden, das Dr. Mattes dann mit ihnen in einem exclusiven Restaurant einnahm, während Mr. Kishi gleich mit Mary Ann zur Klinik fahren wollte.
Mary Ann wurde von ihrer Sekretärin noch ein Brief gebracht, der mit der Morgenpost gekommen und direkt an sie gerichtet war. Er hatte ausländische Marken, die Mary Ann nicht kannte. Sie mußte sich jetzt auch ganz Mr. Kishi widmen, der gern noch mit ihr irgendwo etwas essen wollte.
Sie fuhr mit ihm zu einem sehr hübschen Restaurant, in dem sie öfter mit Simon gegessen hatte und wurde auch gleich gefragt, ob sie verreist gewesen sei.
»Dr. Karsten liegt schon längere Zeit in der Klinik. Er hatte einen Unfall«, erklärte sie. »Bitte, erfüllen Sie unserem japanischen Geschäftsfreund alle Wünsche.«
Mr. Kishis Wünsche waren bescheiden, aber er wurde bestens bedient.
Mary Ann unterhielt sich sehr gut mit ihm.
Er wollte auch genau wissen, ob Simon erstklassig versorgt würde. Weil er keinen noch so kleinsten Fehler im Gespräch machen wollte, fragte er auch, was besser unerwähnt bleiben solle.
»Ich denke, er kann jetzt schon allerhand vertragen. Man darf auch nicht zu vorsichtig mit ihm umgehen, sonst ergeht er sich in Selbstmitleid, anstatt positiv zu denken.«
»Meditation kann helfen«, meinte Mr. Kishi.
Mary Ann hatte auch etwas gegessen, aber Hunger hatte sie eigentlich nicht. Der Brief in ihrer Tasche beunruhigte sie. Der letzte private Brief, der sie erreicht hatte, war die Nachricht vom Tod ihres Vaters.
Sie mußte sich noch gedulden, denn jetzt konnte sie den Brief nicht lesen. Sie begleitete Mr. Kishi auch ins Krankenzimmer.
Simon freute sich ungemein über den Besuch, und Mary Ann war froh, daß er sich auch in englischer Sprache wieder perfekt unterhalten konnte. Er mußte nicht mehr nach Worten suchen, und es tat ihm sichtlich gut, auch mehr über die geschäftlichen Verhandlungen zu erfahren. Es freute ihn natürlich auch zu hören, daß er jederzeit in Tokio willkommen sei und man sehr hoffe, daß er bald wieder ganz der Boß war.
Da Mary Ann Mr. Kishi zurückbringen mußte, konnte sie nicht mehr viel mit Simon sprechen. »Ich rufe dich noch an«, versprach sie, und er drückte ihre Hand an die Lippen.
An sich war Kishi ein wortkarger Mann, aber er sagte ihr doch, daß er sie bewundere, und es für Simon bestimmt nicht leicht sei, in dieser Dunkelheit zu verharren.
»Er wird bald wieder sehen können«, erklärte Mary Ann zuversichtlich. »Er hat jetzt die richtige Behandlung.«
»Und die richtige Frau«, sagte Mr. Kishi.
*
Es war doch spät geworden, bis Mary Ann heimkam. Mr. Kishi und seine Kollegen wollten noch einen Drink mit ihr nehmen. Sie unterhielten sich dann so gut, daß die Zeit schnell verging.
Sie rief Simon sofort an, damit er sich keine Gedanken machte, aber er war in mieser Stimmung, weil das Ehepaar Zander ihn besucht hatte.
