Читать книгу Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9
Оглавление»Das erinnert mich an die Zeiten, als wir damals beide gemeinsam in der Praxis gearbeitet haben.« Versonnen saß Felicitas Norden am Mittagstisch und lauschte den Fachsimpeleien, die ihr ältester Sohn mit ihrem Mann Daniel führte. »Die Erinnerung daran erscheint mir wie aus einem anderen Leben.«
Nachdem Danny den alteingesessen Arzt während eines mehrmonatigen Aufenthalts seiner Eltern im Orient mit Bravour vertreten und sich seine Sporen verdient hatte, war vom Familienrat beschlossen worden, dass er als Assistent in die Praxis seines Vaters einsteigen sollte.
»Das kommt dir nicht nur so vor, mein Feelein«, erwiderte Danny weich. »Das war ein anderes Leben. Erinnerst du dich? Damals hatten wir noch keine Kinder. Unsere Wohnung lag im selben Haus wie die Praxis und das gute, alte Lenchen hat den Haushalt geführt.«
»Das ist ja mal cool!«, entfuhr es Danny. »Mit dem Aufzug in die Arbeit zu fahren statt mit dem Auto. Das wär genau mein Wetter.«
Fee lachte belustigt auf.
»Wie alles im Leben hatte auch das Vor- und Nachteile«, erklärte sie ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn. Die Vorstellung, dass er damals nicht mehr als ein Zellklumpen gewesen war, amüsierte sie. Und heute diskutierte sie mit ihm über das Leben, das sie damals geführt hatte im Bewusstsein, bald Mutter ihres ersten Kindes zu werden. »Damals waren wir quasi ständig im Dienst und hatten kaum ein Privatleben.«
»Das kann so nicht stimmen.« Danny grinste schelmisch. »Immerhin habt ihr es geschafft, mich zu zeugen. Und das werdet ihr ja kaum in der Praxis getan haben.« Er zwinkerte seinen Eltern übermütig zu und Daniel und Fee lachten herzlich, bevor sie zum eigentlichen Thema zurückkehrten.
Hätte Felicitas Norden nicht eigene Pläne gehabt, wäre sie fast ein wenig neidisch auf Mann und Sohn gewesen. Doch ihre Idee, den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu machen, beflügelte sie und eröffnete ihr, wenn auch vorerst nur gedanklich, neue Welten.
»Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie schwierig es damals für mich war. Einige Patienten wollten einfach nicht einsehen, dass eine Frau genauso gute Arbeit leisten kann wie ein Mann.« Nachdenklich streckte sie die Hand aus und spießte mit der Gabel ein paar der restlichen Käsespätzle in der Schüssel auf, die vom Mittagessen übrig geblieben waren.
»Glücklicherweise haben sich die Zeiten geändert. Mit solchen Schwierigkeiten hättest du heute wohl kaum mehr zu kämpfen«, bemerkte Daniel.
Auch er erinnerte sich lebhaft an die Anfangszeiten ihrer Ehe, als Fee als Ärztin in der Praxis mitgearbeitet hatte. Doch er dachte nicht nur an die Schwierigkeiten, sondern auch an die Vorteile, die sie gehabt hatte. »Dafür ist es dir ungleich leichter gefallen, das Vertrauen einiger Menschen zu gewinnen. Erinnerst du dich zum Beispiel an den Fall André Clermont?«
»Clermont, Clermont …«, wiederholte Fee und betrachtete sinnend die Gabel in ihrer Hand. »War das nicht dieser Forscher, der durch die Hand seiner Schwägerin um ein Haar ums Leben gekommen wäre?« Obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war, stand Fee dieser spektakuläre Fall noch deutlich vor Augen. »Diese hinterhältige Frau, die ihm mit ihrer präparierten Broschennadel eine tödliche Dosis Atropin beibringen wollte.«
»Richtig.« Daniels Augen blitzten vor Vergnügen an diesem Gespräch. Solche Erinnerungen zu teilen war eines der großen Geschenke einer langjährigen Ehe. »Du konntest einen wesentlichen Beitrag zur Auflösung dieser Geschichte leisten, weil Clermonts spätere Ehefrau Bettina Herzog Zutrauen zu dir gefasst und dir Dinge erzählt hat, die ich niemals erfahren hätte.«
»Das stimmt.« Inzwischen hatte Felicitas auch die letzten Käsespätzle aus der Schüssel gefischt und legte zufrieden die Gabel auf den Tisch.
Sie hatte den Aufenthalt im Orient, die aufregend exotische Atmosphäre und die fremden Speisen sehr genossen. Trotzdem konnte sie seit ihrer Rückkehr nicht genug von der guten alten Hausmannskost bekommen. Und natürlich tat die treue Haushälterin Lenni alles, um die Wünsche ihrer verehrten Frau Doktor zu erfüllen. Nichts Schöneres gab es für sie im Leben, als »ihre Familie« glücklich und zufrieden und vor allen Dingen satt zu sehen.
»Die Probleme, die vor mir auftauchen, haben auch mit Kompetenz zu tun. Wenn auch in anderer Form«, gab Danny an dieser Stelle des Gesprächs zu bedenken und dankte Wendy mit einem strahlenden Lächeln, als sie eine Tasse Espresso vor ihn hinstellte. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Frauen, die von mir behandelt werden wollen, nicht wegen meines Fachwissens behandelt werden wollen. Sie kommen nur zu mir, weil sie mich umgarnen wollen.« Mit Schrecken dachte er an seine Patientin, die schöne Jungunternehmerin Victoria Bernhardt, die ihm sogar eine eigene Praxis kaufen wollte, wenn er sich nur mit ihr einließe. Natürlich hatte Danny dieses Angebot ohne eine Sekunde zu zögern ausgeschlagen und sie darauf aufmerksam gemacht, dass er keine privaten Beziehungen zu Patientinnen pflegte. Trotzdem verfolgte ihn diese Frau seither in Gedanken, zumal sie auch seine Freundin Tatjana ins Spiel gebracht hatte. Denn auch sie war eine Patientin. Woher Victoria das wusste, war Danny ein Rätsel.
In seine Gedanken hinein lachte Fee belustigt auf.
»Diese Probleme kennt dein Vater auch noch von damals. Ich war nur froh, dass seine Assistentin Molly ein wachendes Auge über ihn hatte. Sonst hätte ich keine ruhige Minute gehabt.«
»Du hattest nie Grund zur Sorge, mein Feelein«, versicherte Daniel mit Nachdruck und löffelte Zucker in seine Kaffeetasse. »Du weißt, dass du für mich die einzige Frau warst, bis auf den heutigen Tag bist und immer sein wirst.«
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, gab sie schelmisch zwinkernd zurück und schenkte ihrem Mann ein strahlendes Lächeln.
Noch immer liebte sie dieses Gesicht, die inzwischen gar nicht mehr so kleinen Lachfalten in seinen Augenwinkeln, die Lippen, unter denen sich kräftige Zähne verbargen, die schönsten, die sie je bei einem Mann gesehen hatte. Seine Augen, seine Hände, die Männlichkeit, die nichts von ihrer Selbstsicherheit verloren hatte und vor allen Dingen seine Intelligenz beeindruckten sie noch genauso wie am ersten Tag.
»Wenn du meinst«, lächelte Daniel, dem ihr zärtlicher, sinnender Blick nicht entgangen war.
Er beugte sich zu Fee, um sie innig zu küssen, und Danny beneidete seine Eltern um die Sicherheit, die sie im Laufe der Jahre beieinander gefunden hatten.
»Ich glaube, Tatjana ist auch froh, dass Wendy ein wachsames Auge auf mich hat«, erklärte er und leerte seine kleine Tasse in einem tiefen Zug. Dann nahm er die Serviette vom Schoß und rüstete sich zum Aufbruch. »Bist du bereit, Senior?«, fragte er grinsend.
»Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst? Da fühle ich mich so alt.«
»Im Gegensatz zu mir bist du das ja auch.« Danny versetzte seinem alten Herrn einen gutmütigen Knuff in die Seite. »Aber du hast wirklich Glück, dass ich jetzt mit in der Praxis bin. Da kommst du gar nicht erst auf die Idee, dich gehen zu lassen. Ich bin sozusagen dein Jungbrunnen.«
Mit gespielt hilfloser Geste drehte sich Daniel zu seiner Frau um.
»Das hat man nun davon, dass man sich jahrelang aufopfernd um seine Brut kümmert, sie verhätschelt und vertätschelt und zu Selbstvertrauen und Eigenständigkeit erzieht. Nur um sich dann solche Überheblichkeiten anhören zu müssen.«
Auch Fee war aufgestanden, um ihre beiden Männer zur Tür zu begleiten. Lachend schloss sie Daniel in die Arme.
»Unsere lieben Kleinen werden schon sehen, was sie davon haben. Irgendwann packen wir klammheimlich unsere Koffer, machen eine schöne Weltreise und genießen unser Leben, während sie unsere Rente verdienen dürfen.«
Unwillkürlich brach Danny in lautes Gelächter aus.
»Das schafft ihr doch sowieso nicht. Da sind wir doch alle gleich. Ohne unsere Familie und unsere Arbeit sind wir Nordens nur halb so viel wert. Das hat uns die Zeit im Orient doch zu Genüge bewiesen.« Er trat auf seine Eltern zu.
Ein gutes Stück größer als seine Mutter und auch ein paar Zentimeter größer als sein Vater, legte er einen Arm um Fees und einen um Daniels Schulter und drückte beide an sich. Einen Moment lang standen sie eng umschlungen und genossen das einmalige Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Dann wurde es Zeit, in die wirkliche Welt zurückzukehren und gestärkt durch diesen familiären Rückhalt, der seinesgleichen suchte, machten sich Daniel und Danny Norden auf den Weg.
*
Als die beiden Ärzte in die Praxis zurückkehrten, wurden sie sogleich von der harten Realität mit Beschlag belegt. Bei dem Versuch, einen Topf heiße Milch vom Ofen zu ziehen, hatte sich ein Kleinkind Verbrennungen zugezogen. Fürsorglich nahm sich Danny der Kleinen und ihrer Mutter an, die mindestens genauso litt wie ihr Kind.
»Ich mache mir solche Vorwürfe. Wenn ich nicht kurz aus der Küche gegangen wäre, um den Anruf anzunehmen, wäre das alles nicht passiert«, jammerte sie und tat ihrer Tochter damit keinen Gefallen. Die Kleine spürte die Unsicherheit ihrer Mutter und weinte nur noch mehr. »Ich bin an allem schuld«, bezichtige sich Kerstin Schober.
»Schuldig macht man sich nur, wenn man etwas mit Absicht tut«, gelang es Danny mit den richtigen Worten, die Frau zu beruhigen.
Ehe sie im Behandlungszimmer verschwanden, sah Wendy, wie Kerstin dem jungen Arzt einen dankbaren Blick schickte.
»Finden Sie wirklich?«
Mehr hörte Wendy nicht, denn die Tür fiel hinter den dreien ins Schloss.
Auch Daniel Norden war im Begriff, sich auf den Weg in sein Behandlungszimmer zu machen. Da die Sprechstunden aber offiziell noch nicht begonnen hatte, nahm er sich Zeit für einen kurzen Austausch mit Wendy.
»Irgendwas Neues?«, erkundigte er sich, während er die nächste Patientenkarte an sich nahm.
Sein fragender Blick ruhte auf der Post, die seine Assistentin inzwischen bearbeitet und wie jeden Tag auf saubere Stapel sortiert hatte. Das Logo der Gesellschaft für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Medizin thronte unübersehbar auf einem der oberen Blätter.
»Ein Prüfer hat sich bei uns angekündigt«, wusste sie sofort, welche Auskunft ihr Chef von ihr erwartete. »Ärztinnen und Ärzte, die die Kriterien der Normen erfüllen, erhalten ein zeitlich begrenztes Zertifikat, mit dem die Praxis auch werben darf.«
Daniel hatte aufmerksam zugehört.
»Das halte ich mal für eine ausgesprochen gute Idee. Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Mal abgesehen davon, dass jedes Geschäft entweder vom Gesundheitsamt oder irgendwelchen anderen Ordnungsdiensten kontrolliert wird. Warum sollte das in einer Arztpraxis, wo es ja um die Gesundheit der Menschen geht, anders sein?«
»Dieses Zertifikat ist ja auch ein Gütesiegel. Eine Empfehlung an unsere Patienten.«
»Sie sagen es«, lächelte Dr. Norden.
»Obwohl dieser Alexander Gutbrodt ein ziemlich scharfer Hund sein muss.«
»Sie kennen ihn?«, hakte Daniel verwundert nach.
»Nur vom Hörensagen. Die Assistentin von Frau Dr. Behnisch hat es mir verraten. Dr. Gutbrodt kontrolliert auch Kliniken und kommt auf die unmöglichsten Ideen, was er alles überprüfen könnte.«
»Sein Arbeitgeber wird froh sein um diesen pflichtbewussten Mitarbeiter.«
»Mit Sicherheit. Schließlich hat er schon einige schwarze Schafe aus dem Verkehr gezogen.«
»Dann kann er uns eigentlich nur leidtun«, fuhr Daniel gut gelaunt fort.
