Читать книгу Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12

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»Bitte Wendy, Sie müssen mir diesen Gefallen einfach tun!« Danny Norden stand am Tresen vor der treuen Arzthelferin und schickte ihr den treuherzigsten Blick, den er auf Lager hatte. »Ich lade Sie auch zum Essen ein!«

Wendy lachte amüsiert auf.

»Nein, vielen Dank. Nichts gegen dich, mein Junge. Aber von Essenseinladungen von Männern habe ich erst mal die Nase voll.« Sie dachte an ihre hartnäckigen Verehrer Edgar von Platen und Dr. Alexander Gutbrodt, die ihr nacheinander den Hof gemacht und ihr durch ihre seltsame Art vorerst gründlich die Lust auf weitere Begegnungen mit dem anderen Geschlecht verdorben hatten.

Danny hatte nachgedacht und beugte sich noch weiter über den Tresen.

»Dann bekommen Sie jede Woche einen schönen Blumenstrauß, wenn Sie mir nur diese Victoria Bernhardt vom Hals halten«, versuchte er leise, Wendys Herz mit einem weiteren Bestechungsversuch zu erweichen.

Doch diesmal war sie unerbittlich.

»So verlockend dein Angebot auch ist: Es geht nicht. Frau Bernhardt besteht ausdrücklich auf einer Behandlung bei dir. Mal abgesehen davon, dass sich dein Vater gerade um einen Notfall kümmert«, erwiderte sie leise und schob ihm die Patientenkarte zu.

Seit Dannys Eltern Daniel und Felicitas Norden einige Monate im Orient verbracht hatten, um dem schwer kranken Sohn eines Sultans zu helfen, hatte sich Danny durch die würdige Vertretung seines Vaters unentbehrlich in der Praxis gemacht. Nach Dr. Nordens Rückkehr war vom Familienrat beschlossen worden, dass Danny auch in Zukunft und diesmal Seite an Seite mit seinem Vater praktizieren sollte, um weitere Erfahrungen zu sammeln. Rasch erwies sich diese Entscheidung als sehr weise. Die Praxis konnte einen deutlichen Anstieg an Patientenzahlen verbuchen, darunter viele Frauen, die sich bevorzugt von dem jungen, gut aussehenden und charmanten Danny Norden behandeln lassen wollten.

»Vielleicht solltest du ihr unmissverständlich klarmachen, dass du vergeben bist und deine Bemühungen um sie nur rein beruflicher Natur sind«, machte Wendy einen Vorschlag.

Danny verdrehte die Augen und stöhnte leise auf. Auf keinen Fall wollte er, dass die schöne und wesentlich ältere Unternehmerin, die hinter geschlossener Tür im Wartezimmer auf ihren Termin wartete, auf dieses Gespräch aufmerksam wurde.

»Das habe ich ja schon getan. Aber aus irgendeinem Grund will sie die Tatsachen nicht anerkennen.« Er dachte an Victorias letzten Besuch in der Praxis. Mit Schrecken erinnerte er sich an ihr Angebot, ihm sogar eine eigene Praxis zu kaufen, wenn er sich nur mit ihr einließe. Natürlich hatte Danny dieses Angebot ohne mit der Wimper zu zucken ausgeschlagen und sie darauf aufmerksam gemacht, dass er weder bestechlich war noch privaten Beziehungen zu Patientinnen pflegte. Trotzdem verfolgte ihn diese Frau seither in Gedanken, zumal sie auch seine Freundin ins Spiel gebracht hatte. Denn auch die fast blinde Tatjana Bohde war eine Patientin. Woher Victoria das wusste, war Danny ein Rätsel und beunruhigte ihn zutiefst. Diese Frau scheute sich nicht davor, über Leichen zu gehen, um ein Ziel zu erreichen. Danny hatte Tatjana zwar gewarnt. Aber Victoria Bernhardt war raffiniert.

»Dann musst du eben weiter hartnäckig bleiben«, wusste Wendy auch keinen anderen Ausweg mehr. In ihrem gutmütigen Gesicht lag echtes Bedauern.

Das sah schließlich auch Danny ein und fügte sich in sein Schicksal.

*

»Au! Aua!«, stöhnte der Jugendliche, als Dr. Daniel Norden vorsichtig die rot geschwollene Nase vorsichtig berührte.

»Tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun«, entschuldigte sich der erfahrene Arzt. »Aber ich fürchte, du hast dir die Nase gebrochen. Die leichte Verschiebbarkeit ist ein deutliches Zeichen dafür.«

»Sind Sie sicher?«, krächzte Theo Miller mit belegter Stimme. Er hatte die Arztpraxis auf Anraten seines Schulfreundes Felix Norden aufgesucht, der sich Sorgen um den neuen, offenbar ein wenig tollpatschigen Schulkameraden gemacht hatte. »Meine Mutter fällt in Ohnmacht, wenn sie das erfährt. Bestimmt legt sie mich gleich unters Messer«, nuschelte er durch das Taschentuch hindurch, das er vor den Mund hielt.

»Wer ist denn deine Mutter?«

»Ramona Miller. Sie ist Hand- und Schönheitschirurgin an der Behnisch-Klinik.«

Während Dr. Norden Spritze und Kanüle aus dem Schrank holte und alles für eine örtliche Betäubung vorbereitete, wunderte er sich.

»Ich arbeite eng mit der Behnisch-Klinik zusammen. Aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.«

»Wir wohnen noch nicht so lange hier. Erst seit ein paar Wochen.« Vorsichtig betastete Theo seine in Mitleidenschaft gezogene Oberlippe.

»Ach, dann bist du also der neue Mitschüler, von dem mein Sohn Felix erzählt hat«, ging Daniel ein Licht auf. Er setzte sich wieder neben die Behandlungsliege und betupfte einige Stellen neben Theos geschundener Nase mit Desinfektionsmittel. »Nicht so einfach, in einer neuen Klasse Fuß zu fassen, was?«, erinnerte er sich an Felix’ Bemerkung, dass einige Mitschüler auf dem zurückhaltenden Theo herumhackten.

Schlagartig verschloss sich die Miene des Schülers, und er schickte dem Arzt einen misstrauischen Blick. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, den Rat des netten Felix’ zu befolgen und statt zu seiner Mutter in die Klinik in die Praxis zu gehen. Was wusste dieser Dr. Norden von ihm?

»Geht schon«, murmelte Theo. »Glauben Sie, dass ich operiert werden muss?«, wechselte er schnell das Thema.

»Das wird nicht nötig sein«, beschwichtigte Daniel Norden seinen Schmerz gepeinigten Patienten. Feinfühlig wie er war, hatte er Theos Verstimmung, seine Unsicherheit sofort bemerkt und verzichtete wohlweislich darauf, in ihn zu dringen. »Die Nase ist nur ein bisschen schief. Du bekommst eine örtliche Betäubung, bevor ich sie wieder in die richtige Position bringe. Wenn danach keine Atembehinderungen auftreten, dauert es ungefähr fünf Tage. Dann haben sich bereits wieder Knorpel gebildet, und deine Mutter kann dir eine Schutzschiene anlegen. In ein paar Wochen bist du wieder wie neu.«

Bis die Betäubung wirkte, kümmerte sich Daniel um Theos geschwollene Lippe, säuberte sie von getrockneten Blutresten und trug eine kühlende Salbe auf.

»Wie ist das überhaupt passiert?«, erkundigte er sich beiläufig und rollte mit dem Hocker hinüber zum Abfall, um den Tupfer wegzuwerfen.