»Ihr wart gerade weg, da kamen sie«, erklärte er brummig, und natürlich wollten sie genau wissen, wie lange ich dich kenne und ob wir heiraten werden. Sie haben natürlich auch gestichelt, aber ich habe ihnen ordentlich Bescheid gesagt.«
»Du sollst dich nicht aufregen, Simon.«
»Ich habe mich nicht aufgeregt, es ist nur eine Frechheit, daß sie sich immer noch in mein Privatleben einmischen. Sie werden dich hoffentlich nicht mehr belästigen.«
»Mich tangiert es nicht. Ich weiß schon, wie ich sie abwimmle. Die Japaner waren sehr nett, ich bin gerade erst heimgekommen.«
»Dann ruh dich jetzt aus. Ich fand, daß deine Stimme müde geklungen hat.«
Sie war auch müde. Es strengte sie alles viel mehr an als früher. Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit hatte sie immer gedacht, aber Beschwerden konnte sie wohl doch mit sich bringen. Das hatten ihr auch Dr. Leitner und Dr. Norden gesagt.
Die Füße taten ihr auch weh. Sie legte sie hoch und schloß ein paar Minuten die Augen. Dann dachte sie wieder an den Brief und angelte nach ihrer Tasche, die sie auf den Sessel gelegt hatte. Sie riß den Umschlag auf, und zutage kamen zwei eng beschriebene Seiten in einer fremden Handschrift, aber in deutscher Sprache. Der Brief war von ihrer Mutter, wie sie fassungslos lesen mußte. Sie hatte keine Erinnerung mehr an sie gehabt und sie längst tot gewähnt. Es hatte ihr auch niemand etwas anderes erzählt. Aber sie lebte, und wie sie schrieb, hatte sie jetzt erst von dem Tod ihres ersten Mannes erfahren. Sie sei zum zweiten Mal verwitwet, hätte aber zum Glück keine weiteren Kinder, denen sie wahrscheinlich sonst auch eine schlechte Mutter gewesen wäre.
Ehrlich schien sie wenigstens zu sein und außerdem eine sehr realistische Frau, die sehr präzise ihren Gedankengängen Ausdruck gab. Sie freue sich, daß Wilkens seine Tochter wenigstens nicht ganz vergessen und sie in seinem Testament bedacht hatte, aber eigentlich hätte sie doch wohl ein Anrecht auf einen kleinen Anteil, da sie in den Jahren ihrer Ehe geradezu kärglich hätte leben müssen.
Dein Vater war ein Geizkragen erster Ordnung, liebe Mary Ann, ich mußte über jeden Betrag, den ich ausgab, Buch führen. Du wirst Dir vielleicht vorstellen können, daß ich es eines Tages nicht mehr aushielt. Ich habe dann eine nicht gerade glänzende Partie gemacht, aber einen Mann gefunden, mit dem es sich leben ließ. Du kannst mir natürlich vorwerfen, daß ich mich nie um Dich gekümmert habe, aber für Dich war es sicher besser, lieber von Deinem Vater Unterhalt zu bekommen. Jetzt hat es ziemlich lange gedauert, bis ich eine Adresse von Dir bekam durch den Nachlaßverwalter, um Dir mitteilen zu können, daß ich ein bescheidenes Leben führe und dankbar für einen Betrag von einigen Tausendern wäre, gleich in welcher Währung. Es dürfte Dir wohl nicht allzu schwerfallen. Du könntest mir natürlich auch einen bitterbösen Brief schreiben oder so tun, als hättest Du mein Schreiben nie bekommen. Ich könnte es Dir nicht übelnehmen. Wie Du aus dem Absender ersiehst, lebe ich in Schweden sehr bescheiden, aber immer noch besser als im Haus Deines Vaters. Ich bin mir heute noch nicht klar, was er für ein Mensch war. Jedenfalls hoffe ich, daß es Dir gutgeht und grüße Dich als Marit Söderholm. Deine Mutter.
Mary Ann schüttelte ein paar Mal den Kopf und seufzte. Guter Gott, murmelte sie, das also ist meine Mutter. Sie hätte wenigstens ein Foto beilegen sollen. So nüchtern dieser Brief war, so nüchtern dachte sie jetzt auch, aber sie war keineswegs schockiert oder emotional beteiligt.
