Читать книгу Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Komm, ich helfe dir!« Dr. Daniel Norden stand inmitten eines herrlichen Palmenhains, der überragt wurde von den Bergen der Wüste, die mit ihrer Kargheit einen reizvollen Kontrast zum üppigen Grün der Oase bildeten.

Daniels zärtlicher Blick ruhte auf seiner Frau, die auf einem rassigen Pferd saß, das unruhig tänzelte.

»Gerne«, antwortete sie lächelnd.

Felicitas ließ die Zügel fallen und schwang das schlanke Bein über den Sattel. Den Oberkörper ihrem Mann zugewandt, ließ sie sich zu Boden gleiten.

Er fing sie sicher in seinen starken Armen auf und hielt sie einen Moment fest, sprachlos vor Glück und Liebe. Sein Blick liebkoste ihr fein geschnittenes Gesicht, die hellblonde Strähne, die unter dem luftigen weißen Schleier gefallen war. Behutsam stellte er Fee auf den Boden und hob die Hand, um das Haar behutsam fortzuschieben. Dann beugte sich Daniel über Fee und küsste sie mit seinen festen, trockenen Lippen.

»Aufwachen, meine Liebste!«, hörte sie seine Stimme dicht an ihrem Mund. »Es wird Zeit.«

Verwirrt öffnete Felicitas Norden die Augen und blinzelte ins Gesicht ihres Mannes. Er saß auf dem Bettrand und hatte sich über sie gebeugt, lächelte sie unendlich zärtlich an.

»Was ist? Wo bin ich? Wo sind die Pferde?«, fragte sie und drehte sichtlich irritiert den Kopf hin und her.

Statt ihrer prachtvollen Stute und der märchenhaften Landschaft im Hintergrund fiel ihr Blick auf die geöffnete Balkontür. Ein leichter Wind bauschte die weißen Baumwollvorhänge und gab den Blick frei auf blühende Rosenbüsche. Auf Schmetterlingsflieder und Zierquitte, in denen sich die Vögel ein Stelldichein gaben und den Morgen mit fröhlichen Liedern begrüßten.

»Wir sind wieder zu Hause, mein Engel«, klärte Daniel seine schlaftrunkene Frau belustigt auf. »Es ist fast sechs Uhr. Heute ist der erste Schultag für Janni und Dési. Anneka und Felix müssen auch zur Schule. Und Danny steht mir zum ersten Mal als Assistenzarzt in der Praxis zur Seite.« Er küsste Fee noch einmal, ehe er vom Bettrand aufstand und auf bloßen Füßen ins Bad ging. Er ließ die Tür offen stehen, und Fee konnte im Spiegel beobachten, wie er Zahnpasta aus der Tube auf die Zahnbürste drückte. Sie sah seinen immer noch schlanken, nackten Oberkörper. Die Brustmuskeln, die bei jeder seiner geschmeidigen Bewegungen unter seiner Haut spielte, und wusste sofort, warum sie sich vor so vielen Jahren in diesen Mann verliebt, warum ihre Liebe mit jedem Tag gewachsen war. Bis auf den heutigen Tag war seine Anziehungskraft auf sie ungebrochen. »Aus welchem Traum habe ich dich eigentlich geweckt?«, rief Daniel und holte sie mit seiner Frage zurück in die Gegenwart. »Muss ja schön gewesen sein, wenn Pferde darin vorkamen.«

Mit der Zahnbürste im Mund erschien er in der Tür und sah Fee forschend an.

Auf dem Flur war das Rumoren der Kinder zu hören. Trotzdem drehte sich Felicitas versonnen lächelnd auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie hatte noch ein wenig Zeit und wollte sich einen Moment der Besinnung gönnen, bevor sie in ihr gewohntes Leben, ihren Alltag eintauchte.

Die vergangenen Monate hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann und den Zwillingen Janni und Dési im Orient verbracht hatte, um einen an einer mysteriösen Krankheit leidenden Prinzen zu behandeln. Sie hatte das Abenteuer sehr genossen, freute sich aber wieder auf Normalität, die bereits auf sie wartete. Und darauf, die Pläne, die sie seit einer Weile heimlich schmiedete, in die Tat umzusetzen.

»Ich habe davon geträumt, dass wir beide auf rassigen Pferden durch einen Palmenhain geritten sind«, beantwortete sie die Frage ihres Mannes. »Als wir anhielten, hast du mich aufgefangen und geküsst. Davon bin ich aufgewacht.«

Vom Duschen glänzte Daniels Haar feucht. Er hatte ein Handtuch um seine Hüften geschlungen, als er wieder ans Bett seiner Frau trat und sich erneut mit verlangendem Blick über sie beugte.

»Das klingt nach einem wahrhaft verlockenden Traum«, raunte er ihr zu.

Fee streckte die Arme aus und zog Daniel an sich. Langsam wurde es jedoch auch für sie Zeit aufzustehen und so musste er sich mit einem leidenschaftlichen Kuss begnügen, bevor sie der Alltag in Gestalt ihrer jüngsten Tochter Dési einholte, die ungestüm ins Zimmer stürzte auf der Suche nach ihrem Lieblingsrock, der auf wundersame Weise wie vom Erdboden verschwunden war.

*

Wenig später saß Dr. Daniel Norden allein am Frühstückstisch, den die treue Haushälterin Lenni liebevoll wie immer gedeckt hatte und wartete auf den Rest seiner Familie. Er nutzte die Gunst der Stunde, um wieder einmal einen Blick in die Morgenzeitung zu werfen. Streik in einer Fabrik, politische Debatten, der Unfall eines Rettungswagens der Behnisch-Klinik …, die letzte Meldung erschreckte Daniel, betraf sie doch die Klinik seiner langjährigen Freundin Jenny Behnisch. So nahm er sich spontan vor, noch am Vormittag mit ihr zu sprechen, als Danny sich zu seinem Vater ins Esszimmer gesellte.

»Guten Morgen, Dad«, begrüßte er ihn.

Sichtlich aufgekratzt und mit leuchtenden Augen setzte er sich zu Daniel an den Tisch.

»Kaffee?«, fragte er und warf einen Blick in die Tasse seines Vaters.

»Hallo, mein Sohn!« Daniel faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf das Sideboard hinter sich. »Nimm du dir, ich hab schon.« Er schickte seinem Ältesten einen wohlwollenden Blick. »Wie fühlst du dich?«

»Ein bisschen aufgeregt«, gestand Danny und griff nach einer Scheibe Brot.

Überrascht runzelte Daniel die Stirn.

»Während unseres Aufenthalts im Orient hast du die Praxis mit Bravour geführt. Der Kreis unserer Patienten ist sogar noch gewachsen.« Dass es sich dabei zum großen Teil um junge Damen handelte, die sich um die Behandlung bei dem gut aussehenden Junior-Arzt rissen, erwähnte Daniel zunächst nicht. »Deshalb verstehe ich nicht, dass du nervös bist. Eigentlich solltest du in Übung sein.«

Inzwischen hatte Danny das Brot dick mit Butter und Lennis köstlicher, selbstgekochter Erdbeermarmelade bestrichen. Er war gerade im Begriff, hineinzubeißen und sah seinen Vater aus schmalen Augen kritisch an.

»Das verstehst du nicht?«, fragte er perplex. »Schließlich arbeite ich heute zum ersten Mal unter strenger Beobachtung. Nicht auszudenken, was du mit mir anstellst, wenn mir ein Fehler passiert.« Das Blitzen in seinen Augen verriet, dass diese Bemerkung nicht ganz ernst gemeint war.

»Lass mich nachdenken«, ging Daniel gut gelaunt auf diesen Scherz ein. »Ich könnte dich dazu verdonnern, die Büsche im Praxisgarten eigenhändig zu stutzen. Wenn das so weitergeht, ist das Haus bald verschwunden.«

»Zu spät. Dafür hat Wendy schon einen Gärtner engagiert«, frohlockte Danny.

»Schade.« Daniel seufzte in gespielter Enttäuschung, ehe der Schalk aus seinem Gesicht verschwand. »Aber Spaß beiseite. Ich dachte, du hast dich die ganze Zeit nach jemandem gesehnt, der dir mit Rat und Tat zur Seite steht.« Zu gut erinnerte er sich an die Telefonate, die er vom Orient aus mit seinem Sohn geführt hatte.

Immer wieder waren Fragen zu Behandlungsmethoden oder nicht eindeutig zu stellenden Diagnosen aufgetaucht, und Dr. Norden hatte versucht, seinem ganz auf sich allein gestellten Sohn aus der Ferne so gut es ging zu helfen.

»Das war ja auch so«, räumte Danny bereitwillig ein. »Trotzdem bin ich mir nicht sicher, wie es sich anfühlt, wenn wir beide gemeinsam unter einem Dach arbeiten. Das ist völliges Neuland für uns beide.«

»Wenn du willst, können wir ja tauschen«, ertönte in diesem Augenblick Annekas Stimme aus dem Hintergrund.

Sie hatte das Esszimmer eben in Begleitung der Zwillinge Jan und Dési betreten und die letzten Worte ihres großen Bruders aufgeschnappt. »Dann kannst du für mich in die Schule gehen und meine Mathearbeit schreiben«, bot sie Danny großzügig an.

»Und ich dachte schon, du hättest so große Sehnsucht danach, bei mir zu sein«, scherzte Daniel gut gelaunt.

Nach der langen Abwesenheit genoss er es unendlich, wieder zu Hause zu sein und mit seiner ganzen Familie am Tisch zu sitzen.

Sofort schlang Anneka die Arme um seinen Hals.

»Du weißt doch, wie gerne ich mit dir zusammen bin, Papilein«, versicherte sie schmeichelnd wie ein Kätzchen und schlüpfte auf den Stuhl neben ihm.

Gleich darauf gesellten sich auch noch Fee und Felix zum Rest der Familie an den Tisch. Die Haare des zweitältesten Sohnes der Nordens waren verstrubbelt, und der junge Mann sichtlich unausgeschlafen.

»Wie immer der Letzte!«, monierte Anneka erbarmungslos.

Jetzt, wo die Eltern aus dem Orient zurück waren, konnte das Geschwisterpaar die vornehme Zurückhaltung aufgeben und zu den scherzhaften Fehden zurückkehren, die sie nur allzu gerne austrugen.

Doch Felix war noch nicht in Form, um entsprechend zu parieren.

»Stimmt ja gar nicht«, gähnte er und ließ sich auf den letzten freien Stuhl am Tisch fallen. »Gestern hat Danny am längsten geschlafen.«

»Das zählt nicht. Gestern war Sonntag«, erwiderte der junge Arzt und schenkte Mutter und Bruder Kaffee ein.

Unter ausgelassener Heiterkeit nahm das Frühstück seinen Lauf, ehe der allgemeine Aufbruch kam. Dr. Daniel Norden ließ seiner lärmenden, hektischen Kinderschar den Vortritt und schickte Danny schon mal voraus in die Praxis.

»Ich schau noch schnell bei Jenny in der Klinik vorbei«, setzte er Danny die Umstände auseinander. »Einer ihrer Rettungswagen ist offenbar verunglückt. Ich möchte in Erfahrung bringen, wie es dazu kommen konnte und ob etwas passiert ist.«

»Kein Problem«, stimmte Danny zu und war froh, dem väterlichen prüfenden Auge noch eine Weile zu entkommen. »Lass dir nur Zeit!« Mit einem Wangenkuss verabschiedete er sich von seiner Mutter und winkte seinem Vater zum Abschied.

Daniel hingegen ließ sich Zeit. Bevor er in seinen Alltag eintauchte, wollte er sich noch ein paar ruhige Minuten mit seiner Frau gönnen.

»Wie sind deine Pläne für heute?«, erkundigte er sich, als endlich Ruhe eingekehrt war.

Fee trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht.

»Kalt!«, stellte sie angewidert fest und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Ich werde mal ins Arbeitszimmer gehen und nach dem Rechten sehen. Mich ein bisschen orientieren und mich wieder an den Alltag gewöhnen«, gab sie zu und zupfte gedankenverloren an einem Faden, der von der Stoffserviette neben ihrem Teller weg stand. »Ein paar Telefonate führen. Solche Sachen.«

»Was ist? Dir liegt doch etwas auf dem Herzen.« Daniel Norden kannte seine Frau gut genug, um ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten.

Fee schickte ihm einen langen versonnenen Blick.

»Es gibt in der Tat etwas, worüber ich nachdenke, seit wir aus dem Orient zurück sind«, gestand sie zurückhaltend, als sei sie selbst noch nicht ganz sicher.

»Willst du mit mir darüber sprechen?«, fragte Daniel und sah beiläufig auf die Uhr.

Viel Zeit hatte er nicht mehr. Das Programm des Vormittags war dicht gedrängt.

Und auch Fee verstand ohne Worte.

»Am besten, wir verschieben dieses Gespräch auf heute Abend, wenn wir Zeit haben«, machte sie einen Vorschlag, der Daniel einerseits ganz recht war. Andererseits machte er sich Gedanken.

»Wenn es dringend ist, nehme ich mir gerne jetzt die Zeit.«

Doch Felicitas winkte ab und stand auf, um die Teller zusammenzustellen.

»Es geht nur um ein paar Gedanken, die ich mir wegen meiner beruflichen Zukunft mache. Das ist weder besorgniserregend noch besonders eilig«, beruhigte sie ihren Mann lächelnd und begleitete ihn zur Tür.

»Dann muss ich mir also keine Sorgen machen?«, fragte Daniel vorsichtshalber noch einmal nach.

»Natürlich nicht«, versicherte Fee liebevoll. »Und bestell Jenny schöne Grüße von mir.«

»Sehr gerne.« Daniel küsste seine Frau zum Abschied.

Fürsorglich zupfte sie ihm einen Fussel von der Schulter und sah ihm nach, wie er den Gartenweg hinunterging.

Noch bevor er mit seinem Wagen die Ausfahrt hinuntergefahren war, war sie wieder im Haus verschwunden.

*

Auch Danny Norden machte sich nicht auf den direkten Weg in die Praxis, sondern gönnte sich einen kleinen Umweg über die Bäckerei Bärwald. Das hatte zwei Gründe: Der eine waren die besten Rosinenschnecken der ganzen Stadt. Und der andere hieß Tatjana Bohde.

»Tatjana, Besuch für dich!«, rief die Chefin Frau Bärwald schon, kaum dass Danny die schlichte Bäckerei mit dem angrenzenden Café betreten hatte. »Der junge Doktor ist da!« Vom ersten Augenblick an hatte die rundliche Frau einen Narren an dem freundlichen, charismatischen Mann gefressen und machte keinen Hehl aus ihrer Sympathie. »Wie geht es Ihnen, mein Lieber?«

»Wenn ich Sie sehe, geht die Sonne auf«, flirtete Danny übermütig zurück.

Frau Bärwald hätte seine Mutter sein können und wusste, wie diese Worte gemeint waren.

»Glauben Sie ja nicht, dass Sie deshalb die Rosinenschnecken billiger bekommen.« Sie zwinkerte ihm zu und packte fünf statt der üblichen vier Gebäckstücke in eine Papiertüte, als Tatjana durch den Vorhang trat, der die kleine Küche von der Bäckerei trennte.

Seit einem Unfall vor ein paar Jahren war die junge Frau blind. Mit beispiellosem Mut hatte sie ihr schweres Schicksal gemeistert. Sie studierte und bediente trotz ihrer Behinderung nebenbei im Café Bärwald. Mit ihren feinen Antennen und ihrer burschikosen, unerschrockenen Art hatte sie Danny in ihren Bann gezogen, als sie nach einem Sturz zu ihm in die Praxis gekommen war.

»Sie können mir nichts vormachen.« Tatjanas kecker Blick ruhte auf ihrer Chefin. »Dank Danny kann ich seit der Operation zumindest Umrisse erkennen. Aber ich hätte auch so gewusst, dass Sie ihm Mengenrabatt gegeben haben«, sagte sie Frau Bärwald auf den Kopf zu.

Die Bäckermeisterin errötete zart und lächelte.

»Sei nicht so streng mit einer alten Frau.« Sie reichte Danny die Tüte über den Tresen. »Immerhin bekomme ich nicht mehr halb so viele Komplimente wie du.«

»Na schön. Dann will ich mal nicht so sein«, lenkte Tatjana gut gelaunt ein. Es machte ihr nichts aus, dass sie von den Gästen des Cafés neugierig beobachtet wurde und ging auf Danny zu. »Hallo, Onkel Doktor«, neckte sie ihn zärtlich.

Ein besonderes Leuchten lag auf ihrem Gesicht, als sie die Hand mit den langen schlanken Fingern auf seine Wange legte und ihn aus durchdringend blauen Augen ansah, als könnte sie ihn wirklich klar und deutlich erkennen.

Wie jedes Mal ging Danny diese besondere Geste durch und durch. Sein Magen begann zu kribbeln, und er wünschte sich, dieser Augenblick würde niemals enden. Doch die Zeit drängte. Wenn er nicht zu spät in die Praxis kommen wollte, musste er sich beeilen. So beugte er sich vor und küsste Tatjana sanft auf die Lippen.

Sie spürte seine innere Unruhe.

»Du hast keine Zeit«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Außerdem bist du aufgeregt. Liegt es daran, dass du heute zum ersten Mal mit deinem Vater in der Praxis arbeitest?« Durch die Behinderung waren Tatjanas übrigen Sinne geschult. Mit ihrer Sensibilität hatte sie Danny schon mehr als einmal überrascht und erstaunte ihn auch an diesem Morgen wieder.

»Dad fährt zuerst noch in die Klinik. Einer von Jennys Rettungsfahrern hatte einen Unfall, und er will nach dem Rechten sehen und ihr nach Möglichkeit zur Seite stehen.«

»Dein Vater ist so ein guter Mensch.« Tiefe Bewunderung lag in Tatjanas Stimme. Sie wandte den Kopf in Richtung des Tisches, an dem ein Mann saß, der nach ihr gerufen hatte, um sein Frühstück zu bezahlen und gab ihm ein Zeichen, ehe sie fortfuhr. »Immer ist er für andere da. Ihm ist keine Mühe zu groß.« Rasch beugte sie sich vor und küsste Danny wieder. »Du kannst stolz darauf sein, dass du mit ihm arbeiten darfst. Und keine Angst, er wird dir ein toller Lehrer sein.«

Danny teilte ihre Meinung.

»Muss ich eifersüchtig sein?«, erkundigte er sich scherzhaft und sah Tatjana nach, wie sie trotz ihrer Sehbehinderung mit sicheren Schritten an den Tischen vorbei in Richtung des Gastes ging, der schon sein Portemonnaie gezückt hatte.

Auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach Danny um.

»Es wäre ein Fehler, dir meiner zu sicher zu sein!«, mahnte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger.

Dabei lächelte sie unwiderstehlich und entließ den jungen Arzt mit einer vagen Sorge im Herzen und dem Vorsatz, Tatjana so schnell wie möglich wiederzusehen, um ihr nur ja keine Gelegenheit zu geben, ihn zu vergessen.

*

Wie jeden Morgen war Annemarie Wendel, von allen nur liebevoll Wendy genannt, zeitig in der Praxis. Sie liebte diese Stunde der Ruhe vor dem unweigerlichen Sturm. Es gab immer etwas zu tun. So nutzte sie die Gelegenheit, um Blumen zu gießen, gründlich zu lüften, die Zeitschriften im Wartezimmer zu sortieren, frische Wasserflaschen und Gläser für die Patienten bereitzustellen und Kaffee zu kochen.

Der aromatische Duft zog durch die Praxisräume, als sie hörte, wie sich jemand räusperte.

Es war ein herrlicher Morgen, und sie hatte die Tür zur Praxis weit offen stehen lassen, um die klare, noch kühle Luft hereinzulassen. Ein wenig ungehalten über den zu frühen Gast kam sie an den Tresen.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte sie der Mann im fortgeschrittenen Alter, der dort stand und sie interessiert musterte.

»Danke gleichfalls«, erwiderte Wendy den Gruß und wollte ihn eben darauf aufmerksam machen, dass die Praxis noch nicht geöffnet war, als er schon weitersprach.

»Ach, mein Morgen ist leider nicht besonders«, erklärte der Patient und setzte eine Leidensmiene auf. »Seit meiner letzten Erkältung habe ich ständig Schmerzen. Mal mehr, mal weniger. Aber weh tut es eigentlich immer«, seufzte er. »Diese Beschwerden habe ich jetzt schon zum dritten Mal in diesem Jahr. Bisher bin ich sie jedes Mal mit Nasenspray und Dampfbädern losgeworden. Aber diesmal schlägt meine Therapie einfach nicht an.« Er legte die Hand an die Stirn und schloss gequält die Augen.