»Ich hab nicht aufgepasst und bin gegen eine Tür gelaufen.«

Diese Version würde zumindest zu dem passen, was Felix über den Mitschüler erzählt hatte.

Trotzdem konnte und wollte Daniel Norden nicht an Theos Version der Geschichte glauben. Etwas am Verhalten des jungen, zurückhaltenden Mannes machte ihn stutzig und er nahm sich vor, sich eingehender mit seinem Zweitältesten über dieses Thema zu unterhalten.

Doch Daniel war klug genug, um seine Zweifel nicht preiszugeben.

»Das wäre mir früher auch mal um ein Haar passiert. Allerdings habe ich damals einem hübschen Mädchen nachgeschaut«, erzählte Dr. Norden lächelnd und beugte sich über Theo. Mit einem kurzen Ruck saß die Nase wieder gerade. »Schlimm?«

»Gar nicht. Ich hab fast nichts gespürt.«

»Sehr gut. Kannst du richtig atmen? Bekommst du gut Luft?«

Der Schüler atmete ein paar Mal durch die Nase ein und aus.

»Fühlt sich ganz gut an.«

»Im Augenblick ist das Gewebe noch geschwollen. Das wird also noch besser werden. Falls du irgendwelche Probleme haben solltest, steht dir deine Mutter bestimmt mit Rat und Tat zur Seite. Aber natürlich kannst du auch jederzeit wieder zu mir kommen.« Daniel half Theo dabei, sich aufzusetzen. »Geht’s? Ist dir schwindlig?«

»Alles bestens. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Er las die stumme Frage in Dr. Nordens Augen. »Ich wollte meine Mutter nicht in der Arbeit erschrecken. Der neue Job ist ihr wahnsinnig wichtig, und ich will nicht dran schuld sein, wenn bei ihr irgendwas schiefläuft.« Reicht schon, wenn ich ständig Ärger habe!, fügte der Schüler im Geiste hinzu, sprach seine Gedanken aber nicht laut aus.

»Du bist ein sehr rücksichtsvoller, junger Mann«, lobte Dr. Norden seinen jugendlichen Patienten, während er ihn zur Tür brachte. »Deine Mutter ist sicher ziemlich stolz auf dich.«

»Danke!« Theo Miller freute sich wirklich über dieses Kompliment. Andererseits fragte er sich, warum nicht jeder so nett zu ihm sein konnte wie der Arzt und sein Sohn Felix.

*

»Haben Sie sich das auch wirklich gut überlegt?« Danny Norden musterte sein attraktives Gegenüber sichtlich besorgt.

»Sie können mir glauben, dass ich es mir nicht leicht gemacht habe mit dieser Entscheidung«, erwiderte Victoria Bernhardt ernsthaft.

»Ich rate Ihnen trotzdem von einer Schönheitsoperation ab«, beharrte er auf seiner Meinung.

Victorias Miene verfinsterte sich. Sie schüttelte den Kopf, und die vielen Ketten um ihren Hals klirrten ebenso wie die langen goldenen Ohrringe. Über ihrer Nasenwurzel erschien eine kleine Falte.

»Es muss sein.«

»Ich verstehe das nicht. Sie sind doch eine bildschöne Frau!« Langsam aber sicher wurde Danny ärgerlich. »Warum wollen Sie unbedingt das Risiko eines chirurgischen Eingriffs auf sich nehmen?«

Victoria beugte sich vor und musterte das Objekt ihrer Begierde aus den ungewöhnlichen, schrägstehenden Katzenaugen. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sagte: »Machen Sie mir doch nichts vor, mein lieber Dr. Norden.«

»Ich bin noch kein Doktor«, wies Danny sie wieder einmal darauf hin, dass seine Promotion noch ausstand.

Doch schon in der Vergangenheit hatte sich gezeigt, dass die schöne, erfolgsverwöhnte Unternehmerin dieses Argument nicht gelten ließ. Victoria lächelte vielsagend.

»Wenn Sie auf meinen Vorschlag eingingen, hätten Sie den Titel im Handumdrehen«, deutete sie an, dass sie ihm den Doktortitel auch kaufen würde. Dabei ließ sie demonstrativ die vielen Ketten um ihren Hals durch ihre schlanken Finger gleiten. Sie wägte kurz ab, ob sie ihren Joker einsetzen sollte und entschied sich schließlich dafür. »Wenn Sie so wollen, sind Sie dran schuld, dass ich mich operieren lassen will.«

»Ich?«, rief Danny empört aus. »Was habe ich denn damit zu tun?«

Melancholisch lächelnd lehnte sich Victoria zurück. Dabei ließ sie Danny nicht aus den Augen.

»Es muss doch einen Grund geben, warum Sie mich nicht lieben können«, sagte sie leise. »Nein, nein, sagen Sie jetzt nichts«, wehrte sie ab, als Danny den Mund öffnete, um Einspruch zu erheben. »Ich bin selbstkritisch genug, um die Wahrheit anzuerkennen. Ein Mann wie Sie kann sich natürlich nur in eine schöne, junge Frau mit makellosem Teint und ohne Krähenfüße in den Augenwinkeln verlieben. In eine Frau wie Tatjana zum Beispiel«, bemerkte sie beiläufig und senkte die lang bewimperten Augen.

Danny erschrak.

»Lassen Sie Tatjana aus dem Spiel«, erwiderte er unwirsch. Seine Miene wurde abweisend. »Sie ist fast blind und hat wahrlich andere Sorgen als faltenfreie Haut.«

Victorias Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Mit Ihrer Liebe würden meine Probleme auch verblassen.«

Innerlich bebend vor Erregung atmete Danny tief ein und aus und lehnte sich zurück. Er gemahnte sich zur Ruhe und dachte darüber nach, wie er das Gespräch in andere Bahnen lenken konnte, ohne unhöflich zu sein.

»Frau Bernhardt, bitte nehmen Sie Vernunft an. Sie kennen mich doch gar nicht. Mit ziemlicher Sicherheit bin ich nicht der, für den Sie mich halten.«

»Sie erlauben mir ja nicht, Sie näher kennenzulernen.« Victoria schürzte die vollen Lippen. Sie wirkte wie ein trotziges kleines Mädchen.

Doch Danny ahnte, dass der harmlose Eindruck täuschte. Gleichzeitig beschloss er, ihre Bemerkung zu ignorieren.

»Und Sie sind wirklich wunderschön.«

»Ich bin nicht perfekt.«

»Auf Perfektion getrimmte Gesichter sind doch nichts weiter als ausdruckslose Masken. Dafür gibt es in der Welt der Stars und Sternchen inzwischen zigfache Beweise. Sagen Sie bloß, das ist Ihnen noch nicht aufgefallen.«

»Das liegt an den Operationsmethoden«, behauptete Victoria mit dem ihr eigenen Starrsinn. Gewohnt zu siegen, dachte sie gar nicht daran, von dem einmal gefassten Plan abzulassen.