Warum sollte sie sich zum Richter aufschwingen über diese Frau, die es immerhin einige Jahre mit Joshua Wilkens ausgehalten hatte und sein Kind zur Welt brachte, das sie dann bei ihm zurückließ in der Hoffnung, daß er für es sorgen würde, was er auf seine Weise ja auch getan hatte.
Ein komisches Gefühl war es jetzt schon, doch noch eine Mutter zu haben. Sie war entschlossen, ihr zu antworten und ihr auch Geld zu schicken. Es tat ihr ja nicht weh. Was würde wohl Simon zu diesem Brief sagen?
Es war zu seltsam, was plötzlich alles zusammenkam! Bisher war ihr Leben immer auf einer geraden Linie verlaufen, da sie nur auf sich selbst angewiesen war und über sich selbst bestimmen konnte, unbeeinflußt von dramatischen Ereignissen und Einflüssen. Gefühle spielten erst eine Rolle, seit sie Simon kennenlernte, aber auch da ging sie unbeirrbar ihren Weg weiter.
Dann aber der plötzliche Tod ihres Vaters, sein überraschendes Testament, die Reise nach Amerika, fast gleichzeitig für Simon die Reise nach Tokio. Dann die Bruchlandung des Flugzeuges, Simons schwere Verletzungen. Sie lernte die Angst kennen, den einzigen Menschen, den sie wahrhaft liebte, zu verlieren. Aber da war ja auch das Kind, das in ihr wuchs, der Konflikt, nicht mit Simon darüber sprechen zu können, und nun auch noch dieser Brief, geschrieben von ihrer Mutter, an die sie keine Erinnerung hatte.
Wie ein Roman war das, von dem das Ende noch ungewiß war. Aber alles fügte sich aneinander, um ihr Leben zu komplettieren, in dem doch manches gefehlt hatte.
Sie schlief unruhig, hatte wilde Träume und dann plötzlich die Vision, daß sie herumirrte und Simon suchte, ihn aber nicht finden konnte.
Sie erwachte. Es war schon heller Morgen. Sehr nachdenklich stand sie auf, ging ans Fenster und öffnete es weit. Kalte Luft strömte herein, machte ihren Kopf freier.
Ich werde mich doch nicht durch Träume beeinflussen lassen, ging es ihr durch den Sinn. Ich werde jetzt alles in Ordnung bringen, was mir noch zu schaffen macht.
Sie kleidete sich sorgfältig an, nachdem sie lange in ihrem Schrank gesucht hatte, was ihr wohl die meiste Selbstsicherheit verleihen konnte. Früher hatte sie das nur spontan entschieden, nach Lust und Laune.
Sie hatte wenigstens noch rechtzeitig daran gedacht, daß sie einen Termin bei Dr. Leitner hatte. In der Hektik der letzten Tage hatte sie Professor Leine und Dr. Leitner wegen der Namensähnlichkeit durcheinandergebracht, aber jetzt hatte sie ihre fünf Sinne wieder ganz beisammen.
Sie brauchte in der Leitner-Klinik nicht zu warten, aber schon vor dem Betreten des Sprechzimmers hatte sie das Weinen eines Babys vernommen, und es war ihr ganz eigen zumute geworden. Sie nahm sich vor, Dr. Leitner zu bitten, einmal in die Babystation schauen zu dürfen. Daß in dieser Klinik sehr diesbezüglich strenge Vorschriften herrschten, hatte sie schon mitbekommen.
»War das ein Neugeborenes?« fragte sie verhalten.
»Ganz frisch«, erwiderte er lächelnd, »aber sehr kräftig, wie auch die Stimme verrät.«
Mary Ann brachte ihren Wunsch vor, und Dr. Leitner lächelte wieder. »Natürlich dürfen Sie einen Blick auf die Kleinen werfen, aber wir wollen doch zuerst mal sehen, was Ihr Baby macht.«
Sie konnte es auch am Monitor des Ultraschallgerätes sehen und war ganz aufgeregt.