Wendy verstand nicht.
»Warum?«
»Weil er leider weder bei Jenny noch hier bei uns fündig werden wird. Die ganze schöne Arbeit und Zeit umsonst.«
Die Praxistür ging auf und Herr Holler, Daniels erster Patient des Nachmittags, kam herein. Vor einigen Tagen war er überraschend gestürzt. Dr. Norden hatte die Kopfwunde fachgerecht versorgt. Sie heilte glücklicherweise gut. Um so einen Unfall aber in Zukunft zu vermeiden, wollte der Arzt unbedingt die Ursache für den Sturz herausfinden. Er nickte seiner Assistentin zu und bat seinen Patienten direkt ins Behandlungszimmer.
Gleichzeitig klingelte das Telefon und Wendy hob ab.
»Praxis Dr. Norden, Sie sprechen mit Wendy, was kann ich für Sie tun?«
»Anna-Maria, mein Engel!«, hörte sie eine ihr wohlbekannte Stimme, die ihr durch und durch ging.
Aber nicht gerade deshalb, weil sie sich so unglaublich freute.
»Ich bin nicht Ihr Engel!«, wies sie den Anrufer brüsk zurecht.
»Nicht mehr, was ich sehr bedauere.«
»Was wollen Sie von mir, Herr von Platen?«
»Ich bin wieder mal in München und dachte, es wäre nett, Sie zu sehen. Mit Ihnen essen zu gehen. Oder in die Oper. Zur Feier des Tages! Einer meiner zahlreichen Freunde hat mir ein tolles Geschäft vorgeschlagen.«
»Das wieder mal scheitert?«, konnte sich Wendy eine sarkastische Frage nicht verkneifen.
Edgar von Platen lachte so herzlich, als hätte sie einen guten Witz gemacht. Es war nicht leicht, ihn in Verlegenheit zu bringen, war er doch das, was man allgemeinhin unsensibel und grobschlächtig nannte.
»So kenne und liebe ich meine Anna-Maria!«
»Ich bin nicht Ihre Anna-Maria! Und ich war es nie«, gab Wendy eisig zurück. »Mal abgesehen davon, dass ich Annemarie heiße.«
Endlich blieb dem Geschäftsmann, der vor einigen Wochen in der Praxis Dr. Norden aufgetaucht war, nichts anderes übrig, als ihre Zurückhaltung zur Kenntnis zu nehmen.
»Warum so unfreundlich?«, fragte er und klang tatsächlich verwundert. »Was habe ich Ihnen denn getan? Waren wir nicht gemeinsam in Ihrer Lieblingsoper? Habe ich Sie nicht zum Essen ausgeführt und mit Ihnen Ausflüge gemacht?«
»Das fragen Sie nicht im Ernst!« Völlig perplex schnappte Wendy nach Luft. »Darf ich Sie daran erinnern, dass ich Ihnen auf Ihre herzerweichende Bitte hin 2000 Euro geliehen habe, bevor Sie sich auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub gemacht haben?«, fauchte sie verhalten und war froh, dass die Tür zum Wartezimmer geschlossen war. Nicht auszudenken, was die Patienten von ihr denken würden.
»Auf Nimmerwiedersehen?«, mimte Edgar den Verwunderten. »Aber ich bin doch hier. Und wer sagt denn, dass ich Ihnen das Geld nicht zurückbezahle? Sobald mein Geschäft hier in München unter Dach und Fach ist …«
»Das haben Sie mir neulich auch schon erzählt«, warf Wendy ihm vor. Voller Zorn malte sie Blitze und dunkle Donnerwolken auf ihre Schreibtischunterlage.
»Sie halten mich für einen Schmarotzer!« Edgar von Platen klang tatsächlich beleidigt, wie Wendy voller Genugtuung bemerkte.
»Nicht nur das. Für einen Versager obendrein«, dachte sie nicht daran, ihn zu schonen. Typen wie diesem war nur mit grausamer Offenheit beizukommen. Wenn überhaupt!
»Nur, weil ich nicht der Mann bin, der Sie glücklich machen kann?«
»Weil Sie noch gar nichts auf die Beine gestellt haben«, sagte sie ihm kühl und besonnen auf den Kopf zu. Wendy hatte nicht vor, sich ein weiteres Mal von Edgar von Platen um den Finger wickeln zu lassen.
»Nicht jedes Leben verläuft so glatt und komplikationslos wie Ihres«, schien er jedoch nicht aufgeben zu wollen.
Langsam aber sicher hatte Wendy genug von diesem Gespräch. Als sich nun die Praxistür öffnete und ein Mann – er mochte etwas älter sein als sie – hereinkam, legte sie den Kugelschreiber entschieden beiseite und setzte sich kerzengerade auf.
»Schön, dass Sie so genau über mein Leben Bescheid wissen, Herr von Platen!«, zischte sie. »Dann bedarf es ja keiner weiteren Auskünfte.« Damit beendete sie das Telefonat.
Es wurde Zeit, an die Arbeit zurückzukehren, und mit dem gewohnt freundlichen Lächeln auf den Lippen wandte sie sich dem Unbekannten im gut sitzenden, grauen Sakko zu, der an den Tresen getreten war und sie amüsiert lächelnd musterte.
*
»Blutdruck und EKG sind unauffällig und auch sonst scheinen Sie ein vollkommen gesunder Mann zu sein«, stellte Dr. Daniel Norden fest, nachdem er die gründliche Untersuchung des Studienrats Manfred Holler beendet hatte.
»Das wundert mich nicht«, erwiderte der Patient selbstsicher. »Ich tue einiges für meine Gesundheit. Ernähre mich abwechslungsreich und achte auf eine ausreichende Vitaminzufuhr. Ich rauche nicht und trinke nur sehr selten Alkohol. Außerdem treibe ich Leistungssport, Triathlon.«
»Alle Achtung, da sind Sie vernünftiger als viele Ihrer Geschlechtsgenossen.«
Manfred lachte.
»Reiner Eigennutz. Schließlich habe ich vor, eine junge Frau zu heiraten. Da muss ich sehen, dass ich in Form bleibe.«
In den Augen von Dr. Norden war das eine durchaus erfreuliche Nachricht. So altmodisch die Ehe auch sein mochte und von vielen jungen Menschen als überflüssig abgelehnt oder gar belächelt, war sie für ihn immer noch eine wichtige Institution, die es zu bewahren galt.
»Wann ist es denn so weit? Darf man schon gratulieren?«, fragte er erfreut.
»Erst in ein paar Monaten«, erwiderte Manfred Holler, während er sein Hemd zuknöpfte. »Glücklicherweise. Bevor ich heirate, möchte ich unbedingt wissen, warum ich einfach so umfalle. Schließlich soll meine zukünftige Frau nicht die Katze im Sack kaufen.«
Dr. Norden ging voraus ins Sprechzimmer und bat seinen humorvollen Patienten, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Um das abzuklären, bleibt uns wahrscheinlich nur, Sie in der Klinik gründlich untersuchen zu lassen.«
»Ich muss in die Klinik?« Manfred Holler machte keinen Hehl aus seinem Schrecken. »Glauben Sie, dass etwas mit meinem Kopf nicht stimmt? Ein Gehirntumor etwa?«, sprach er den Gedanken aus, der ihm schon länger im Kopf herumspukte, den er aber bislang erfolgreich verdrängt hatte.
Nachdenklich blickte Daniel Norden auf die Patientenkarte und das, was er darin notiert hatte.
»Sie haben mir erzählt, dass Sie bei Bewusstsein waren, als Sie die Kontrolle über Ihre Beine verloren.«
»Stimmt. Ich bin erst ohnmächtig geworden, nachdem ich mit dem Kopf auf den Badewannenrand geknallt bin. Kein sehr schönes Geräusch.« Er lächelte verschmitzt und um seine Augen kräuselten sich sympathische Lachfalten. »Vielleicht war es aber auch der Schmerz, dem ich entgehen wollte.«
»Möglich!« Einen Moment lang lächelte Daniel mit dem Lehrer, der am Gymnasium seiner Kinder Jan und Dési Deutsch und Sport unterrichtete. Dann wurde er wieder ernst. »Aber aus der Tatsache, dass Ihnen die Beine wegsacken, schließe ich, dass die Ursache eher in einem Defekt an der Wirbelsäule zu suchen ist. Aber um Genaueres zu erfahren, bitte ich Sie, die Untersuchungen abzuwarten. Spekulationen sind in so einem Fall wenig zielführend.«
»Wie lange werde ich in der Klinik bleiben müssen?«, fragte Manfred und wirkte verunsichert. Seine Sorgen drehten sich nicht nur um seine Gesundheit sondern auch um seinen Beruf. Im Augenblick waren keine Ferien. »Ich müsste mich nämlich auch noch um eine Vertretung kümmern. Obwohl die Schüler sicher froh wären, wenn ein paar Stunden ausfielen.«
»Daran wird sich auch in hundert Jahren nichts ändern. Die Erkenntnis, dass Schule die beste Zeit im Leben ist, kommt bekanntlich immer zu spät«, scherzte Daniel Norden, bevor er sich wieder dem eigentlichen Thema zuwandte. »Die Dauer des Klinikaufenthalts hängt übrigens vom Befund ab. Wenn Sie wollen, rufe ich gleich in der Behnisch-Klinik an.«
Manfred Holler war einverstanden. Rasch war ein Termin gefunden, und er verabschiedete sich bald darauf von Dr. Norden.
»Haben Sie schon mal müde, gelangweilte Schüler zum Schwimmunterricht motiviert?«, fragte er an der Tür.
»Nein. Aber ich habe selbst fünf Kinder und kann mir vorstellen, wie anstrengend das sein kann.«
»Manchmal anstrengender als ein Triathlon.« Mit diesen Worten verließ Manfred Holler mit elastischen Schritten die Praxis. Er gab sich den Anschein, fröhlich und unbeschwert zu sein. Doch das Gegenteil war der Fall. Seine bisher so heile Welt, seine strahlenden Zukunftsaussichten an der Seite seiner zauberhaften, jungen Kollegin Natascha Kilian wurde plötzlich von einer dunklen Wolke überschattet. Er konnte nur hoffen, dass sie sich ebenso schnell verzog, wie sie aufgetaucht war.
*
»Mein Name ist Alexander Gutbrodt«, hatte sich der Besucher bei Wendy vorgestellt.
»Soso, der Schnüffler!«, entfuhr es ihr und augenblicklich schlug sie sich vor Scham die Hand vor den Mund. Das Telefonat mit Edgar von Platen hatte sie mehr durcheinandergebracht als ihr lieb war. Nicht, dass sie verliebt in ihn gewesen wäre. Es war viel mehr die Angst, ihr geliebtes ruhiges Leben könnte erneut in Gefahr geraten. »Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht.«
Nur mit Mühe konnte sich Dr. Alexander Gutbrodt ein amüsiertes Lachen verkneifen.
»Das macht hundert Euro Strafe wegen Beleidigung.« Sein wohlwollender Blick ruhte auf Wendy.
»So viel?« Als sie das Schmunzeln in seinen Augen entdeckte, entspannte sie sich wieder und ging auf seinen Scherz ein. »Das ist Wucher. Ich werde bei der Verbraucherzentrale anrufen.«
»Die ist nicht für mich zuständig. Meine Gesellschaft ist ein Tochterunternehmen der Ärztekammer. Ich muss Sie leider enttäuschen.«
»Dann …, hm, an wen könnte ich mich in diesem Fall wenden?«
»Ich schlage vor, wir verzichten auf gegenseitige Anzeigen und gehen stattdessen zusammen essen«, machte Alexander einen spontanen Vorschlag.
Wendys Augen wurden schmal vor Verwunderung. Jahrelang hatte sie kaum Kontakt zur Männerwelt gehabt und es sich in ihrem beschaulichen Single-Dasein gemütlich gemacht. Und nun geschah es innerhalb weniger Wochen zum zweiten Mal, dass sie von einem Mann zum Essen eingeladen wurde. Das erste Mal hatte einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Noch heute machte sie sich Vorwürfe, ihre erste Eingebung ignoriert und Edgar von Platen weitergetroffen zu haben.
»Wollen Sie mich bestechen?«, fragte sie und musterte ihr Gegenüber argwöhnisch.
Unwillig musste sie sich eingestehen, dass ihr Alexanders breite Schultern und sein warmes gewinnendes Lächeln gefielen. Abgesehen von den langen Beinen, die in lässigen Jeans steckten. Einen Kontrolleur hatte sie sich anders vorgestellt. Nicht so locker und humorvoll.
»Warum nicht?«, nahm Alexander ihre Frage nicht ernst und lachte gut gelaunt. »Aber vielleicht sollten Sie mir vorher Ihren Namen und Ihren Status verraten, damit ich weiß, ob ein Bestechungsversuch überhaupt Sinn macht.«
Diese Charmeoffensive war unwiderstehlich.