Dabei ging es ihr bei der Operation zwar durchaus um ihre Schönheit. Aber erst in zweiter Linie. Viel wichtiger war die Tatsache, dass sich Danny Norden wie sein Vater höchstpersönlich um die Operationsnachsorge bei seinen Patienten kümmerte. Wenn sie den jungen Mediziner erst einmal Tag für Tag in ihrer Nähe hätte, würde es ihr mit Sicherheit gelingen, seine Liebe zu entfachen. Das war der Gedanke, der die Jungunternehmerin antrieb. »Ich habe gehört, dass seit Kurzem eine hervorragende Schönheitschirurgin an der Behnisch-Klinik tätig ist«, sagte sie nachdenklich. »Und Sie arbeiten doch eng mit dieser renommierten Privatklinik zusammen.«

»Sie sind wirklich gut informiert«, musste Danny zähneknirschend zugeben. Nichtahnend, welches Vorhaben wirklich hinter Victorias Plan steckte, suchte er händeringend nach Gegenargumenten. »Allerdings bleibt auch beim besten Arzt ein Restrisiko bestehen.«

»Ich werde den Eingriff gut überstehen«, gab Victoria Bernhardt zuversichtlich zurück.

Danny musterte sie unverhohlen.

»Woher nehmen Sie diese Gewissheit?«, fragte er provozierend. Er war gegen sinnlose Operationen und wollte sich auf keinen Fall mitschuldig machen, wenn tatsächlich etwas schiefgehen sollte. »Ein solcher Eingriff hat schon gesunde Menschen zu Pflegefällen gemacht. Warum wollen Sie dieses Risiko auf sich nehmen? Mir können Sie diese Verantwortung nicht zuschieben. Ich bin gegen diesen Eingriff.«

Victorias Katzenaugen wurden schmal. Sie hatte nicht mit so viel Widerstand seitens des jungen Arztes gerechnet.

»Ich bin nicht gekommen, um mir die Operation ausreden zu lassen sondern weil Sie mit einer der besten Kliniken des Landes zusammenarbeiten.« Sie erhob sich. »Aber gut, wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann muss ich eben andere Wege gehen und mich mit weniger guten Ärzten zufriedengeben. Falls mir dann doch etwas passiert, müssen Sie das eben mit Ihrem Gewissen vereinbaren.« Dieser Satz schwebte in der Luft wie eine düstere Drohung.

Als Danny nicht antwortete, drehte sich Victoria um und stolzierte auf ihren bleistiftdünnen Absätzen zur Tür.

Er sah ihr nach und seufzte tief.

»Also schön, ich spreche mit Frau Dr. Behnisch«, gab sich der junge Mediziner schließlich geschlagen.

Die sorgfältig manikürte Hand auf der Klinke, verharrte Victoria kurz an der Tür. Dann drehte sie sich um und lächelte Danny mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Triumph an.

»Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann«, erklärte sie und zwinkerte ihm verschworen zu, ehe sie das Sprechzimmer verließ und Danny mit einem schlechten Gefühl zurückließ.

*

»Heute war dein Mitschüler Theo Miller bei mir in der Praxis«, erzählte Daniel Norden, als er am Abend am Esstisch saß und sich Lennis kalten Braten schmecken ließ.

Der vielbeschäftigte Arzt liebte es, seine Familie um sich zu haben. Als Junggeselle hätte er das Abendbrot wahrscheinlich alleine vor dem Fernseher eingenommen. Familienväter leben ausgeglichener und gesünder, dachte er zufrieden, während er seine Lieben musterte. Er war glücklich und dem Schicksal unendlich dankbar dafür, dass es seine Frau und seine Kinder gab. Daniel Norden genoss die gemeinsamen Mahlzeiten umso mehr, als die Gelegenheiten, zu denen sich sämtliche Familienmitglieder um den Tisch versammelten, immer seltener wurden. Auch an diesem Abend waren sie nicht vollzählig. Gleich nach Ende der Sprechstunde war Danny zu seiner Freundin Tatjana gefahren. Dési war bei einer Freundin, um für eine Schulaufgabe zu lernen, sodass neben seiner Frau Fee nur noch Janni, Anneka und Felix mit am Tisch saßen.

»Wie geht’s Theos Nase?«, erkundigte sich Felix und angelte sich noch eine Scheibe Braten. »Ich dachte, ich schick ihn vorsichtshalber mal zu dir ..., so wie das geblutet hat.«

»Das war eine weise Entscheidung. Sie ist gebrochen.«

»Habt ihr in der Schule Fußball gespielt?«, fragte Janni, der jüngste Sohn der Familie, ein wenig neidisch.

»Wie kommst du denn darauf?« Felix sah seinen jüngsten Bruder verwundert an.

»Wie bricht man sich sonst die Nase in der Schule, wenn man nicht einen Ball draufkriegt?«, ließ die plausible Gegenfrage nicht auf sich warten.

»Theo hat erzählt, dass er gegen eine Tür gelaufen ist«, klärte Felix seinen Bruder erstaunlich gutmütig auf und verzichtete ausnahmsweise auf die sonst üblichen Neckereien.

»Und das glaubst du ihm?«, hakte Daniel Norden nach und sah Felix dabei zu, wie er herzhaft in sein Brot biss.

Während er kaute, zuckte er mit den Schultern.

»Weiß nicht so genau«, gab er offen zu. »Könnte schon sein, dass das gelogen ist. Andererseits …«

»Wie meinst du das?« Augenblicklich war Annekas Interesse geweckt. Sie kannte Theo aus der Schule und ihre mitfühlende Seele meldete sich wie immer, wenn sie ein Unrecht witterte. »Glaubst du, es hat ihm jemand was angetan?«

»Zumindest ist es langsam ein bisschen seltsam, was ihm so alles passiert. Mal abgesehen davon, dass es ein paar Mitschüler gibt, die ihn pausenlos provozieren.« Nachdenklich berichtete Felix von Theos Missgeschicken. Ständig passierte ihm etwas, verlor er sein Handy oder seinen Geldbeutel, waren seine Bücher kaputt oder sein Rucksack durchnässt von der Flasche Wasser, die er von zu Hause mitgebracht hatte. »So ungeschickt kann eigentlich kein Mensch sein.«

Felicitas hatte aufmerksam zugehört.

»Du meinst also, dass eure Mitschüler nicht ganz unschuldig an all diesen Unfällen ist?«, fragte sie misstrauisch.

»Schon möglich.«

»Aber warum lässt Theo sich das gefallen?«, erkundigte sich Fee sichtlich verwundert. Seit sie ihre Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychologie begonnen hatte, interessierte sie sich noch viel mehr für Hintergründe und Zusammenhänge, war sie noch hellhöriger für Missstände geworden.

»Ich glaub, es hat ihm sehr zu schaffen gemacht, dass sich seine Eltern vor ein paar Jahren getrennt haben. Dabei ist wohl ein großer Teil seines Selbstbewusstseins auf der Strecke geblieben. Das hat er zumindest mal angedeutet.«

»Vielleicht sucht er wie viele andere Kinder auch die Schuld für die Trennung bei sich«, mutmaßte Felicitas nachdenklich.

»Er ist doch alt genug um zu wissen, dass das Quatsch ist«, bemerkte Felix ungläubig und erntete postwendend einen Rüffler seiner jüngeren Schwester.

»Woher willst du das denn wissen? Schließlich haben wir das Glück, in einer intakten Familie aufzuwachsen und können überhaupt nicht beurteilen, was es für die Kinder bedeutet, wenn die Eltern sich trennen«, brauste Anneka unvermittelt auf.

Obwohl sich Felicitas nicht gerne in Meinungsverschiedenheiten ihrer Sprösslinge einmischte, ergriff sie diesmal Partei für ihre Tochter.

»Zumal wir die äußeren Umstände nicht kennen. Oft bilden sich Kinder ja ein, dass sich die Eltern wegen ihnen streiten. Wegen einer Dummheit, die sie meinen, angestellt zu haben.«

Ungerührt zuckte Felix mit den Schultern.