»Auch schon ganz schön kräftig«, stellte Dr. Leitner fest. »Möchten Sie eine Fotografie?«
Sie nickte, sprechen konnte sie momentan nicht, so heftig schlug ihr Herz.
»Und wie es scheint, geht es Ihnen zumindest physisch recht gut.«
»Ich kann nicht klagen, nur müde bin ich oft.«
»Das bringt der derzeitige Zustand manchmal mit sich, aber wahrscheinlich sind Sie auch viel unterwegs.«
»Zwischen Klinik und Büro. Ich hoffe, daß Simon bald soweit ist, daß ich ihn auf die Insel der Hoffnung bringen kann.«
»Und Sie wieder Zeit gewinnen?«
»Ich will wenigstens solange warten, bis die kritische Zeit überwunden ist.«
»Ich sehe zur Zeit keine Komplikationen mehr.«
»Darüber bin ich sehr froh, und ich wünschte, das wäre auch von Simon zu sagen.«
Dr. Leitner ging mit ihr zur Babystation. Dort standen elf Bettchen, und in jedem lag so ein kleines Wesen. Vier schrien aus Leibeskräften.
»Sie scheinen zu merken, daß sie bald nach Hause kommen und würden gern noch hierbleiben«, meinte Dr. Leitner lächelnd. »Die meisten bleiben nicht länger als drei Tage, dann haben es die jungen Mütter eilig heimzukommen. Es ist nicht mehr so wie früher, daß sie in Watte gepackt werden. Es hat ziemlich lange gedauert, bis man dahinterkam, wieviel diese kleinen Geschöpfe aushalten können, vorausgesetzt sie sind ohne einen Schaden geboren.«
»Aber es kommt auch immer noch zu solchen Komplikationen, daß es Todesfälle gibt.«
»Da kommt dann aber einiges zusammen, was nicht vorauszusehen war. Aber Sie sollten daran gar nicht denken.«
»Das will ich auch nicht, ich freue mich auf mein Kind.«
Er sah ihr nachdenklich nach, als sie nun ging, und fragte sich, ob Simon Karsten diese Frau überhaupt verdiente.
*
Mary Ann fuhr zu Dr. Norden. Sie wollte ihm doch sagen, das bei ihr alles in Ordnung sei. Wenigstens mit einem verständnisvollen Menschen wollte sie über ihr Baby sprechen.
Bei Wendy saß eine junge Frau mit tränenüberströmtem Gesicht. Die schwarze Kleidung unterstrich die tiefe Blässe, und unwillkürlich empfand Mary Ann ein tiefes Mitgefühl.
»Kann ich irgendwie behilflich sein?« fragte sie spontan.
Traurige Augen sahen Mary Ann erstaunt an.
»Das ist Frau Wilkens, Frau Gassmann. Sie hat auch Erfahrungen mit ausländischen Behörden gemacht. Herr Gassmann ist der Reporter, der in Palästina von Terroristen erschossen wurde«, sagte Wendy.
»Meine aufrichtige Anteilnahme«, sagte Mary Ann mit belegter Stimme. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann… Welche Schwierigkeiten gibt es?«
»Sie haben Jürgen angeblich nicht gefunden. Es ist da ein ziemliches Durcheinander«, erklärte Carola stockend.
»Und man hält sich sehr bedeckt«, warf Wendy ein. »Vielleicht können Sie Frau Gassmann sagen, wohin sie sich wenden muß.«
»Doch zuerst an die diplomatische Vertretung.«
»Das ist schon in die Wege geleitet, aber es geht alles den Amtsweg. Ich habe Angst, daß sie ihn da unten begraben. Keiner scheint zuständig zu sein.«
»Diese Bürokratie«, ärgerte sich Mary Ann, »aber ich habe es ja auch mitgemacht, als mein zukünftiger Mann in Rußland mit dem Flugzeug verunglückte. Sie sollten sich aber nicht so aufregen, Sie erwarten doch ein Baby«, stellte Mary Ann besorgt fest. »Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Sie nach Hause, dann können wir uns unterhalten.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich bin mit dem Taxi gekommen, weil meine Mutter den Wagen heute gebraucht hat.«
»Vielen Dank, Frau Wilkens«, sagte Wendy, »es ist sehr nett von Ihnen.«
Mary Ann merkte, wie Carola ein Stöhnen unterdrückte, als sie ihr in den Wagen half. »Im wievielten Monat sind Sie?« fragte sie.