»Annemarie Wendel«, stellte sich Wendy förmlich vor. Die Erfahrung mit Edgar von Platen hatte sie ein wenig sicherer im Umgang mit Männern gemacht, und sie stellte erleichtert fest, dass sie mit Dr. Gutbrodt scherzen konnte, ohne dunkelrot anzulaufen. »Ich bin die Herrscherin über die Termine!«
»Dr. Nordens rechte Hand also.«
»Das haben Sie völlig richtig erkannt«, sagte eine Stimme im Hintergrund, und lächelnd tauchte Daniel Norden an der Empfangstheke auf. »Ohne meine gute Wendy wären wir hier allesamt verloren.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, antwortete Dr. Alexander Gutbrodt so warm, dass Wendy nun doch verlegen wurde.
Der Kontrolleur schickte ihr noch einen kurzen Blick, ehe er sich Dr. Norden zuwandte. »Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
Daniel sah Wendy an, die wiederum den Terminkalender inspizierte.
»Den nächsten Patienten kann Danny übernehmen. Sie haben eine halbe Stunde«, gab sie grünes Licht für ein Gespräch zwischen Dr. Gutbrodt und ihrem Chef.
»Ich sagte Ihnen ja, dass ohne Wendy nichts geht«, erklärte Dr. Norden auf dem Weg ins Sprechzimmer lächelnd. »Sind Sie schon fündig geworden?«, wechselte er dann das Thema und schloss die Tür hinter Alexander.
»Fündig geworden?«
»In der Behnisch-Klinik.« Nachdem er seinem Gast Kaffee angeboten und sich selbst eine frische Tasse eingeschenkt hatte, nahm Daniel am Schreibtisch Platz. Aufmerksam musterte er sein Gegenüber und versuchte, Dr. Gutbrodt einzuschätzen. Er machte einen sympathischen Eindruck. Sein Blick war offen und ehrlich. Aber die Falten zwischen seinen Augen verrieten, dass im Ernstfall nicht mit ihm zu spaßen war.
»Nein, bis jetzt nicht«, beantwortete der Prüfer die Frage des Arztes wahrheitsgemäß.
»Aber Sie hoffen natürlich, auf einen Missstand zu stoßen, nicht wahr?«, sagte Dr. Norden seinem Besucher auf den Kopf zu.
Der penible Mann, der ebenfalls einmal Medizin studiert hatte und dann die Seiten gewechselt hatte, lächelte.
»Das kommt auf die Klienten an. Im Falle von Frau Dr. Behnisch hätte ich ehrlich gesagt keinen großen Spaß daran. Sie ist mir viel zu sympathisch, ihre Klinik und das Wohl der Patienten liegt ihr viel zu sehr am Herzen, als dass ich dort etwas entdecken möchte.« Gut gelaunt zwinkerte er Daniel zu. »Aber keine Sorge, es gibt genügend schwarze Schafe, die den Qualitätsmaßstab nicht einhalten.«
»Und die müssen Sie finden?«
»Ja. Sehen Sie, letzten Endes geht dieses Thema doch uns alle an. Irgendwann brauchen wir alle selbst einen Arzt und sind froh, wenn wir uns guten Gewissens in die Hände eines geprüften und zertifizierten Mediziners begeben können.«
Daniel stellte seine Tasse zurück auf den Tisch.
»Besonders beliebt machen Sie sich bei manchen Kollegen mit dieser Kontrolle aber sicher nicht, oder?«
Der Kontrolleur lächelte unbekümmert.
»Es ist wie überall, wo überprüft und kontrolliert wird. Einige wünschen mir Pest und Cholera an den Hals. Oder einen schlimmen Unfall.«
»Und ich dürfte Sie dann wieder heilen und zusammenflicken«, erwiderte Daniel das Lächeln. »Glücklicherweise wirken Sie noch völlig unversehrt. Bevor ich mich demnächst möglicherweise um Ihre Gesundheit kümmern muss, sagen Sie mir, was ich im Augenblick für Sie tun kann.«
Die von Wendy genehmigte halbe Stunde war schon zur Hälfte vorbei. Es wurde Zeit, über die wesentlichen Dinge zu sprechen, selbst wenn Daniel noch länger mit dem sympathischen Alexander Gutbrodt hätte plaudern können.
*
Als Annemarie Wendel am Abend nach Hause gekommen und die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufgestiegen war, stutzte sie. Auf der Fußmatte vor ihrer Tür lag ein wunderschöner Strauß roséfarbener Lilien. Einen Augenblick lang tauchte Dr. Alexander Gutbrodts gut geschnittenes Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf, und sie hob die edlen Blumen auf, um nach einem Kärtchen zwischen den Blüten zu suchen. Sie ärgerte sich über ihr unvernünftiges Herz, das sofort schneller zu schlagen begonnen hatte. Ich will keinen Mann!, erinnerte sie sich selbst an das, was sie sich ernsthaft vorgenommen hatte.
Tatsächlich fand sie eine kleine Botschaft zwischen den Blüten.
»Für meine einzigartige Anna-Maria! Von Edgar«, las sie mit verächtlicher Stimme und ihre Stimmung erhielt augenblicklich einen empfindlichen Dämpfer. »Das ist doch unfassbar! Dieser Mann ist wie einer dieser Bälle an der Gummischnur«, erinnerte sich Wendy an das Kinderspielzeug, das sie erst im vergangen Jahr auf einem Markt wiederentdeckt hatte. »Er springt davon, aber man kann trotzdem sicher sein, dass er immer wieder zurückkommt.« Seufzend schloss Wendy die Wohnung auf und stellte die Blumen in die Vase. »Ihr armen Dinger könnt schließlich nichts dafür, dass dieser Ganove sie gekauft hat.«
Wäre dieser von Platen doch nur dort geblieben, wo er hergekommen war.
Immerzu baute er Luftschlösser, die meist hinter ihm und manchmal auch noch vor seinen Augen eines nach dem anderen in sich zusammenstürzten und nichts als Chaos hinterließen. Das Schlimme daran war, dass er offenbar nicht aus seinen Fehlern lernte. Selbst Wendy, die nur kurz das Vergnügen gehabt hatte, hatte bereits erkannt, dass ihm seine großen Geschäfte, die er äußerst wortreich und vielversprechend ankündigte, die meiste Zeit nichts als Ärger einbrachten. Edgar von Platen war ein Chaot.
»Ein gut aussehender, charmanter Chaot!«, murmelte sie versonnen vor sich hin.
Aus diesem Grund war Wendy auch auf ihn hereingefallen. Als sie ihn noch nicht näher gekannt hatte, hatte er sie mit seiner weltmännischen Art zutiefst beeindruckt. Überzeugend hatte er den erfolgreichen Geschäftsmann gemimt. Doch nachdem sie ihm mehrfach Geld geliehen und die größte Summe davon nicht mehr zurückbekommen hatte, war sie zu der Überzeugung gekommen, dass er ein Blender war, dass er es niemals zu etwas bringen würde. »Mit ihm zusammen zu sein, ist ein teures Vergnügen«, stellte sie ernüchtert fest und schaltete den Herd an, um die Suppe vom Vortag aufzuwärmen. »Jeder, der ihm ein freundliches Lächeln schenkt und auf seine Sprüche hereinfällt, wird um eine entsprechende Summe erleichtert.« Nachdenklich rührte Wendy im Topf.
Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass er angerufen hatte. Und noch viel weniger, dass er bei ihrer Wohnung gewesen war. Wenn Wendy ehrlich zu sich selbst war, hatte sie Angst davor, dass er wiederkommen würde. Sie tauchte einen Löffel in die Suppe um zu prüfen, ob sie schon heiß war.
Im selben Moment klingelte es. Vor Schreck ließ Wendy den Löffel fallen. Klatschend landete er im Topf und rote Spritzer verteilten sich über den Herd, die weißen Fliesen dahinter und über ihre Bluse.
*
An diesem Abend hatte Dr. Alexander Gutbrodt eine Verabredung mit seinem Schwager Bernd. Für den Mediziner handelte es sich dabei mehr um eine Pflichtübung. So souverän er im Geschäftsleben und auch in den meisten Bereichen seines Privatlebens war, so schuldig fühlte er sich dieser Familie gegenüber, die schon lange nicht mehr die seine war.
Vor langer Zeit war der Bruder seiner Frau einmal sein Freund gewesen. Doch Alexander war sich nicht sicher, ob diese Zeiten nicht längst vorbei waren.
»Hallo, Bernd«, begrüßte er den Mann mit dem schütteren Haar und dem bleichen rundlichen Gesicht, der schon am Tisch saß. Er war das genaue Gegenteil seiner Schwester, und einen Augenblick taumelte Arianes Gesicht durch Alexanders Kopf. Wie um ein lästiges Insekt zu vertreiben, wedelte er mit der Hand durch die Luft. »Wie geht es dir?«
»Danke der Nachfrage.« Bernd lächelte. »Schön, dich zu sehen.« Er musterte seinen Schwager eingehend. »Gut siehst du aus. So strahlend.«
Alexander setzte sich, und sie bestellten Bier, Kartoffelsalat und Frikadellen.
»Mir geht es auch gut«, beschloss Alexander, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Seit er bei Dr. Norden gewesen war, erfüllte ihn ein vages Hochgefühl, das ihn bis jetzt nicht mehr verlassen hatte. Es musste an der Bekanntschaft mit dieser Annemarie Wendel liegen. Ohne es zu wollen, hatte Dr. Gutbrodt einen Teil des Gesprächs mitgehört, das sie bei seinem Eintreffen mit einem offenbar ungeliebten Verehrer geführt hatte. Die Entschlossenheit in ihrer Stimme hatte in ihm die Vorstellung einer kühlen, toughen Frau geweckt. Als sie sich ihm dann aber zugewandt hatte, bemerkte er seinen Irrtum. Wendy war ein wahrer Engel. Diese Wärme und Herzlichkeit, gepaart mit ihrem besonderen Sinn für Humor, hatten ihn augenblicklich gefangen genommen. Nie zuvor war ihm eine so vielseitige und gleichzeitig offenkundig bescheidene Frau begegnet, dass sofort der Wunsch in ihm wach geworden war, sie zu verwöhnen, ihr eine Freude, sie glücklich zu machen. Daher musste er auch die durchaus ernst gemeinte Einladung zum Essen aussprechen. Obwohl er sich über sich selbst und diese spontane Idee wunderte. So etwas hatte er erst ein Mal gemacht. Und eigentlich hatte er sich geschworen, es nie wieder zu tun.
»Was ist mit dir? Du bist so anders als sonst!«, riss Bernd seinen Schwager aus seinen Gedanken. Argwohn lag in seinem Blick.
Erschrocken zuckte Alexander Gutbrodt zusammen. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass die Bedienung inzwischen einen gut gefüllten Teller vor ihm abgestellt hatte.
»Ach, ich musste nur gerade an einen besonderen Fall denken, mit dem ich zurzeit beschäftigt bin«, wich er aus und wickelte das Besteck aus einer weißen Serviette. »Wie läuft es bei dir in der Kanzlei?«
»Oder an die Klientin, in deren Praxen du gerade prüfst?«, stellte Bernd eine anzügliche Gegenfrage.
Früher hatten Alexander und Bernd keine Geheimnisse voreinander gehabt, hatten zusammen Karten gespielt und Nächte in Kneipen wie dieser hier verbracht. Aber früher war nicht heute, so sehr Alexander diese Zeiten auch vermisste. Sein Herz war übervoll, und er sehnte sich nach einem Menschen, mit dem er über diese Begegnung sprechen konnte. Doch Bernd war mit Sicherheit nicht der Richtige dafür. Obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war.
Bernd deutete das Schweigen seines Schwagers falsch. Er sah seinen Verdacht bestätigt.
»Du solltest nicht mit ihr ausgehen«, mahnte er mit düsterer Stimme. »Du weißt, was dabei herauskommt.«
Augenblicklich regte sich Widerstand in dem stolzen, selbstbewussten Dr. Gutbrodt. Er war kein kleiner Junge, der sich rechtfertigen musste.
»Bernd, bitte, das ist lange her!«, bat er mühsam beherrscht. »Warum musst du ausgerechnet jetzt die alten Geschichten ausgraben?«
»Wer auch immer sie sein mag … Du weißt, warum du dich von ihr fernhalten muss«, erging sich Bernd in düsteren Andeutungen.
Ohne Alexander aus den Augen zu lassen, schob er eine Gabel Kartoffelsalat in den Mund.
Damit brachte er seinen Schwager erst recht in Rage.
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig und kann ausgehen, mit wem ich will«, zischte er, bedacht darauf, kein Aufsehen in der nüchternen Kneipe zu erregen.
Dieser Plan misslang gründlich. Neugierige Blicke trafen die beiden Männer am Tisch in der Ecke.