»Kann schon sein. Trotzdem finde ich, dass sich Theo mal ein bisschen zur Wehr setzen könnte. Schließlich ist er kein Kind mehr. Es würde ja schon reichen, wenn er sich ein einziges Mal mit seinen Fäusten Respekt verschaffen würde. Dann hätte er ein für alle Mal seine Ruhe.«

Mit wachsender Skepsis hatte Dr. Norden dem Gespräch gelauscht.

»Du glaubst also, es hat ihn jemand verprügelt?«, hakte er besorgt nach.

»Warum hast du ihm nicht geholfen?«, fragte Anneka sofort vorwurfsvoll. Ihre Augen funkelten gefährlich, als sie ihren Bruder ansah.

»Für wen hältst du mich eigentlich?« Langsam aber sicher wurde Felix nun doch wütend auf seine Schwester. »Natürlich beschütze ich ihn, wenn ich mitbekomme, dass sie ihn ärgern. Aber ich kann ja nicht immer überall sein. Theo ist genauso alt wie ich. Irgendwann sollte er mal lernen, sich selbst zu verteidigen.«

Daniel und seine Frau tauschten verständnisinnige Blicke über den Tisch hinweg.

»Dann bring’s ihm doch bei!«, sprach Fee laut den Vorschlag aus, den sie in den Augen ihres Mannes gelesen hatte.

Tatsächlich stieß er auf Gegenliebe. Nachdenklich zeichnete Felix mit der Gabel ein Muster in den restlichen Senf auf seinem Teller.

»Das könnte ich eigentlich machen. Eine kaputte Nase sollte als Anlass reichen.«

»Dann sind wir ja wieder mal einer Meinung«, stellte Daniel Norden zufrieden fest und schob seinen Teller von sich. Das Abendessen war köstlich wie immer gewesen. Für den heutigen Tag hatten sie genug über die Arbeit gesprochen und Probleme gewälzt und jetzt freute er sich auf einen gemütlichen Abend mit seiner Frau, den sie sich beide redlich verdient hatten.

*

Der Abend fühlte sich weich und warm an. Zufrieden lag Danny Norden neben seiner Freundin Tatjana im warmen Gras und betrachtete sie aus halb geschlossenen Augen im Licht der untergehenden Sonne. Nicht weit entfernt gurgelte die Isar, das Wasser leckte an den knisternden Kieseln am Ufer. Es war so windstill, dass sich das von der Sonne durchflimmerte Gitterwerk aus Ästen über ihnen nicht bewegte. Eine halb geleerte Flasche Wein und zwei Gläser glänzten und glitzerten in den letzten Strahlen. Von einer Aureole umgeben leuchtete auch Tatjanas schlanker Körper.

»Hab ich dir schon mal gesagt, wie schön du bist?«, fragte Danny rau und streckte seinen Arm aus. Er legte seine Hand auf ihren flachen Bauch, spürte, wie er sich unter ihrem Atem hob und senkte.

Tatjana lachte leise und verliebt.

»Und wenn schon?«, schnurrte sie wie eine Katze. »Das kann ich nicht oft genug hören.«

»Du bist schön, du bist schön, du bist schön«, wiederholte er zärtlich.

»Klingt gut«, lachte Tatjana. »Obwohl es mir schwerfällt, dir zu glauben.«

»Warum?« Dannys Stimme klang erschrocken. Er stützte sich auf den Ellbogen und musterte Tatjana prüfend. Aber nur kurz. Dann legte sie ihre Hand um seinen Hals und zog ihn zu sich, um ihn so innig zu küssen, wie nur sie es konnte.

»Weil ich mir nur schwer vorstellen kann, wie ein Arzt Körper noch schön finden kann. Ich meine, du beschäftigst dich doch den ganzen Tag mit den Krankheiten, die ihn befallen können«, erklärte sie dann sachlich und überraschte Danny wieder einmal mit ihrem widersprüchlichen Gedanken.

Danny Norden kannte keinen Menschen, der so mühelos zwischen ernsten Themen und Spaß hin und her springen konnte wie Tatjana. Der von einer Minute auf die andere zuerst zärtlich und liebevoll und dann burschikos und schmerzhaft ironisch sein konnte.

»Eigentlich müsstest du doch jeden Menschen durch deine Medizinerbrille betrachten«, fuhr Tatjana fort und lachte leise dicht an seinem Mund.

»Keine Sorge. Brillen haben den unschätzbaren Vorteil, dass man sie ablegen kann.« Mit den Lippen strich Danny an Tatjanas Schwanenhals hinab, bis sie kicherte.

»Tust du das nur bei mir oder auch bei anderen Patientinnen?«

»Was? Küssen?«

»Nein.« Wieder lachte Tatjana. »Die Medizinerbrille absetzen.« Sie riss einen Grashalm ab und kitzelte Danny damit am Ohr. »Immerhin hast du mir neulich erzählt, dass ihr viel mehr weibliche Patienten habt, seit du mit in der Praxis bist«, erklärte sie keck. Schlagartig ging Danny ein Licht auf, worauf seine Freundin hinaus wollte. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte: Tatjana war eifersüchtig. Und Danny konnte sie sogar verstehen. Hinter ihrer rauen Schale verbarg sich ein ungemein sensibler Kern, den er keinesfalls verletzen wollte. »Da sind doch bestimmt ein paar junge, hübsche Mädels dabei, die dir den Hof machen.«

Danny strich Tatjana eine dunkle Strähne aus der Stirn und betrachtete sie eingehend. Von Anfang an hatte ihn die fast blinde junge Frau zutiefst beeindruckt. Daran hatte sich auch Monate nach ihrer ersten Begegnung nichts geändert. Immer noch imponierte ihm die Art, wie sie mit ihrer Behinderung umging, zutiefst. Genau wie ihr Selbstbewusstsein, mit dem sie sogar in dem Café einer kleinen Bäckerei bediente und leidenschaftlich gern ins Kino ging. Mal abgesehen davon, dass Tatjana auf eine sehr außergewöhnliche Art ungemein attraktiv war.

»Gegen dich hat keine Frau der Welt eine Chance«, erklärte er innig und aus tiefstem Herzen.

Doch so leicht konnte Tatjana es ihm nicht machen.

»Was ist denn eigentlich mit dieser Victoria ..., du weißt schon ..., die, die dir eine eigene Praxis schenken will, wenn du sie nur erhörst.« Durch eine Operation, die Danny ermöglicht hatte, hatte Tatjana einen ganz kleinen Teil ihres Sehvermögens zurückbekommen, und nun richtete sie sich auf, um ihren Freund eingehend zu mustern. Viel konnte sie nicht erkennen. Aber wenigstens die Umrisse seines geliebten Gesichts.

»Müssen wir ausgerechnet jetzt über Victoria reden?«, fragte Danny ungewöhnlich schroff, griff nach seinem Glas und reichte Tatjana das ihre. Er trank einen Schluck Wein und ließ sich zurück ins Gras fallen.

Seine Reaktion hatte Tatjana irritiert.

»Ich dachte, es freut dich, wenn ich mich für deine Arbeit interessiere. Schließlich erzähle ich dir auch ständig was von altorientalischer Philologie und orientalischer Archäologie«, redete sie sich nervös heraus.