»Jetzt im siebenten, aber es geht mir nicht mehr so gut.«
»Zuviel Kummer und Aufregung. Ich verstehe das. Soll ich Sie nicht lieber zur Leitner-Klinik bringen?«
»Eigentlich wollte ich zu Hause entbinden. Es ist ja noch Zeit.«
»Ich weiß nicht, Vorsicht ist besser.«
Mary Ann kam eine Erinnerung, daß sie so etwas auch in dieser Nacht geträumt hatte. Sie diskutierte nicht lange mit Carola und brachte sie zur Leitner-Klinik und bekam ein Lob von Dr. Leitner.
»Das war gut so«, sagte er, »es könnte zu einer Frühgeburt kommen.«
»Ich kann mich darauf verlassen, daß Sie Frau Gassmann bestens versorgen?«
»Aber sicher können Sie das.«
»Ich rufe später an und erkundige mich.« Sie nahm Carolas Hand. »Sie sind in guten Händen, Frau Gassmann. Haben Sie keine Angst, und mit dem Konsulat werde ich auch telefonieren.«
»Danke, tausend Dank«, flüsterte Carola.
Mary Ann hatte das beruhigende Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, und außerdem wurde es ihr bewußt, daß diese junge Frau viel Schlimmeres durchmachen mußte als sie, denn sie hatte keine Hoffnung, ihren Mann wiederzusehen.
Sie rief im Büro an, daß sie jetzt in der Klinik zu erreichen sei, wenn etwas Dringendes sei.
Als sie Simons Zimmer betrat, fand sie sein Bett leer. Sie hatte ein mulmiges Gefühl und wollte sich erkundigen, wo er sei. Aber da wurde er gerade in einem Rollstuhl sitzend aus dem Aufzug geschoben. Er hatte eine dunkle Brille vor den Augen.
Mary Ann schien es, als würde er verwundert aussehen. Und dann rief er, freudig bewegt: »Mary Ann, da bist du ja.«
Er wollte sich aus dem Rollstuhl erheben, die Schwester wollte ihn daran hindern, aber dann war auch Schwester Kathi zur Stelle und sagte: »Probieren wir es doch noch mal.« Und während Mary Ann noch herzklopfend nach Fassung rang, stand Simon plötzlich auf seinen Beinen und machte ein paar Schritte vorwärts. Da war sie aber auch schon bei ihm, stützte und umarmte ihn gleichzeitig. Sagen konnte sie nichts, aber er sagte: »Du hast etwas Grünes an, das liebe ich an dir.«
Ihr Herzschlag setzte momentan aus, denn es stimmte.
»Die Farben kann ich schon unterscheiden«, fuhr er fort, »sonst sehe ich noch alles etwas verschwommen, aber ich werde wieder richtig sehen können.«
Mary Ann schluchzte erleichtert auf.
»Du brauchst nicht zu weinen, du sollst dich freuen, mein Liebes«, sagte er zärtlich.
»Ich freue mich doch, und wie ich mich freue! Ich kann es nicht in Worten ausdrücken. Es kommt so plötzlich.«
»Nicht gar so plötzlich, ich wollte es nur noch nicht verraten, bevor ich nicht ganz sicher sein konnte, aber nun kann ich auch wieder aufstehen und gehen und weiß, daß du etwas Grünes anhast.«
Sie war froh, daß sie den grauen Blazer ausgezogen hatte und er deshalb die grüne Bluse deutlich sah. Sie sah ihn forschend an.
»Wie lange ist das denn schon so, daß du etwas erkennst?« fragte sie hintergründig.