Bernd lachte fast mitleidig.
»Damit du dich wieder bei mir ausheulst? Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger. »Du hast mir hoch und heilig versprochen, es nicht noch einmal zu versuchen. Erinnerst du dich?«
»Sei still, ich will das nicht wissen.« Wütend stach Alexander auf die Frikadelle ein.
Das ganze Szenario passte zu seiner inzwischen verzweifelten Stimmung.
»Du darfst es nicht vergessen!«, mahnte Bernd eindringlich. »Oder willst du das Leben eines weiteren Menschen ruinieren?«
Alexander Gutbrodt atmete schwer. Er senkte den Kopf und starrte auf seinen Teller. Obwohl er keinen Hunger mehr hatte, beendete er schweigend seine Mahlzeit, unsicher, ob Bernd recht hatte oder nicht.
*
Widerstrebend öffnete Wendy die Tür. Wie erwartet, stand Edgar von Platen da und strahlte sie an, als wäre er felsenfest davon überzeugt, herzlich willkommen zu sein.
»Meine wunderschöne Anna-Maria!«, seufzte der schlanke Herr, der ein paar Jahre älter als Wendy war.
Er war attraktiv mit den grauen Schläfen, und die Fältchen hinter der Brille standen ihm gut zu Gesicht. Mit Sicherheit schlugen bei seinem Anblick viele Frauenherzen höher. Doch diese Phase ihrer Bekanntschaft hatte Wendy längst überwunden.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte sie befremdet und blickte hinab auf ihre rot gesprenkelte Bluse. »Haben Sie keine Augen im Kopf?«
Sie hatte gerade noch die Zeit gehabt, sich die Suppe aus dem Gesicht zu wischen, bevor sie die Tür geöffnet hatte.
»Einen schönen Menschen entstellt nichts!« Niemals war Edgar um eine Antwort verlegen.
Doch Wendy dachte gar nicht daran, auf das zweifelhafte Kompliment einzugehen.
»Was wollen Sie?«, fragte sie abweisend.
»Sie waren heute am Telefon nicht gerade nett zu mir«, lächelte Edgar von Platen, als gäbe es nichts, was ihn wirklich verletzen konnte.
»Ich wüsste nicht, warum ich auch noch freundlich sein sollte.«
»Wie können Sie so herzlos sein? Dabei dachte ich immer, Sie wären die Liebe in Person.«
»Das war offenbar ein Irrtum«, gab Wendy kühl zurück und wunderte sich selbst über ihre Schlagfertigkeit.
Diese Eigenschaft hatte sie bisher nicht an sich bemerkt. Möglicherweise auch deshalb, weil sie sie nicht nötig gehabt hatte.
Nun schien Edgar doch betroffen und starrte hinab auf die Fußmatte.
»Haben Sie meine Blumen gefunden?«, wechselte er schnell das Thema.
»Wollen Sie sie wiederhaben?«
Edgar hob den Kopf und lachte schon wieder. Diesem Mann war einfach nicht beizukommen, wie Wendy insgeheim bedauernd feststellte.
»Was ist nur los mit Ihnen? Ich hatte wirklich gedacht, dass Sie sich freuen, wenn ich erst vor Ihrer Tür stehe. So von Angesicht zu Angesicht.«
Jetzt musste Wendy doch lachen, wenn auch widerwillig.
»Kann es sein, dass Sie ganz schön überheblich sind?«, fragte sie und versuchte, wenigstens spöttisch zu klingen.
»Man könnte es auch selbstsicher nennen.« Er warf einen vielsagenden Blick über ihre Schulter in den Flur der Wohnung. »Anna-Maria«, schlug er dann einen ernsten Ton an. »Ich verstehe, dass Sie enttäuscht von mir waren und Angst um Ihr Geld hatten. Und ich entschuldige mich in aller Form dafür, dass ich die Stadt verlassen habe, ohne Sie darüber in Kenntnis zu setzen.« Seine geschliffene Ausdrucksweise war bestechend.
Wie beabsichtigt war Wendy nun doch verblüfft. Mit einer Entschuldigung hatte sie nicht gerechnet und sie überlegte noch, wie sie darauf reagieren sollte, als Edgar fortfuhr.
»Aber muss ich deshalb wie ein Bettler vor Ihrer Tür stehen? Möchten Sie mich nicht wenigstens hereinbitten?« Er schickte ihr einen treuherzigen Augenaufschlag von dem Wendy ahnte, dass er ihn extra für solche Zwecke stundenlang vor dem Spiegel eingeübt hatte.
Sie betrachtete ihn sinnend. An seiner Erscheinung – tadellos sitzender, anthrazitfarbener Anzug, dezent gemusterte Krawatte, neue randlose Brille – gab es nichts auszusetzen. Es ging vielmehr um seinen Charakter. Trotzdem ging ihr sein Blick, sein verzweifeltes Mienenspiel zu Herzen.
»Warum sollte ich Sie in meine Wohnung lassen?«, fragte Wendy etwas weicher, obwohl sie um Edgars schauspielerische Qualitäten wusste. Gleichzeitig hasste sie ihr weiches Herz, ihr Mitgefühl.
»Weil ich müde und durstig bin.«
»Dann gehen Sie in ein Hotel.« Ihre Stimme hatte alle Härte verloren und war wenig überzeugend.
Wendy wollte Edgar von Platen nicht einlassen und merkte doch unwillig, wie sie einen Schritt zurücktrat und die Tür ein Stück weiter öffnete. Während sie noch mit sich haderte, ergriff Edgar schon die günstige Gelegenheit und schob sich an ihr vorbei in den Flur. Unbekümmert spazierte er durch ihr Reich.
»Hmm, Sie haben Suppe gekocht.« Er war in der Küche angekommen und warf einen Blick in den halbvollen Topf. »Wenn ich mit Ihnen essen darf, beseitige ich danach das Chaos.« Er schickte einen vielsagenden Blick auf die rot getupften Fliesen hinter dem Herd, das gesprenkelte Ceranfeld.
Wendy haderte mit sich. Sie ahnte, dass er wieder einmal pleite war.
»Also schön«, gab sie sich seufzend geschlagen. »Aber nach dem Essen gehen Sie wieder.«
»Versprochen!« Edgar strahlte siegessicher und machte sich sofort daran, den Tisch zu decken.
Er war ein paarmal in dieser Wohnung gewesen und hatte sich alles gemerkt, wie Wendy erstaunt und durchaus angetan feststellte.
Als sie gemeinsam am Tisch saßen, eine Flasche Wein und den Brotkorb zwischen sich, und die Suppe löffelten, erzählte Edgar von Platen ausschweifend und wortreich von seinen atemberaubenden Geschäftserfolgen der jüngsten Vergangenheit.
Erschöpft vom anstrengenden Arbeitstag hörte Wendy kaum zu. Seine Geschichten interessierten sie nicht, solange sie nicht ihr Geld zurückbekam. Das wäre frühestens dann der Fall, wenn das Geschäft in München ein Erfolg wurde.
Endlich war Edgar satt und lehnte sich zufrieden zurück, das Glas Wein in der Rechten. Er musterte Wendy eingehend.
»So eine schöne Frau«, murmelte er sinnend. »Ich wünschte wirklich, Sie würden mir eine zweite Chance geben.« Ein verlangender Ausdruck trat in seine Augen. »Hat die nicht jeder verdient?«
Urplötzlich bekam es Wendy mit der Angst zu tun. Auf keinen Fall sollte er sich neue Hoffnungen machen. Doch wie sollte sie ihm das auf wirkungsvolle und nachhaltige Art und Weise klarmachen?
Das Gesicht von Dr. Alexander Gutbrodt tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Und plötzlich hatte sie eine Idee.
»Es tut mir leid, aber Sie kommen zu spät«, erklärte sie kühl und tupfte mit der Serviette unsichtbare Suppenspuren aus den Mundwinkeln. »Mein Herz ist inzwischen vergeben.«
Doch auch diese Nachricht schien Edgar von Platen nur kurz zu beeindrucken.
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, brachte er unbekümmert ein weiteres Zitat an und bemühte sich noch nicht einmal, sonderlich enttäuscht zu wirken. »Wer ist denn der Glückliche?«
Wendy lächelte schadenfroh. Jetzt wollte sie es ihm erst recht heimzahlen.
»Ein Prüfer. Dr. Alexander Gutbrodt«, beantwortete sie seine Frage mit Genugtuung. »Er deckt Missstände auf und beseitigt sie. Und zieht natürlich die Menschen zur Rechenschaft, die dafür verantwortlich sind.« Mit voller Absicht drückte sich Wendy etwas vage aus. »Ich bin ganz sicher, dass er durch seine Arbeit gute Kontakte zur Polizei hat«, fügte sie aufs Geradewohl hinzu.
Die erhoffte Wirkung blieb nicht aus.
»Zur Polizei? Ist das Ihr Ernst?«, fragte Edgar heiser.
Er war blass geworden, und die hektischen roten Flecken, die plötzlich auf seinen Wangen tanzten, erinnerten Wendy an die Flecken auf den weißen Fliesen. »Und das macht Ihnen nichts aus?«
»Natürlich nicht. Warum auch? Schließlich habe ich nichts zu verbergen.« Ihre Augen wurden schmal. »Aber Ihrem Aussehen nach zu schließen, sieht das bei Ihnen anders aus. Ich könnte Alex ja mal einen Tipp geben. Zum Beispiel, wenn ich nicht bald mein Geld zurückbekomme«, erklärte sie und mimte völlige Entspannung.
Wenn möglich, wurde Edgar noch blasser.
»Ich hatte nicht gedacht, dass Sie so gemein sein können.«
Er wirkte so betroffen, dass Wendy in der Tat ein schlechtes Gewissen bekam.
Einen Moment lang haderte er offensichtlich mit sich. Doch statt, wie sie insgeheim erhofft hatte, sofort zu gehen, schenkte Edgar die Gläser noch einmal voll. Wendy konnte nicht anders als seiner Aufforderung zu folgen und mit ihm anzustoßen. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn rauszuwerfen und hoffte darauf, dass er gehen würde, wenn sein Glas erst leer war.
*
Als ihr Verlobter Manfred Holler den fürs Wochenende geplanten Ausflug überraschend und unter einem fadenscheinigen Vorwand abgesagt hatte, war die Gymnasiallehrerin Natascha Kilian ein bisschen enttäuscht. Doch das wäre kein Grund für sie gewesen, irritiert zu sein. Es war vielmehr Manfreds nachdenkliche Schweigsamkeit, die sie verwunderte.
Am Abend hatte sie sie noch auf die Kopfwunde geschoben, die sich ihr Verlobter in seinem Badezimmer zugezogen hatte, als er – so hatte er es ihr erzählt – in der Badewanne ausgerutscht war. Doch als Natascha ihn an diesem Morgen früh weckte, hatte wieder dieser merkwürdige Ausdruck in seinen Augen gestanden.
»Du bist ja schon wach?«, stellte Manfred fest, als er ihren Argwohn bemerkte und zog sie rasch in seine Arme.
Dieser liebevollen Geste konnte Natascha nicht wiederstehen, und sie schmiegte sich in seine starken Arme, an seine breite Brust, an der sie sich so beschützt und geborgen fühlte wie nirgendwo sonst auf der Welt. »Täusche ich mich oder riecht es schon nach Kaffee?«, murmelte Manfred in ihr dunkles duftendes Haar.
»Frische Brötchen stehen auch schon auf dem Tisch.« Natascha löste sich vorsichtig aus der Umarmung und klemmte sich eine Strähne hinters Ohr.
Verliebt betrachtete sie ihren Herrn Oberlehrer, wie sie Manfred gerne scherzend nannte. Er sah noch verschlafen aus, und das dunkle zerzauste Haar gab ihm etwas Jungenhaftes. Schlagartig waren ihre Sorgen vergessen, und unvermittelt packte sie der Übermut. Sie bohrte ihre Fingerspitzen in Manfreds Bauchdecke. Selten hatte Natascha einen Menschen kennengelernt, der so kitzlig war, und Sekunden später tobten die beiden wie ausgelassene Kinder im Bett.
»Willst du wohl aufhören, du Satansweib!«, keuchte Manfred lachend, als es Natascha gelungen war, ihn erneut an einer besonders kitzligen Stelle zu quälen.
»Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt«, ließ sie sich nicht erweichen. Während sie sich an Manfred festklammerte, liefen ihr Lachtränen übers Gesicht.
»Den Teufel halte, wer ihn hält! Er wird ihn nicht so bald zum zweiten Male fangen«, konterte Manfred lachend aus Goethes Faust.
Mit einer geschickten Drehung seines geschmeidigen, durchtrainierten Körpers wand er sich aus Nataschas Umklammerung und floh aus dem Bett. Da geschah es. Wieder sackten seine Beine unter ihm weg, und haltlos stürzte er zu Boden.
Schlagartig verstummte das Lachen im Zimmer. Wie versteinert saß Natascha auf der Matratze und starrte ihren Liebsten an.