»Es freut mich ja auch«, räumte Danny seufzend ein. Dieses Gespräch lief unbeabsichtigt in die völlig falsche Richtung. Dabei wusste er selbst nicht, warum er so unwirsch auf den Namen Victoria, auf diese Frau überhaupt, reagierte. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und beobachtete, wie ein Stern nach dem anderen am samtblauen Nachthimmel auftauchte. »Aber ehrlich gesagt möchte ich nicht ausgerechnet über Victoria Bernhardt reden.«

»Das klingt ja gerade so, als hättest du was zu verbergen«, stellte Tatjana fest.

Dannys merkwürdige Reaktion gab ihr zu denken. Obwohl sie ihm vertraute, wurde sie misstrauisch.

»Unsinn. Sie geht mir nur gehörig auf die Nerven«, widersprach Danny schnell. »Stell dir vor: Heute war sie in der Praxis und hat von mir einen Operationstermin in der Behnisch-Klinik verlangt.«

»Wozu? Ist sie ernsthaft krank?«

»Sie bildet sich eine Schönheitsoperation ein, obwohl sie selbst für ihr Alter noch makellos schön ist.« Danny konnte es immer noch nicht fassen.

Er hatte schon mit seinem Vater darüber gesprochen und war mit Daniel übereingekommen, die Angelegenheit mit Jenny Behnisch zu diskutieren.

»Soso, makellos also«, wiederholte Tatjana leicht pikiert. Die Tatsache, dass die Jungunternehmerin ihrem Freund eine eigene Praxis schenkten wollte, nagte doch an ihr und ihrem Selbstbewusstsein. Da konnte Danny tausend Mal versichern, dass er kein Interesse hatte. »Dann gefällt sie dir also doch?«

»Nein und nochmals nein!«, beharrte Danny eine Spur aggressiv. »Nur weil sie gut aussieht, heißt das noch lange nicht, dass sie mir gefällt. Mal abgesehen davon, dass ich es ausgesprochen dumm finde, dass sie sich ohne Not unters Messer legen will«, redete er sich in Rage.

»Schon gut. Reg dich nicht auf«, beschwichtigte Tatjana ihren Freund schnell. Schon tat es ihr leid, die gute Stimmung verdorben zu haben. »Ich könnte es dir nur nicht verdenken, wenn dich dieses Angebot nicht ganz kalt lässt. Diese Frau muss ganz schön verliebt in dich sein«, sagte sie zärtlich und beugte sich über Danny. »Was ich durchaus verstehen kann.« Sie musterte ihn aus ihren unergründlichen, unvorstellbar dunkelblauen Augen und streichelte zärtlich seine Wange.

Ihre versöhnlichen Worte, der verliebte Ausdruck in ihrem Gesicht, ihr geheimnisvoller Blick blieben nicht ohne Wirkung.

»Wenn mich jemand nicht kalt lässt, dann bist du das.« Danny umschlang seine Freundin und zog sie an sich, um ihr Gesicht mit kleinen Küssen zu bedecken.

Tatjana war froh, dass sich die Gewitterwolken so schnell wieder verzogen hatten, wie sie gekommen waren.

»Na, dann will ich mal dafür sorgen, dass das auch so bleibt«, versprach sie und knabberte verspielt an seinem Ohrläppchen.

Die gefährliche Klippe war umschifft und die Stimmung für diesen Abend gerettet. Doch nur Danny selbst wusste, dass er nicht alles erzählt hatte. Tatjana ahnte nicht, dass Victoria Bernhardt einen Termin in der Behnisch-Klinik hatte und dass er selbst sie dort betreuen würde. Um des lieben Frieden willens hatte er auf diese Information verzichtet und wusste jetzt schon, dass das ein Fehler gewesen war.

*

Trotz zunehmender Patientenzahlen war einer der vielen unschätzbaren Vorteile der Gemeinschaftspraxis Norden die Zeit, die sich Danny und Daniel Norden Senior für ihre Patienten nehmen konnten.

»Haben Sie denn niemanden, der Sie in die Klinik bringen kann?«, erkundigte sich Dr. Norden bei seinem Patienten Arnold Masuch.

Der alte Mann saß wie ein Häuflein Elend vor ihm und krümmte sich vor Schmerzen.

»Nein, niemanden«, keuchte er gequält. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht war noch blasser als sonst. »Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Wir hatten keine Kinder. Jetzt bin ich ganz allein.«

Dr. Norden zögerte nicht lange. Es bestand doch der Verdacht auf eine akute Blinddarmentzündung. Schnelles Handeln tat Not und er warf einen raschen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag.

»Bitte warten Sie einen Augenblick. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Arnold Masuch nickte gottergeben, und Daniel eilte aus dem Behandlungszimmer.

»Wie viele Patienten warten noch auf mich?«, erkundigte er sich bei seiner Assistentin, die eben damit beschäftigt war, Befunde zu tippen, die ihr Chef auf Band diktiert hatte.

Wendy nahm die Kopfhörer ab und lächelte ihn entschuldigend an.

»Wie bitte?«

Ungeduldig wiederholte Daniel seine Frage.

Wendy ahnte, worum es ging und warf einen prüfenden Blick in den Terminkalender.

»Frau Herbst hat noch einen Termin. Sie verreist demnächst nach Thailand und brauchte eine Beratung wegen der nötigen Impfungen und der Malariaprophylaxe. Aber das kann Danny übernehmen«, beschied sie ihrem Chef. »Christina Scharf ist im Augenblick noch bei ihm wegen der Nachsorge ihrer Schnittverletzung. Das kann nicht mehr lange dauern.« Sie lächelte Daniel an. »Sie können Herrn Masuch also unbesorgt in die Klinik bringen.«

»Woher wissen Sie ...?« Ungläubig schnappte Daniel nach Luft, und Wendy griff wieder nach ihren Kopfhörern.

»Jahrelange Erfahrung!«, lächelte sie verschmitzt, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte und Daniel seinen Patienten beruhigt in die Klinik begleiten konnte.

*

Nachdem Dr. Norden den einsamen Arnold Masuch eine dreiviertel Stunde später in der Chirurgie abgeliefert hatte, machte er sich auf den Weg zu Jenny Behnisch. Eine Ärztin, die er noch nicht kannte, fuhr mit ihm den Aufzug hoch. In Gedanken versunken musterte er das Namensschild an ihrem Kittel und wurde aufmerksam.

»Frau Dr. Miller?«, fragte er.

In ihrem aparten, nicht mehr ganz jungen und ein wenig erschöpft wirkenden Gesicht stand eine unausgesprochene Frage.

»Ganz recht. Ich arbeite erst seit Kurzem an dieser Klinik. Deshalb weiß ich leider nicht, mit wem ich das Vergnügen habe.« Sie lächelte ihn freundlich an und musterte ihn offen.

»Oh, bitte entschuldigen Sie.« Daniel Norden stellte sich vor. »Ihr Sohn war gestern bei mir in der Praxis.«

»Ah, dann haben Sie seine Nase also so fachkundig eingerichtet. Die Kollegen haben schon viel von Ihnen erzählt. Ich hatte vor, Sie heute anzurufen, um mich bei Ihnen für die unbürokratische Hilfe zu bedanken.« Die Aufzugtüren öffneten sich, und Ramona trat hinaus. Mit einer Patientenakte unter dem Arm wartete sie auf Daniel und schlenderte dann mit ihm den Gang hinunter. »Ausgerechnet gestern Nachmittag hatte ich eine schwierige Operation und hätte gar keine Zeit für Theo gehabt. Deshalb bin ich doppelt dankbar.« Müde fuhr sie sich über die Augen.