»Ich konnte es doch selber nicht glauben, Mary Ann. Ich dachte, daß ich es mir nur einbilde, aber es wurde tatsächlich immer besser. Es ist unglaublich, was jetzt möglich ist.«
Er ging zwischen Mary Ann und Schwester Kathi zu seinem Krankenzimmer, und seine Schritte wurden sicherer.
»Das Gehen hast du anscheinend auch schon heimlich geübt«, stellte Mary Ann fest. »Aber mir wolltest du einreden, daß es besser für mich sei, ohne dich zurechtzukommen. Das finde ich gar nicht nett.«
»Du bist mir doch nicht ernsthaft böse?«
»Du hast es ja auch nicht ernst gemeint. Weiß der Himmel, was für Gedanken in deinem Kopf herumspukten. Ich bin sehr dankbar, daß du alles überstanden hast. Ich habe heute eine junge Frau kennengelernt, die solches Glück nicht hatte.«
Sie waren in seinem Krankenzimmer, er setzte sich in den bequemen Lehnstuhl und Mary Ann nahm neben ihm Platz, damit sie seine Hand halten konnte.
Schwester Kathi hatte sich entfernt.
»Was war mit der jungen Frau?« fragte Simon.
»Ihr Mann kommt nicht mehr zurück. Er war als Reporter in Palästina und wurde erschossen.«
»Ich habe das im Radio gehört, so was ist sehr schlimm, aber ich weiß jetzt, daß alles Schicksal ist.«
»Sie erwartet ein Baby. Ich habe sie in die Klinik gebracht, weil sie Schmerzen bekam. Ich möchte mal anrufen, wie es ihr geht, aber vorher will ich noch mal beim Konsulat anrufen, daß man sich endlich um Gassmanns Rückführung bemüht.«
Er wußte, wie energisch sie werden konnte. Das hörte er jetzt auch wieder.
»Das kann mir doch niemand erzählen, daß es so lange gedauert hat, bis Herr Gassmann identifiziert wurde. Seine Frau befindet sich in der Klinik. Sie erwartet ein Baby und wird wegen der Aufregungen eine Frühgeburt erleiden. Es ist traurig, daß ihr so wenig Unterstützung zuteil wird. – Ja, das will ich sehr hoffen. Meine Personalien habe ich schon angegeben. Ich hoffe auf baldige Nachricht.«
»Typisch Mary Ann, warum engagierst du dich so?«
»Weil sie mir leid tut. Das ist aber nicht alles, was mich beschäftigt. Ich habe einen Brief von Marit Söderholm bekommen, das ist meine Mutter, wie ich seit gestern weiß. Sie hieß früher mal Margret Wilkens, wie ich mich erinnere. Willst du ihn lesen?«
»Das kann ich leider noch nicht, mein Liebes. Lies ihn mir bitte vor.«
Sie tat es zögernd, aber sie wollte wissen, was er dazu sagen würde.
Er dachte natürlich ganz objektiv.
»Es wäre festzustellen, ob sie tatsächlich deine Mutter ist. Anscheinend hattest du doch keine Ahnung, daß sie Söderholm heißt und in Schweden lebt.«
»Warum sollte sie mir sonst einen solchen Brief schreiben?«
»Es könnte eine Angestellte oder Freundin deiner Mutter sein, die inzwischen vielleicht schon verstorben ist. Der Brief klingt eher geschäftsmäßig, nicht so, wie eine Mutter nach langer Trennung ihrer Tochter schreiben würde.«
»Sie hatte ja nie eine innere Beziehung zu mir.«
»Aber sie möchte eine Scheibe von dem saftigen Kuchen haben. Geh da mit Vorsicht heran, sonst hast du vielleicht eine Klette am Hals, die du nicht mehr los wirst.«
»Denkst du immer so negativ, Simon?«
»Nein, nicht immer, nur wenn mir etwas suspekt ist, aber du kannst mit deinem Geld machen, was du willst, denk aber bitte daran, daß ihr wirklich nur etwas am Geld liegt und nicht an ihrer Tochter, sonst hätte sie doch wenigstens gefragt, wie es dir in all den Jahren ergangen ist.«
Plötzlich kam Mary Ann der Gedanke, ob er denn etwas für sein Kind fühlen würde. Sie nahm das Foto, das von der Ultraschalluntersuchung gemacht worden war, aus ihrer Brieftasche und betrachtete es. Es war ihr Kind und Simon war der Vater.