Schon immer hatte Wendy ein weiches Herz gehabt, weshalb sie bei den Patienten der Praxis Dr. Norden außerordentlich beliebt war. Und auch diesmal blieb es nicht stumm.

»Das tut mir wirklich sehr leid«, bedauerte sie den Fremden aufrichtig und hatte schon vergessen, dass sie sich gestört gefühlt hatte. Sie musterte ihn heimlich, als sie um den Tresen herumging und den Computer einschaltete. Der Herr mochte ein paar Jahre älter sein als sie. Doch die grauen Schläfen und die Fältchen hinter der Brille standen ihm gut zu Gesicht. Außerdem wirkte er angenehm seriös in seinem anthrazitfarbenen Anzug. »Leider ist der Doktor noch nicht im Haus. Die Sprechstunde beginnt erst in einer halben Stunde.« Nachdem sie die Termine im Computer geprüft hatte, warf sie einen Blick auf die Karten der für den Vormittag angemeldeten Patienten, die sie schon herausgesucht hatte.

»Bitte schicken Sie mich nicht fort«, bat der Mann eindringlich und sah Wendy mit schmelzendem Blick an.

»Ich könnte Sie zwischen den ersten und zweiten Patienten schieben«, überlegte sie laut, während sie durch die Patientenkarte von Katharina Hasselt blätterte. Die junge Frau hatte sich den Zehennagel eingerissen und das Nagelbett hatte sich böse entzündet. Dr. Norden kümmerte sich intensiv darum, damit die Infektion nicht fortschritt. »Allerdings müssen Sie sich auf eine Wartezeit von einer guten Stunde einrichten.«

»In so charmanter Gesellschaft ist das doch ein Vergnügen.« Schlagartig verschwand das Leid aus dem attraktiven Gesicht des Mannes, und er blinzelte Dr. Nordens treuer Assistentin verschworen zu. Mit Genugtuung stellte er fest, dass sie errötete. »Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Edgar von Platen.« Er reichte ihr die Hand.

»Ich heiße Wendy«, stammelte sie verlegen. Als sie ihre Hand in die seine legte, zog er sie überraschend an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss auf ihren Handrücken.

»Wendy?«, wiederholte Edgar von Platen versonnen. »Was für ein gewöhnlicher Name für eine so besondere Frau.« Missbilligend schüttelte er den Kopf. »Wie heißen Sie wirklich?«

Augenblicklich schlug Wendys Herz schneller.

Seit ihrer unglücklichen Ehe und Scheidung war sie zufriedener Single und genoss ihre Freiheit, ihr Leben in vollen Zügen. Der turbulente, quirlige Alltag in der Praxis bot ihr genügend Abwechslung, und sie pflegte einige gute Freundschaften, sodass sie nichts vermisste. Dennoch genoss sie die ungewohnte Aufmerksamkeit des gut aussehenden, überaus charmanten Mannes in vollen Zügen. Es war schon eine Weile her, dass ein Mann mit ihr geflirtet hatte. Noch dazu so gekonnt.

»Mein richtiger Name ist Annemarie Wendel«, gestand sie und hoffte, dass er das leise Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.

Edgar strahlte sie an und lächelte.

»Anna-Maria!«, deklamierte er mit betörendem Augenaufschlag und unterstrich diese beiden Worte mit einer weit ausgreifenden Geste.

Um ein Haar hätte er dabei die Vase mit frischen Blumen von der Theke gewischt, die Wendy an diesem Morgen mitgebracht hatte. »Na bitte, das ist doch ein Name, der Ihrer würdig ist.« Er ließ die Arme sinken und lächelte sie strahlend an. »Wissen Sie, als selbstständiger Geschäftsmann komme ich viel herum in der Welt und treffe eine Menge Menschen. Darunter natürlich auch viele Frauen«, berichtete er leichthin und nahm von Wendy das Formular in Empfang, das neue Patienten ausfüllen mussten. Während er weitersprach, warf er einen Blick auf das Papier. »Aber mir ist schon lange keine Frau mehr begegnet mit einer Ausstrahlung, wie Sie sie haben.« Über den Rand seiner Brille schickte er ihr einen bedeutungsvollen Blick und stellte mit Genugtuung fest, wie sehr er die Assistentin beeindruckt hatte.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, stammelte Wendy über die Maßen verwirrt und versuchte sich zu erinnern, wie ihre Frisur an diesem Morgen ausgesehen hatte.

Wie immer hatte sie sich mechanisch geschminkt – ein bisschen Wimperntusche, etwas Rouge – und war sich mit der Bürste durch den unkomplizierten Haarschnitt gefahren. Wenigstens hatte sie sich an diesem Tag für das neue Sommerkleid entschieden, das ihrer Figur so schmeichelte. Ansonsten konnte sie sich nicht erklären, wie der charmante Herr von Platen zu diesem Eindruck ihrer Person kam.

»Das ist nur die Wahrheit!«, versicherte er, ehe er sich mit einem verschworenen Zwinkern ins Wartezimmer an den Tisch zurückzog, um das Formular auszufüllen.

Edgar von Platen ließ eine Wendy zurück, deren Herz so schnell schlug wie schon lange nicht mehr und der immer noch ein verklärtes Lächeln auf den Lippen lag, als Danny pünktlich vor Beginn der Sprechstunde mit der Tüte Rosinenschnecken in die Praxis kam.

*

»Warum hast du mir nicht gesagt, was passiert ist?« Dr. Daniel Norden saß im Büro seiner langjährigen Freundin und Kollegin Dr. Jenny Behnisch und sah sie fragend an.

Sie hatten es sich bei einer Tasse Kaffee in der Besucherecke gemütlich gemacht und Jenny wich seinem Blick nicht aus.

»Dein Leben war in den vergangenen Monaten turbulent genug, und seit deiner Rückkehr aus dem Orient ist es auch nicht gerade ruhig geworden«, legte sie ihre Beweggründe dar. »Deshalb wollte ich dich nicht auch noch mit meinen Problemen belasten.«

»Das ist doch keine Last«, wiedersprach Daniel spontan. »Ganz im Gegenteil. Zu wissen, dass du während unserer Abwesenheit im Hintergrund warst und ein Auge auf die Praxis, Danny und den Rest der Familie hattest, hat mich ungemein erleichtert. Deshalb möchte ich auch für dich da sein, wenn es ein Problem gibt.«

Jenny Behnisch war eine erfolgreiche, hart arbeitende Frau, die im Laufe ihres Lebens viel erlebt und gesehen hatte. So nahm es kein Wunder, dass sie ihre Emotionen unter Kontrolle hatte. Doch angesichts Daniels inniger Worte kämpfte selbst die zurückhaltende Ärztin mit der Rührung.

»Das gibt es in der Tat«, gestand sie leise seufzend und stellte ihre leere Tasse auf den Tisch. »Es ist mir ein Rätsel, warum dieser Unfall passiert ist. Auch ein Gespräch mit Sebastian Keinath – das ist der Sanitäter, der gefahren ist – hat kein Ergebnis gebracht.«

»Was ist denn eigentlich genau passiert?«, erkundigte sich Daniel und schenkte Jenny und sich Kaffee aus der Thermoskanne nach.

»Auf dem Weg zu einem Einsatz hat Herr Keinath einen Fußgänger übersehen. Glücklicherweise konnte er gerade noch bremsen. Aber der Passant bekam einen solchen Schreck, dass er einen Herzinfarkt erlitt. Er überlebte nur mit knapper Not.«

Diese Nachricht war in der Tat erschütternd. Dennoch war Daniel halbwegs erleichtert.

»Dann hat Herr Keinath vermutlich kein Strafverfahren zu befürchten.« Er kannte und schätzte den Rettungsfahrer aus seiner Zeit, als er Jenny Behnisch während ihrer schweren Erkrankung in der Klinik vertreten hatte.

»Bis geklärt ist, ob die Gesundheit des Patienten ohnehin angeschlagen war und der Herzinfarkt unausweichlich gewesen ist, hat Sebastian Keinath ein Fahrverbot«, berichtete Jenny und gab einen Löffel Zucker in ihren Kaffee. Obwohl es noch früh am Tag war, war sie seit Stunden auf den Beinen und konnte den Wachmacher gut gebrauchen. Der Unfall war beileibe nicht das einzige Problem, das sie beschäftigte. »Das ist insofern ein Glück, als ich ihn als Ersthelfer ungemein schätze. Sebastian gehört zu meinen zuverlässigsten Leuten, und es würde mich sehr schmerzen, ihn zu verlieren.« Ein paar Zuckerkrümel waren danebengefallen. Gedankenverloren tupfte Jenny sie mit der Fingerkuppe auf und leckte sie ab. »Dummerweise war das nicht der erste Vorfall …, wenn ich nur wüsste, was los ist mit ihm. Aber mir gegenüber will er sich nicht äußern.«

»Glaubst du, es bringt was, wenn ich mit ihm spreche?«

Über diesen Vorschlag dachte Jenny einen Moment lang nach. Dann nickte sie langsam.

»Das ist sicher eine gute Idee. Vor allen Dingen deshalb, weil du nicht hier arbeitest. Dir kann er sich vielleicht einfacher öffnen. Vor allen Dingen, weil er dich kennt und sehr schätzt, seit du mich hier in der Klinik vertreten hast. Er hat mehrfach betont, wie angenehm das Arbeiten unter deiner besonnenen Führung war.«

»Gut!« Daniel leerte seine Tasse und stand auf. Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. »Dann versuche ich gleich mal mein Glück, bevor ich zu Danny in die Praxis fahre.«

»Ach, ihr beide seid jetzt ein Team!«, erinnerte sich Jenny an die geplante Zusammenarbeit. Sie begleitete ihren Freund zur Tür. »Das ist bestimmt für beide Teile sehr spannend. Hoffentlich belastet die Kooperation eure gute Beziehung nicht.«

»Ich denke nicht. Aber natürlich kann auch ich nicht wissen, wie sich die Sache entwickelt«, räumte Daniel ehrlich ein. »Auf jeden Fall ist es eine große Chance. Für Danny wie auch für mich. Wir werden beide viel voneinander lernen.« Einen Moment lang hing er seinen Gedanken an seinen Sohn nach, der ihn so würdig vertreten, aber sicherlich über die Monate auch einen eigenen Stil im Umgang mit den Patienten entwickelt hatte. Wenn Daniel nur an all die Frauen dachte, die sich um einen Termin bei Danny rissen …, das erinnerte ihn an seine eigene Jugend, als die Frauen ihm und Felicitas das Leben mitunter schwer gemacht hatten. Nicht nur einmal hatte Fee Grund zur Eifersucht gehabt. Doch diese Zeiten lagen lange zurück, und Dr. Nordens Gedanken kehrten zurück zu dem glücklosen Sanitäter. »Wo finde ich Sebastian Keinath?«, erkundigte er sich vor dem Abschied bei Jenny.

»Das musst du bitte in der Notaufnahme erfragen. Die Kollegen dort schreiben die Einsatzpläne. Sie können dir sagen, ob er im Haus ist.«

»Gut, dann erkundige ich mich mal.« Er küsste Jenny links und rechts auf die Wange und machte sich dann auf den Weg in die Ambulanz.

Es war ein völlig neues und durchaus angenehmes Gefühl, nicht in Eile zu sein. Danny war sicher froh, noch eine Weile ohne den kritischen Blick des Vaters schalten und walten zu können. Und Daniel hatte Gelegenheit, sich mit der entsprechenden Ruhe und Sorgfalt den Menschen widmen zu können, die seiner Hilfe bedurften.

*

Doch wie es der Teufel wollte, hatte Sebastian Keinath an diesem Morgen keinen Dienst. Er hatte die ganze Nacht hindurch gearbeitet und steckte müde den Schlüssel ins Schloss der Tür, die zu seiner schönen Wohnung gehörte. Obwohl er frisch verheiratet war, konnte er sich nicht über das Heimkommen freuen.

»Kein Kaffeeduft«, seufzte er und warf den Schlüssel achtlos auf die Kommode, die seine Frau Melina auf einem Flohmarkt entdeckt und eigenhändig restauriert hatte. Besonders war daran der auf alt gemachte Anstrich in verschiedenen Farben. Die Kommode wirkte, als wäre sie mehrfach übermalt worden. Dabei hatte Melina die Farben so gewählt, dass sie harmonisch miteinander korrespondierten und der Kommode einen ganz besonderen Glanz verliehen. Nie hatte Sebastian ein ausgefalleneres Möbelstück gesehen und sich sofort darin verliebt, als seine Frau ihm ihre Idee stolz präsentiert hatte. Leider war er mit seiner Begeisterung nicht allein gewesen. »Kein liebevolles Frühstück. Kein warmes Bett.« Er ging hinüber in die offene Küche, die direkt ans Wohnzimmer angrenzte. Wie immer herrschte auch hier eine fast sterile Ordnung. »Ich weiß gar nicht, warum wir diese Wohnung überhaupt gekauft haben, wo doch eh kaum jemand zu Hause ist. Die paar Stunden könnte ich auch im Wohnheim unterkommen.« Um wenigstens die lähmende Stille zu übertönen, schaltete Sebastian das Radio an.

Ein Moderator plauderte fröhlich über die Freuden des Familienlebens, und am liebsten hätte Sebastian das Gerät aus dem Fenster geworfen. Da die Stille aber noch schlechter zu ertragen war, ging er aus dem Zimmer und kam erst zurück, als Musik spielte.

Seit die Idee seiner Frau, einer gelernten Möbelrestauratorin, auf einer Messe von einem Geschäftsmann entdeckt worden war, war ihr gemeinsames Leben nicht mehr dasselbe.

»Du musst das verstehen, Bastian! Das ist die Chance meines Lebens!«, hatte Melina ihn angefleht, als er sein ständiges Alleinsein neulich bemängelte. »Hubert macht mich mit den Größen der Designerszene bekannt. Sie reißen sich um meine originell restaurierten Möbel und meine neuen Ideen«, versuchte sie ihm wieder und wieder klarzumachen. »Wenn ich in der Szene erst mal bekannt bin und mir einen Namen gemacht habe, kann ich wieder öfter zu Hause sein.« Das hatte sie ihrem Mann schon vor Monaten versprochen. Und war doch immer weniger bei Sebastian, immer seltener zu Hause.

»Das kommt doch auch uns zugute«, erinnerte sie ihn ein anderes Mal daran, dass er als Sanitäter zwar recht ordentlich verdiente, aber nicht gut genug, um sich all die Träume von Luxus und großen Reisen zu erfüllen, die sie noch hatte.

»Ich wusste nicht, dass dir Luxus so wichtig ist.«

»Menschen ändern sich«, hatte Melina ihm zugerufen, bevor sie zu einer weiteren Reise aus der Wohnung gestürzt war.

So litt Sebastian Keinath nicht nur unter der ständigen Abwesenheit seiner Frau, sondern kämpfte auch noch gegen die nagenden Minderwertigkeitsgefühle, die sich nach und nach in ihm breitmachten.

»Ich habe Melina aus Liebe geheiratet. Weil ich sie gerne um mich habe und ihre Gesellschaft und Nähe über alles schätze«, schimpfte er vor sich hin, als ihm eine der Hochglanzdesignerzeitschrift in die Hände fiel, in denen seine Frau auf Fotos neben und auf ihren Möbeln posierte, die langen Beine in die Luft gereckt, das lachende Gesicht der Kamera zugewandt. Es handelte sich um eine neue Werbestrategie und der Plan schien aufzugehen. Eine Restauratorin, schön wie ein Model. Welcher Mann war davon nicht beeindruckt! »Nicht um sie wie viele andere in irgendwelchen Heften zu bewundern«, schnaubte Sebastian und ging zum Kühlschrank.

Als er die neuen Haftnotizen entdeckte, die Melina dort für ihn angebracht hatte, lachte er bitter. »Und auch nicht, um ihre Aufträge auszuführen.« Er riss die gelben Zettel ab und nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Es war ihm egal, dass es noch früh am Vormittag war. Bitte mein Kostüm von der Reinigung holen, las er, was Melina auf den einen geschrieben hatte. Ich hab versprochen, die Nachbarskatze zu füttern. Kannst du das übernehmen?, stand auf dem nächsten. Der Wasserhahn in der Gästetoilette tropft. Nie schrieb sie Ich liebe dich, oder Ich vermisse dich. Verächtlich zerknüllte Sebastian die Notizen und warf sie in den Abfall. Er lehnte sich an den Kühlschrank und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Ich liebe dich auch, mein Schatz«, schimpfte er zutiefst enttäuscht und sehr, sehr einsam.

Als das Telefon klingelte, erschrak er.

»Keinath«, meldete er sich nach einem weiteren Schluck Bier.

»Ach, Bastian, das ist gut, dass ich dich erreiche.« Melinas gehetzte Stimme klang an sein Ohr. Wie immer in letzter Zeit war sie in Eile, sodass noch nicht mal Zeit für einen liebevollen Gruß blieb. »Du musst mich heute nicht vom Flughafen abholen.«

»Ach.« Sofort fühlte Sebastian den eifersüchtigen Stich in der Brust. Wahrscheinlich brachte sie wieder irgendein schicker Designer nach Hause. »Wirst du gefahren?«, riss er sich zusammen, um nicht gleich wieder einen Streit vom Zaun zu brechen.

Melina antwortete nicht sofort.

»Tut mir leid, ich komme heute Abend gar nicht nach Hause«, gestand sie zögernd. »Wir sind von Zürich gleich nach Mailand weitergeflogen. Hubert wollte mich unbedingt mit ein paar Freunden bekannt machen, die wichtig für meine weitere Karriere sein können.«

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass dein Ehemann wichtig für dein weiteres Liebesleben sein könnte?«, entfuhr es ihm und er nahm einen weiteren Zug aus der Flasche.

»Bastian, bitte, darüber haben wir doch schon …« Melina stutzte, als sie das gurgelnde Geräusch hörte. »Trinkst du etwa? Um diese Uhrzeit?«

»Was sollte ich denn sonst tun, um mir die Einsamkeit zu vertreiben?«, fragte er und lachte böse. »Wenn ich trinke, fange ich irgendwann an, Selbstgespräche zu führen. Dann bin ich wenigstens nicht mehr so allein.«

Melina seufzte. Sie wollte diese ewigen unterschwelligen Vorwürfe nicht mehr hören.

»Was ist denn jetzt mit dem Unfall? Gibt es schon neue Erkenntnisse?«, wechselte sie das Thema.

Auch ein wenig deshalb, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen und ihn auf diese Weise von den Vorwürfen abzubringen.

Der Plan ging nicht auf.

»Dauert noch«, kam die unbeeindruckte Antwort.

Die Flasche war leer und Sebastian holte eine neue aus dem Kühlschrank.

»Warum bist du in letzter Zeit nur so unkonzentriert?«, fragte Melina mit einem Anflug von Ratlosigkeit.

»Das fragst du im Ernst?« Sebastian konnte es nicht fassen. »Vielleicht, weil ich die ganze Zeit darüber nachdenke, wie ich verhindern kann, dass unsere Ehe scheitert.«

An dieser Stelle hatte Melina die Nase endgültig voll.

»Jetzt hör mir mal gut zu! Nur weil ich im Augenblick viel um die Ohren habe, scheitert unsere Ehe doch noch nicht. Das wäre eine ganz schöne Armutserklärung«, schnaubte sie wütend. »Außerdem habe ich dich nicht geheiratet, um den Alleinunterhalter für dich zu spielen. Benimm dich endlich wie ein erwachsener Mann und nicht wie ein fünfjähriges Kind, das nicht auch mal alleine spielen kann!«, fuhr sie ihn an. »Es wäre wirklich schön, wenn du dich zur Abwechslung mal für mich freuen würdest.« Im Hintergrund war eine männliche Stimme zu hören. »Ich muss Schluss machen«, erklärte Melina zum Abschied. »Ich melde mich morgen wieder.«

Es klickte an Sebastians Ohr, und die Leitung war unterbrochen.

»Ich liebe dich auch, mein Schatz«, murmelte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Ich kann es kaum erwarten, dass wir uns endlich wiedersehen.« Achtlos warf er den Apparat auf den Esstisch, wo er über die Tischplatte schlitterte und schließlich neben der Obstschale liegen blieb. Anders als früher war das Obst darin nicht frisch, die Äpfel verschrumpelt. Doch Sebastian achtete nicht darauf. »Kein Wunder, dass ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren kann.« Auf dem Weg zum Sofa leerte er die Flasche in einem Zug, ehe er auf die Polster sank und fast sofort eingeschlafen war.

*

Als Katharina Hasselt zu Danny Norden ins Behandlungszimmer kam, fiel ihm sofort auf, dass die junge Frau anders aussah als bei ihrem ersten Besuch bei ihm. Doch erst nach der Begrüßung wurde ihm klar, dass es an ihrem dezent geschminkten Gesicht und der neuen Frisur lag.