»Um Gottes willen, Manfred!«, rief sie entsetzt. »Hast du dir wehgetan?« Hastig kletterte sie aus dem Bett und kniete sich auf den Boden neben ihm. Sie hatte sich furchtbar erschrocken und legte eine Hand auf seine Schulter. »Bitte, sag doch was!«
Manfred war kreidebleich und atmete schwer. Auch ihm war der Schreck in die Glieder gefahren. Glücklicherweise war er diesmal weich gefallen und hatte sich nicht wehgetan.
»Geht schon wieder«, seufzte er endlich und richtete sich mühsam auf. Das Gefühl in den Beinen war zurückgekehrt.
»Was war denn das?«, erkundigte sich Natascha argwöhnisch, während sie ihm auf die Beine half. »Du bist einfach umgefallen.«
»Unsinn!«, widersprach er so heftig, dass sie erschrak. »Ich bin über die Teppichkante gestolpert.«
»Oh, das hab ich gar nicht gesehen.« Verwirrt sah Natascha ihm nach, wie er langsam durch das Schlafzimmer ging, hinüber ins Bad.
Wenig später hörte sie die Dusche rauschen, und Natascha, die schon im Bad gewesen war, zog sich an und ging hinüber in die kleine Wohnküche. Sie schenkte sich Kaffee ein und trat durch eine Tür hinaus an die frische Luft. Auf dem Balkon neben dem hübsch gedeckten Frühstückstisch standen Töpfe mit üppig blühenden Blumen. Sogar ein kleiner Spalierapfelbaum hatte dort sein Zuhause gefunden und fühlte sich offensichtlich sehr wohl dort im lichten Schatten. Dieser Anblick vertrieb ihre Sorgen, und sie seufzte zufrieden.
»Ich bin der glücklichste Mensch der Welt!«
Nebenan rauschte immer noch das Wasser, und es war gut, dass Natascha nichts von den Gedanken ahnte, die Manfred in diesem Augenblick bewegten.
»Was, wenn ich schon bald ein Pflegefall bin und mich dann nicht mehr selbst duschen kann?«
Niemals zuvor hatte er sich so elend gefühlt, und er fragte sich, ob das Leben unter solchen Umständen überhaupt noch lebenswert war.
»So darfst du nicht denken«, schalt er sich selbst und schäumte sein volles Haar mit Shampoo ein. »Vielleicht ist es eine ganz harmlose Sache, die sich mit einem kleinen Eingriff beseitigen lässt.« Doch so sehr er sich auch bemühte, er bekam seine Ängste nicht in den Griff.
Dabei ging es nicht nur um seine junge Frau sondern um sein gesamtes Leben. Manfred Holler war Lehrer mit Leib und Seele, unterrichtete an der Oberstufe. Was, wenn er im Rollstuhl sitzen musste? Würden seine Schüler ihn dann noch ernst nehmen? Mal abgesehen davon, dass sein geliebter Sportunterricht damit hinfällig war. Wie seine gesamten sportlichen Aktivitäten …
»Freddy?« Nataschas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Willst du unter der Dusche Wurzeln schlagen oder was?« Sie stand in der Tür und musterte wohlwollend seinen durchtrainierten Körper, dessen Umrisse trotz beschlagener Glaswand deutlich sichtbar waren. »Wenn du noch lange da stehst, komme ich möglicherweise auf dumme Gedanken«, warnte sie ihn, und er konnte ihr laszives Lächeln förmlich vor sich sehen.
»Eine verlockende Vorstellung, mein Schatz«, ging er auf ihren unbeschwerten Tonfall ein, auch wenn es ihm schwerfiel. »Allerdings würden ich dann zu spät in die Kir…« Erschrocken hielt er mitten im Satz inne.
Natürlich wusste er, dass er Natascha irgendwann einweihen musste. Aber nicht jetzt!, ging es ihm durch den Sinn. Nicht, wenn sie so gut gelaunt und positiv gestimmt war. Zuerst wollte er die Untersuchungsergebnisse abwarten.
»Was hast du gesagt, mein Schatz?«, rief sie durch die Wohnung. Glücklicherweise schien Natascha ihn nicht verstanden zu haben und hatte das Bad schon wieder verlassen.
Manfred beeilte sich mit dem Anziehen und trat nur Minuten später zu ihr auf den Balkon. Sein feuchtes Haar glänzte in der Morgensonne.
»Ich meinte, dass ich sonst zu spät zu meiner Fortbildung komme«, flüchtete er sich rasch in eine Ausrede. »Hmmm, das sieht aber lecker aus«, lobte er ihren hübsch gedeckten Frühstückstisch.
»Welche Fortbildung eigentlich?«, erkundigte sich Natascha. Sie hatte sich gesetzt und schenkte ihrem Liebsten Kaffee ein.
»Sport als Abiturfach, die neuen Richtlinien«, schüttelte Manfred schnell ein Thema aus dem Ärmel und starrte konzentriert auf den Korb mit den frischen Brötchen. »Welches nehme ich denn?«, fragte er sich betont leicht und entschied sich für eine knusprige Sesamsemmel.
Natascha freute sich darüber, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Zeit mit ihrem Verlobten zu verbringen, gehörte für sie zu den allerschönsten Vergnügungen, und schon jetzt konnte sie sich nicht mehr vorstellen, dass es ein Leben ohne ihn gegeben hatte.
»Was hältst du davon, wenn wir morgen in das Restaurant fahren, in dem wir unsere Hochzeit feiern wollen und das Menü besprechen«, machte sie einen unbekümmerten Vorschlag. Hungrig biss sie in ihre Bretzel, die sie zuvor aufgeschnitten und mit Butter bestrichen hatte. »Davor könnten wir bei deiner Schwester vorbeischauen und mit ihr und ihrem neuen Hund einen Spaziergang machen. Wir müssen diese Gelegenheit nutzen. Der Kleine ist bestimmt nicht mehr so süß und tollpatschig, wenn er erst ausgewachsen ist.«
Während Manfred Nataschas unbeschwerter Stimme lauschte, wurde sein Herz immer schwerer.
»Morgen geht es leider auch nicht«, rückte er zögernd mit der schlechten Nachricht heraus. Die Enttäuschung in Nataschas Gesicht schnitt ihm tief in die Seele. Doch er konnte es nicht ändern. Dr. Norden hatte ihn gebeten, sich das ganze Wochenende freizuhalten, falls sich die Diagnosestellung aufwändiger gestalten würde. »Ich hab doch letzte Woche eine Klausur in Deutsch schreiben lassen. Die muss ich unbedingt korrigieren.«
»Du hast heute und morgen keine Zeit?« Natascha machte gar nicht erst den Versuch, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Bitte nicht traurig sein«, bat Manfred schuldbewusst. »Dafür gehört das ganze nächste Wochenende uns. Ich schwöre!« Zum Beweis reckte er Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe.
Natascha hatte den Kopf weggedreht und starrte sekundenlang auf die bunten Blumen in den Kästen und Töpfen um sich herum, und einen Moment fürchtete Manfred, dass sie in Tränen ausbrechen könnte. Das hätte er nicht verkraftet, nicht in seiner derzeitigen Lage. Aber als sie sich ihm wieder zuwandte, wirkte sie glücklicherweise entspannt.
»Na ja, eigentlich ist es ganz gut so. Ich hab auch noch jede Menge zu korrigieren und muss noch eine Klassenlektüre auswählen. Dazu sollte ich ein paar englische Bücher lesen, die zur Wahl stehen. Ich kenne nur eines davon«, lächelte sie tapfer. »Und dazu komme ich nur, wenn du mich nicht ständig ablenkst.«
Manfred rang sich ein Lächeln ab.
»Ich weiß gar nicht, womit ich so eine tolle Frau verdient habe«, murmelte er gerührt und griff nach ihrer Hand, um sie an seine Lippen zu ziehen und zu küssen. Dann sah er auf seine Armbanduhr, ein Geschenk von Natascha. »Oh, schon so spät. Ich muss los. Vielen Dank für das tolle Frühstück.« Schnell leerte er seine Kaffeetasse, küsste Natascha noch einmal und eilte dann hinein. Um sie nicht misstrauisch zu stimmen, hatte er eine Sporttasche gepackt. Sie stand im Flur, und gleich darauf fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Natascha saß am Frühstückstisch und sah ihrem Verlobten verwirrt nach. Den Sturz hatte sie längst vergessen, und sie fragte sich, ob es tatsächlich nur die Arbeit war, die Manfred so veränderte? War er gestresst? Eine vage Angst kroch ihr über den Rücken. In ihren Augen war Manfred viel zu lange Single gewesen. War es möglich, dass er Angst vor der eigenen Courage bekam und seinen Heiratsantrag bereute? War er deshalb so still und in sich gekehrt?
*
»Ich habe Ihre Telefonnummer im Notizbuch meiner …, meiner … Bekannten gefunden. Sie müssen sofort kommen!« Dieser Notruf ereilte Dr. Norden am Samstagmorgen noch vor dem Frühstück. »Irgendwas stimmt nicht mit Martha.«
Daniel Norden ließ sich die Symptome schildern und gab dem aufgeregten Mann am anderen Ende der Leitung Anweisungen, wie er seiner Patientin bis zu seiner Ankunft helfen konnte.
»Wartet nicht auf mich!«, beschied er seiner Familie und drückte seiner Frau einen hastigen Kuss auf die Lippen.
»Soll ich fahren?«, bot Danny großzügig an.
Er war gerade dabei, sämtliche Utensilien für ein gemütliches Familienfrühstück zusammenzusuchen.
Doch Daniel winkte ab.
»Schon gut. Ich werde die Gelegenheit nutzen und nach dem Krankenbesuch in die Klinik fahren. Einer meiner Patienten leidet unter seltsamen neurologischen Ausfällen, die heute abgeklärt werden sollen«, erwiderte er und schlüpfte rasch in das Polohemd, das er gerade anziehen wollte, als das Telefon geklingelt hatte.
»Am Samstag?«, fragte Anneka, die zweitälteste Tochter der Familie Norden verwundert.
Dass ihr Vater am Wochenende Hausbesuche machte und Notfälle betreute, war Alltag für die Arzttochter. Dass aber aufwändige Untersuchungen in der Klinik auf freie Tage gelegt wurden, war ihr neu.
»Jenny macht eine Ausnahme für Herrn Holler. Er ist Lehrer und will nicht, dass seine Schüler auf Unterricht verzichten müssen.«
»Sehr pflichtbewusst, der Mann«, stellte Fee anerkennend fest.
Sie trat zu Daniel und schlug fürsorglich den Kragen seines Hemdes herunter. Eine Hand auf seiner Brust, küsste sie ihn zärtlich.
»Ich könnte mir vorstellen, dass seine Schüler anderer Meinung sind«, stellte Danny grinsend fest und drückte seinem großen Bruder Felix, der gerade verschlafen und mit strubbeligen Haaren in die Küche getappt kam, kurzerhand das volle, schwere Tablett in die Hand. »Da, das ist dein Job. Ich hab meine Familienpflichten für heute schon erfüllt.« Wie zum Beweis gurgelte und blubberte die Kaffeemaschine im Hintergrund.
»Sklaventreiber. Ich schlafe noch«, murrte Felix und sah Anneka auffordernd an. »Und du? Was ist mit dir?«, fragte er, ganz offensichtlich auf der Suche nach einem geeigneten Opfer, um diese Arbeit zu delegieren. »Hast du heute schon was für das Allgemeinwohl gemacht?«
»Ich hab Semmeln geholt«, kam die in Felix’ Ohren unerfreuliche Nachricht, und Anneka schnitt ihm eine triumphierende Grimasse.
»Bleiben immer noch die Zwillinge. Tisch decken ist eine gute Arbeit für vier flinke kleine Hände.«
»Dési mäht den Rasen und Jan recht zusammen«, machte Fee ihren Zweitältesten auf die gedämpften Motorengeräusche aufmerksam, die durch die geöffnete Terrassentür drangen.
»Was ist denn nur mit euch allen los? Warum seid ihr schon so dynamisch am frühen Morgen?« Die Verwirrung stand Felix ins zerknautschte Gesicht geschrieben.
»Erstens ist es schon nach zehn. Von frühem Morgen kann also keine Rede sein. Außerdem sind wir eben alle vernünftiger als du und treiben uns nicht die halbe Nacht auf irgendwelchen Partys rum«, konterte Anneka unbarmherzig.
»Dafür verpasst ihr auch das Beste vom Leben!«
»So siehst du aber im Augenblick nicht aus«, lachte Danny schadenfroh. »Eher, als wärst du in einer Folterkammer gewesen.« Er hatte leicht lachen. Seit er eine feste Freundin hatte, gab es für ihn keinen Grund mehr, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen.
Auf dem Weg zum Wagen hörte Daniel noch ein unwilliges Schnauben und das fröhliche Gelächter seiner Familie. Er bedauerte es zutiefst, nicht am gemeinsamen Frühstück teilnehmen zu können, das in der Familie Norden am Wochenende ein besonderes Ritual war.