»Ich bitte Sie. Das war doch selbstverständlich«, versicherte Daniel. Jetzt, wo er die Bekanntschaft dieser bescheidenen, freundlichen Chirurgin gemacht hatte, freute er sich doppelt darüber, ihr das Leben wenigstens ein bisschen leichter gemacht zu haben.

»Sieht so aus, als ob Felix und Theo sich gut verstehen«, unterbrach Ramona seine Gedanken.

»Das denke ich auch.« Plötzlich hatte Dr. Norden den Eindruck, als ob seine Gesprächspartnerin nervös wurde. Er schickte Ramona einen kurzen Seitenblick und sah seinen Verdacht bestätigt. Sie zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe und blieb unvermittelt an einer ruhigen Ecke stehen.

»Dann sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass Theo Probleme mit dem Selbstbewusstsein hat.« Ramona seufzte. Eine Falte hatte sich zwischen ihre graublauen Augen gegraben. »Er war noch nie ein Draufgänger. Aber jetzt fällt es ihm immer schwerer, Freundschaften zu schließen. Am liebsten verkriecht er sich hinter seinem Computer und lässt sich den ganzen Tag nicht mehr blicken.«

»Felix ist da ganz anders«, konnte Dr. Norden zu seiner Erleichterung berichten. Auch sein Zweitältester spielte hin und wieder gerne Computer. Aber er hatte darüber hinaus noch so viele andere Interessen, dass die Zeit am Bildschirm überschaubar war. »Vielleicht kann er Theo ja mal zum Fußball mitnehmen oder auf eine Party bei seinen Freunden.«

»Das wäre wirklich nett.« Scheinbar hatte Ramona noch keinen Anschluss in der fremden Stadt gefunden, denn sie genoss es ganz offensichtlich, sich mit dem Kollegen zu unterhalten. Es mochte aber auch daran liegen, dass sie sich Sorgen um ihren Sohn machte und sich über den kompetenten Gesprächspartner freute. »Wissen Sie, es hat Theo sehr zu schaffen gemacht, als ich mich von seinem Vater getrennt habe. Dabei hatte diese Ehe einfach keine Zukunft mehr. Mein Mann wurde nach Asien versetzt und war kaum mehr zu Hause. Ständig war ich allein mit Theo und musste sehen, wie ich meinen Alltag und den anstrengenden Beruf um meinen Sohn herum organisiere.«

»Ich kann mir vorstellen, dass das für viel Zündstoff gesorgt hat.« Wieder einmal dankte Daniel Norden dem Himmel dafür, ihn mit dieser Frau, dieser Familie gesegnet zu haben, sodass er nie mit solchen Problemen konfrontiert gewesen war. Und es hoffentlich nie sein würde.

»Meine ganze Unzufriedenheit über die Situation hat mein Mann abbekommen«, gestand Ramona offen. »Deshalb entschieden Heiner und ich eines Tages, uns unser ohnehin nicht leichtes Leben nicht noch zusätzlich schwer zu machen.« Als Ramona Miller an diesen unerfreulichen Abschnitt ihrer Ehe dachte, wirkte sie alles andere als glücklich. »Ich hätte nie gedacht, dass Theo die Trennung so sehr zu schaffen macht. Schließlich hat er seinen Vater ja auch kaum zu Gesicht bekommen. Leider musste ich erkennen, dass ich mich in dieser Hinsicht geirrt habe.« Sie senkte den Kopf und blickte zu Boden.

Einen Moment lang fragte sich Daniel, ob sie auf diese Weise Tränen vor ihm verbergen wollte.

»Haben Sie Kontakt zu Ihrem Mann?«, fragte er behutsam.

»Hin und wieder ruft Heiner an. Glücklicherweise sind wir im Guten auseinandergegangen.«

»Spricht er dann auch mit seinem Sohn?«, forschte Daniel weiter.

»Natürlich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Theo diese Gespräche so guttun. Vielmehr macht er hinterher immer den Eindruck, als ob die Wunde aufs Neue aufgerissen wäre.« Unwillig schüttelte Ramona den Kopf. »Ich verstehe nicht, wieso das immer noch so schlimm ist. Schließlich ist Theo so gut wie erwachsen. In seinem Alter bin ich von zu Hause ausgezogen und in eine andere Stadt gegangen, um Medizin zu studieren.«

»Das liegt möglicherweise daran, dass Ihre Entscheidung, sich von den Eltern zu lösen, freiwillig war. Was man bei Theo ja nicht gerade behaupten kann«, gab Dr. Norden zu bedenken. »Wir Menschen sind einfach unterschiedlich. Die einen brauchen mehr Zeit, um sich zu lösen und erwachsen zu werden und die anderen weniger.«

Dr. Ramona Miller sah den Kollegen einen Moment erstaunt an.

»Sie haben recht«, gab sie dann unumwunden zu. »Von dieser Warte aus habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet.« Wieder senkte sie den Kopf und starrte auf ihre weißen Schuhspitzen. »Ehrlich gesagt hatte ich schon öfter das Gefühl, dass diese Trennung ein Fehler war. Nicht nur Theo, auch ich fühle mich manchmal müde und überfordert, so ganz ohne Rückhalt. Manchmal denke ich, dass das Wissen darum, dass da irgendwo auf der Welt jemand ist, doch guttun würde. So weit weg Heiner auch sein mag.« Sie machte eine Pause und seufzte schließlich tief. »Aber nun ist es nicht mehr zu ändern.«

Daniel Norden wollte noch etwas antworten, als Jenny Behnisch in diesem Augenblick eilig wie immer um die Ecke bog.

»Ach, Daniel, da bist du ja! Tut mir leid, dass ich mal wieder zu spät bin. Aber wir hatten da einen komplizierten medizinischen Fall.« Sie lächelte entschuldigend und begrüßte die Kollegin Miller.

»Gar kein Problem«, winkte Dr. Norden gut gelaunt ab. »Dafür hatte ich Gelegenheit, mich mit deiner reizenden, neuen Chirurgin zu unterhalten.«

Vor Freude färbten sich Ramona Millers Wangen zartrosa.

»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite«, bedankte sie sich und nickte ihrer Chefin und Daniel zu, ehe sie sich auf den Weg machte zu ihrer Patientin. Agnes Kunzelmann hatte sich bei einem Unfall das Gesicht zerschnitten. Unschöne Narben waren geblieben, die Dr. Miller entfernt hatte. Bevor die überglückliche Patientin entlassen werden konnte, stand eine Abschlussuntersuchung an.

*

»Kaffee? Tee?«, fragte Jenny, während sie Daniel in der Besucherecke ihres Büros einen Platz anbot.

»Sehr gerne Kaffee, nachdem heute schon das Mittagessen ausgefallen ist«, erwiderte er und machte es sich in einem der schicken Sessel bequem. Sein hungriger Blick ruhte auf der Schale mit frischem Gebäck, für die Jennys Assistentin Andrea genauso sorgte wie für die stets gefüllte Kaffeekanne.

»Mittagessen? Du bist entschieden zu verwöhnt«, lächelte Jenny. »Aber bitte, greif zu. Dafür sind die Leckereien da.« Sie beugte sich vor und studierte die Auswahl auf der Platte. »Das hier musst du probieren. Eine süße Sünde, aber köstlich.« Sie deutete auf ein ganz mit Schokolade umhülltes Gebäckstück, dem Daniel tatsächlich nicht widerstehen konnte.