»Wie geht es Ihnen?«, überging er diese Veränderung geflissentlich und konzentrierte sich auf das Wesentliche.

Die Patientenkarte lag aufgeklappt vor ihm, und schon im Vorfeld hatte er sich im Computer den Fall in Erinnerung gerufen.

»Der Zeh tut immer noch sehr weh!«, erwiderte Katharina schüchtern.

Sie wagte kaum ihn anzusehen, als sie sich eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn strich.

Danny war nicht dumm. Ihm war schon aufgefallen, dass sich nach und nach immer mehr Frauen in seiner Sprechstunde einfanden und ihm die eine oder andere noch viel unverfrorener als die schüchterne Katharina Hasselt schöne Augen machte. Bisher hatte ihm diese Aufmerksamkeit geschmeichelt. Doch langsam aber sicher wurde es ihm zu viel. Vor allen Dingen, weil er sicher sein konnte, dass sie auch seinem Vater nicht entgehen würde. Wie unglaublich peinlich!

»Dann wollen wir uns den Schlingel mal ansehen«, überging er Katharinas Signale deshalb geflissentlich mit einem flotten Spruch und bat sie hinüber ins Behandlungszimmer.

Kichernd setzte sie sich auf die Liege und entblößte den rechten Fuß.

»Sehen Sie nur, der Zeh ist immer noch ganz rot.« Sie deutete auf die deutliche Rötung, die mit einer Schwellung einherging. »Ich hatte schon öfter solche Entzündungen und wurde schon zwei Mal am Nagelbett operiert. Einmal hat man mir den Nagel sogar gezogen.« Mit Grausen erinnerte sich Katharina an diese schmerzhafte und noch dazu sinnlose Prozedur.

Die Entzündung hatte sich nach einer Weile trotzdem wieder eingestellt.

Danny zog einen Latexhandschuh über und nahm den Fuß behutsam in die Hand. Eingehend begutachtete er den Infektionsherd.

»Ich bin sicher, dass wir ohne chirurgischen Eingriff auskommen. Haben Sie die Bäder nach Anweisung durchgeführt?«, fragte er kritisch.

»Ich habe alles ganz genauso ­gemacht, wie Sie gesagt haben«, ­antwortete die junge Patientin

mit treuherzigem Augenaufschlag. »Hoffentlich wird das keine Blutvergiftung.«

»Da kann ich Sie auf jeden Fall beruhigen.« Mit geschickten Handgriffen säuberte Danny die Wunde von Salbenspuren und trug eine neue, entzündungshemmende Paste auf. Ein Verband schützte zusätzlich vor Verunreinigungen. »Ich bin sehr zufrieden mit der Entwicklung. Meiner Ansicht nach ist die Entzündung schon zurückgegangen. Natürlich ist mit so einer Verletzung nicht zu spaßen, und Sie werden noch etwas Geduld brauchen, ehe sie ganz abgeheilt ist. Aber ich bin sicher, dass das Problem in einigen Tagen behoben ist. Dann werden wir darangehen, Ihr Immunsystem durch wirkungsvolle Maßnahmen zu stärken, damit Sie in Zukunft von diesen unangenehmen Infektionen verschont bleiben.« Ohne lange darüber nachzudenken, griff Danny fürsorglich nach Katharinas Strumpf und zog ihn ihr über. »Lassen Sie sich von Wendy einen Termin für nächste Woche geben. Und falls vorher etwas ist, rufen Sie einfach an.«

Katharina konnte ihr Glück kaum fassen. Nicht nur, dass der junge Arzt ausgesprochen attraktiv, nett und kompetent war. Er vermittelte ihr darüber hinaus die Sicherheit, dass ihre Sorgen und Nöte ernst genommen und sie entsprechend behandelt wurde.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, murmelte sie zum Abschied verlegen.

»Sie müssen mir nicht danken«, antwortete Danny aus vollster Überzeugung. »Dafür bin ich doch da!«

»Das sagen Sie!«, erklärte Katharina Hasselt aus tiefstem Herzen. »Aber ich weiß, dass Sie etwas ganz Besonderes sind.« Mit diesen leise ausgesprochenen Worten wandte sie sich ab und eilte den Flur hinunter.

Danny sah ihr nach. Er konnte genauso schlecht mit Lob umgehen wie sein Vater. Trotzdem freute er sich natürlich, dass er offenbar auf einem guten Weg war, ein Arzt der alten Schule zu werden, der Zeit hatte für seine Patienten und ihre Sorgen und Nöte ernst nahm. Dabei war ihm sein Vater das beste Vorbild. Doch Danny blieb nicht viel Zeit, seine Gedanken spielen zu lassen. Schon schickte Wendy den nächsten Patienten ins Behandlungszimmer.

*

Als Edgar von Platen den jungen Arzt zu Gesicht bekam, war er zunächst skeptisch.

»Ehrlich gesagt hatte ich einen erfahrenen Doktor erwartet.«

In den vergangenen Monaten war Danny auch mit diesen Vorurteilen konfrontiert gewesen und hatte sofort eine Antwort parat.

»An Ihrer Stelle würde ich wahrscheinlich genauso denken«, erwiderte er höflich und ohne auch nur im Geringsten verletzt zu sein. »Aber Sie sollten wissen, dass mein Vater ebenfalls Arzt und der Senior dieser Praxis ist. Ich bin also von Kindesbeinen an vertraut mit diesem Beruf. Mal abgesehen davon, dass ich jeden Fall mit meinem Vater diskutiere. Das bedeutet, dass Sie einen klaren Vorteil haben. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.«

Diesem Argument hatte Herr von Platen nichts entgegenzusetzen.

»Wenn Sie die Nase voll von Krankheiten haben, melden Sie sich bei mir«, lächelte er anerkennend. »Sie sind der geborene Verkäufer. Wortgewandt, wie Sie sind, würde ich Ihnen sogar zutrauen, einen Kühlschrank an einen Eskimo zu verkaufen.« Edgar lachte dröhnend über seinen eigenen Witz.

Danny hingegen begnügte sich mit einem tiefgründigen Lächeln.

»Ich werde daran denken«, versprach er, ehe er sich dem Grund für Edgar von Platens Besuch zuwandte.

Ausführlich berichtete der Patient das, was er zuvor schon Wendy erzählt hatte.

»Dummerweise kamen die Beschwerden ausgerechnet während meiner Geschäftsreise wieder. Deshalb bin ich hier gelandet.«

»Im Grunde genommen wären Sie ein Fall für einen Hals-Nasen-Ohrenarzt«, räumte Danny freimütig ein.

Zu seiner Überraschung winkte sein Gegenüber verächtlich ab.

»Ich habe mir aus gutem Grund einen Allgemeinmediziner gesucht«, erklärte er und folgte Danny hinüber ins Ultraschallzimmer.

Es handelte sich um das modernste Gerät auf dem Markt, kostspielig wie ein nagelneuer Kleinwagen, aber für viele wichtige Untersuchungen inzwischen unentbehrlich und deshalb jeden Cent wert.

»Vor einigen Jahren hat mir so ein Scharlatan die Kieferhöhlen gespült. Das war schrecklich und hat überhaupt nichts gebracht. Ich dachte, dass Sie solche Foltermethoden nicht im Programm haben.« Er schickte dem jungen Arzt einen fragenden Blick.

»Vor einigen Jahren, sagten Sie?«, hakte Danny nach und bat Herrn von Platen auf die Untersuchungsliege. »Damals waren solche Methoden durchaus üblich. Aber zum Glück entwickelt sich auch die Medizin ständig weiter. Heute ist bekannt, dass man sich vielmehr um die Ursachen der Erkrankungen kümmern muss, als nur die Symptome zu beseitigen, was ja bei der Spülung das erklärte Ziel war.« Er nahm eine Flasche zur Hand. »Vorsicht, nicht erschrecken. Jetzt wird es kalt«, warnte er seinen Patienten und drückte einen Klecks durchsichtiges Gel auf die Wangen. Er nahm einen speziellen Ultraschallkopf zur Hand und begann mit der Untersuchung. »Wie ich es mir gedacht habe«, nickte er, als er die Bilder auf dem Monitor betrachtete. »In beiden Nasennebenhöhlen sind die Schleimhäute verdickt.« Er drehte den Bildschirm, damit Edgar von Platen einen Blick darauf werfen konnte.

»Ich sehe nur Schwarz-Weiß«, murmelte der verständnislos. »Ein Wunder, dass Sie darauf was erkennen können.«

»Wir haben es mit einer chronischen Schleimhautentzündung zu tun«, fuhr Danny konzentriert fort. »Sie beeinflusst den Trigeminusnerv, der im Oberkiefer sitzt. Daher auch die drückenden, ziehenden Schmerzen. Durch das Eindringen von Krankheitserregern kommt es, wie in Ihrem Fall, innerhalb der Nasennebenhöhlen zu einer Schwellung der Schleimhäute. Diese Schwellungen verhindern, dass das Sekret durch die normalen Abflusswege wie den mittleren Nasengang ablaufen kann.« Während er die Sachlage erläuterte, drückte Danny mehrere Knöpfe auf dem Tastenfeld des Ultraschallgeräts, um einige aussagekräftige Aufnahmen zu speichern. Er wollte sie später seinem Vater zeigen.

»Aber warum kommt das denn immer wieder?«, erkundigte sich Edgar von Platen unwillig.

»In vielen Fällen liegt es daran, dass eine Entzündung nicht richtig ausheilen kann und immer wieder ausbricht. Hier sehe ich aber einen anderen Grund als Ursache.« Konzentriert starrte Danny auf das Bild, das sich ihm bot. »Ich bin ziemlich sicher, dass Sie unter Nasenpolypen leiden.« Er deutete auf den entsprechenden Bereich auf dem Monitor. »Die können durch einen einfachen, chirurgischen Eingriff beseitigt werden. Dann gehören diese lästigen Entzündungen ein für alle Mal der Vergangenheit an.«

»Eine Operation?« Damit hatte Edgar von Platen nicht gerechnet und er wirkte entsprechend besorgt.

»Keine Sorge«, beeilte Danny sich, ihn zu beruhigen. »Diese gutartigen, geschwulstähnlichen Wucherungen der Nasenschleimhaut werden meist in einem kleinen Eingriff entfernt. In der Regel müssen Sie dazu nur eine Nacht in der Klinik bleiben.«

Mit dieser Auskunft war Edgar von Platen schon wieder ein wenig versöhnt.

»Das klingt schon besser«, murmelte er, während Danny die Reste des Gels mithilfe eines Tuches behutsam aus seinem Gesicht entfernte. Dann gab er ihm die Brille zurück, die er zuvor an sich genommen hatte und half ihm, sich auf der Liege aufzusetzen.

»Wenn Sie wollen, mache ich gleich einen Termin in der Behnisch-Klinik aus. Wir arbeiten seit vielen Jahren erfolgreich mit den Kollegen dort zusammen und können eine einwandfreie Betreuung garantieren«, bot Danny an, als er wieder an seinem Schreibtisch saß, um die Untersuchungsergebnisse im Computer festzuhalten.

Edgar von Platen hatte vor dem jungen Arzt Platz genommen.

»Ich sag’s ja«, wiederholte er lächelnd. »Sie sollten sich in zweiter Karriere als Verkäufer versuchen.«

Wieder erwiderte Danny nichts. Schmunzelnd beendete er seinen Bericht, um dann in der Behnisch-Klinik anzurufen und einen Termin für seinen Patienten zu vereinbaren.

*

»Gut, dass Sie da sind, Herr Doktor«, begrüßte Wendy ihren Seniorchef Dr. Daniel Norden, als der nach seinem Besuch in der Behnisch-Klinik in die Praxis kam.

In der Ambulanz hatte er in Erfahrung gebracht, dass Sebastian Keinath am nächsten Morgen wieder Dienst hatte und sich vorgenommen, den Rettungsfahrer noch vorher in ein Gespräch zu verwickeln.

»Ist was passiert?«, fragte Daniel sichtlich erschrocken. Sofort wanderte sein Blick ins Wartezimmer. Doch dort herrschte geordnete Ruhe. Seine langjährige Patientin Helene Maschnick saß auf einem Stuhl und blätterte in einer Zeitschrift. Eine junge Mutter mit Kind wartete auf ihren Vater, der im Augenblick bei Danny im Behandlungszimmer war. Ein Wespenstich hatte eine allergische Reaktion ausgelöst und bedurfte der Behandlung. »Sieht doch alles ganz ruhig aus«, stellte Daniel erleichtert fest und nahm Wendy ins Visier.

Er musterte sie und bemerkte ihre rosigen Wangen, die seiner Ansicht nach nach Fieber aussahen. Der Glanz in ihren Augen bestätigte diesen Eindruck.

»Sind Sie krank?«

»Nein.« Wie ertappt senkte sie den Kopf, und wenn möglich, wurden ihre Wangen noch dunkler. »Wir haben einen neuen Patienten, der mit einer chronischen Nebenhöhlenentzündung gekommen ist«, sagte sie stattdessen schnell und starrte auf die Schreibtischunterlage, als gäbe es dort Interessantes zu sehen. »Ihr Sohn hat schon einen OP-Termin in der Klinik vereinbart, möchte sich aber vorher unbedingt noch mit Ihnen absprechen.«

»Und wo ist das Problem?« Wendys seltsames Benehmen verwirrte Daniel. So hatte er sie noch nie zuvor erlebt. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern.

Endlich hatte sich ihr Gesicht ein wenig abgekühlt, und sie konnte ihrem Chef wieder in die Augen sehen.

»Es gibt kein Problem.« Wendy lachte ein wenig künstlich. »Davon hat doch kein Mensch gesprochen.«

Nachdenklich legte Daniel Norden den Kopf schief.

»Mir können Sie nichts vormachen«, sagte er ihr ins Gesicht. »Irgendwie wirken Sie anders als sonst.«

»Sie kennen mich wirklich gut. Aber diesmal täuschen Sie sich«, wiedersprach Wendy und schämte sich, ihrem verehrten Doktor nicht die Wahrheit zu sagen.

Doch sie hätte ihm unmöglich gestehen können, dass ihre Gedanken seit dem Besuch von Edgar von Platen nur um den gut aussehenden Herrn kreisten, der sie beim Abschied um einen Besuch am Krankenbett gebeten hatte.

Daniel haderte mit sich. Zu gerne hätte er Wendy ihr offensichtliches Geheimnis entlockt. Doch schließlich entschied er, sich zuerst um die Patientin im Wartezimmer zu kümmern.

»Was führt Sie zu mir, Frau Maschnick?«, erkundigte er sich, als sie in einem der kleineren Behandlungszimmer auf einem Stuhl Platz genommen hatte. Er saß ihr auf einem Hocker gegenüber und lächelte ihr ermutigend zu.

»Ach, nur eine Kleinigkeit«, erklärte sie scheu und streckte ihm die schmale Hand mit der faltigen Haut entgegen. Auf dem Handrücken war ein Stück Mullbinde mit einem Pflaster provisorisch festgeklebt.

»Sie haben sich verletzt?« Behutsam entfernte Daniel das Klebeband. Als er aber den Verband ablösen wollte, stellte er fest, dass er am Wundsekret angeklebt sein musste.

Helene Maschnick winkte freundlich lächelnd ab.

»Meine Katze hat sich vor ein paar Tagen in der Gardine verfangen und ist in Panik geraten. Als ich ihr helfen wollte, hat sie mich gebissen.« Sie sah dem Arzt dabei zu, wie er den Verband befeuchtete, um ihn – ohne die Wunde aufzureißen – abnehmen zu können. »Es sind nur ein paar Kratzer. Aber heute Nacht konnte ich nicht schlafen vor Schmerzen. Die ganze Hand pocht. Und malen kann ich auch nicht mehr. Deshalb dachte ich, ich gehe doch lieber mal zu Ihnen.«

Als Daniel einen Blick auf die kleinen Bisswunden warf, erschrak er. Die umgebende Haut war rot und glänzend, das Gewebe rund um die Bisse deutlich geschwollen. Eitriges Sekret floss aus den Wunden, und die Beweglichkeit der Fingergelenke war bereits eingeschränkt.

»Das wurde aber höchste Zeit!«, erklärte er sehr ernst.

Auch Helene wirkte erschrocken.

»Ich hab den Verband gar nicht mehr abgemacht«, gestand sie fast verlegen.

»Wie sieht es mit Ihrem Tetanus-Schutz aus?«

»Ich hab schon Jahre keine Spritze mehr bekommen.«

Daniel stand auf und suchte aus den Schränken in einer Ecke des Behandlungszimmers Spritze und Nadel heraus. Einem kleinen Kühlschrank entnahm er den Impfstoff und verabreichte Frau Maschnick schließlich die Injektion.

»Mit Bissen von Hunden und Katzen ist nicht zu spaßen. In ihrem Maul befinden sich Keime, die bei einem Biss mit den spitzen Zähnen tief ins Gewebe befördert werden?«, erläuterte Dr. Norden, als er sich wieder der Verletzung zuwandte und die Wunden behutsam reinigte. »Besonders leicht infizieren sich Bisse im Bereich von Hand und Handgelenk. Zum einen befinden sich hier viele Sehnen dicht unter der Hautoberfläche und können schmerzhaft verletzt werden. Zum anderen ist das Gewebe an diesen Stellen schlechter durchblutet, so dass sich Bakterien vermehren können, bevor das Immunsystem eine Chance hat, einzugreifen.«

»Oje«, seufzte Frau Maschnick und wirkte so schuldbewusst, als hätte sie dem Arzt persönlich wehgetan. »Das habe ich wirklich nicht gewusst. Mein Sohn wirft mir immer vor, dass ich so wehleidig bin. Deshalb hab ich mich diesmal extra zusammengerissen. Ich wollte ihm seinen Golfurlaub nicht verderben.«

»Richten Sie Ihrem Sohn einen schönen Gruß von mir aus«, erwiderte Daniel ungehalten. Natürlich gab es ältere Menschen, die sich einsam fühlten und aus diesem Grund Zipperlein vorschützten, um die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung zu erregen. Aber er kannte Helene Maschnick lange genug, um zu wissen, dass diese stille, bescheidene Frau nicht zu dieser Kategorie Menschen zählte. »Seine Vorwürfe hätten Sie das Leben kosten können.«

Erschrocken riss Helene die wasserblauen Augen auf.

»Das hat Helmut bestimmt nicht gewusst«, nahm sie ihren egoistischen Sohn in Schutz.

Nur mit Mühe konnte sich Dr. Norden einen weiteren kritischen Kommentar verkneifen. Da er seiner Patientin das Leben nicht zusätzlich schwer machen wollte, verzichtete er darauf.

»Ich verschreibe Ihnen jetzt ein hochdosiertes Antibiotikum, um die Entzündung zu stoppen«, erklärte er und legte einen ordentlichen Verband an, nachdem er die Wunde versorgt hatte. »Über die Sehnen können die Bakterien in andere Körperregionen wandern und im schlimmsten Fall zu einer Blutvergiftung führen. Dieses Risiko wollen wir keinesfalls eingehen.«

»Natürlich nicht.« Froh über die Fürsorge, die Daniel Norden ihr angedeihen ließ, fügte sich Helene Maschnick in ihr Schicksal. »Ich werde alles tun, was Sie mir sagen. Schließlich brauche ich meine Hand doch noch zum Malen.«

Daniel Norden erinnerte sich gut an die hübschen Landschaftsaquarelle, die Frau Maschnick seit Jahren aufs Papier zauberte.

»Ich weiß. Das Bild, das Sie mir damals geschenkt haben, hängt bei uns im Flur. Mir gefällt das Motiv – die Isarauen – so gut. Meine Frau hingegen schwärmt von der Farbzusammenstellung.«

»Das haben Sie noch?«, staunte Helene. »Aber meine Blinddarmentzündung ist doch bestimmt schon zehn Jahre her.« Erst jetzt kam ihr die dramatische Situation wieder in den Sinn.

Damals war Dr. Norden derjenige gewesen, der ihre Übelkeit und die Bauchschmerzen richtig ein­geordnet und sofort gehandelt hatte.

»Ihr Bild ist zeitlos schön und hat nichts von seiner Anziehungskraft verloren«, erklärte Daniel innig.

Die Behandlung war inzwischen abgeschlossen. Er druckte das Rezept für das Antibiotikum aus und sah seine Patientin fragend an.

»Sind Sie mobil, dass Sie das Medikament selbst holen können?«, erkundigte er sich vorsorglich.

Doch diesmal lachte Helene schelmisch.