Doch wie immer ging die Pflicht vor, und er fuhr auf schnellstem Weg zu Martha Bremer. Seit einigen Jahren war die ältere Dame Diabetikerin und hatte Probleme, die Kontrolle über die Zuckerkrankheit zu behalten, was auch an ihrem unglaublichen Sturkopf lag.
»Mein Name ist Oliver Herrmann.« Der Arzt wurde bereits sehnsüchtig erwartet. Ein gut gekleideter älterer Herr stand ein wenig verlegen an der Tür des kleinen Siedlerhauses mit dem spitzen Dach. Er mochte um die 60 Jahre alt sein und wirkte völlig verunsichert. »Ich bin Marthas Bekannter.« Es war ihm ganz offensichtlich ein bisschen peinlich.
»Wo ist Frau Bremer?«, fragte Daniel. Wenn es sich um das handelte, was er vermutete, hatte er keine Zeit zu verlieren.
»Im Wohnzimmer auf dem Sofa.« Oliver Herrmanns dunkle Stimme zitterte ein wenig. »Bitte kommen Sie schnell.«
Dr. Norden kannte den Weg und zögerte nicht. Als er das Wohnzimmer betrat, fiel sein Blick sofort auf die für gewöhnlich sehr resolute Dame, die trotz ihres Alters immer noch großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte. Auch an diesem Morgen war ihr feines Gesicht zart geschminkt, und die Frisur saß ebenso perfekt wie das fliederfarbene Twinset, das sie trug. Allein ihre schreckgeweiteten, unruhigen Augen wollten nicht recht zu ihrem tadellosen Äußeren passen.
Als sie Dr. Norden sah, lächelte sie matt und hob die rechte Hand zum Gruß.
»Mein lieber Doktor! Gut, dass Sie gleich gekommen sind.«
»Was machen Sie denn für Sachen, Frau Bremer?«, fragte Daniel und zog sich einen Stuhl neben das Sofa.
Oliver war inzwischen dazugekommen. Er stand in der Tür und beobachtete skeptisch die Bemühungen des Arztes.
»Ich hab ihr Traubenzucker gegeben, genau, wie Sie gesagt haben.«
Martha Bremer schickte ihrem Bekannten einen dankbaren und ein wenig unsicheren Blick. Es war ihr nicht recht, dass er sie so sah. Nicht nach dieser kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft. Eine erste zarte Verliebtheit wuchs wie ein scheues Pflänzchen zwischen ihnen, und sie fürchtete nicht nur um ihre Gesundheit sondern auch um das empfindliche Pflänzchen.
»So ein fürsorglicher Mann«, lobte sie und rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich habe dir einen solchen Schrecken eingejagt.«
»Was ist denn genau passiert?«, wollte Daniel wissen, um sich zu vergewissern, dass seine Ahnung richtig war.
»Martha und ich waren gestern Abend in einem Klavierkonzert. Ach, es war so herrlich!«, geriet Oliver bei dieser Erinnerung unvermittelt ins Schwärmen. Seit vielen Jahren war er Witwer und hatte sich schon damit abgefunden, den Rest seines Lebens allein verbringen zu müssen. Da war die lebendige Martha wie ein bunter Schmetterling in sein Leben geflattert und bereicherte es seither mit schönen Ideen und Unternehmungen. Schon jetzt wollte er sie nicht mehr missen.
»Der arme Oliver muss ganz schön viel aushalten mit mir«, erläuterte Martha nebenbei. »Jeden Abend fällt mir etwas anderes ein. Dabei hatte er vorher ein so beschauliches Leben.«
Oliver Herrmann lächelte zärtlich.
»Langweilig passt viel besser«, gestand er warm. »Wir haben sogar Wein getrunken, und ich habe mich erst nach Mitternacht verabschiedet. Als ich heute Morgen wieder kam, war noch alles dunkel. Deshalb habe ich mit dem Ersatzschlüssel aus dem Blumenbeet aufgeschlossen.«
»Jetzt hast du mein Versteck verraten!«, fiel Martha ihm ins Wort.
Unwillkürlich musste Daniel Norden schmunzeln. Das verliebte Geplänkel des alten Paares war rührend und erinnerte ihn an zwei Jugendliche. Es war tröstlich zu erleben, dass Liebe kein Alter kannte und dass es nie zu spät war, dieses Wunder und Glück zu erleben.
»Keine Angst. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, versicherte Dr. Norden ernsthaft.
Oliver räusperte sich verlegen.
»Ich schlich mich also ins Haus und wollte sie mit einem Frühstück überraschen. Martha kam erst, als ich schon dabei war, den Kaffee zu kochen und den Tisch zu decken«, berichtete Oliver, und sein Blick wurde wieder besorgt. »Da begann sie auf einmal zu zittern. Der Schweiß lief ihr über die Stirn, und sie war furchtbar unruhig. Ich wusste nicht, was los war. Deshalb habe ich Sie gleich angerufen.« Nach dem überstandenen Schreck verließen Oliver Herrmann langsam aber sicher die Nerven. Die Angst, seine reizende Martha wieder verlieren zu können, jetzt, wo er sie nach den Jahren der Einsamkeit endlich gefunden hatte, ließ seine Unterlippe zittern. »Ich hatte keine Ahnung, dass Martha zuckerkrank ist.« Noch im Nachhinein wurden seine Knie weich, und er sank auf einen der Stühle, die am Esstisch standen.
»Ich wollte es dir nicht sagen aus Angst, dass du dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst«, gestand Martha leise und wagte es nicht, Oliver anzusehen.
»Gut, dass Sie mich gleich angerufen haben«, lobte Daniel Norden. »Und glücklicherweise ist ja noch mal alles gerade gut gegangen.« Nachdem er Puls und Blutdruck seiner Patientin gemessen hatte, entnahm er einen Tropfen Blut aus der Fingerkuppe, um den Blutzuckerspiegel mit einem entsprechenden Gerät zu testen. »Ich verabreiche Ihnen jetzt eine Insulininjektion. Dann sind Sie bald wieder auf den Beinen.«
Aus halb geschlossenen Augen sah Martha Bremer ihrem Hausarzt zu, wie er eine Spritze mit hauchfeiner Nadel aufzog und ihr das Medikament verabreichte.
»Sie sind ein wahrer Engel!«, seufzte sie zufrieden und schloss die Augen. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Indem Sie die Diabetes-Sprechstunde in der Behnisch-Klinik wahrnehmen«, erklärte Daniel streng. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er der eigensinnigen Dame diese Maßnahme schon ans Herz gelegt hatte. Bisher vergeblich. »Dort werden Sie vernünftig auf die erforderliche Menge Insulin eingestellt, und Ihnen wird genau erklärt, wie Sie mit Ihrer Krankheit umgehen sollen, was erlaubt und was verboten ist. Mit einer Unterzuckerung ist nämlich nicht zu spaßen. Durch die erhöhte Adrenalin-Ausschüttung kann er Blutdruck und Kreislauf erhöhen und unter Umständen sogar zu einem Herzinfarkt führen.«
»Oh mein Gott, Martha!«, rief Oliver erschrocken. Drohend wie zwei Gewitterwolken schoben sich seine Augenbrauen zusammen. »Warum warst du nicht längst bei dieser Sprechstunde? Das ist unverantwortlich. Du musst besser auf dich aufpassen. Ich brauche dich doch noch.«
»Ach, du siehst doch …« Martha wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Augen glänzten feucht, und sie winkte rasch ab. »Unkraut vergeht nicht.«
»Ich fahre gleich im Anschluss in die Klinik«, nutzte Daniel Norden die günstige Gelegenheit. Zufällig wusste er, dass die Kollegin an diesem Wochenende Dienst hatte. »Sie könnten gleich mitfahren. Die Diabetes-Ärztin Dr. Kathrin Kober wird sich mit Freuden um Sie kümmern.«
»Nicht nötig, lieber Doktor, nicht nötig.« Wie um Daniel ihre neu erwachte Energie zu beweisen, setzte sich Martha auf dem Sofa auf.
Doch diesmal erhielt Dr. Norden Schützenhilfe.
»Natürlich ist das nötig, liebe Martha«, erstickte Oliver Herrmann jeden Widerspruch im Keim, indem er aufstand und die Kostümjacke seiner späten Liebe brachte und ihr auch gleich dabei half, die Hausschuhe gegen ein schickes Paar Slipper zu tauschen. Marthas schwachen Protest erstickte er resolut im Keim.
Schmunzelnd beobachtet Daniel Norden die Prozedur. Das, was er in vielen Monaten nicht geschafft hatte, gelang diesem Herrn in wenigen Minuten. Und wieder einmal stellte er fest, dass die Macht der Liebe wahre Wunder bewirken konnte und an Durchsetzungskraft nicht zu überbieten war.
*
Als Wendy an diesem Samstagmorgen erwachte, brummte ihr der Kopf. Eine Weile lag sie reglos in ihrem Bett und versuchte herauszufinden, woher die Kopfschmerzen rührten. Und das ungute Gefühl in ihrem Magen, das sie bis in ihren verworrenen Traum hinein verfolgt hatte.
Als sie ein Geräusch in der Wohnung hörte, fuhr sie wie von der Tarantel gebissen hoch.
»Meine Güte, was habe ich getan?«, flüsterte sie entsetzt. Mit einem Schlag war ihr alles wieder eingefallen. »Wie konntest du das nur tun? Annemarie? Wie konnte dir das passieren? Schließlich bist du kein dummer Teenager mehr sondern eine erwachsene Frau. Du musst den Verstand verloren haben!«
Selten hatte sie ein schlechteres Gewissen gehabt und strafte sich selbst mit einer eiskalten Dusche. Doch das war bei Weitem noch nicht Strafe genug für ihre grenzenlose Naivität.
»Ich wusste es!«, setzte sie ihr Selbstgespräch vor dem Badezimmerspiegel fort. »Ich hätte ihn nicht reinlassen sollen.« Mit dem Zeigefinger deutete sie drohend auf ihr Spiegelbild. »Das hast du nun von deinem ewigen Mitgefühl, von deinem butterweichen Herz.« Sie verdrehte die Augen. »Und dann noch der viele Wein. Oh, ich glaube, mir wird schlecht.« Einen kurzen Augenblick liebäugelte sie damit, ins Bett zurückzukehren und sich tot zu stellen.
Aber das ließ ihre Disziplin natürlich nicht zu. Möglichst ohne ein Geräusch zu machen, kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück, während Edgar von Platen offenbar bester Dinge und ein fröhliches Liedchen auf den Lippen, in der Küche rumorte. Obwohl Wendy die Auswahl ihrer Garderobe in die Länge zog, war sie doch viel zu schnell fertig.
»Es nützt alles nichts«, seufzte sie schließlich. »Diese Suppe muss ich selbst auslöffeln.« Zaghaft drückte sie die Klinke hinunter und ging mit weichen Knien hinüber in die Küche.
»Guten Morgen, meine Königin«, grüßte Edgar sie strahlend wie der junge Morgen persönlich.
Er hatte nicht nur sein Versprechen eingelöst und die Küche von den Suppenflecken befreit und auf Vordermann gebracht. Auch darüber hinaus spielte er den perfekten Hausmann und hatte den Tisch gedeckt, Kaffee und Eier gekocht.
»Ich wusste nicht, ob du ein weich gekochtes Ei magst oder lieber ein hartes. Deshalb hab ich dir zwei gemacht. Das mit dem Kreuzchen obendrauf ist das weiche.«
»Morgen«, erwiderte Wendy einsilbig. Den Tag mit Edgar von Platen beginnen zu müssen, war mehr, als sie verkraftete. Noch dazu, wenn sie sich daran erinnerte, zu was sie sich hatte breitschlagen lassen. Obwohl es draußen sommerlich warm war, zog sie die dünne Strickjacke fröstelnd eng um sich.
»Soso, ich habe es also mit einem Morgenmuffel zu tun«, lachte er unbekümmert und schenkte Kaffee ein. »Hast du gut geschlafen?«
»Nein. Ich hatte fürchterliche Albträume.«
»Du Ärmste! Ich hatte eine perfekte Nacht.«
»Freut mich für dich.« Unwillig stellte Wendy fest, dass er sogar daran gedacht hatte, die Milch warm zu machen. Warum nur gab er ihr keinen Grund, wütend auf ihn zu sein? Schweigend rührte sie in ihrem Kaffee.
Als sich Edgar zu ihr gesetzt hatte, holte sie tief Luft. Besser, sie brachte es gleich hinter sich.
»Hören Sie, Edgar, ich weiß nicht, was gestern in mich gefahren ist …«
»Aber ich weiß es. Du liebst mich eben und wolltest es bisher nur nicht wahrhaben.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht.«
Überrascht von ihrer unwirschen Reaktion hob Edgar abwehrend die Hände.