»Was hast du, Liebes, habe ich dich gekränkt?« fragte er.
»Nein, irgendwie hast du schon recht. Ich möchte jetzt in der Klinik anrufen und mich erkundigen, wie es Frau Gassmann geht. Hoffentlich bekommt sie ein gesundes Baby, damit ihr wenigstens etwas von ihrem Mann bleibt.«
Sie wählte die Nummer der Klinik und nannte ihren Namen. »Dr. Leitner kennt mich, ich habe vorhin Frau Gassmann gebracht und möchte wissen, wie es ihr geht.«
Sie wartete, dann kam Dr. Leitner selbst an den Apparat. Sie lauschte atemlos, was er zu sagen hatte.
»Oh, danke, Herr Doktor, das ist eine gute Nachricht. Ich bin so froh. Sagen Sie Frau Gassmann, daß ich sie besuchen werde.«
Sie faltete unwillkürlich die Hände, als sie das Gespräch beendet hatte.
»Also eine gute Nachricht«, sagte Simon.
»Ja, es ist gutgegangen, sie hat einen Sohn, er ist ein paar Wochen zu früh, aber gesund. Sie hat die Geburt auch gut überstanden.«
»Aber er wird ohne Vater aufwachsen«, sagte Simon stockend. Mary Ann nahm all ihren Mut zusammen, aber eine innere Stimme sagte ihr, daß es der richtige Augenblick war.
»Das müßte unser Kind auch, wenn du mich jetzt fortschickst, weil du es nicht haben willst«, sagte sie.
»Was redest du für einen Unsinn?« entfuhr es ihm.
»Es ist kein Unsinn, wir werden in viereinhalb Monaten auch einen Sohn haben. Ich habe sogar ein Bild von ihm. Leider kannst du es noch nicht sehen. Ich war heute nämlich auch zur Ultraschalluntersuchung.«
»Sag das noch einmal! Ich kann es nicht glauben, daß du es mir verheimlicht hast«, sagte er heiser.
»Was hätte ich denn tun sollen? Du wolltest keine Kinder, aber ich wollte es behalten. Und als du vermißt warst, war es mein einziger Trost, daß es leben sollte. Ich wußte nicht, wie ich es dir sagen sollte. Es vergingen ja auch erst Wochen, bis ich überhaupt mit dir sprechen konnte, und ich wollte dich nicht aufregen.«
»Dir geht es wirklich gut?« fragte er mit belegter Stimme.
»Ja, mir geht es gut. Du siehst ja, daß ich mich auch um eine andere junge Mutter kümmern konnte. Und ich habe die Neugeborenen gesehen und gehört. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, daß ich auch solch ein kleines Wesen im Arm halten kann, und wenn du immer noch dagegen bist, werde ich es allein aufziehen.«
»Und mich abschreiben?«
»Das werde ich niemals. Du wirst immer der Vater meines Kindes bleiben, ein Vater mit einer etwas eigenartigen Einstellung, aber eben der einzige Mann, den ich liebe und von dem ich mir ein Kind gewünscht habe.«
Sie merkte, wie er schneller atmete. »Könntest du jetzt bitte mal von unserem Sohn sprechen, Mary Ann?«
Sie sah ihn fassungslos an. »Du willst das?« flüsterte sie.
Er streckte seine Hand nach ihr aus und ergriff ihre, und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
»Hast du mich etwa insgeheim schon zu einem Rabenvater gestempelt?« fragte er leise, und sie spürte, wie bewegt er war.