»Helmut wollte mir neulich mein Auto abknöpfen. Aber dagegen habe ich mich dann doch gewehrt. So alt bin ich mit meinen 62 Jahren nun auch wieder nicht.« Ein widerwilliger Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ich glaube, er wollte es für meine Enkelin haben, weil ihm sein Wagen für Experimente zu schade ist. Aber da hat er sich geschnitten. Nicht mit mir.«

Daniel nickte zustimmend und lächelte grimmig.

»So ist recht. Verteidigen Sie Ihr selbstbestimmtes Leben! Und wenn Sie Unterstützung brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Mal abgesehen davon, dass wir uns bitte in drei Tagen noch einmal zur Kontrolle sehen.«

»Ich freue mich schon.« Frau Maschnick wirkte wesentlich selbstsicherer und zufriedener, als sie sich von Daniel Norden verabschiedete.

Er sah ihr kurz nach, wie sie an den Tresen zu Wendy trat, um einen neuen Termin zu vereinbaren, als er die Stimme seines Sohnes hörte. Danny verabschiedete sich auch gerade von seinem letzten Patienten des Vormittags.

*

»Sehen Sie sie an, die beiden!« Felicitas Norden stand in der Küche am Fenster und deutete lächelnd auf Vater und Sohn, die, in eine angeregte Diskussion vertieft, Seite an Seite den Gartenweg heraufkamen.

»Sieht so aus, als hätten sich da zwei gesucht und gefunden«, bemerkte Lenni schmunzelnd und kehrte zurück an den Herd, um das Mittagessen vor dem Anbrennen zu bewahren. Zur Feier des ersten gemeinsamen Arbeitstages hatte sie ein wahres Festmahl vorbereitet.

»Ich glaube, du musst die Sprechstunde heute Nachmittag alleine machen«, erklärte Daniel Norden nach Sommersalaten mit Speckwürfeln, handgeschabten Spinatspätzle in Gorgonzolasahne und Joghurtmousse auf einem köstlich roten Himbeerspiegel. Er hatte den Stuhl nach hinten gerückt, die Hände über dem wohlgefüllten Bauch gefaltet, und gähnte schläfrig. »Nach diesem köstlichen Mahl muss ich einen ausgedehnten Mittagsschlaf machen.«

»Kommt überhaupt nicht infrage!«, widersprach Danny, der ebenso träge war wie sein Vater. »Du musst mich vor Victoria Bernhardt retten. Seit ich die Praxisvertretung übernommen habe, hatte sie jede Woche mindestens einen Termin.«

»Victoria Bernhardt … Victoria Bernhardt …«, murmelte Daniel Norden nachdenklich und dankte Lenni für den Espresso, den sie ihm servierte, um ihn schnell wieder munter zu machen. Auf keinen Fall wollte sie dafür verantwortlich sein, dass Patienten vergeblich auf ihre Behandlung warten mussten. »Ich kann mich gar nicht an diese Frau erinnern …«

»Im Grunde genommen ist sie eine wirklich aufsehenerregende Erscheinung«, musste Danny anerkennen. »Groß, schlank, ihrem Kleidungsstil nach zu urteilen recht vermögend …, aber sie ist mit Sicherheit zehn Jahre älter als ich. Mal abgesehen davon, dass ich Tatjana habe.«

»Wie kommst du darauf, dass diese Frau an dir interessiert sein könnte?«, hakte Felicitas nach in der Sorge, ihr Sohn könnte sich etwas auf seinen neuerworbenen Status als Assistent des Seniors einbilden.

»Weil diese Frau kerngesund ist und sich in erster Linie mit mir über ihr Privatleben unterhält und versucht, mich nach allen Regeln der Kunst auszuquetschen«, erklärte Danny ganz und gar nüchtern.

Felicitas schickte ihrem Mann ein belustigtes Lächeln.

»Das erinnert mich doch fatal an frühere Zeiten.« Sie streckte ihre Hand aus und legte sie liebevoll auf die von Daniel. »Es gibt offenbar Dinge, die ändern sich nie. Was für ein unglaubliches Glück, dass ich mir heute keine Sorgen mehr um deine Liebe machen muss.«

»Das musstest du nie, mein Feelein«, versicherte Daniel und zog ihre Hand an seinen Mund. Zärtlich küsste er jede einzelne Fingerspitze. »Selbst wenn du manchmal einen anderen Eindruck hattest.« Sie sahen einander tief in die Augen und lächelten, während sich ihre Blicke umschlungen hielten.

Nach dem starken kleinen Kaffee wurde Danny langsam aber sicher wieder wach und dynamisch.

»Außerdem wollte ich dich noch bitten, einen Blick auf die Ultraschallbilder unseres neuen Patienten zu werfen. Meiner Ansicht nach leidet Herr von Platen an einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung, verursacht durch Polypen.«

Nur mit Mühe riss sich Daniel vom Anblick seiner schönen Frau los.

»Wendy hat schon gesagt, dass du einen Termin in der Klinik vereinbart hast. Wann ist es denn so weit?«

»Er kommt morgen früh gleich als Erster dran.«

»Oh, das trifft sich gut. Ich wollte sowieso dorthin, um ein Gespräch zu führen. Da kann ich mich auch gleich noch um Herrn von Platen kümmern. Aber natürlich sehe ich mir vorher die Bilder an«, erinnerte sich Daniel an die Bitte seines Sohnes.

Danny nickte lächelnd und stand auf, um kurz mit Tatjana zu telefonieren, bevor es Zeit wurde, in die Praxis zurückzufahren.

»Es scheint, als ob ihr ein gutes Team werden würdet«, stellte Fee zufrieden fest, als die Stimme ihres ältesten Sohnes gedämpft durch die Tür drang.

»Das sehe ich genauso.« Daniel musterte seine Frau eingehend. »Aber was ist mit dir? Du hattest doch etwas auf dem Herzen heute Morgen.«

Felicitas nahm den kleinen Kaffeelöffel zur Hand und zeichnete nachdenklich mit der Fingerspitze die Silhouette nach.

»Es geht um deine berufliche Zukunft«, half er ihr, einen Einstieg in das Gespräch zu finden.

»Das stimmt.« Fee legte den Silberlöffel auf das weiße Tischtuch, um ihn langsam um die eigene Achse zu drehen. Immer und immer wieder. »Weißt du, als ich mich im Orient um die schwerkranke Leila gekümmert habe, ist mir aufgefallen, dass ich mich nicht nur für die körperlichen sondern auch für die psychologischen Aspekte einer Krankheit interessiere. Durch die Liebe zu ihrer Familie hat Leila die Kraft gefunden, sich aus ihrem Locked-In-Syndrom herauszukämpfen.«

»Du hattest einen nicht unerheblichen Anteil an ihrer Genesung.« Daniel wusste, wie wichtig der jungen, unglücklichen Frau die Freundschaft zu seiner Frau gewesen war.

Fee schickte ihm einen lächelnden Blick.

»Ob mein Anteil so groß war, weiß ich nicht. Aber zumindest hat meine Unterstützung dazu beigetragen. Das ist eine große Befriedigung«, erklärte sie innig. »Außerdem hat mich Désis Erkrankung ins Grübeln gebracht. Sie war so glücklich im Orient und wurde trotzdem so krank, weil sie die ganze Familie vermisste. Diese Zusammenhänge zu durchschauen reizt mich sehr. Jetzt, wo wir wieder hier sind und die Kinder immer mehr ihrer eigenen Wege gehen, ist deshalb der Wunsch in mir gewachsen, mich beruflich in diese Richtung weiterzuentwickeln.« Sie sah ihren Mann fragend an auf der Suche nach einer Reaktion in seinem Gesicht, seinen Augen.

»Im pflegerischen Bereich?«, hakte Daniel vorsichtshalber nach.

Er hatte nicht ganz verstanden, worauf Fee hinaus wollte.

»Nein, das können andere besser als ich. Mir geht es eher um die Psychologie«, erläuterte sie ihre Gedanken ausführlicher. »Als studierte Ärztin habe ich jede Menge Möglichkeiten, mich in diesem Bereich fortzubilden. Ich habe mich schon erkundigt. Ich könnte zum Beispiel meinen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie machen und später mal mit Mario an der Behnisch-Klinik zusammen arbeiten«, brachte sie den Namen ihres Adoptivbruders ins Spiel, der die Pädiatrie an der Behnisch-Klinik mit großem Erfolg leitete. »Natürlich ist der Weg dorthin weit. Trotzdem begeistert mich diese Idee immer mehr.« Je mehr Felicitas von ihren Plänen berichtete, umso glänzender wurden ihre Augen. Umso mehr strahlte ihr Gesicht, dass Daniels Herz weit und weich wurde aus Liebe zu dieser Frau, die sich unermüdlich für andere einsetzte und daraus eine so große Erfüllung zog, so viel Energie schöpfte.

»Wenn das dein Wunsch ist, dann werde ich alles tun, um dich darin zu unterstützen, wie du mich immer unterstützt hast in allem, was ich vorhatte«, sprach er die Worte aus, die sie sich so sehnlichst von ihm gewünscht hatte.

»Oh, Dan, dass du immer genau weißt, was ich brauche …, das ist einfach unglaublich«, seufzte sie und sprang auf, um ihm in die Arme zu fallen.

Am liebsten hätte sie ihn gar nicht mehr losgelassen. Doch Danny war unerbittlich und hatte andere Pläne mit seinem Vater.

»Schluss mit der Schmusestunde«, machte er der zärtlichen Umarmung seiner Eltern ein jähes und unbarmherziges Ende. »In einer halben Stunde fängt die Sprechstunde an. Es gibt viel zu tun.« Er klatschte in die Hände und Daniel Norden fügte sich lachend in sein selbst gewähltes Schicksal. Schließlich liebte er seinen Beruf. Und schon jetzt fand er großen Gefallen daran, mit seinem Sohn zusammenzuarbeiten und war gespannt darauf, welche Herausforderungen das Schicksal noch für sie bereithielt.

*

In dieser Nacht fand Sebastian Keinath keinen Schlaf. Irgendwann hatte er keine Lust mehr, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen und beschloss, in die Arbeit zu gehen, auch wenn es noch zu früh war. Er kam gerade recht, um seinen Kollegen Günther Hartmann bei einem besonders, im wahrsten Sinne des Wortes, schwerwiegenden Fall zu helfen.

»Packst du mal mit an?«, fragte Günther sichtlich erleichtert.

Der Krankenwagen stand vor der Ambulanz. Die Türen waren weit geöffnet und gaben den Blick frei auf einen massigen Körper, der gar keinen Platz auf der Liege fand.

»Schlaganfall. Kein Wunder bei dieser Lebensführung«, bemerkte Günther verächtlich.

»Schon gut, ich bin ja schon da.« Froh, sich von seinem persönlichen Leid ablenken zu können, wollte Sebastian in das Innere des Wagens klettern. Er streckte den Arm nach dem Griff aus und setzte einen Fuß auf das Trittbrett, als ihn ein grauenhafter Schmerz im Rücken erstarren ließ. Einen kurzen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen und es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, der gnädigen Bewusstlosigkeit zu widerstehen, die ihn übermannen wollte. »Oh verdammt, ich kann mich nicht mehr bewegen.« Am liebsten hätte sich Sebastian vor Schmerzen gekrümmt. Aber es ging nicht. Unfähig, sich weiter zu bücken oder gar aufzurichten, stand er halb eingeknickt da und keuchte gegen den rasenden Schmerz an.

»Bleib du stehen und rühr dich nicht vom Fleck«, beschloss ein weiterer Kollege, der dazugekommen war. »Wir bringen den Patienten rein und holen Hilfe.«

»Du machst Witze!«, versuchte Sebastian Keinath, zur Regungslosigkeit verdammt, zu scherzen.

Schon als Daniel Norden seinen Wagen auf dem Parkplatz unweit der Notaufnahme abstellte, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Der gekrümmte Mann am Krankenwagen vor der Ambulanz war ihm aufgefallen.

»Was ist denn hier los?«, rief er, als er im Laufschritt herbeieilte.

Gequält drehte Sebastian den Kopf.

»Herr Dr. Norden?« Er wusste nicht, ob die entsetzlichen Schmerzen seinem Bewusstsein einen bösen Streich spielten. »Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin gekommen, um vor der Sprechstunde nach meinen Patienten zu sehen.« Dass das nur ein Teil der Wahrheit war, spielte im Augenblick keine Rolle. »Aber das kann noch warten. Was ist passiert?« Mit einem Blick umriss Daniel die Situation, als auch schon zwei Kollegen mit einer Krankenliege herbeieilten.

»Mein Rücken. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen. Nicht mehr vor und nicht mehr zurück.« Es kostete Sebastian alle Mühe, die Worte halbwegs verständlich hervorzupressen.

Daniel Norden half ihm, sich in dieser gekrümmten Haltung seitlich auf die Liege zu legen.

»Sieht nach einem erstklassigen Bandscheibenvorfall aus«, wagte er eine erste Diagnose und bot sich an, die Liege in die Notaufnahme zu schieben. »Wie sieht es mit dem Gefühl in den Extremitäten aus?«

»Hatte ich mal Beine?«, versuchte Sebastian, sich mit Galgenhumor über Wasser zu halten.

Diese Worte entsetzten Daniel genauso wie der dunkle Fleck, der sich zwischen den Beinen des Rettungsfahrers ausbreitete. Er wusste sofort, was das bedeutete.

»Verdacht auf Caudasyndrom«, informierte er die Schwester am Empfang der Ambulanz. »Rufen Sie einen Orthopäden! Herr Keinath muss sofort operiert werden.«

»In Ordnung«, reagierte Schwester Sandra sofort und blätterte in der Telefonliste.

»Caudasyndrom?«, erkundigte sich Sebastian matt. »Sind das nicht Nerven am Ende des Rückenmarks?«

»Die Cauda equina ist ein Nervenfaserbündel am Ende des Rückenmarks, das durch einen Bandscheibenvorfall gequetscht werden kann«, erklärte Daniel in der Kürze der Zeit das, was er über diese akute und sehr gefährliche Verletzung wusste. »Erstes Warnsignal sind heftige Schmerzen, gefolgt von einer Lähmung der Beine. Außerdem sind die Blasen- und Mastdarmfunktion gestört. Wenn Sie nicht schnellstmöglich operiert werden, laufen Sie Gefahr, dass diese Nerven dauerhaft geschädigt werden.«

Diese Nachricht raubte Sebastian schließlich doch noch den letzten Rest an Humor, den er noch übrig gehabt hatte.

»Können Sie mir einen Gefallen tun, Herr Dr. Norden?«, fragte er, sichtlich erschöpft von den großen Schmerzen.

»Natürlich!«

»Rufen Sie bitte meine Frau an? Mein Handy ist in meiner Jackentasche.« Sein Blick wanderte auf seiner rechten Seite hinunter und verharrte in Höhe der Außentasche. »Sie ist unter ›Melina‹ eingespeichert.«

Daniel nickte und betätigte die entsprechenden Tasten des Apparates.

Das Gespräch dauerte nicht lange und das, was Dr. Norden dem leidenden Mann mitzuteilen hatte, war alles andere als erfreulich. Er hätte die Wahrheit gerne beschönigt. Aber Lügen gehörten nun mal nicht in sein Repertoire.

»Ich soll Ihnen schöne Grüße bestellen. Ihre Frau wünscht Ihnen alles Gute. Sie wäre gerne nach Hause gekommen«, erklärte Daniel mit rauer Stimme. »Aber im Augenblick ist es leider unmöglich.« Er versuchte sein Entsetzen so gut es ging zu verbergen.

Sebastian lag mit geschlossenen Augen auf der Liege. Sein Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln.

»Oh, natürlich, das verstehe ich doch. Meine Frau wird gebraucht«, presste er mühsam hervor. »Sie muss die einmalige Chance nutzen und ihre Möbel vermarkten und nebenbei in ganz Europa als Fotomodell zur Verfügung stehen. Zürich, Mailand, Paris, Rom. Rastlos, von einer Stadt zur nächsten.« Er atmete schwer und Daniel wurde einen Moment von der Schwester abgelenkt, die ihm mitteilte, dass der Professor so schnell wie möglich ein Operationsteam zusammenstellen würde. Es konnte nicht mehr lange dauern. Daniel nickte Sandra dankbar zu, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder dem bedauernswerten Sebastian widmete.

»Wenn das so weitergeht, ist unsere Ehe bald am Ende. Melina weiß es, ich weiß es. Aber sie unternimmt nichts, um uns zu retten. Und ich allein kann es nicht.« Wenigstens lenkten diese Gedanken Sebastian von den mörderischen Schmerzen ab. Dr. Norden ermunterte ihn, fortzufahren. »Unsere Kommunikation besteht in erster Linie aus ein paar Haftnotizen am Kühlschrank, aus ein paar hastigen Worten am Telefon. Damit wir wissen, dass es den anderen noch gibt. Aber recht viel mehr ist da nicht mehr. Dabei liebe ich Melina doch.« Sebastian Keinaths Gesicht verzog sich. Ob vor seelischen oder körperlichen Qualen konnte Daniel nicht beurteilen. Es blieb ihm auch keine Zeit, denn Sebastian fuhr mit sarkastischer Stimme fort. »Wissen Sie, es ist ein richtiges Privileg, mit einer so erfolgreichen Frau verheiratet zu sein. Melina erlaubt mir, mich in ihrem Glanz zu sonnen und alle Welt beneidet mich. Dabei weiß niemand, wie das wirklich ist, nach der anstrengenden und auch mitunter belastenden Arbeit nach Hause zu kommen in der Sicherheit, wieder allein zu sein mit den kleinen Zetteln am Kühlschrank. Meine Ehe besteht aus den Aufträgen, die ich für meine Frau erledigen darf. Damit muss ich mich zufriedengeben. Ob ich will oder nicht.« Seine Stimme war immer leiser geworden und am Ende musste sich Daniel zu ihm hinunterbeugen, um ihn überhaupt verstehen zu können.

Dr. Norden war zutiefst betroffen. All das erklärte natürlich, warum Jennys bester Sanitäter in letzter Zeit so unkonzentriert war. Warum er Fehler machte. Sebastian Keinath litt echte Seelenqualen, fühlte sich nicht mehr gut genug für seine Frau und musste obendrein fürchten, sie an ihren Beruf, ihre Karriere zu verlieren.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Daniel erleichtert, wie der Orthopäde Professor Hartung mit wehendem Kittel herbeieilte. Fieberhaft suchte Dr. Norden nach ermutigenden Worten, mit denen er Sebastian in den Operationssaal entlassen konnte. Der Erfolg des Eingriffes hing auch von der seelischen Stabilität des Patienten ab.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er kurzerhand.

Ohne die Augen zu öffnen, lachte Sebastian bitter.

»Mir ist nicht zu helfen.«

»Soll ich mit Ihrer Frau sprechen?«, bot Daniel das Einzige an, das ihm in dieser fatalen Situation einfiel.

Sebastian Keinath antwortete nicht sofort. An diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht. Aber natürlich musste Melina informiert werden. Noch war sie ja seine Frau. Er atmete schwer.

»Wenn Sie das wirklich für mich tun wollen …«, presste er schließlich mit letzter Kraft hervor.

Im selben Augenblick trat Professor Hartung an die Krankenliege. Er begrüßte den Kollegen Norden und wechselte ein paar Worte mit ihm, ehe er sich um den leidenden Sanitäter kümmerte.

Bevor Sebastian in den Operationssaal gebracht wurde, drückte Daniel fest und tröstend seine Hand.

»Ich spreche mit Melina und werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit Sie zu Ihnen kommt und Ihnen beisteht«, versprach er innig. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Doch Sebastian hörte ihn ohnehin nicht mehr.

*

Wie Danny Norden vorausgesagt und sein Vater bestätigt hatte, litt Edgar von Platen unter Nasenpolypen, die in einem unkomplizierten Eingriff entfernt werden konnten. Diese Nachricht übermittelte er Wendy während der Vormittagssprechstunde in einem Telefonat.

»Das freut mich sehr, dass alles gut verlaufen ist«, teilte sie seine Zufriedenheit. Wie immer, wenn sie seine Stimme hörte, schlug ihr Herz schneller, und sie versprach, in der Mittagspause in der Klinik vorbeizuschauen.

Von dieser Minute an war die sonst so zuverlässige Assistentin fahrig und nervös und konnte sich nicht mehr recht auf ihre Arbeit konzentrieren. Dabei war ausgerechnet an diesem Tag die Hölle los in der Praxis.

»Wendy, können Sie bitte den Blutdruck bei Herrn Seibold messen?«, bat Dr. Norden im Vorbeigehen.

»Franziska Meese sitzt in Zimmer 3. Sie hat einen Knoten in der Schilddrüse, und wir müssen ein Blutbild zur Hormonbestimmung machen lassen«, teilte Danny ihr leise am Tresen mit. Auch er war auf dem Sprung ins Behandlungszimmer, um sich des nächsten Patienten anzunehmen. »Können Sie das bitte für mich erledigen?«

»Natürlich. Ein Blutbild von Herrn Seibold und Blutdruck bei Frau Meese«, wiederholte Wendy wie in Trance.