»Ruhig Blut. Das war doch nur ein Witz«, versuchte er sie zu beschwichtigen. Selbst mir ist inzwischen aufgefallen, dass du mich nicht sonderlich gut leiden kannst.« Ohne den Blick von Wendy zu nehmen, rührte er sinnend in seinem Kaffee. »Ich würde sagen, uns verbindet eine klassische Hassliebe. Du hasst mich und ich liebe dich.«
Wendys Kopf dröhnte noch immer und langsam aber sicher brachte sie dieser charakterlose Schönling zur Verzweiflung.
»Ich hasse Sie nicht«, stöhnte sie und stand auf, um im Erste-Hilfe-Schrank hinter der Tür nach einer Kopfschmerztablette zu suchen. »Sie sind mir einfach egal. Alles, was ich von Ihnen will, ist mein Geld zurück. Danach können Sie gerne auf Nimmerwiedersehen aus meinem Leben verschwinden.« Wendy hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte und füllte an der Spüle ein Glas Wasser und schluckte die Tablette. Danach kehrte sie an den Tisch zurück.
»Du bist ganz schön wütend auf mich«, stellte Edgar überflüssigerweise fest und biss in die Scheibe Brot, die er großzügig mit Wendys bestem Schinken belegt hatte. »Und keine Sorge, ich weiß, dass es einen anderen Mann in deinem Leben gibt, dem ich unmöglich das Wasser reichen kann. Aber darf ich dich wenigstens daran erinnern, dass wir Brüderschaft getrunken haben?«
Entsetzt riss Wendy die Augen auf. Was war denn noch alles passiert, woran sie sich nicht erinnern konnte?
»Habe ich dich etwa geküsst?«, fragte sie vorsichtig.
Eine Wolke huschte über Edgar von Platens gut geschnittenes Gesicht.
»Dazu kam es leider, leider nicht. Obwohl ich es mir so gewünscht hatte.«
»Wenigstens etwas!«, seufzte Wendy, auch wenn sie nicht sonderlich erleichtert war.
Edgar von Platen fixierte seine Gastgeberin mit einem, wie er meinte, verliebten Blick und beugte sich weit über den Tisch. Je näher er kam, umso weiter wich Wendy zurück.
»Dann bekomme ich also wirklich keine zweite Chance?«, versuchte er hartnäckig noch einmal sein Glück.
Sie bestätigte seinen Verdacht mit einem so energischen Nicken, wie es ihr in Anbetracht ihres angeschlagenen Zustands möglich war.
»Hast du Alex schon wieder vergessen? Und das, was ich machen werde, wenn du mir mein Geld nicht zurückgibst?«, erinnerte sie ihn schonungslos.
Seufzend lehnte er sich zurück.
»Aber auf dein Wort kann ich mich trotzdem verlassen?« Zum ersten Mal, seit Wendy den smarten Geschäftsmann kannte, stand eine echte Sorge in seinen Augen. »Dass ich ein paar Tage bei dir wohnen kann, bis ich meine Geschäfte hier abgewickelt habe? Ein Hotel kann ich mir nicht leisten, das habe ich dir doch lang und breit erklärt.«
Natürlich hatte Wendy ihm diese Bitte in der Nacht zuvor sofort abgeschlagen. Aber Edgar hatte sich nicht beirren lassen und ihr im Gegenzug das schuldige Geld versprochen. Mit Engelszungen hatte er auf sie eingeredet und mit seinem treuen Hundeblick gespielt, dass sie in ihrem angetrunkenen Zustand schließlich schwach geworden war. Zumal er ihr versprochen hatte, dass er sie dann nie wieder belästigen würde.
»Vier Tage. Mehr nicht«, traf Wendy schließlich eine Entscheidung und ärgerte sich schon wieder über sich selbst. Aber sie hätte sich auch geärgert, wenn sie auf das Geld verzichtet hätte. Was auch immer sie tat, es konnte nur falsch sein. Wieder einmal hatte Edgar von Platen sie in eine Falle gelockt. Und sie konnte nur hoffen, dass es ihr gelang, sich unversehrt zu befreien. Alexander Gutbrodt war ihr dabei eine große Hilfe. Seine bloße Existenz schien zu genügen, um Edgar einzuschüchtern. Das war das Einzige, das ihr Mut machte.
*
Nach einer ersten Untersuchung wurde Manfred Holler zur Kernspintomographie geschickt. Danach sollte er sich wieder bei der Orthopädin Dr. Verena Schreiner einfinden.
»Herr Dr. Norden, das ist ja eine Überraschung!«, staunte er nicht schlecht, als er ins Zimmer der Ärztin zurückkehrte und den Arzt dort vorfand.
Daniel hatte seine Patientin bei der Kollegin Kober abgeliefert und war dann auf direktem Weg in die Orthopädie gegangen.
»Haben Sie kein Wochenende?«, fragte Manfred.
»Im Normalfall schon. Aber in wichtigen Fällen mache ich durchaus eine Ausnahme.«
»Was sagt Ihre Frau dazu?« Unwillkürlich musste Manfred an Nataschas enttäuschtes Gesicht denken.
»Meine Frau stammt auch aus einer Arztfamilie. Sie ist es also gewohnt. Außerdem ist sie selbst Ärztin und teilt meine Leidenschaft für diesen Beruf.«
»Sie haben es gut«, seufzte Dr. Verena Schreiner, eine aparte Frau in den Vierzigern. »Meine Beziehungen zerbrechen regelmäßig an meinen Arbeitszeiten. Am Anfang sind die Herren der Schöpfung immer voller Bewunderung. Aber irgendwann hat noch jeder Mann angefangen, sich zu beschweren. Doch gegen meinen Beruf hat keiner eine Chance. Entweder der Mann akzeptiert ihn. Oder eben nicht. In diesem Fall ist er der Falsche für mich. Und das war bisher immer so.« Sie hatte die Hände in die Taschen ihres Kittels gesteckt und lauschte dem Nachhall ihrer Worte. Dann nickte sie, als ob sie sie noch einmal bestätigen wollte.
»Meine zukünftige Frau hat auch denselben Beruf wie ich«, berichtete Manfred versonnen. »Sie unterrichtet Englisch und Biologie. Eigentlich wollen wir bald heiraten. Wenn …« Er sah Dr. Schreiner und Dr. Norden sorgenvoll an und beendete den Satz nicht.
Entschieden nahm Verena die Hände aus den Taschen und lächelte aufmunternd.
»Keine Angst. Wir werden schon rausfinden, was Ihnen fehlt, und die Ursache für ihre Ausfälle so schnell wie möglich beheben.«
»Wenn Ihnen das gelingt, sind Sie Ehrengast auf meiner Hochzeit«, versprach Manfred und setzte sich neben die beiden Ärzte, um die Aufnahmen zu betrachten.
Verena schob die CD ins Laufwerk des Computers. Zunächst lächelte sie noch. Doch dann gefror nicht nur ihre sondern auch die Miene ihres Kollegen Daniel Norden. Geübt im Interpretieren solcher Bilder wusste er sofort, dass mit diesem Befund nicht zu spaßen war.
»Kann ich offen mit Ihnen reden?«, war er es denn auch, der das sensible Gespräch übernahm.
Manfred konnte nur helle und dunkle Schatten auf dem Bildschirm ausmachen. Er schluckte.
»Was ist es? Ein Bandscheibenvorfall, der nur durch eine Operation behoben werden kann?«, ging er in die Offensive.
Verena Schreiner und Daniel Norden sahen sich kurz aber vielsagend an.
»Sehen Sie selbst«, forderte Dr. Schreiner ihren Patienten freundlich auf. »Ich erkläre es Ihnen.«
Zögernd rollte Manfred mit seinem Stuhl auf den Platz, den Dr. Norden für ihn frei gemacht hatte.
»Wir haben es hier mit einem Tumor zu tun, der bereits in den Rückenmarkkanal hineinreicht«, redete sie nicht lange um den heißen Brei herum und deutete auf die entsprechenden Bereiche der Aufnahmen. Dann sah sie ihren Patienten fragend an. »Seit wann haben Sie denn Beschwerden?«
Manfred war blass geworden.
»Als Leistungssportler leide ich quasi immer unter irgendwelchen Schmerzen«, erklärte er mit rauer Stimme. »Deshalb habe ich die Rückenschmerzen auch gar nicht sonderlich ernst genommen. Die habe ich seit ungefähr zwei, vielleicht drei Monaten. Ich dachte, das vergeht schon wieder.«
»Demnach haben Sie die Schmerzen gar nicht mit dem Wegknicken der Beine in Zusammenhang gebracht?«, erkundigte sich Daniel Norden.
»Nein.« Manfred Holler schüttelte den Kopf. »Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen.« Sein völlig verunsicherter Blick wanderte von einem Arzt zum anderen. »Können Sie schon sagen, ob es sich um einen gutartigen Tumor handelt?« Seine Gedanken eilten weiter, und er wagte es kaum, seinen schrecklichen Verdacht auszusprechen. Doch es musste sein. Er konnte die Tatsachen nicht länger verleugnen. »Oder um Krebs?«
»Eine solche Aussage zu wagen, wäre unseriös«, antwortete Dr. Verena Schneider ohne Zögern. »Sicher ist nur, dass wir um einen Eingriff nicht herumkommen werden.« Sie hatte die Arme vor dem Oberkörper verschränkt und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Wir sollten schnell handeln, bevor der Tumor die Nerven immer weiter beeinträchtigt und irreversible Schäden verursacht.«
Manfred starrte auf den Bildschirm, der vor seinen Augen verschwamm.
»Ich wollte in ein paar Wochen heiraten«, wiederholte er mit einer Stimme, die von weit, weit her kam. »Natascha ist meine große Liebe. Die erste Frau, mit der ich mir vorstellen kann, alt zu werden.« Wieder tauchte ihr enttäuschtes Gesicht vor ihm auf. »Ich kann doch die Hochzeit nicht einfach so absagen.« Er schickte den Ärzten einen hilflosen Blick.
»Nach allem, was Sie von ihr erzählt haben, bin ich sicher, dass Ihre Verlobte eine großartige Frau ist«, versuchte Daniel Norden, seinen verzweifelten Patienten zu trösten. »Natascha wird nicht nur Verständnis dafür haben sondern darüber hinaus auch noch froh sein, wenn Sie den Eingriff nicht unnötig lange hinauszögern und damit ein unkalkulierbares Risiko eingehen.« Daniel Norden räusperte sich. Er hatte tiefes Mitgefühl mit dem sympathischen Lehrer. Und es tat ihm in die Seele hinein leid, dass das noch nicht alles war, was er ihm sagen musste.
Doch er war nicht allein. Verena Schreiner war sensibel genug, um die Not des Kollegen zu erkennen. Sie ließ ihn nicht im Stich.
»Leider muss ich Ihnen sagen, dass eine Operation angesichts der Lage des Tumors einige Gefahren birgt, die wir im Augenblick noch nicht abschätzen können.«
Wenn möglich, wurde Manfred noch blasser. Er klammerte sich an den Lehnen seines Stuhls fest, dass seine Knöchel weiß wurden.
»Was heißt das genau?«, versuchte er, die Fassung zu wahren. Wenigstens noch so lange, bis er dieses Zimmer verlassen hatte und allein war.
Verena antwortete nicht sofort. Es gehörte zu den schwierigsten Aufgaben dieses Berufs, solche Hiobsbotschaften zu übermitteln. Viele Kollegen brachten diese Angelegenheiten mit wenig Empathie – kurz und schmerzvoll – hinter sich und ließen ihre Patienten mit ihren furchteinflößenden Gedanken, der namenlosen Angst und den vielen Fragen allein. Nicht so Daniel Norden, Jenny Behnisch und ihr gesamtes Team. Sie alle hatten sich einem gefühlvollen Umgang mit diesen sensiblen Themen auf die Fahne geschrieben und handelten entsprechend. Trotzdem blieb ihnen allen manchmal nichts anderes übrig als ihren Patienten reinen Wein einzuschenken.
»Das bedeutet, dass wir nicht genau wissen, ob Sie Ihre Beine nach dem Eingriff noch gebrauchen können.«
Manfred sah zwar, dass sich Daniel Nordens Hand auf seinen Arm legte. Doch er fühlte es nicht.
»Ich werde möglicherweise für den Rest meines Lebens behindert sein?«, stammelte er fassungslos und starrte Dr. Verena Schreiner ins Gesicht.
»Es könnte sein«, musste Daniel Norden gestehen. »Aber es ist nicht sicher. Wir fällen hier kein Urteil über Ihr Schicksal. Wir sind nur verpflichtet, Sie über die möglichen Risiken aufzuklären.«
Manfred Hollers Gedanken schossen hierhin und dorthin. Er dachte an seinen geliebten Sport, an seinen Beruf. Und nicht zuletzt natürlich an seine junge Frau. An Natascha, die sich schon jetzt auf eine Familie freute, auf Kinder … Kinder? Wie unter einem Peitschenhieb zuckte er zusammen.