»Hmmm, fantastisch. Aus welcher Konditorei stammt das?«, fragte er und leckte sich einen Schokokrümel aus dem Mundwinkel.

»Aus der Klinikküche«, gab Jenny sichtlich stolz zurück.

Daniel lachte.

»Überzeugt! Unter diesen Umständen werde ich sofort Patient bei dir.«

»Einverstanden. Bevor wir die Aufnahmeformalitäten erledigen, sagst du mir aber, warum du mich sprechen wolltest«, gab Jenny Behnisch zufrieden zurück.

Als Daniel daran dachte, verfinsterte sich seine Miene.

»Es geht um eine äußerst schwierige Angelegenheit«, erwiderte er unwillig. »Dazu muss ich weiter ausholen.«

»Nur zu. Ich habe etwas Zeit für dich eingeplant.«

»Schön! Danny hat eine etwas eigenwillige Patientin. Ihr Name ist Victoria Bernhardt.«

»Victoria Bernhardt«, wiederholte Jenny sinnend und nippte an ihrem Kaffee. »Der Name kommt mir bekannt vor.« Sie sah Daniel fragend an. »Kann es sein, dass ich in der Zeitung von ihr gelesen habe?«

»Entweder im Wirtschaftsteil oder in der Regenbogenpresse. Sie ist erfolgreiche Jungunternehmerin und lässt trotz ihres nicht mehr ganz jugendlichen Alters keine Party aus«, wusste Dr. Norden zu berichten. »Außerdem hat sie sich in den Kopf gesetzt, meinem Sohn den Kopf zu verdrehen und schreckt dabei vor keinem Mittel zurück.«

Es dauerte einen Moment, bis der Inhalt dieser Botschaft bei Jenny angekommen war.

»Moment mal. Du meinst, sie will Dannys Herz erobern?«, fragte sie dann ungläubig. »Ist das die Möglichkeit!«, lachte sie dann amüsiert auf. »Ich glaube, wir werden alt, mein Lieber. Früher warst du doch das Objekt der Begierde.«

»Darauf kann ich gerne verzichten«, gab Daniel zurück. »Auch, dass sich eine bildschöne, makellose Frau für mich unters Messer legen wollte. Danny ist entsetzt.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, teilte Jenny seine Bedenken. »Trotzdem verstehe ich nicht ganz, was ich damit zu tun habe?«

»Victoria hat sich in den Kopf gesetzt, sich von deiner neuen Schönheitschirurgin Dr. Miller operieren zu lassen. Und besteht darauf, dass Danny die Nachsorge übernimmt.«

Langsam aber sicher ging Jenny Behnisch ein Licht auf.

»Damit sie in dieser Zeit in aller Ruhe sein Herz erobern kann«, durchschaute sie den Plan der Jungunternehmerin sofort. »Solche Geschichten sind kein Einzelfall. Ich habe schon öfter erlebt, welchen Wahnsinn manche Frauen auf sich nehmen, um die Liebe eines Mannes zu gewinnen.« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Habt ihr nicht versucht, ihr diesen Unsinn auszureden?«

»Natürlich«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Reaktion darauf war die Drohung, sich dann eben in einer nicht so renommierten Klinik von irgendeinem Scharlatan operieren zu lassen.«

»Diese Verantwortung will Danny natürlich nicht übernehmen«, nickte Dr. Behnisch verständig.

Seufzend griff Daniel nach einem weiteren Gebäckstück und musterte es eingehend. Es handelte sich um eine winzige Apfeltasche mit köstlicher Füllung, die förmlich auf der Zunge zerschmolz.

»Das ist der Grund meines Besuchs. Ich möchte dich bitten, ihr dieses Vorhaben auszureden.«

»Lass mich nachdenken.« Jenny lehnte sich zurück und rief sich die Bilder in Erinnerung, die sie von Victoria Bernhardt gesehen hatte. »Wenn ich mich recht erinnere, ist diese Frau ungesund schlank. Fast magersüchtig.«

»Ich denke wirklich, dass sie zu schwach für so einen Eingriff sein könnte. Nicht nur ihr Kreislauf ist in Gefahr«, pflichtete Dr. Norden seiner langjährigen Freundin bei. »Du weißt genauso gut wie ich, was bei so einem Eingriff noch alles passieren kann. Vor allen Dingen, wenn man sich in schlechter, körperlicher Verfassung unters Messer legt.«

»Und du glaubst, sie hört auf mich?«, fragte Jenny Behnisch skeptisch.

»Einen Versuch ist es allemal wert. Ich will Danny in dieser schwierigen Situation nicht im Stich lassen.« Die Mittagspause war vorbei und es wurde Zeit, in die Praxis zurückzukehren.

»Ich natürlich auch nicht«, versicherte Jenny, als sie sich an der Tür von Daniel verabschiedete. »Ich werde mein Bestes geben. Du kannst dich auf mich verlassen.«

*

»Danny wird mich nach der Operation betreuen!«, murmelte Victoria versonnen. Ein feines Lächeln spielte um ihre vollen Lippen, während sie gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Dabei wusste sie selbst gut genug, dass der Eingriff nicht nötig gewesen wäre. Sie tat es wegen Danny. »Danny Norden!« Wieder und wieder ließ sie sich diesen klangvollen Namen, den schönsten der Welt, auf der Zunge zergehen wie ein Stück bittersüße Schokolade.

Der gut aussehende junge Arzt hatte es ihr angetan. Trotz oder gerade wegen seiner Jugend war Danny Norden der Mann ihrer Träume. Victoria war verrückt nach ihm, obwohl er sie nicht anders als die anderen Patienten behandelte. Er war immer freundlich und charmant, jedoch nie übertrieben aufmerksam. Er hatte ihr nie einen Anlass gegeben zu glauben, dass er an ihr als Frau und nicht nur als Patientin interessiert war.

»Aber ich wäre nicht Victoria Bernhardt, wenn ich mich von so einer Kleinigkeit abschrecken lassen würde«, erklärte sie entschieden. Denn sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Herzens nach ihm, wäre die glücklichste Frau der Welt gewesen, wenn er sie gefragt hätte, ob sie mit ihm ausgehen wollte.

»Ich liebe ihn so sehr!«, seufzte sie. Wie ein verliebter Teenager malte sie Herzchen auf ihre Schreibtischunterlage und musste hinterher über sich selbst lachen. So etwas war ihr noch nie zuvor passiert. Eine solche Liebe hatte Victoria ins Reich der Märchen verbannt. Bis sie Danny getroffen hatte. Es war eine Liebe, bei der ihr alles andere egal war, bei der es ihr nicht einmal etwas ausmachte, sich vor aller Welt lächerlich zu machen. Doch je länger Victoria über Danny nachdachte, umso trauriger wurde sie.

»Wenn er meine Liebe nur erwidern würde«, seufzte sie und stellte sich vor, wie dieser wunderbare Mann sie zärtlich in seine Arme schloss und leidenschaftlich küsste. »Ich glaube, ich würde ohnmächtig werden, wenn er das wirklich tun würde.«

In ihre Gedanken hinein klopfte es, und Victoria zuckte erschrocken zusammen. Sie war nicht etwa zu Hause in ihrem schicken Apartment sondern in ihrem Büro. Es war helllichter Tag, Arbeitszeit. Vor ihr auf dem Schreibtisch standen sechs Computerbildschirme. Viel Verantwortung lastete auf ihren Schultern. Schnell schob sie ein paar Aktenordner über die Herzchen auf der Schreibtischunterlage.