Danny, der schon auf dem Rückweg ins Sprechzimmer war, stutzte und hielt inne.

»Moment mal.« Mit großen Schritten kehrte er zu Wendy zurück, die bereits die Patientenkarten in der Hand hielt. Er musterte sie irritiert. »Genau umgekehrt. Seibold Blutdruck und Meese Blutbild. Sind Sie verliebt oder warum sind Sie so verwirrt?«, fragte er mit einem belustigten Lächeln und ahnte nicht im Geringsten, wie nah er damit der Wahrheit kam.

Schlagartig schoss ihr die Hitze ins Gesicht.

»Vielleicht brauche ich mal Urlaub«, stammelte sie verlegen und wagte es kaum, Danny ins Gesicht zu sehen.

All das war ihr so unglaublich peinlich. Auch diese Notlüge. Doch nun waren die unseligen Worte gesagt und nicht mehr zurückzunehmen.

Nachdenklich wiegte der Junior den Kopf.

»Sie haben recht. Ich werde das mal mit meinem Vater besprechen.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Aber ein bisschen müssen Sie noch durchhalten.«

»Ich verspreche es«, erklärte Wendy aus tiefster Überzeugung und konzentrierte sich in den nächsten Stunden nach Kräften, so dass der Vormittag ohne unerfreuliche Zwischenfälle vorbeiging.

Schließlich stand sie mit weichen Knien vor der Tür des Krankenzimmers, in dem sich Edgar von Platen von seiner Operation erholte.

»Anna-Maria!«, begrüßte er sie freudestrahlend, als sie an sein Bett trat und ihm die Schachtel Pralinen überreichte, die sie noch rasch im Supermarkt besorgt hatte. »Was für eine Ehre, dass Sie mich besuchen kommen. Und ein Geschenk haben Sie auch mitgebracht. Zu viel der Ehre. Wussten Sie, dass ich handgemachte Pralinen liebe?«, plauderte Edgar munter wie ein Wasserfall und legte das Konfekt achtlos auf den Nachttisch. Aufgrund der Operation klang seine Stimme nasal, aber das würde sich bald geben.

Wendy achtete ohnehin nicht darauf. Sie hatte gedacht, dass die Geste wichtiger war als das Geschenk selbst und schämte sich, keine teureren Pralinen ausgesucht zu haben.

»Tut mir leid, wenn ich nicht Ihren Geschmack getroffen habe.«

»Nicht doch, nicht doch. Alles wunderbar«, beeilte sich Edgar zu versichern. »Bitte setzen Sie sich. Ich würde Ihnen ja den Stuhl zurechtrücken. Aber leider darf ich noch nicht aufstehen.«

Halbwegs beruhigt holte Wendy einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sie fühlte sich wie ein Teenager.

»Wie ist es Ihnen ergangen? Sind Sie zufrieden mit der Behandlung hier?«, suchte sie nach einem Gesprächsthema, um das Eis zu brechen.

»Vor allen Dingen bin ich unglaublich glücklich, dass Sie die Mühe nicht gescheut haben, mich zu besuchen.« Im Krankenbett liegend, mit halb aufgerichtetem Oberkörper, streckte Edgar die Hand nach Wendys aus und zog sie an seine Lippen, um sie sanft zu küssen. »Sie scheinen eine sehr zuverlässige Frau zu sein.«

Das Urteil des Geschäftsmannes schmeichelte Wendy.

»Wissen Sie, im Grunde genommen bin ich ein sehr konservativer Mensch. Werte wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Loyalität und solche Dinge mehr sind mir sehr wichtig«, gestand sie mit vor Aufregung geröteten Wangen, die ihr gut zu Gesicht standen und sie viel jünger wirken ließen.

»Sie sprechen mir aus der Seele!«, gab Edgar innig zurück. Immer noch hielt er ihre Hand zwischen den seinen und betrachtete sie eingehend. »Auf was sollte man sich denn heutzutage sonst noch verlassen, wenn nicht auf Menschen, die so denken wie man selbst? Es gibt keine Sicherheit da draußen.«

Plötzlich veränderte sich seine Miene. Sein Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an, und Wendy erschrak.

»Haben Sie Sorgen?«, fragte sie alarmiert.

Bekümmert winkte Edgar von Platen ab.

»Nicht doch. Ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen behelligen. Meine Bemerkung war unbedacht und dumm. Bitte lassen Sie uns von etwas anderem sprechen.« Er hob die Augen und schickte ihr einen Blick, der ihr durch und durch ging. »Zum Beispiel von Ihnen. Ich möchte alles von Ihnen erfahren.«

Seit Jahren hatte Wendy keine solche Aufmerksamkeit mehr von einem Mann erfahren und wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte.

»Über mich gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete sie leise. »Ich bin geschieden und habe eine erwachsene Tochter, die aber ihr eigenes Leben lebt. Aber das macht nichts, denn ich habe einen netten Freundeskreis, mit dem ich allerhand unternehme. Ich besuche gerne Konzerte, gehe ab und zu ins Theater oder in die Oper und manchmal zum Essen. Durch meine Arbeit bei Dr. Norden habe ich außerdem viel Kontakt zu anderen Menschen.« Einen Moment lang sann sie über ihre Worte nach. Dann nickte sie. »Doch, ich glaube behaupten zu können, dass ich ein schönes Leben führe.«

»Aber es könnte noch schöner sein mit einem Menschen an Ihrer Seite, mit dem Sie all das teilen könnten, finden Sie nicht? Welche ist Ihre Lieblingsoper?«

»La Traviata«, erwiderte Wendy ohne Zögern.

Edgar lächelte wissend, ging aber nicht darauf ein.

»Allein die Oper zu gehen stelle ich mir wenig amüsant vor«, fuhr er stattdessen sanft fort. Wendy suchte noch nach einer Antwort, als er schon mit sinnendem Ausdruck in den Augen fortfuhr. »Als erfolgreicher Geschäftsmann bin ich seit Jahren auf der ganzen Welt unterwegs. Ich habe viele Menschen kennengelernt, tolle Erlebnisse gehabt. Und doch ist das alles kaum etwas wert, weil ich es nicht teilen konnte.« Sein Blick kehrte zu Wendy zurück und umfing den ihren mit einer Innigkeit, die sie zittern ließ. »Ich gebe ja zu, dass diese Ungebundenheit früher ihren Reiz hatte. Aber heute vermisse ich es, irgendwo zu Hause zu sein.« Er machte eine Pause. »Im Herzen einer Frau«, fügte er heiser hinzu.

»Oh!«, entfuhr es Wendy. Ein Glück, dass sie saß, denn schlagartig wurden ihre Knie weich, begannen ihre Hände zu zittern. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass sich dieser weitgereiste, erfahrene und offenbar kluge Mann ausgerechnet für sie interessierte.

Edgar entging ihre Verlegenheit nicht, und er lächelte zärtlich.

»Anna-Maria, darf ich Sie zum Essen einladen, wenn ich wieder halbwegs in Form bin?«

»Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dann von Ihren Problemen zu erzählen«, brannte ihr seine Bemerkung nach wie vor im Gedächtnis.

Ihr weiches Herz befahl ihr, für ihn da zu sein und sich um ihn zu kümmern. Schon eilten ihre Gedanken voraus in die Zukunft. Sie spürte den Wunsch, nicht nur die Freude sondern auch das Leid mit ihm zu teilen. Ganz so, wie es sich in einer guten Partnerschaft gehörte.

Edgar lächelte geschmeichelt.

»Wenn Sie darauf bestehen«, erwiderte er weich. »Ihnen würde ich sogar einen Stern vom Himmel holen, wenn Sie sich das von mir wünschten.«

Darauf wusste Wendy nun wirklich nichts mehr zu sagen. Sie murmelte eine Entschuldigung, dass ihre Mittagspause vorbei sei und sie in die Praxis zurückkehren müsse. Mit wild schlagendem Herzen und glühenden Wangen floh sie aus dem Krankenzimmer. Schon jetzt freute sie sich darauf, Edgar von Platen wiederzusehen. Sehnsucht, Angst, Unsicherheit, Schwärmerei, all das mischte sich in ihrem Herzen zu einem verwirrenden Cocktail und zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sich Annemarie Wendel damals, als sie eine junge Frau gewesen und sich zum ersten Mal verliebt hatte, ihrem Schwarm hoffnungslos verfallen.

*

Danny Nordens Befürchtungen, die Patientin Victoria Bernhard betreffend, waren nicht unbegründet.

»Dr. Norden Senior erwartet Sie in seinem Sprechzimmer. Wenn Sie bitte den Gang ganz durchgehen«, bat Wendy die Frau, die auch diesmal wieder durch ihr extravagantes Äußeres bestach. Das mochte aber auch daran liegen, dass – großgewachsen und schlank, wie Victoria war – jedes Kleidungsstück an ihr besonders wirkte. Sie hätte auch in Sack und Asche gehen können und hätte immer noch gut ausgesehen.

Und auch ihr Gesicht mit den leicht schräg stehenden grünen Katzenaugen, den schmalen hohen Wangen, verlor den aparten Ausdruck nicht, selbst wenn – wie jetzt – eine steile Falte dazwischen erschien.

»Was heißt das, Dr. Norden Senior?«, fragte Victoria und ihre Stimme war schrill. »Ich möchte zu Danny Norden. Das habe ich doch ausdrücklich gesagt, als ich den Termin bei Ihnen ausgemacht habe.«

Wendy erschrak. Sollte ihr schon wieder ein Fehler unterlaufen sein? Mit dem Zeigefinger fuhr sie die Spalte im Terminkalender entlang und seufzte innerlich erleichtert auf. Danny selbst hatte den Termin offenbar auf seinen Vater verlegt. Seine Handschrift war unverkennbar, und Wendy ahnte den Grund dafür.

»Da muss ich etwas falsch verstanden haben«, war sie weit davon entfernt, ihren Juniorchef zu verraten. Sie hob den Kopf und lächelte Victoria Bernhardt entwaffnend an.

Doch die Jungunternehmerin dachte gar nicht daran, sich in ihr Schicksal zu fügen.

»Dann warte ich eben so lange, bis der Danny Norden Zeit für mich hat«, erklärte sie und verschränkte demonstrativ die Arme vor dem schlanken, mit einer Vielzahl an silbernen Ketten geschmückten Oberkörper, die im Licht der hereinfallenden Sonne glitzerten und glänzten.

»In diesem Fall werden Sie sich auf eine längere Wartezeit einstellen müssen«, versuchte Wendy ein letztes Mal, sie davon zu überzeugen, dass sie auch bei Daniel Norden Senior gut aufgehoben war.

Doch Victoria Bernhardt war es gewohnt, ihren hübschen Kopf durchzusetzen.

»Das verstehe ich nicht. Schicken Sie den nächsten Patienten von Herrn Norden Junior einfach zum Senior. Und schon ist das Problem gelöst.«

Darauf fiel selbst der erfindungsreichen Wendy nichts mehr ein.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, murmelte sie. »Wenn Sie bitte im Wartezimmer Platz nehmen wollen.« Es blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten, bis Dannys Patient aus dem Behandlungszimmer kam. Dann ging sie zu ihm und erklärte ihm den Sachverhalt.

»Also schön«, fügte der sich der treuen Assistentin zuliebe in sein Schicksal. »Aber das ist das letzte Mal! Noch heute Abend spreche ich mit Dad. So kann das nicht weitergehen.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, versicherte Wendy. »Aber mir sind einfach die Argumente ausgegangen.« Über die Maßen erleichtert kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück und sah Victoria Bernhardt nach, die gleich darauf mit einem triumphierenden Lächeln in das Behandlungszimmer stolzierte, in dem Danny sie erwartete.

Der junge, gut aussehende Arzt hatte es ihr angetan, seit sie wegen einer Gürtelrose bei ihm gewesen war. Seit diesem Tag war sie verrückt nach ihm, obwohl sein Vater sie in den Jahren zuvor genauso kompetent und freundlich behandelt hatte. Dannys lockere, jugendlich-unbeschwerte Art lag ihr mehr als die freundlich distanzierte Höflichkeit des Seniors. Wie sein Vater war Danny stets höflich, jedoch nicht übertrieben freundlich zu ihr gewesen. Er hatte ihr nie einen Grund gegeben zu glauben, dass er an ihr mehr als bloßes medizinisches Interesse hatte.

Trotzdem war da etwas, was Victoria vom ersten Augenblick an fasziniert hatte. Eine magische Anziehungskraft, die weit über das Körperliche hinausging. Sie wäre die glücklichste Frau der Welt gewesen, wenn er sie gefragt hätte, ob sie mit ihm ausgehen wollte.

Gewohnt, für ihre Ziele zu kämpfen, kam Victoria seither unter dem Vorwand, aufgrund der Gürtelrose unter postneuralgischen Schmerzen zu leiden, in die Praxis, um zu erobern, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Für diesen Besuch hatte sie sich einen besonderen Plan zurechtgelegt und lächelte Danny Norden aufreizend an, als er ihr zur Begrüßung die Hand reichte und die Tür hinter ihr schloss.

»Was führt Sie heute zu mir, Frau Bernhardt?«, erkundigte sich der junge Arzt bemüht freundlich und bot Victoria Bernhardt den Platz vor seinem Schreibtisch an.

Sie setzte sich, schlug die ellenlangen Beine so übereinander, dass der Minirock bis zur Schmerzgrenze hochrutschte. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.

»Mein lieber Herr Doktor …«

Schon an dieser Stelle unterbrach Danny sie. Entschuldigend hob er die Hände.

»Tut mir leid, aber dieser Titel steht mir nicht zu. Noch habe ich meine Dissertation nicht in Angriff genommen.« Er hoffte, Victoria damit den Wind aus den Segeln zu nehmen, sie zu enttäuschen. Aber das Gegenteil schien der Fall zu sein.

Ihr Lächeln wurde nur noch süßer.

»Also schön, mein lieber Herr Norden«, ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir kennen uns nun schon eine ganze Weile. Seit ein paar Monaten komme ich jede Woche mindestens einmal zu Ihnen und Sie haben mir jedes Mal kompetent und geduldig weitergeholfen und sich eingehend mit meinen Nervenschmerzen auseinandergesetzt.«

»Offenbar mit wenig Erfolg«, stellte Danny bedauernd fest.

Erschrocken riss Victoria die schönen, ungewöhnlichen Katzenaugen auf. Diesen Eindruck wollte sie ihm auf keinen Fall vermitteln.

»Aber nein, ganz im Gegenteil! Ohne Sie wäre alles nur noch schlimmer«, versicherte sie rasch. »Sie haben mir geholfen wie ein echter Freund. Dafür wollte ich mich erkenntlich zeigen.« Sie legte den Kopf ein wenig schief und lächelte ihn mit leicht geöffneten, feuchtglänzenden Lippen an. »Aber vorher müssen Sie mir versprechen, mich ab sofort Vicky zu nennen.«

Spontan schüttelte Danny den Kopf.

»Tut mir leid, Frau Bernhard, aber das ist ausgeschlossen.«

»Aber warum denn nicht?«, fragte Victoria und zog einen Trumpf aus dem Ärmel, den sie sich für eine besondere Gelegenheit aufgespart hatte. Diese Gelegenheit war jetzt gekommen. »Schließlich gibt es noch andere Patientinnen, mit denen Sie einen so vertrauten Umgang pflegen.« Ihr Lächeln war unschuldig. »Diese blinde Frau, Tatjana Bohde, wenn ich nicht irre …, mit ihr sind Sie doch auch per du.«

Ein eiskalter Schauer rann Danny über den Rücken. Was wusste Victoria Bernhardt über seine Freundin? Und vor allen Dingen woher?

»Das ist eine ganz andere Sache. Frau Bohde und ich sind im selben Alter. Außerdem kennen wir uns schon eine ganze Weile«, stellte er so entschieden wie möglich klar. Kein anderer Patient hätte seine Unsicherheit unter der gefassten Oberfläche bemerkt. Doch Victoria kannte ihn besser und bemerkte mit Genugtuung, dass sie ihn innerlich aus dem Konzept gebracht hatte.

»So viel älter bin ich nun auch wieder nicht«, mimte sie die Verletzte und brachte Danny damit nur noch mehr in Verlegenheit.

»So meinte ich das auch nicht. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Sie sind eine sehr attraktive Frau. Aber …«

»Dann sagen wir ab jetzt ›du‹ zueinander?«, unterbrach sie ihn und sofort erhellte sich ihre Miene.

Derart in die Ecke gedrängt, fand Danny keinen Ausweg aus diesem Dilemma.

»Also gut«, gab er sich seufzend geschlagen. »Was führt dich heute zu mir, Victoria.«

Sie lächelte entrückt.

»Eigentlich gefällt mir mein Name nicht. Er ist so kalt und hart. Aber wenn du ihn aussprichst, klingt er plötzlich wunderbar«, geriet sie unversehens ins Schwärmen. »Oh, Danny, du ahnst nicht, wie glücklich du mich machst.« Sie blinzelte ihm durch ihre dichten, schwarz getuschten Wimpern zu und einen Augenblick geriet der junge Arzt tatsächlich in Versuchung, ließ seine Gedanken spielen. Victoria Bernhardt war wirklich atemberaubend schön. Jeder andere Mann würde ihn um ihre Liebe beneiden.

An dieser Stelle endete der Traum bereits wieder. Danny hätte nicht zu erklären vermocht, woran es lag. Zwischen ihnen stimmte einfach die Chemie nicht. Victoria kam aus einer völlig anderen Welt als er und als die Frau, in die er sich verliebt hatte. Sie schien ihm wie ein fremdes Wesen von einem anderen Stern, mit dem er außer der Sprache nichts gemein hatte. Und selbst auf diesem Gebiet schienen sie auf verschiedenen Frequenzen zu funken. Warum sonst verstand sie nicht, dass da nie etwas sein würde zwischen ihnen?

»Würdest du mir bitte meine Frage beantworten?«, zeigte er sich unerbittlich.

»Aber natürlich«, erklärte Victoria sich zu Dannys großem Erstaunen bereit. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, stellte sie die Beine nebeneinander und rutschte an die äußerste Stuhlkante. »Heute bin ich nicht gekommen, um mich von dir behandeln zu lassen. Ich möchte dir vielmehr einen Vorschlag unterbreiten.«

Danny schluckte. Das klang in seinen Ohren alles andere als gut.

»Und zwar?«

»Ich habe an der Börse spekuliert und habe gute Gewinne erzielt. Nun überlege ich, wie ich mein Geld sinnstiftend investieren kann.« Mit der rechten Hand griff Victoria nach den Ketten, die um ihren Hals geschlungen waren und ließ sie durch die sorgfältig manikürten Finger gleiten.

»Und?« Langsam aber sicher wurde Danny ungeduldig. Das Wartezimmer war voll mit Menschen, die seiner Hilfe bedurften. Er konnte und wollte es sich nicht leisten, sie wegen einer harmlosen Plauderei warten zu lassen. »Zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Ich möchte dir eine eigene Praxis einrichten«, ließ Victoria die Katze endlich aus dem Sack. Noch ehe Danny sich von seinem Schrecken erholt hatte, fuhr sie schwärmerisch fort. »Stell dir vor, eine eigene Praxis für dich allein, wo du schalten und walten kannst, wie es dir beliebt.« Sie war selbst so begeistert von ihrer Idee, dass sie unvorsichtig wurde. »Wo du dein eigener Herr bist und dir von deinem Vater nicht dreinreden lassen musst.« Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ihr ihr fataler Fehler bewusst wurde.

Dannys Miene war schlagartig eisig und abweisend geworden.

»Tut mir leid, da hast du offenbar etwas falsch verstanden«, erklärte er und erhob sich vom Stuhl, um Victoria zur Tür zu begleiten. »Es ist mir ein Geschenk und eine große Ehre, mit meinem Vater zusammenzuarbeiten. Ich kann viel von ihm lernen und werde diese Chance so intensiv und lange nutzen, wie es nur möglich ist.« Danny Nordens Blick war so entschlossen, dass Victoria nicht anders konnte, als ebenfalls aufzustehen. Die Ketten um ihren Hals klirrten und klapperten leise, als sie neben ihm zur Tür ging.

Sie wusste, dass sie eine große Chance allzu leichtfertig vertan hatte. Das kurze Aufleuchten, das sie in Dannys Augen zu sehen geglaubt hatte, war der beste Beweis dafür, dass sie auf dem richtigen Weg gewesen war.

»Es tut mir leid. Das war dumm und unsensibel von mir«, entschuldigte sie sich zerknirscht, als sie ihm zum Abschied die Hand reichte. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

Ihr Augenaufschlag war herzzerreißend und fast hatte Danny ein schlechtes Gewissen.