»Ich wußte doch nur nicht, was ich tun oder denken sollte. Du hast nie Kompromisse geschlossen.«
»Das ist mir neu, aber halten wir uns nicht mit solchen Nebensächlichkeiten auf. Wir sollten jetzt schnellstens heiraten. Ich will nicht riskieren, daß ich keine Rechte an unserem Kind habe. Ich möchte jetzt ganz schnell wieder fit werden, um auch zu sehen, wie unser Baby wächst.«
Seine Stimme war so voller Zärtlichkeit, daß Mary Ann die Augen feucht wurden und sie ihn mit der gleichen Zärtlichkeit küßte.
*
Seine Genesung machte jetzt wirklich sehr schnelle Fortschritte. Eine Woche später konnte ihn Mary Ann zur Insel der Hoffnung bringen, und sie wollte die ganze Zeit dort mit ihm verbringen.
Dr. Norden meinte auch, daß sie es brauchen könne nach all den Aufregungen und Belastungen.
Sie war dort ja auch unter ärztlicher Aufsicht, und Simon brauchte sich um sie keine Gedanken zu machen.
Ein Ultraschallgerät gab es auch auf der Insel, und so konnte er dort auch sehen, welche Fortschritte sein Sohn machte.
Mary Ann ertappte ihn öfter, daß er von ›seinem‹ Sohn sprach und erinnerte ihn dann, ›unser‹ Sohn zu sagen.
Simon mußte zwar eine Brille tragen, aber seine Sehkraft hatte sich schon weitgehend gebessert. Wenn sie wieder in München waren, würde er auch weiterhin behandelt werden und besondere Linsen bekommen.
Inzwischen hatte Simon Erkundigungen über Marit Söderholm eingezogen, und Mary Ann wunderte sich schon gar nicht mehr, daß er wieder einmal recht behielt, denn der Brief war tatsächlich von einer Freundin ihrer Mutter geschrieben worden, die ein Schreiben aus Amerika an die bereits verstorbene Mutter von Mary Ann abgefangen hatte und wohl dachte, so zu Geld zu kommen, da sie wußte, daß Mutter und Tochter sich fremd waren.
»Du bist verflixt schlau, Simon«, stellte Mary Ann fest.
»Nur nicht so gutgläubig wie du, mein Liebling.«
Aber von Carola Gassmann wurde Mary Ann nicht enttäuscht. Sie war unendlich dankbar für das, was sie an Hilfe erfahren hatte, und Mary Ann hatte für den kleinen Jürgen ein Konto eingerichtet, damit Carola nicht zu abhängig von ihrer Mutter war, bis sie selbst wieder berufstätig sein konnte. Auch dabei wollten sie ihr helfen.
Ihre Hochzeit feierten Simon und Mary Ann auf der Insel der Hoffnung, und da die Sommerferien gerade begannen, konnte die ganze Familie Norden anwesend sein. Das war mal ein Fest, wie es die Insel noch nicht erlebt hatte, und für das Ehepaar Karsten sollte es unvergeßlich bleiben.
Die, die die Leidenszeit miterlebt hatten, konnten sich freuen, und auch darüber, daß Mary Ann einen beträchtlichen Betrag für die Insel stiftete. Sie wußte, daß dieses Geld Segen bringen würde.
Übertroffen werden konnte dieses Fest nur von der Geburt des kleinen Simon Johannes, der für seinen Vater der aufregendste Tag seines Lebens war, obgleich er sich gar nicht hatte aufregen müssen, so eilig hatte es der kräftige Junge mit dem fast schwarzen Haarschopf, der sich lauthals ins Leben schrie.
Simon liefen Tränen über die Wangen, so gerührt und glücklich war er und konnte Mary Ann nicht oft genug sagen, wie sehr er sie liebe.
»Ich bin glücklich«, flüsterte sie, »so unendlich glücklich.« Sie hielten die kleinen Händchen ihres Sohnes und sahen sich mit leuchtenden Augen an.