»Ja, bitte.«

Florian Kiesling trat ein, ein großer, breitschultriger Mann, der sich glücklich geschätzt hätte, wenn Victoria Bernhardt sein zurückhaltendes Werben erhört hätte.

Sie wusste, wie sehr ihr Mitarbeiter sie schon seit Monaten – oder war es schon ein Jahr? – verehrte.

Aber was konnte sie denn dafür, dass da nichts war in ihr? Kein Prickeln, kein Knistern, nur eisiges Schweigen in ihrem Inneren, wenn er vor ihr stand.

»Ist das nicht schrecklich?«, hatte Victoria ihre beste Freundin neulich erst gefragt. »Kiesling küsst den Boden, auf dem ich gehe. Aber ich interessiere mich einfach nicht für ihn. Dafür bin ich unsterblich in Danny Norden verliebt, der wiederum von mir nichts wissen will. Oder vielleicht doch? Ein ganz kleines bisschen? Muss ich nur etwas nachhelfen?« Dabei hatte sie ihre Freundin fragend angesehen, aber leider keine Antwort bekommen.

»Entschuldige die Störung, Victoria«, sagte Florian Kiesling in ihre Gedanken hinein.

»Was gibt es denn?«, fragte die Jungunternehmerin fast ärgerlich.

Victoria Bernhardt war Händlerin und kaufte mit dem Geld ihrer Kunden Aktien, Rohstoffe oder Währungen, um sie zu einem höheren Preis weiterzuverkaufen.

Florian stand vor seiner Chefin und starrte verlegen zu Boden.

»Ich habe da einen Fehler entdeckt«, gestand er zerknirscht. Es war ihm anzusehen, wie unangenehm ihm diese Mitteilung war.

»Was für einen Fehler?«

»Ich fürchte, dir ist da ein Irrtum unterlaufen. Ich dachte, ich sage es dir, um zu retten, was zu retten ist.«

»Ein Fehler? Was für ein Fehler sollte mir unterlaufen sein?«, wiederholte Victoria erschrocken. Sollte ihre Schwärmerei für Danny Norden, ihre mangelnde Konzentrationsfähigkeit in der letzten Zeit, nicht ohne Folgen geblieben sein? Das wäre furchtbar …

»Du solltest im Kundenauftrag einen Einkauf tätigen, hast aber offenbar stattdessen aus Versehen verkauft.«

»Unmöglich!«, entfuhr es Victoria, obwohl sie wusste, dass Florian durchaus recht haben konnte. Mehr als einmal hätte sie fast einen falschen Befehl in den Computer eingegeben und sich in letzter Sekunde dabei erwischt.

»Leider nein! Es ist tatsächlich passiert«, erwiderte Florian Kiesling bedauernd. Er liebte Victoria so sehr, dass er die Schuld ohne Zögern auf seine Kappe genommen hätte. Leider war das nicht möglich. Wenn er ihr helfen sollte, brauchte er ihre Hilfe. »Dummerweise geht es auch noch um Graf Meyenberg.«

Entsetzt biss sich Victoria auf die Lippe.

»Jetzt erinnere ich mich«, gestand sie zerknirscht. »Der Graf hat am Anfang kaufen gesagt, aber man muss ja zuerst die anderen Daten eingeben und erst am Schluss auf Kaufen oder Verkaufen klicken. Und gestern war so viel los, da habe ich …«

»Das ist gestern schon passiert?« Skeptisch zog Florian eine Augenbraue hoch.

»Ja.«

»Dann ist das Problem größer als gedacht«, seufzte Florian Kiesling bedrückt.

»Er wird den Posten demnächst auf seiner Abrechnung sehen«, befürchtete Victoria und verfluchte sich insgeheim. Wie hatte ihr nur so ein gravierender Fehler unterlaufen können? Selbst als Geschäftsführerin der Handelsagentur war sie einem Vorstand verantwortlich, gab es eine Kontrollabteilung, die jeden gebuchten Posten überprüfte. »Wenn dieser Fehler auffliegt, bin ich meinen Job los«, tat sie ihre Befürchtung kund und schickte Florian einen hilflosen Blick, der ihm durch und durch ging.

»Das ist er bereits. Deshalb bin ich ja auf den Fall aufmerksam geworden. Graf Meyenberg hat gerade bei mir angerufen.«

»Er hat bei dir angerufen?« Victoria dachte fieberhaft nach. »Wenn er sich nicht direkt in der Kontrollabteilung gemeldet hat, dann könntest du das für mich in Ordnung bringen«, dachte sie laut nach.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, erwiderte Florian und lächelte sie ermutigend an. »Du musst nichts weiter tun als die Transaktion auf meinen Computer weiterzuleiten. Den Rest erledige ich für dich. Ich hab schon eine Idee«, erklärte er so bestimmt, dass sich Victoria sofort besser fühlte. Ihre Hände hörten auf zu zittern, und sie schickte ihm einen dankbaren Blick. Dabei hatte sie sofort ein schlechtes Gewissen. Noch nie hatte ein Mann sie so bedingungslos geliebt, und es tat ihr fast leid, dass sie ihn nicht ebenso wiederlieben konnte.

»Bist du sicher? Damit handelst du dir möglicherweise eine Menge Ärger ein«, gab sie zu bedenken. »Sollte ich nicht lieber gleich zum Vorstand gehen und alles gestehen?«

»Wenn du unbedingt deine Stelle verlieren willst, bitte!«

»Nein, natürlich nicht.« Diese Möglichkeit war für Victoria die schlimmste von allen. Nicht auszudenken, wenn die Meldung ihres Scheiterns durch die Presse ging. Das bedeutete nicht nur ihren geschäftlichen Ruin sondern auch das Ende all ihrer Hoffnungen bezüglich Danny Norden. »Ja ..., dann ..., ich weiß auch nicht, was ich sagen soll ..., vielen Dank.«

»Schon gut. Am besten, du tust sofort, was ich dir gesagt habe.«

»Natürlich. Es tut mir wirklich leid.«

»Schon gut«, wiederholte Florian und lächelte fast zärtlich. »Ich freue mich, wenn ich dir helfen kann.«

Augenblicklich fühlte sich Victoria Bernhardt noch schlechter. Sie rang sich ein Lächeln ab und Florian Kiesling zog sich zurück.

»Ich bin ein schlechter Mensch«, murmelte sie betreten, als er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Dann tat sie, was er ihr aufgetragen hatte. Ein paar Tastenklicks später bekam sie die Mitteilung vom System, dass die Transaktion erfolgreich durchgeführt worden und auf Florians Computer gelandet war. Victoria atmete ein paar Mal tief ein und aus, um ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. Sie lehnte sich zurück und zog die Schreibtischschublade auf, um die Fotos herauszunehmen, die sie dort aufbewahrte. Sie alle zeigten ausnahmslos Danny Norden.

Victoria hatte einen Privatdetektiv beauftragt, der die Bilder mit Teleobjektiv geschossen hatte. Der junge Arzt am Tresen der Praxis Dr. Norden, am Fenster der Studentenwohnung seiner Freundin Tatjana Bohde. Und die neueste Aufnahme: Danny an der Isar. Im Sonnenuntergang lag er im Gras, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte versonnen in das Blätterdach über sich. Auf dem Foto war im Hintergrund seine Freundin zu sehen gewesen. Victoria hatte unverzüglich zur Schere gegriffen und die junge Frau mit den außergewöhnlichen Gesichtszügen abgeschnitten.

Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman

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