»Schon gut«, winkte er großmütig ab und lächelte Victoria tröstend zu. »Dein Angebot ist wirklich großzügig und ehrt mich sehr. Du konntest ja nicht wissen, dass die Dinge bei uns etwas anders liegen als in anderen Familien.«

»Nein, das konnte ich wirklich nicht«, seufzte Victoria geknickt.

Angesichts dieser großzügigen Reaktion verliebte sie sich gleich noch ein bisschen mehr in Danny.

Und als sie an Wendy vorbei Richtung Ausgang schritt, fasste sie einen neuen Entschluss.

»Irgendwie werde ich dein Herz schon noch erobern, Danny Norden«, murmelte sie, als sie durch die Tür der Praxis hinaus ins gleißende Sonnenlicht trat. »Mein Name ist nicht umsonst Victoria. Und ich werde auch diesmal siegen. Egal, wie lange es noch dauern mag!« Dieser Entschluss vertrieb ihre Selbstzweifel und mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, das die Aufmerksamkeit der Passanten erregte, ging sie stolzen Schrittes und hoch erhobenen Hauptes auf ihren schnittigen Sportwagen zu.

*

Nachdem Dr. Daniel Norden den nächsten Patienten verabschiedet hatte, bot sich endlich die Gelegenheit, sein Versprechen einzulösen und Melina Keinaths Nummer zu wählen.

Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine hektische Stimme.

»Ja, bitte?«

»Hier ist Dr. Daniel Norden«, nannte Daniel seinen Namen. Wie schon beim ersten Gespräch an diesem Tag hatte er sofort wieder den Eindruck, dass diese Frau ein reines Nervenbündel war. »Spreche ich mit Melina Keinath?«

Er konnte hören, wie sie die Luft anhielt.

»Das ist richtig. Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Nummer?«

»Wir haben heute schon einmal telefoniert«, erinnerte Daniel sie an das kurze Gespräch, das er aus der Klinik mit ihr geführt hatte. Schlagartig ärgerte er sich über diese gedankenlose Frau, die ihr Glück derart mit Füßen trat. »Ich habe Ihnen den Sachverhalt doch heute Morgen schon erklärt. Ihr Mann ist mit Lähmungserscheinungen vor der Klinik zusammengebrochen.«

»Sie haben etwas von einem Bandscheibenvorfall erzählt«, schien sich Melina nun doch an das Telefonat zu erinnern. »Aber ich bitte Sie, das ist doch kein Grund, so ein Theater zu veranstalten.«

Daniel konnte nur den Kopf schütteln. Kein Wunder, dass es in dieser Ehe Probleme gab. Sebastian Keinath war nicht zu beneiden. Selbst wenn er mit seiner viel zu gutmütigen, zurückhaltenden Art, seiner übergroßen Bewunderung und ergebenen Liebe zu seiner Frau durchaus seinen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet hatte. Das stand für Dr. Norden zweifelsfrei fest. Er besaß Erfahrung genug um zu wissen, dass immer zwei zu solchen Problemen gehörten.

»Ihr Mann hatte gravierende neurologische Beschwerden, die eine Notoperation erforderlich gemacht haben«, erinnerte er scharf an den wahren Sachverhalt.

Melina unterdrückte ein ungeduldiges Seufzen und entschied sich dazu, einzulenken. Auf diese Weise würde sie das Telefonat schneller beenden und an ihre Arbeit zurückkehren können.

»Hat er die Operation gut überstanden?«, fragte sie pflichtschuldig.

Blitzschnell traf Daniel eine Entscheidung.

»Das schon. Aber noch ist nicht klar, ob sich die neurologischen Ausfälle beheben ließen oder ob er Schäden zurückbehält.« Im Normalfall ging er mit diesen Informationen behutsamer und zurückhaltender um. Angesichts Melinas Unbeschwertheit schien ihm diese schonungslose Offenheit aber durchaus angebracht.

In der Tat schienen seine Worte ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Am anderen Ende des Apparates war Stille eingekehrt.

»Was bedeutet das?«, fragte Melina schließlich tonlos und schien plötzlich alle Zeit der Welt zu haben. »Was hat mein Mann zu befürchten?«

»Meinen Sie Herrn Keinath?«, fragte Dr. Norden aufreizend.

»Was soll das?«, fragte Melina irritiert zurück. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Ich bin weit davon entfernt«, gab Daniel wahrheitsgetreu zurück. »Ich frage mich nur, ob Ihnen klar ist, dass Ihre Ehe im Augenblick nur noch auf dem Papier besteht.«

Melina lachte kühl.

»Ach, so ist das also«, stellte sie dann fest. »Bastian hat sich also bei Ihnen über mich beschwert.«

»Nein, das hat er nicht«, widersprach Daniel energisch. Unfassbar, wie verbohrt diese Frau war. »Zu diesem Schluss bin ich gerade selbst gekommen. So, wie Sie von Ihrem Mann denken und über ihn sprechen, kann ich mir nichts anderes vorstellen. Und ich kann Sie nur inständig bitten: Wenn Sie Ihre Ehe retten wollen, dann sollten Sie zurückkommen, Frau Keinath. Ihr Mann braucht Sie jetzt!«, sprach er eindringlich auf sie ein.

Langsam aber sicher bekam Melina es mit der Angst zu tun.

»Warum wollen Sie mir nicht sagen, wie es ihm geht?« Ihre Stimme hatte jegliche Souveränität verloren und bestand nur noch aus Angst. »Was verschweigen Sie mir, Dr. Norden?«

Doch Daniel ließ Sebastians Frau im Ungewissen. Er belog sie nicht, sagte aber auch nicht die ganze Wahrheit. Damit schürte er ihre Unsicherheit. Das war die einzige Chance, ihr klarzumachen, was sie gerade im Begriff war zu zerstören.

Mit einer weiteren Vielzahl vager Andeutungen, die sie so oder anders verstehen konnte, heizte er ihr schlechtes Gewissen so weit an, bis sich Melina endlich zu einer Entscheidung durchrang.

»Ich spreche sofort mit meinem Geschäftspartner und nehme den nächsten Flug nach Hause«, versprach sie heiser.

Damit gab sich Dr. Daniel Norden zufrieden und beendete das Telefonat mit einigen versöhnlichen Worten. Er hatte zwar noch nicht viel erreicht, aber zumindest war ein Anfang gemacht.

*

Wie geblendet saß Wendy an einem schön gedeckten Zweiertisch des sündhaft teuren Restaurants, in das Edgar von Platen sie eingeladen hatte. Leise Musik spielte im Hintergrund, das Licht war gedimmt und die Kerze zwischen ihnen zauberte einen geheimnisvollen Schimmer auf die Rosen in der Vase und in ihre geröteten Gesichter.

»Hat es Ihnen gemundet, Anna-Maria?«, fragte Edgar von Platen feierlich, als Wendy ihr Besteck zur Seite legte.

Er hatte keine Kosten gescheut und die exklusivsten Gerichte bestellt, die er auf der Karte finden konnte. Zu jedem einzelnen Gang hatte er eine Anekdote von seinen weiten Reisen zu erzählen gewusst, und Wendy hatte mit offenem Mund und stumm vor Ehrfurcht gelauscht.

»Es war einfach wunderbar«, antwortete sie auf seine Frage, obwohl sie im Nachhinein nicht mehr wusste, was sie überhaupt gegessen hatte, so fasziniert hatte sie dem munteren Plauderton ihres Begleiters gelauscht. »Das Beste, was ich je gegessen habe.« Sie fühlte sich wie eine Prinzessin in einem Märchen und wünschte sich, dass dieser Traum nie mehr aufhörte. Die ganze Nacht, ach was, den Rest ihres Lebens hätte sie an diesem Tisch sitzen und Edgars sonorer, aufregender Stimme lauschen können.

Edgar lachte belustigt auf und streckte die Hand nach der ihren aus. Es war eine kleine Hand mit kurzen wulstigen Fingern, die nicht recht zu seinem übrigen, elitären Äußeren passen wollte. Doch dafür konnte er ja schließlich nichts.

»Habe ich Ihnen schon gesagt, wie wundervoll Sie sind, Anna-Maria?«, fragte er, und sie kicherte wie ein Teenager.

»Schon mehrfach. Dabei tue ich doch gar nichts Besonderes.«

»Das ist es ja gerade«, geriet Edgar unversehens ins Schwärmen. »Sie sind so natürlich. So schlicht, aber ergreifend.« Einen Augenblick lang lauschte er dem Nachhall seiner Worte. Dann nickte er zufrieden. »Ein gelungenes Wortspiel, finden Sie nicht?«

Nicht zum ersten Mal an diesem Abend lobte er sich selbst, was Wendy auch zuvor schon unangenehm aufgefallen war. Doch sie hatte Lebenserfahrung genug, um zu wissen, dass es keine perfekten Menschen gab. Wenn das Edgars einziger Fehler sein sollte, so wollte sie ihm den gerne gönnen. Schließlich waren solche Eigenheiten das Salz in der Suppe.

»Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß wie mit Ihnen«, gestand sie errötend.

Das entsprach durchaus der Wahrheit und die Tatsache, dass er ihr von seinem geschäftlichen Misserfolg erzählt hatte, den ihm ein Münchner Geschäftsfreund eingebrockt und durch den er viele tausend Euro verloren hatte, ließ ihr Herz weit werden vor Bewunderung. Was für ein Mann, der auch zu seinen Misserfolgen stehen konnte!

Während Wendy darüber nachdachte, verblasste das Lächeln auf Edgars Gesicht, und er beugte sich vor, einen bedeutungsvollen Ausdruck in den Augen. Ihr blieb fast das Herz stehen vor Aufregung.

»Wenn es nach mir ginge, wäre das hier erst der Anfang, meine liebe Anna-Maria«, raunte er ihr über den Tisch in einem Tonfall zu, der ihr Herz beben ließ. »Noch nie habe ich mich in Gesellschaft einer Frau so wohlgefühlt wie mit Ihnen.« Er seufzte glücklich. »Ist das nicht ein einzigartiges Glück, dass wir dasselbe empfinden?«

»Oh ja. Das ist großartig.« Wendy war hingerissen und schwebte im siebten Himmel, als der Ober kam und die Rechnung präsentierte, die Edgar nach Nachtisch und Digestif bestellt hatte.

Sie warf einen scheuen Blick auf das schwarze edle Ledermäppchen und wollte sich nicht vorstellen, welch horrende Rechnung sich darin verbarg. Bewundernd sah sie zu, wie Edgar es souverän zu sich zog und aufschlug.

»Dieses Festmahl ist jeden Cent wert!«, murmelte er und griff in die Innentasche seines Sakkos, um sein Portemonnaie herauszuholen.

»Ist es sehr teuer?«, erkundigte sich Wendy schüchtern, die Fingerspitzen auf der Unterlippe wie ein kleines Mädchen.

»Für Sie ist das Kostbarste gerade gut genug.« Er lächelte sie über den Rand seiner Brille souverän an. Nebenbei öffnete er die Börse und wollte die Kreditkarte herausziehen. Doch seine Finger griffen ins Leere. »Nanu?« Irritiert sah er genauer hin.

»Stimmt was nicht?« Fixiert, wie sie auf ihn war, hatte Wendy sofort gemerkt, dass etwas passiert war.

»Meine Kreditkarte ist weg.« Edgar hatte sich kerzengerade aufgesetzt. Er hielte das Portemonnaie unter die gedimmte Lampe und begann, darin zu wühlen. »Und nicht nur die goldene Eurocard. Auch die Visa und die Barclays Card sind weg. Ganz zu schweigen von meiner Bankkarte«, murmelte er, das blanke Entsetzen im Gesicht. Wieder und wieder durchsuchte er die Börse, dass ihm schon die anderen Gäste neugierige Blicke zuwarfen. Es war ihnen förmlich anzusehen, dass sie einen Skandal witterten und sich heimlich schon die Hände rieben. »Sie müssen mir in der Klinik gestohlen worden sein«, gab Edgar seine Suche schließlich auf und sah Wendy resigniert an.

»Ausgeschlossen!«, entfuhr es ihr, und sie schüttelte energisch den Kopf. »Nicht in der Behnisch-Klinik. Da gibt es so etwas nicht.«

Schlagartig schoben sich Edgars graue Augenbrauen zusammen wie zwei drohende Gewitterwolken.

»Wollen Sie mir etwa Lügen unterstellen, Anna-Maria?«, zischte er ihr so wütend zu, dass sie erschrocken zusammenzuckte.

»Nein, nein, natürlich nicht!«, beeilte sie zu versichern. »Aber es könnte doch sein, dass Ihnen die Karten woanders abhandengekommen sind.«

Zu ihrer Erleichterung entspannte sich Edgar von Platens Miene wieder. Nun wirkte er nur noch verzweifelt und ratlos.

»Ich kann Ihnen beweisen, dass ich sie vor meinem Klinikaufenthalt noch hatte. Im Hotel liegt eine Abrechnung. Ich zeige sie Ihnen.«

»Aber nein, das ist doch nicht nötig. Ich glaube Ihnen auch so«, versicherte Wendy schnell.

Doch Edgar schien sie gar nicht zu hören. Offenbar waren seine Gedanken schon weitergewandert.

»So eine Schande. Was mache ich denn jetzt? So viel Geld habe ich nicht dabei, dass ich die Rechnung bar begleichen könnte.«

Wendy, der die unverhohlen neugierigen Blicke von den anderen Tischen langsam aber sicher peinlich wurden, überlegte nicht lange.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bezahle mit meiner Kreditkarte.« Sie griff nach ihrer Handtasche, die über der Stuhllehne hing.

Von dieser Idee schien Edgar noch weniger angetan zu sein.

»Wie sieht denn das aus? Ich lade Sie großspurig ins beste Restaurant der Stadt ein und kann dann noch nicht einmal die Rechnung begleichen«, murmelte er zutiefst betroffen und sah sie so verzweifelt an, dass sie fast lachen musste.

»Glücklicherweise leben wir in modernen Zeiten, in denen auch eine Frau Rechnungen bezahlen darf.« Sie öffnete den geblümten Geldbeutel, ein Geschenk ihrer Tochter Sabine, und zog das Plastikkärtchen heraus.

»Das kann ich niemals wiedergutmachen.« Mit großen Augen sah Edgar ihr dabei zu, wie sie das Ledermäppchen zu sich zog und die Kreditkarte zu der Rechnung schob.

Als sie einen Blick auf die Summe erhaschte, entglitten ihr kurz die Gesichtszüge.

»Sie bekommen das Geld auf Heller und Cent zurück. Das verspreche ich Ihnen hoch und heilig!« Als der Ober den Tisch mitsamt Wendys Kreditkarte verlassen hatte, streckte Edgar von Platen die Hände aus und legte sie auf die seiner verwirrten Begleiterin. »Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen an Ort und Stelle einen Schuldschein.«

Kaum hatte sich eine Lösung seines Problems abgezeichnet, hatte sich seine Miene wieder geglättet, und er wirkte wieder genauso souverän und entspannt wie zuvor. Sein Vorschlag entlockte Wendy ein verkrampftes Lächeln.

»Ich glaube Ihnen auch so«, versicherte sie.

Das Lächeln, das um Edgar von Platens Mundwinkel spielte, war zärtlich.

»Ich ahnte auf den ersten Blick, dass Sie großartig sind, Anna-Maria! Aber dass sich eine solche Traumfrau in dieser Arztpraxis versteckt, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Warum sind Sie nicht längst wieder verheiratet?«, fragte er. Ohne ihren Blick loszulassen, zog er ihre Finger an seine Lippen.

»Ich weiß nicht«, stammelte Wendy. Langsam aber sicher gelangte sie an ihre Grenzen. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

Plötzlich hatte der Abend seinen Zauber verloren. Mit einem Mal entdeckte sie die feinen Spinnweben in der Lampe. Die äußeren Blätter der Rosen auf dem Tisch waren welk, der silberne Kerzenleuchter angelaufen. Und sogar Edgar von Platens Lächeln wirkte aufgesetzt und gar nicht mehr so charmant und strahlend wie noch Minuten zuvor.

Er bemerkte nichts von ihrem Stimmungsumschwung.

»Ein Glück. Sonst hätten wir niemals diesen wundervollen Abend miteinander verbracht«, säuselte seine Stimme an ihr Ohr. »Und die vielen anderen herrlichen Dinge, die noch auf uns warten.«

Zu Wendys Erleichterung kam der Ober und brachte ihre Karte zurück. Er überreichte sie ihr mit einer kleinen Verbeugung und wünschte einen schönen Abend.

»Was machen wir zwei Hübschen denn jetzt noch?«, fragte Edgar unternehmungslustig.

Doch für diesen Abend hatte seine Begleiterin genug.

»Bitte bringen Sie mich nach Hause. Ich bin müde und möchte schlafen.« Noch bevor Edgar diese Aussage falsch deuten und sich unberechtigte Hoffnungen machen konnte, fügte sie hinzu: »Allein!«

Im Gegensatz zu allen anderen war dieser Tag eindeutig zu ereignisreich gewesen, und sie sehnte sich nach ihrer kleinen Wohnung, nach Ruhe und Einsamkeit, um ihre durcheinandergeratenen Gedanken zu sortieren.

Ihr entschiedener Tonfall ließ auch Edgar von Platen vosichtig werden. Auf keinen Fall sollten seine Bemühungen um Annemarie Wendel vergeblich sein. Deshalb ließ er Zurückhaltung walten und kam ihrem Wunsch entgegen. Ganz Gentleman verabschiedete er sich vor ihrer Wohnung mit einem artigen Handkuss von Wendy und wartete, bis sie im Hausflur verschwunden war.

*

Mit ihren braunen langen Haaren, den ungewöhnlichen, leicht mongolischen Gesichtszügen und der schlanken hochgewachsenen Gestalt war Melina Keinath eine wirklich aparte Erscheinung. Dass sie kaum geschminkt war und ein sehr natürliches Lächeln besaß, machte sie nur noch sympathischer.

Damit hatte Dr. Daniel Norden nicht gerechnet und einen Moment lang verschlug es ihm die Sprache, als sie sich auf den Stuhl setzte, der seinem Schreibtisch gegenüberstand.

»Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte«, erklärte sie scheu lächelnd. »Vorher war ich in der Klinik. Bastian hatte eine unruhige Nacht und er schläft jetzt. Deshalb dachte ich, ich nutze die Zeit und komme zu Ihnen. Schön, dass Sie gleich Zeit für mich haben.«

Daniel antwortete nicht sofort. Er begriff nicht, dass diese offenbar sehr vernünftige Frau nicht einsah, dass sie im Begriff war, ihre Ehe zu zerstören. Und nicht nur das. In ihrem aparten aber angespannten Gesicht tauchten unübersehbar erste Spuren der harten Arbeit, der vielen Reisen, der Rastlosigkeit auf.

»Sie tun sich nichts Gutes, wenn Sie so viel arbeiten, Frau Keinath«, sagte er eindringlich.

»Mir ist klar, dass dieses Tempo auf Dauer nicht gesund sein kann«, räumte Melina sachlich ein. »Aber ich plane ja auch nicht, den Rest meines Lebens auf der Überholspur zu verbringen.«

»Was planen Sie dann?«

Sie sah den Arzt lange und sehr nachdenklich an.

»Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Sie mich wenigstens ein bisschen verstehen. Schließlich haben Sie mit Sicherheit auch viel gearbeitet, um dorthin zu kommen, wo Sie heute stehen.«

»Das stimmt«, räumte Daniel ein. »Aber ich bin dabei nicht über Leichen gegangen. Meine Frau, meine Familie standen für mich immer an erster Stelle.«

Melina schluckte. Mit so harten Worten hatte sie nicht gerechnet.

»Nur weil ich jetzt ein paar stressige Monate habe, heißt das noch lange nicht, dass ich meine Interessen ohne Rücksicht auf Verluste verfolge«, erklärte sie trotzig.

Sie knibbelte an einem abgebrochenen Fingernagel, ein deutliches Zeichen ihrer Nervosität.

»Wenn ich Ihrem Mann so zuhöre, klingt das aber durchaus so.«

»Wirklich?« Ein schnippisches Lächeln spielte um Melinas Mundwinkel. »Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass es ausgerechnet mein Mann war, der mir zu diesem Projekt geraten hat? Dass Bastian mir Mut machte, auf Huberts Vorschlag einzugehen?«, fragte sie fast triumphierend.

»Dann würde ich sagen, dass Ihr Mann die Sachlage falsch eingeschätzt hat. Wie Sie meiner Meinung nach übrigens auch.« Der strenge Ausdruck in Daniels Gesicht wurde etwas milder. »Sie wirken sehr erschöpft.«

Sein Mitgefühl war entwaffnend.

»Das bin ich auch«, gestand Melina nach kurzem Zögern kleinlaut.

»Warum schalten Sie dann nicht ein paar Gänge runter? Was treibt Sie an? Geht es ums Geld?«

Energisch schüttelte Melina den Kopf.

»Nein, das ist es nicht. Bastian und ich sind finanziell gut aufgestellt. Es geht mir um die berufliche Anerkennung. Ich habe niemals damit gerechnet, mit meiner Arbeit bekannt zu werden. Und dann ist es einfach passiert. Quasi über Nacht wurden meine Möbel berühmt und mit der Fotoserie ich dazu. Das war ein tolles Gefühl.« Während sie ihre Geschichte erzählte, hatten Melinas Augen zu glänzen begonnen. Doch das Strahlen verschwand fast sofort wieder. »Es war so lange toll, bis ich bemerkte, dass es zwar schwierig war, dorthin zu kommen, wo ich war. Aber dass es noch ungleich härter ist, auch dort zu bleiben. Unsere Zeiten sind so schnelllebig geworden. Tag für Tag prasseln so viele verschiedene Eindrücke auf die Menschen ein. Fernsehen, Internet, Zeitungen …, um wenigstens eine kleine Spur in den Köpfen der Leute zu hinterlassen, muss man einen immensen Aufwand betreiben, sich ständig was Neues einfallen lassen.«

Aufmerksam hatte Daniel Norden den Ausführungen der Möbelrestauratorin gelauscht. Melina hatte in allem Recht, was sie sagte. Trotzdem war er nicht einverstanden mit ihr.

»Haben Sie sich in letzter Zeit mal gefragt, ob das überhaupt Ihre Welt ist?«, hinterfragte er ihre Worte kritisch. »Haben Sie nicht mit Ihrer Berufswahl schon eindeutig Stellung bezogen, dass Sie eben nicht im immer schneller treibenden Strom mitschwimmen wollen? Dass Ihnen die alten Werte wichtiger sind als alles, was schnell und lieblos produziert wird?«

Die Worte des Arztes verwirrten Melina.

»Ja, schon!« Sie strich sich eine dunkle Strähne aus der Stirn und sah ihn verwundert an. »Eigentlich haben Sie recht.«

Dr. Norden fühlte, dass er auf dem richtigen Weg war.

»Ich möchte ja nicht sagen, dass die Werbekampagnen schlecht waren. Aber wenn Sie qualitativ hochwertige Arbeit abliefern, die nicht nur ein paar Wochen überdauert, wird man sich auch ohne diesen weiteren Wahnsinn an Sie erinnern. Ohne Fotoreihen, die jede Woche in anderen Zeitschriften erscheinen«, erklärte er eindringlich. »Sie müssen an Ihre Gesundheit denken, Frau Keinath. Was glauben Sie, wie lange Sie diesen Stress noch aushalten werden? Wenn Sie so weitermachen, werden Sie in nicht allzu ferner Zukunft zusammenbrechen. Und wenn es ganz schlimm kommt, können Sie Ihren Beruf überhaupt nicht mehr ausüben. Dann wird ein anderer Künstler kommen und den Platz an der Sonne einnehmen. Ist Ihnen das lieber, als sich auf Ihre wahren Werte und Überzeugungen zu konzentrieren?«

Ganz in sich versunken betrachtete Melina Keinath ihre Hände. Noch trugen sie Spuren der Arbeit mit Holz, Werkzeug und Farben. Aber sie waren verblasst und würden schon bald nicht mehr zu sehen sein. Wie die Werte, die Melina Keinath einmal ausgemacht hatten.

»Haben Sie Ihren Mann aus Liebe geheiratet?«, fragte Daniel Norden nach einer Weile.

Melina nickte.

»Ja«, sagte sie leise.

»Was ist aus dieser Liebe geworden? Auch sie war doch einmal ein Wert in Ihrem Leben.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte unverwandt auf ihre Hände. Als Dr. Norden schon dachte, keine Antwort mehr zu bekommen, hob sie endlich den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Die strenge Anspannung war daraus verschwunden und hatte einer riesigen Erschöpfung und Trauer Platz gemacht.

»Unsere Liebe hat sich verändert. Wie so vieles im Leben. Aber sie ist immer noch da.« Sie seufzte tief und gab sich plötzlich einen Ruck. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Ich habe schon zu viel Zeit verloren.« Melina war aufgestanden.

In ihrem Lächeln stand deutlich die Dankbarkeit geschrieben, die sie für den Arzt empfand, der ihr so nachdrücklich ins Gewissen geredet hatte. Doch über ihre Lippen kam kein weiteres Worte. Noch nicht. Zuerst musste sie mit ihrem Mann sprechen.

*

Der Abend war herrlich und nach getaner Arbeit beschloss Danny spontan, seine Freundin Tatjana zu einem Spaziergang im Englischen Garten einzuladen.

»Das ist ja eine nette Idee!«, lobte sie ihn, als er vor der Universität, wo sie Orientalistik studierte, auf sie wartete. »Ich kenne da ein nettes, kleines Bistro am Eingang zum Englischen Garten. Dort gibt es ganz besondere italienische Brote, die mit lauter leckeren Sachen belegt sind. Getrocknete Tomaten, Thunfischaufstrich, Mozzarella und Rucola«, geriet sie unversehens ins Schwärmen. »Und dann erst die Kuchen und Torten. Die musst du sehen! Wagenradgroße Heidelbeer- und Mohnkuchen. Das ist fantastisch.« Seit Tatjana während einer Operation Netzhautchips eingesetzt worden waren, konnte sie die Köstlichkeiten zwar nicht klar und deutlich sehen, ihr Aussehen aber doch erahnen, was natürlich besonders verführerisch war. »Mal abgesehen von der witzigen Einrichtung, die kunterbunt durcheinandergemixt ist. Indische Sessel stehen neben Nierentischen, altmodische Kronleuchter scheinen mit ultramodernen Stehlampen um die Wette.«

Mit einem Herzen voller Zärtlichkeit lauschte Danny den lebhaften Worten seiner Freundin. Ihre Begeisterung über die zurückgewonnenen Fähigkeiten machten ihm fast genauso viele Freude wie ihr.

»Die Einrichtung ist doch nur ein Vorwand«, neckte er sie schelmisch. »Aber ich kenne dich inzwischen und weiß, dass du immer nur ans Essen denkst.« Dabei stupste er sie in die schlanke, durchtrainierte Körpermitte.

»Aus dir spricht nur der Neid«, konterte sie frech. »Im Gegensatz zu dir kann ich es mir nämlich auch leisten.«

Sie quietschte erschrocken auf, als er sie packte und übermütig kitzelte, bevor er sie an sich zog und leidenschaftlich küsste. An seinen Lippen lächelnd erwiderte Tatjana seinen Kuss, ehe sie Hand in Hand weiterschlenderten.

Die Verliebtheit umgab sie wie eine strahlende Aura, die auch den anderen Fußgängern nicht verborgen blieb. Fast jeder drehte sich nach dem glücklichen Paar um und wünschte sich, Teil dieses geheimen Pakts zu sein.

»Möchtest du dir den Bauch gleich vollschlagen oder erst spazieren gehen?«, fragte Danny, als sie an Tatjanas Lieblingscafé vorbeikamen.

»Lass uns das schöne Wetter ausnutzen«, siegte nach kurzer Überlegung ihre Liebe zur Bewegung und Natur, und übermütig lachend zog sie Danny weiter.

»Wie ist es dir heute ergangen?«, fragte sie, als sie Hand in Hand an der Isar entlangschlenderten, die sich wie eine große Ader durch den Parkt zog.

»Gut. Die Arbeit mit meinem Vater ist hochinteressant. Unsere Gespräche haben eine völlig neue Qualität bekommen.«

»Seid ihr immer einer Meinung?«

»Natürlich nicht. Schließlich komme ich frisch vom Studium und habe viele Dinge anders gelernt. Das ist für Dad genauso neu wie manche seiner Therapieansätze für mich. Nicht alles, was neu ist, ist gut.«

»Und nicht alles Alte muss auf Teufel komm raus bewahrt werden«, lächelte Tatjana. »Es freut mich wirklich, dass es so gut läuft für euch.«

Der Fluss neben ihnen murmelte leise. Ein paar Enten ließen sich in der Strömung treiben und schaukelten auf den Wellen. Kinder spielten am Ufer und warfen Steine ins Wasser, die gurgelnd und Kreise ziehend in der graublauen Tiefe versanken.

»An sich kann ich mich wirklich nicht beschweren«, erwiderte Danny, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergewandert waren.

Sein nachdenklicher Tonfall ließ Tatjana hellhörig werden.

»Aber?«

Danny seufzte leise. Er hatte darüber nachgedacht, ob er seiner Freundin von Victoria Bernhardt erzählen sollte und sich schließlich dafür entschieden. Da sie offenbar von Tatjana wusste, war es besser, sie einzuweihen und auf mögliche Attacken aus dieser Richtung vorzubereiten. So erzählte er seiner Freundin vom Besuch der schönen Jungunternehmerin.

»Oh, da scheint ja jemand schwer verliebt zu sein«, konstatierte Tatjana sachlich.

»Das hat mit Liebe nichts zu tun«, widersprach Danny. »Ich glaube, Victoria hat sich in eine fixe Idee verrannt und benimmt sich überdies wie ein verwöhntes Kind, das es gewohnt ist, alles zu bekommen, was es sich einbildet.«

»Und es sich nötigenfalls kauft«, gab Tatjana zu bedenken und bückte sich nach einem Ball, der ihr vor die Füße gerollt war.

Sie lächelte das Kind, das gekommen war, um ihn wieder zu holen, freundlich an.

Danny beobachtete Tatjana dabei. Trotz ihrer Behinderung strahlte ihr Gesicht eine solche Liebenswürdigkeit aus, dass sein Herz warm wurde vor Zärtlichkeit. Was für eine starke Persönlichkeit sie doch ist!, dachte er bei sich und er schätzte sich glücklich, dass sie ihn ausgewählt hatte, um sie ein Stück auf ihrem Lebensweg zu begleiten. Doch was sie dann zu ihm sagte, erschreckte ihn.

»Sie glaubt, dich zu lieben und wird alles dransetzen, dich zu bekommen. Und sag bloß nicht, dass dir das nicht klar ist!« Tatjana sah ihren Freund herausfordernd an. »Wenn es nicht ernst wäre, hättest du mir nicht davon erzählt.«

Sie hatte in allem Recht, was sie sagte. Danny blieb stehen und zog Tatjana an sich. Er sah ihr in die ungewöhnlichen, dunkelblauen Augen, tief wie zwei Seen.

»Dummerweise hat sie das Pech, dass ich dich liebe«, raunte er ihr zu und beugte sich vor, um sie zu küssen.

Zu seinem Erstaunen wich sie seinem Kuss aus.

»Nichtsdestotrotz ist ihr Angebot sehr großzügig. Offenbar hat sie dich wirklich in ihr Herz geschlossen.« Misstrauisch suchten Tatjanas fast blinde Augen in seinem Gesicht nach der Wahrheit, während ihre Gedanken weiterwanderten. »Wenn du ganz ehrlich bist zu dir selbst …, findest du dieses Angebot nicht doch ein klein wenig reizvoll? Eine eigene Praxis …, mal abgesehen davon, dass Victoria offenbar eine schöne, erfolgreiche Frau ist, mit der sich ein Mann sehen lassen kann.«

Empört schüttelte Danny den Kopf.

»Denkst du wirklich, ich bin käuflich?«, fragte er scharf.

»Sei ehrlich!« Eine von Tatjanas herausragenden Eigenschaften war ihre Beharrlichkeit.

Die stellte sie an diesem Tag wieder einmal unter Beweis.

Seufzend fügte sich Danny diesem Gespräch.

»Natürlich gefällt mir der Gedanke, eines Tages eine eigene Praxis zu haben«, räumte er ein, während sie weiter über den gekiesten Weg schlenderten. »Aber ich wäre nicht halb so stolz darauf, als wenn ich sie mir selbst erarbeitet, mir meine Sporen selbst verdient hätte. Nein, der Preis ist mir zu hoch. Ich bin nicht käuflich!«

Unversehens hatte sich die Runde wieder geschlossen und sie standen wieder vor dem kleinen Café, an dem sie ihren Spaziergang begonnen hatten.

»Bist du sicher?«, fragte Tatjana. Sie hatte sich entschieden, das ernste Gespräch zu beenden und schickte einen vielsagenden Blick durch das Schaufenster zur selbst um diese Uhrzeit noch üppig bestückten Kuchentheke. »Ich könnte mir vorstellen, dass ich deine Liebe mit einem, vielleicht zwei Stück Kuchen kaufen könnte.«

»Das ist durchaus möglich«, ging Danny auf ihren kecken Tonfall ein, erleichtert darüber, wie sie mit ihrer Nebenbuhlerin umging. »Aber das liegt in erster Linie an deiner Person. Andere könnten mir eine eigene Klinik anbieten, und ich würde noch nicht mal einen Gedanken daran verschwenden, mich kaufen zu lassen.«

Auch wenn die Sorge wie ein kleines Flämmchen in Tatjanas Herzen loderte, lachte sie und schmiegte sich an ihren Freund. Diesmal wich sie seinem Kuss nicht aus, sondern erwiderte ihn mit all der Leidenschaft, die sie für ihn fühlte.

*

Blass und sichtlich mitgenommen von der Operation lag Sebastian Keinath in seinem Bett und starrte aus dem Fenster.

Neben ihrem Lebensgefährten Roman Kürschner und ihrer Klinik galt Jenny Behnischs Leidenschaft dem Garten der Klinik, den Landschaftsgärtner mit viel Liebe und Enthusiasmus nach ihren Ideen gestaltet hatten.

Dekorative Gräser betonten den Charme der in allen Farben üppig blühenden Rosen. Staudenbeete wechselten sich mit Steingärten und einer Teichlandschaft ab, die in der Stadt ihresgleichen suchte. All das und noch viel mehr konnte Sebastian durch das Klinikfenster im ersten Stock sehen. Trotzdem stimmte ihn dieser heitere Anblick nicht froh. Als es an die Tür klopfte, fuhr sein Kopf herum in der irrigen Hoffnung, seine Frau könnte gekommen sein. Doch es war nur Schwester Iris, die nach ihm sah. Aber selbst für diesen Besuch war Sebastian im Augenblick dankbar.

»Iris, schön, dich zu sehen«, begrüßte er die Kollegin, die bereits seit ein paar Jahren ihren Dienst in der Behnisch-Klinik tat und mit der er sich immer gut verstanden hatte.

»Du machst Sachen, Basti.« Kopfschüttelnd trat sie an sein Bett und überprüfte den Inhalt der Glasflasche, die in einem Gestell über seinem Kopf schwebte. »Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht.« Sie pflegten ein freundschaftliches Verhältnis und flirteten hin und wieder scherzhaft miteinander, sich wohlbewusst, dass sie kein ernsthaftes Interesse aneinander hatten.

»Wirklich?« Sebastian lächelte. »Dann hat sich diese Aktion auf jeden Fall gelohnt.«

»Willst du damit sagen, dass du dir den Bandscheibenvorfall nur für mich geholt hast?« Lachend schüttelte Iris den Kopf.

»Stell dir vor, ich habe mir immer gewünscht, mal von dir gepflegt zu werden. Die Patienten schwärmen immer von deiner Herzenswärme, von deiner überwältigenden Fürsorge. Die wollte ich unbedingt am eigenen Leib zu spüren bekommen.«

»Na, dieses Ziel hast du ja jetzt erreicht«, erwiderte Iris und strich ihm tröstend über die Wange. »Kann ich sonst noch was für dich tun?«

»Wie wär’s morgen mit einem Sektfrühstück?«, spielte Sebastian das Spiel weiter.

Iris lachte.

»Ich denke darüber nach«, versprach sie und verabschiedete sich fürs Erste von ihrem Kollegen.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als die Einsamkeit wieder wie ein gieriges Raubtier über Sebastian herfiel. Er war so versunken in seinen Schmerz, dass er nicht bemerkte, wie sich die Tür erneut öffnete. Erst als er Schritte hörte, wandte er den Kopf.

»Melina?« Sebastian traute seinen Augen nicht. War es möglich, dass ihm sein Bewusstsein einen Streich spielte? »Du? Hier?«

»Ich habe heute Morgen den ersten Flug genommen, den ich bekommen konnte.« Melinas Stimme war warm, ihre Augen voller Sorge auf ihren Mann gerichtet. »Wie geht es dir?« Ohne lange darüber nachzudenken, was sie tat, streckte sie die Hand aus und streichelte über seine unrasierte Wange.

»Solange du mich nicht bittest, einen Wasserkasten in die Wohnung zu tragen oder das Altpapier zum Container zu bringen ganz gut«, scherzte er. »Tragen darf ich in nächster Zeit nämlich nichts.«

Melina starrte ihren Mann erschrocken an.

»Oh, Bastian. Denkst du in Verbindung mit mir wirklich nur noch an Arbeitsaufträge?«

»Na ja …« Er war schon wieder drauf und dran, seine Probleme herunterzuspielen. Doch dann räusperte er sich und hielt ihrem forschenden Blick stand. »In letzter Zeit gab es sonst nicht mehr viel zwischen uns.«

Zutiefst betroffen über sein elendes Aussehen beugte sich Melina über ihren Mann und küsste ihn.

»Ab sofort wird wieder alles anders zwischen uns, das verspreche ich dir. Aber jetzt musst du erst mal wieder gesund werden«, murmelte sie dicht an seinem Ohr und liebkoste seine raue Wange mit den Lippen. »Es tut mir alles so leid. So unendlich leid.«

Vor Staunen wusste Sebastian gar nicht, was er sagen sollte. Mit allem hatte er gerechnet, nur damit nicht.

»Schon gut, mein Engel.« Er zog den Arm unter der Bettdecke hervor und streichelte versonnen ihr weiches Haar. Fast hatte er vergessen, wie gut es sich anfühlte.

»Hast du Schmerzen?«

»Nicht der Rede wert.«

»Und wie steht es mit irreversiblen Schäden?«, erinnerte sich Melina an die unterschwelligen Botschaften, die Dr. Norden ihr geschickt hatte.

»Ich hatte Glück, dass Dr. Norden zufällig zur Stelle war. Er hat sofort die richtige Diagnose gestellt. Professor Hartung hat dann den Rest erledigt. Nur eine halbe Stunde später und die neurologischen Schäden wären nicht mehr zu beheben gewesen.«

»Oh Gott!«, entfuhr es Melina. Im Nachhinein schämte sie sich bitter, den Bandscheibenvorfall auf die leichte Schulter genommen zu haben. »Das wusste ich nicht.«

»Ich glücklicherweise auch nicht«, tröstete sie Sebastian. »Normalerweise gehen solche Geschichten glimpflicher ab.«

Melina wusste, dass er das nur sagte, damit sie sich keine Vorwürfe machte.

»Erst nachdem ich ein zweites Mal mit Dr. Norden telefoniert habe, wurde mir klar, wie gefährlich die Lage für dich ist. Während des Flugs hab ich mir solche Sorgen um dich gemacht, mein Schatz.«

Sebastian las in ihren Augen, dass das die reine Wahrheit war.

»Es tut so gut, das aus deinem Munde zu hören«, gestand er leise. »In meiner Verzweiflung habe ich vorhin schon mit meiner Kollegin Iris geflirtet.«

»Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass du so was nötig hast.« Schuldbewusst senkte Melina den Kopf. »Ich wäre so gerne bei dir gewesen. Aber Hubert hat mich nicht gehen lassen.«

»Du musst deinen Vertrag erfüllen. Das verstehe ich doch«, sagte er weich und griff nach ihrer Hand. »Ich verstehe das wirklich.«

Zu seiner großen Überraschung schüttelte Melina den Kopf.

»Das musst du aber nicht verstehen. Ich verstehe es ja selbst nicht mehr. Irgendwie bin ich in diese Spirale gerutscht und nicht mehr rausgekommen. Darüber habe ich fast mich selbst und all das verraten, woran ich glaube.«

Sebastians Herz war schwer und gleichzeitig voller Hoffnung.

»Und woran glaubst du?«, fragte er heiser.

»In erster Linie glaube ich an die Liebe. Das ist neben der Gesundheit das höchste Gut. Nur durch die Liebe bekommen wir die Kraft, die wir brauchen, um das Leben da draußen meistern zu können.«

»Ich glaube, ich bin zum ersten Mal seit Langem wieder einer Meinung mit dir«, stellte Sebastian erleichtert und versöhnlich fest.

Melina saß am Bett ihres Mannes, seine Hände in den ihren. Von draußen drang fröhliches Vogel­zwitschern herein. Irgendwo lachten ein paar Leute. Trotzdem war ihr Herz schwer, hatte sie Angst vor den nächsten Worten.

»Heißt das, du gibst uns noch eine Chance?«, fragte sie mit bangem Herzen und zitternder Stimme.

Aus einem ersten Impuls heraus wollte Sebastian ihr die Sorgen sofort nehmen. Doch auch er hatte aus der Krise gelernt, wollte die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

»Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt, und ich möchte sehr gerne endlich wieder glücklich sein mit dir«, erwiderte er sehr ernst. »Aber nur unter der Bedingung, dass sich etwas ändert. So kann und will ich nicht mehr leben. Natürlich finde ich es wunderbar und bewundernswert, dass du arbeitest und Erfolg hast. Auch diese Bestätigung ist wichtig. Aber das alles darf nicht auf Kosten unserer Liebe geschehen.«

Es war neu für Melina, dass sich ihr Mann nicht bedingungslos in ihre Forderungen und Vorstellungen fügte. Und doch fühlte sie sich wohl mit dieser neuen Art, zeigte sie ihr doch, dass auch er verändert, gewachsen war. Rückgrat hatte und für sich sorgen konnte.

In der Krise waren sie beide erwachsen geworden.

»Ich auch nicht, mein Schatz. Das ist mir heute klar geworden«, erklärte Melina innig. »Und vor allen Dingen will ich dich nicht verlieren. Deshalb habe ich nachgedacht. Und ich hatte eine Idee.«

»Eine Idee?«, wiederholte Sebastian so skeptisch, dass sie laut herauslachen musste.

»Keine Angst«, beruhigte sie ihn sofort. »Als Dr. Norden mir meine Werte in Erinnerung gerufen hat, ist mir der Anruf einer Firma eingefallen, der mich gestern erreichte. Ich habe vorhin mit dem Geschäftsführer gesprochen.«

Nur mit Mühe unterdrückte Sebastian ein enttäuschtes Seufzen. Hatte Melina ihn wieder nicht verstanden?

»Und?«, fragte er zögernd. »Was ist dabei herausgekommen?«

»Es handelt sich um ein tolles Unternehmen, mit dem ich schon immer zusammenarbeiten wollte, aber als kleines Licht nie eine Chance gesehen habe. Die Firmengründer haben sich der Produktion langlebiger, aber dennoch moderner Möbelstücke verschrieben.« Als Melina von ihrem geliebten Beruf sprach, begannen ihre Augen wieder zu glänzen wie zuvor schon in Daniel Nordens Praxis. »Sie haben mir eine Kooperation vorgeschlagen. Von zu Hause aus kann ich meine Ideen entwickeln, die sie dann in einer kleinen, eigenen Serie produzieren werden. Daneben haben sie mir angeboten, die alten Stücke, die ich wieder restaurieren will, nachzubauen und zu vertreiben. Ich werde am Umsatz beteiligt.«

»Und was wird aus deiner Arbeit für diesen Hubert?«, erkundigte sich Sebastian argwöhnisch. Noch waren seine Zweifel nicht besiegt und es würde eine Weile dauern, bis sich das Ehepaar Keinath wieder bedingungslos vertrauen konnte.

»Die hatte ihren Zweck, dass diese Firma auf mich aufmerksam wird. Nicht mehr und nicht weniger«, erklärte Melina überzeugt. »Ich habe meinen Vertrag mit ihm schon gekündigt.«

Es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung ihrer Worte in Sebastians Bewusstsein sickerte.

»Heißt das, du musst nicht zurück nach Mailand, Paris oder wo auch immer du gerade herkommst?«, fragte er ungläubig.

»Genau das heißt es. Und noch viel mehr. Es heißt auch, dass wir unser Leben wiederhaben«, lächelte Melina und beugte sich über ihren Mann. Das Lächeln mischte sich mit einer Spur von Angst. »Das heißt, wenn du das noch möchtest.«

»Was ist mit dir?«, stellte Sebastian statt einer Antwort eine Gegenfrage. Die Unsicherheit auf beiden Seiten war riesig.

Melina sah ihn an. Sie wollte ertrinken in seinen Augen, in der Liebe und Zärtlichkeit, die darin geschrieben stand.

»Ich liebe dich. Und ich will dich nicht verlieren. Denn ich habe erkannt, dass ohne dich alles andere nichts wert ist. Lass uns noch einmal von vorn anfangen«, murmelte sie.

Sebastian seufzte tief. Aber es war kein schweres Seufzen mehr, voller Sorge und Angst, sondern ein frohes, und er staunte selbst, wie nah Glück und Leid beieinanderlagen.

»Ich liebe dich auch!« Und dann küsste er seine Frau, wie er sie noch nie zuvor geküsst hatte.

*

Ein weiterer arbeitsreicher Tag war zu Ende. Viele Patienten hatten sich in die Hände von Dr. Daniel Norden und seinem Sohn Danny begeben, und obwohl die Praxis ihre Pforten längst geschlossen hatte, dachten die beiden nicht daran, nach Hause zu gehen. Sie saßen zusammen, die Köpfe über den unklaren Befund einer Patientin gebeugt, als Wendy zurückhaltend klopfte.

Aus dem anregenden Gespräch mit seinem Sohn gerissen, blickte Daniel irritiert hoch. Im ersten Augenblick wusste er gar nicht, was los war.

»Wendy«, erinnerte ihn sein Sohn grinsend. »Ich schätze mal, sie will nach Hause gehen.«

»Ist sie denn noch hier?«

»Vorhin saß sie zumindest noch da und hat Patientenbriefe sortiert«, erwiderte Danny. »Kommen Sie schon rein, Wendy. Sie wissen doch, dass Sie nicht stören.«

Die Tür öffnete sich, und Wendys Kopf mit der neuen Frisur, die sie sich in der Mittagspause hatte machen lassen, tauchte auf. Den ganzen Tag war Dr. Norden so beschäftigt gewesen, dass ihm die Veränderung gar nicht aufgefallen war.

»Gut sehen Sie aus«, stellte er anerkennend fest, als sie zum Schreibtisch kam. »Irgendwie verändert.« Er musterte sie nachdenklich. Obwohl er sie Tag für Tag sah, konnte er die Veränderung nicht benennen.

»Typisch Mann«, seufzte sie lakonisch. »Hätte ich ein neues Auto, würden Sie das sofort bemerken. Aber eine andere Frisur fällt kaum auf.«

»Doch, doch, natürlich. Ich wusste sofort, dass Sie anders aussehen, viel jünger. Frischer«, bemühte sich Daniel, seinen Fehler wiedergutzu machen, während sein Sohn vor unterdrücktem Lachen fast erstickte.

»Schon gut.« Wendy winkte ernüchtert ab. »Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich jetzt nach Hause gehe.«

»Bitte seien Sie mir nicht böse«, bat Daniel mit treuherzigem Blick noch einmal um Vergebung. »Morgen mache ich es wieder gut.«

Wendy lächelte versöhnlich. Für gewöhnlich war sie nicht so empfindlich. Aber die Bekanntschaft mit Edgar von Platen hatte alles geändert. So aufregend diese Tatsache auch war, so war sich Wendy doch alles andere als sicher, ob ihr diese Veränderung gefiel.

Sie stand im Zimmer und trat nervös von einem Bein auf das andere. Unschwer zu erkennen, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte.

»Können wir noch etwas für Sie tun?«, erlöste Danny sie.

Ein verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Ich wollte nur mal nachfragen, ob in letzter Zeit irgendwelche Diebstähle in der Behnisch-Klinik bekannt geworden sind«, fragte sie so schüchtern, wie Daniel Norden seine treue Assistentin noch nie zuvor erlebt hatte.

Vater und Sohn tauschten irritierte Blicke.

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Danny. »Ich war erst heute da. Aber Jenny hat kein Wort davon gesagt.«

»Ich hab auch nichts gehört.« Daniel sah Wendy forschend an.

Doch die wich dem Blick ihres Chefs aus. »Aber ich hatte vor, nachher noch mal hinzufahren und nach Sebastian Keinath zu sehen. Bei der Gelegenheit kann ich Jenny ja mal fragen.«

Doch Wendy schien es sich inzwischen anders überlegt zu haben.

»Ach, das ist nicht nötig. Wenn etwas passiert wäre, hätte sie ja bestimmt mit Ihnen darüber gesprochen.«

»Mit Sicherheit. Jenny ist in diesen Angelegenheiten sehr penibel und peinlich darauf bedacht, dass der Ruf ihrer Klinik nicht beschädigt wird. Im Falle eines Diebstahls würde sie alle Hebel in Bewegung setzen.«

»Das glaube ich auch.« Obwohl Wendy lächelte, hatte Daniel nicht den Eindruck, dass sie zufrieden war.

Ganz im Gegenteil schien eine Last auf ihrer Seele zu ruhen, und er nahm sich vor, auf jeden Fall mit Jenny Behnisch zu sprechen. Irgendetwas schien seine treue Assistentin zu bedrücken. Und trotz der vielen Arbeit, die Danny und er hatten, wollte er sie auf keinen Fall im Stich lassen.

*

»Sie schlafen ja noch gar nicht«, stellte Dr. Daniel Norden fest, als er kurz nach halb elf endlich leise ans Bett des Sanitäters Sebastian Keinath trat.

»Hallo, Doc.« Sebastians Augen glänzten im gedimmten Licht der Leselampe. »Haben Sie kein Zuhause, oder warum tauchen Sie immer zu den unmöglichsten Stunden in der Klinik auf?«, fragte er scherzhaft.

Diese Frage war nicht unberechtigt. Viel länger als geplant hatte Dr. Norden noch mit seinem Sohn zusammengesessen und die strittigen Fälle diskutiert. Diese Möglichkeit war für beide neu und spannend, und sie nutzten sie begeistert und in aller Ausführlichkeit. Mal abgesehen davon, dass sich die Zahl der Patienten schon durch die parallelen Sprechstunden deutlich erhöht hatte.

»Es war viel zu tun heute«, gab er vage Auskunft. »Geht es Ihnen nicht gut?« Besorgt fragte sich Daniel, ob seine Vermittlungsversuche bei Melina Keinath fehlgeschlagen waren. »Haben Sie Schmerzen?«

»Alles in Ordnung. Deshalb kann ich ja nicht schlafen.« Das Lächeln, das um Sebastians Mund spielte, schien ein glückliches zu sein.

»Das verstehe ich nicht«, gab Daniel offen zu. »Wollen Sie es mir erklären?«

»Das auch. Aber in erster Linie will ich mich bei Ihnen bedanken.« Die Augen des Sanitäters begannen zu strahlen. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich gehe mal davon aus, dass ich es Ihnen zu verdanken habe, dass Melina heute hier war.«

In diesem Moment fiel Dr. Norden ein Stein vom Herzen.

»Es ist wirklich schön, das zu hören«, erklärte er und machte keinen Hehl aus seiner Freude, dass das Ehepaar offenbar auf einem guten Weg war, wieder zusammenzufinden. »Aber Sie müssen mir nicht danken. Man kann keinen Menschen der Welt von etwas überzeugen, das er nicht in sich trägt. Insofern ist der Beitrag, den ich geleistet habe, nur ein ganz kleiner. Im Grunde genommen wollte Melina dieses Leben gar nicht führen. Sie hatte es nur für einen kurzen Moment vergessen.«

»Aber es ist Ihr Verdienst, dass sie sich gerade noch rechtzeitig daran erinnert hat, was ihr wirklich wichtig ist.« Sebastian schluckte heftig an dem Kloß, der ihm im Hals saß. »Dafür haben Sie was gut bei mir«, kehrte er schnell zu seinem Galgenhumor zurück, um der Situation die Rührseligkeit zu nehmen. »Wie wär’s mit einer hübschen Sankerfahrt?« Er hatte kaum ausgesprochen, als sein glückliches Gesicht noch strahlender wurde. »Ach, das hätte ich über all der Aufregung ja fast vergessen. Haben Sie schon gehört, dass ich wieder selbst fahren darf? Die Untersuchungskommission hat festgestellt, dass der Herr, den ich so erschreckt habe, ohnehin stark herzinfarktgefährdet war. Es ist also gar nicht meine Schuld gewesen. Auch wenn ich natürlich ein schlechtes Gewissen habe.«

Es war schon ein seltsames Ding mit Leid und Glück. Entweder alles ging schief. Oder alles fügte sich auf einmal in schönster Harmonie. So erging es auch Sebastian Keinath in dieser turbulenten Phase seines Lebens.

Mächtige Schleusen öffneten sich, und er redete sich all die Bitterkeit, den Frust und das Unbehagen von der Seele, das sich in den vergangenen, schweren Monaten in ihm aufgestaut hatte.

Obwohl er müde war und auch noch mit Jenny sprechen wollte, blieb Dr. Norden geduldig an seinem Bett sitzen. Er unterbrach Sebastian nicht, ließ ihn reden, weil er wusste, wie heilsam die Gelegenheit für den Sanitäter war, sein übervolles Herz auszuschütten.

Hinterher fühlte sich Sebastian Keinath so erleichtert und wohl wie lange nicht. Die Müdigkeit fiel wie ein samtschwarzes Tuch auf ihn und drückte sanft auf seine Augenlider.

»Ich glaube, ich kann jetzt schlafen«, murmelte er erschöpft.

»Dann sollten Sie das auch tun.« Leise erhob sich Daniel von seinem Stuhl und brachte ihn zurück an den Tisch. »Gute Nacht, Herr Keinath.« Er schlich sich am Bett vorbei und ging zur Tür.

»Herr Doktor …«

Daniel blieb stehen und drehte sich noch einmal um.

»Ja?«

»Sie sind ein großartiger Zuhörer. Und ein toller Arzt. Die Welt bräuchte mehr von Ihrer Sorte.«

Ein Glück, dass das Zimmer nur spärlich beleuchtet war. Denn dieses Kompliment ließ selbst Daniel Nordens Augen feucht schimmern, und er wischte sich kurz übers Gesicht, ehe er auf den Flur trat, um sich auf die Suche nach Jenny Behnisch zu machen, bevor er endlich, endlich nach Hause fahren wollte.

*

So strahlend guter Laune Wendy in letzter Zeit gewesen war, so still und in sich gekehrt war sie in den nächsten Tagen.

»Was ist denn mit Ihrer reizenden Assistentin los?«, erkundigte sich Helene Maschnick bei Dr. Norden, als sie zur Kontrolle ihrer Wunde in die Praxis kam. »Sie war doch immer so ein fröhliches Mädchen. Und jetzt mag das Vögelchen gar nicht mehr singen.«

Obwohl auch Daniel sich Sorgen um das rätselhafte Verhalten seiner Wendy machte, hätte er um ein Haar laut aufgelacht. Frau Maschnick bezeichnete alle Frauen, die auch nur zehn Jahre jünger waren als sie, als Mädchen. Wendy war für ihr Alter zwar immer noch attraktiv – und in letzter Zeit besonders –, trotzdem wäre Dr. Norden nicht auf die Idee gekommen, sie so zu nennen.

»Wir haben im Augenblick sehr viel zu tun«, schützte er seine treue Assistentin vor weiteren Spekulationen und konzentrierte sich auf die Verletzung von Frau Maschnick. »Das sieht sehr gut aus. Ich bin wirklich froh, dass Sie neulich zu mir gekommen sind.«

Das war Helene Maschnick auch. Freudig berichtete sie ihrem Arzt, dass sie, bestärkt durch seinen Rückhalt, ihrem Sohn die Leviten gelesen und gedroht hatte, ihn zu enterben.

»Helmut weiß gar nicht, dass es bei mir nicht viel zu holen gibt«, kicherte sie vergnügt.

So war das Verhältnis zu ihrem Sohn zwar nicht liebevoller geworden, aber zumindest kümmerte er sich angemessen um seine Mutter und redete ihr nicht mehr in ihr Leben hinein, machte ihr keine Vorschriften mehr.

So war wieder einmal ein Fall zu aller Zufriedenheit abgeschlossen, und Wendy verstaute eben die Patientenkarte im Ablageschrank, als sie spürte, dass sie angestarrt wurde. Sie wusste auch genau, von wem. Mit zitternden Fingern steckte sie die Karte zurück an ihren Platz und drehte sich dann langsam um.

Wie geahnt stand Edgar von Platen am Tresen und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln, mit dem er ihr jeden Wind aus den Segeln nahm.

»Anna-Maria!«, rief er überschwänglich und breitete die Arme aus. »Wie schön, Sie endlich wiederzusehen. Ohne Sie, Ihr süßes Lächeln, Ihre zärtliche Stimme, werden Stunden zu Tagen …«

Vor Entsetzen schoss Wendy das Blut in die Wangen.

»Sind Sie verrückt geworden?«, zischte sie und schickte einen panischen Blick ins glücklicherweise fast leere Wartezimmer. »Hören Sie sofort auf damit! Ich bin in der Arbeit.«

Sofort ließ Edgar die Arme sinken und sah sie schuldbewusst an.

»Verzeihung«, murmelte er eine Entschuldigung. »Ich wollte Sie nicht kompromittieren.«

Er wirkte so zerknirscht, dass Wendy schlagartig die Standpauke vergaß, die sie ihm hatte halten wollen. Sie trat an den Tresen und sah ihn forschend an. Er sah immer noch unverschämt gut aus mit seinen grauen Schläfen und den freundlichen Augen hinter der Brille.

»Wo haben Sie in den vergangenen Tagen gesteckt?«, fragte sie leise. »Ich dachte schon, Sie hätten sich aus dem Staub gemacht.« Mit meinem Geld!, fügte sie in Gedanken hinzu.

Entsetzt riss Edgar die Augen auf.

»Was? Sie halten mich für so einen Schurken?«

Jetzt musste Wendy doch schmunzeln.

»Na ja, nachdem ich festgestellt habe, dass in der Behnisch-Klinik kein Diebstahl bekannt geworden ist und Sie wie vom Erdboden verschluckt waren …«, begann sie zögernd, als Edgar sie empört unterbrach.

»… da dachten Sie, dass ich Sie nur ausgenutzt und mich aus dem Staub gemacht habe.«

»Na ja …« In Erwartung einer wütenden Schimpftirade hielt sie die Luft an.

Doch nichts dergleichen geschah. Sie riskierte einen vorsichtigen Blick und bemerkte das tiefe Mitgefühl, das auf einmal in Edgars Augen stand.

»Meine arme Anna-Maria! Wie grausam muss das Schicksal und vor allen Dingen die Männer Ihnen mitgespielt haben, dass Sie so misstrauisch sind«, bemerkte er mit weicher Stimme.

Fassungslos sah Wendy dabei zu, wie er sein Portemonnaie aus der Tasche zog und ihr das schuldige Geld Schein für Schein hinblätterte.

»Haben Sie wirklich gedacht, ich hätte das nötig? So eine lächerliche Summe?«

An dieser Stelle wünschte sich Wendy ein Loch, das sich im Erdboden auftun würde, damit sie darin verschwinden konnte.

»Ich …, es …, ich …«

Sie verstummte, als sie spürte, wie er seine Hand federleicht auf die ihre legte.

»Tut mir leid. Das ist meine Schuld«, räumte er plötzlich ein. »Meine Kreditkarten wurden gar nicht gestohlen. Ich hatte vergessen, dass ich mein Portemonnaie vor dem Klinikbesuch ausgeräumt hatte.«

Wendy starrte ihn ungläubig an. Ein Glück, dass sie das nicht an die ganz große Glocke gehängt hatte.

»Und warum haben Sie sich nach dem Abend nicht mehr bei mir gemeldet?«, fragte sie irritiert.

»Geschäfte, meine Liebe. Dringende Geschäfte!«, versicherte er versöhnlich lächelnd. »Aber ich habe gute Nachrichten. Alles ist perfekt gelaufen und ich werde noch eine Weile in München bleiben. Zur Feier des Tages wollte ich Sie in die Oper einladen.« Triumphierend lächelnd griff er in sein Sakko und zog zwei Eintrittskarten heraus. »La Traviata! Sie haben mir doch erzählt, dass das Ihre Lieblingsoper ist, nicht wahr?«

Wendy machte den Mund auf und wieder zu. Sie konnte nichts sagen. Plötzlich war ihre kleine Welt wieder in Ordnung, fragte sie sich, wie sie so sehr an diesem wunderbaren Mann hatte zweifeln können. Er war ein Geschenk des Himmels. Sie sollte es endlich glauben.

»Und? Wie sieht es aus?«, fragte Edgar von Platen in ihre Gedanken hinein. »Begleiten Sie mich?«

»Sehr, sehr gerne«, sagte sie und konnte und wollte ihre Freude und Erleichterung nicht verbergen. Auf einmal freute sie sich auf diesen Abend. Und auf die Zukunft mit Edgar. So lange sie auch dauern mochte!

Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman

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