»Kann ich denn dann noch Kinder haben? Kann ich es meiner jungen Verlobten überhaupt zumuten, mit einem Behinderten alt zu werden?«
»Ein Unglück kann immer passieren«, versuchte Dr. Schreiner, ihrem verzweifelten Patienten Mut zu machen. »Dieses Risiko gehört einfach zum Leben. Schließlich könnte Ihrer zukünftigen Frau auch etwas zustoßen. Dann würden Sie sie doch auch nicht verlassen.«
Manfreds Gesicht war verzerrt, als er abwehrend die Hände hob.
»Ich bitte Sie, wir leben doch nicht in einem Märchen!«, gab er unwirsch zurück. »Natascha ist zehn Jahre jünger als ich. Ich könnte es schon vor meinem Gewissen nicht verantworten, sie unter diesen Umständen an mich zu binden. Jeden Tag würde ich mir Vorwürfe machen, Sie an mich gefesselt, ihr das Recht auf ein unbeschwertes Leben genommen zu haben, das ich mir in der Vergangenheit durchaus gegönnt habe.« So schnell sein Zorn gekommen war, so rasch war er auch wieder verflogen, und ermattet ließ Manfred die Arme sinken. Jetzt wirkte er wie ein mutloser, entsetzlich trauriger, großer Junge.
Eine Weile saßen die drei noch zusammen und beantworteten die Fragen des Lehrers so gut es ging. Schließlich war alles gesagt, und es gab keinen Grund mehr für Manfred, noch länger zu bleiben.
»Bitte warten Sie nicht zu lange mit einer Entscheidung«, bat Dr. Norden, als er seinen Patienten gemeinsam mit Verena zur Tür brachte.
»Verschieben Sie die Hochzeit! Je eher wir die Sache in Angriff nehmen, umso größer sind Ihre Chancen, heil aus der Nummer wieder rauszukommen«, wählte Verena Schreiner eine saloppe Formulierung.
Sie erreichte ihr Ziel, und Manfred lächelte sie matt an, bevor er sich verabschiedete.
Den Rest des Tages hatte er zur freien Verfügung. Er hatte Natascha erzählt, dass die Fortbildung den ganzen Tag dauern würde. So irrte er ziellos durch die Stadt. Pausenlos kreisten die Gedanken in seinem Kopf. Natascha freute sich auf einen entspannten Abend mit ihm, aber er musste mit ihr sprechen. Und das, wo er ihr schon den Morgen verdorben hatte. Unwillig schüttelte Manfred den Kopf und traf eine Entscheidung.
»Nicht heute! Irgendwann einmal! Aber nicht heute.« Die nahe Kirchturmuhr schlug fünf Mal. Jetzt konnte er endlich nach Hause fahren, ohne ihren Verdacht zu erregen.
*
Für manche wie die Familie Norden verging das Wochenende leider viel zu schnell, während andere, wie Wendy, es kaum erwarten konnten, wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Mehr denn je war die Praxis ihr Zufluchtsort, und sie war froh und dankbar, dass sich die Patienten an diesem Montagvormittag die Klinke in die Hand gaben. Außerdem war Dr. Alexander Gutbrodt gekommen, um sich weiter um die Verhältnisse in der Praxis zu kümmern. Mit klopfendem Herzen servierte sie ihm Kaffee und Kekse. Zu ihrer Überraschung hatte er nur ein flüchtiges Lächeln für sie übrig. Nicht der leiseste Hauch eines Flirts lag in der Luft.
Doch an diesem Vormittag hatte Wendy glücklicherweise keine Zeit, sich große Gedanken darüber zu machen.
»Wenn Sie bitte noch im Wartezimmer Platz nehmen. Der junge Herr Norden hat gleich Zeit für Sie«, teilte sie Frau Bremer mit, die überraschend und ohne Termin in der Praxis aufgetaucht war.
Das Telefon klingelte, ein weiterer Patient wartete darauf, sein Anliegen anzubringen und eine Impfung und eine Blutabnahme standen an.
Doch Martha Bremer dachte nicht daran, sich widerspruchslos in diese Anweisung zu fügen.
»Ich muss unbedingt zu Dr. Norden Senior«, betonte sie und ordnete mit der faltigen, zartgliedrigen Hand in aller Ruhe ihre silberglänzende Frisur.
»Herr Dr. Norden ist heute Vormittag restlos ausgebucht«, erklärte sie und entschuldigte sich mit einem freundlichen Blick. Das Telefon klingelte immer noch. Sie konnte den Anrufer unmöglich noch länger warten lassen. »Guten Tag Herr Mückenberg, Sie müssen den Termin absagen?«, bediente sie den Patienten trotz des Stresses mit gewohnter Liebenswürdigkeit und zog den Terminkalender heran. »Ah, hier haben wir Sie ja. Wollen Sie einen neuen ausmachen?«
Wendy schickte der ungeduldig werdenden Frau Bremer ein freundliches Lächeln und verabschiedete sich schließlich von ihrem Gesprächspartner. Sie notierte den neuen Termin und musste sich einen Moment sortieren.
»Sie müssen also zu Dr. Norden Senior?«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. »Um was geht es denn? Ist es wirklich ausgeschlossen, dass Danny Norden Ihnen weiterhelfen kann?«, versuchte sie, Martha umzustimmen.
»Das, meine Liebe, ist eine private Angelegenheit«, gab Frau Bremer selbstbewusst zurück. »Aber wie ich gehört habe, ist doch gerade ein Termin beim Herrn Doktor frei geworden«, ließ sie nicht locker.
In diesem Augenblick trat Danny zu den beiden Damen an den Tresen. Überrascht stand er hinter Martha und konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. Eine attraktive, wenn aber auch sichtlich gealterte Patientin, die eine Privatangelegenheit mit seinem Vater zu besprechen hatte?
Wendy fing Dannys Blick auf und runzelte die Stirn.
»Gut. Dann übernehmen Sie Herrn Mückenbergs Termin«, gab sie sich seufzend geschlagen, und endlich zog sich Martha zufrieden ins Wartezimmer zurück.
Danny hingegen musste bis zur Mittagspause warten, um seinen Vater allein zu erwischen.
»Sieh mal einer an …«, begann er vielsagend, nachdem sie kurz die schwierigen Fälle des Vormittags – den Verdacht auf eine akute Blinddarmentzündung, Vergiftungserscheinungen bei einem Dreijährigen und die Blutung eines Magengeschwürs bei einem Patienten mit Blutgerinnungsstörungen – besprochen hatten, »ich hab ja gar nicht gewusst, dass du neuerdings auf ältere Semester stehst.« Dabei grinste er seinen Vater frech an.
Zuerst wusste Daniel gar nicht, worauf sein Sohn hinauswollte.
»Ich verstehe nicht …«
»Na, die ältere Dame, die heute auf einem Termin bei dir bestanden hat«, bemerkte Danny und räumte geschäftig auf seinem Schreibtisch herum. »Ich meine, sie ist ja durchaus apart …, aber findest du nicht, dass sie ein paar Jahre zu alt für dich ist.«
Endlich ging Daniel ein Licht auf und er schmunzelte amüsiert.
»Das könnte ich von dir ja auch behaupten«, spielte er auf Dannys hartnäckige Verehrerin an. »Deine Victoria Bernhardt ist ja mindestens auch zehn Jahre älter als du. Mal abgesehen davon, dass Frau Bremer einen Freund hat.«
Schlagartig verging Danny das Lachen.
»Sie ist nicht ›meine‹ Victoria.«
Wann immer er an die Jungunternehmerin dachte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Seit ihrem letzten Besuch in der Praxis waren ein paar Wochen vergangen. Trotzdem wähnte er sich nicht in Sicherheit, rechnete er jeden Tag damit, dass sie bei seiner Freundin Tatjana auftauchen würde, um ihr irgendwelche Lügengeschichten über ihr Verhältnis aufzutischen. So gut kannte er Victoria nämlich inzwischen: Diese Frau scheute sich nicht davor, über Leichen zu gehen, um ein Ziel zu erreichen. Danny hatte Tatjana zwar gewarnt. Aber Victoria Bernhardt war raffiniert.
Ein ungutes Gefühl zwängte seinen Magen zusammen, und er kam schnell auf Martha Bremer zurück.
»Lenk nicht vom Thema ab«, forderte er seinen Vater auf und zwang ein Lächeln aufs Gesicht.
Daniel, der die Verstimmung seines Sohnes durchaus registriert hatte, dachte kurz nach.
»Also schön«, tat er ihm den Gefallen, nicht ohne sich vorzunehmen, ein waches Auge auf die junge Unternehmerin zu haben. »Frau Bremer ist für Ihr Alter wirklich eine Schönheit. Aber ehrlich gesagt, hat sie kein Interesse an mir als Mann«, seufzte er und mimte Enttäuschung. »Sie wollte sich nur persönlich bei mir bedanken, dass ich sie am Samstag in die Behnisch-Klinik zur Diabetes-Sprechstunde mitgenommen habe. Offenbar wurden ihr dort die Augen geöffnet. Du siehst also: Die Zeiten, in denen meine Assistentin auf mich aufpassen musste, sind ein für alle Mal vorbei.« Gut gelaunt zwinkerte er seinem Sohn zu.
»Und dazu ist Frau Bremer extra hergekommen?«, wunderte sich Danny. »Das hätte sie doch auch telefonisch erledigen können.«
»Sie hat deiner Mutter und mir Theaterkarten der Laienschauspielgruppe geschenkt, deren Mitglied sie ist. Deshalb wollte sie persönlich vorbeikommen.«
»Oje!«, entfuhr es Danny, und er rieb sich die Nasenwurzel. »Ich glaube, da sind mir selbstgebackener Kuchen oder eine Schachtel Pralinen lieber.«
Auch Daniel war skeptisch. Doch er wollte nicht undankbar sein.
»Es ist eine nette Geste und eine gute Gelegenheit, wieder einmal einen schönen Abend mit deiner Mutter zu verbringen«, erklärte er und sah auf die Uhr.
Das hatte Danny nicht nötig. Sein knurrender Magen erinnerte ihn schon daran, dass es Zeit wurde fürs Mittagessen.
»Machen Sie heute keine Pause?«, erkundigte sich Daniel fürsorglich bei seiner treuen Assistentin Wendy.
Hochkonzentriert saß sie an ihrem Schreibtisch und arbeitete sich durch den Berg Papier, der vor ihr lag.
»Es war so viel los heute Vormittag, dass ich noch nicht mal die Post geöffnet habe«, erklärte sie mit bedeutungsschwerem Blick auf die geschlossenen Kuverts.
»Das können Sie doch auch heute Nachmittag erledigen«, machte Daniel einen vorsichtigen Versuch, sie zu ihrer wohlverdienten Pause zu überreden.
Dabei wusste er ganz genau, dass Wendy so stur sein konnte wie alle Frauen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten.
»Nein, nein, ich habe keine Ruhe, wenn das hier nicht fertig ist«, lehnte sie denn auch rundweg ab. »Gehen Sie nur. Ich werde sowieso zu dick und bin froh, wenn ich nicht von irgendwelchen schrecklichen Dingen da draußen in Versuchung gebracht werde. Wenn ich nur an den neuen Italiener um die Ecke denke …« Sie schüttelte den Kopf so energisch, dass Danny und sein Vater lachten.
»Na schön. Aber nicht, dass Sie mich bei ihren Freundinnen als Sklaventreiber anschwärzen.«
»Das würde ich nie tun, mein lieber Doktor«, entfuhr es Wendy so spontan, dass sie rot wurde.
*
Sie sah Vater und Sohn nach, bis die Praxistür hinter ihnen zugefallen war. Dann legte sie den Brieföffner zur Seite, holte tief Luft und stand auf.
Als sie vor der Tür stand, hinter der der Steuerprüfer seit Stunden konzentriert arbeitete, zögerte sie kurz. Sie gab sich einen Ruck und klopfte an.
»Herein.« Alexander Gutbrodt hob den Kopf und sah sie an. Ein Strahlen erhellte sein Gesicht, das aber sofort wieder verblasste, wie Wendy verwirrt bemerkte.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, stammelte sie und ärgerte sich über ihre unsichere Stimme. »Ich wollte nur fragen, ob ich Ihnen etwas vom Bäcker mitbringen soll.«
Alexander horchte kurz in sich hinein. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich muss ein bisschen auf meine Figur achten.« Demonstrativ klopfte er auf seinen kaum sichtbaren Bauch. »Leider bin ich keine 25 mehr, als ich essen konnte, was ich wollte und kein Gramm zunahm.«
»Als Mann hatten Sie wenigstens solch goldene Zeiten. Die kenne ich überhaupt nicht. Seit ich denken kann, muss ich auf meine schlanke Linie achten.«
Der Blick, mit dem Alexander sie bedachte, trieb Wendy die Röte ins Gesicht.
»Ich weiß gar nicht, was Sie haben!«, erklärte er voller Überzeugung. »Sie sind doch genau richtig so, wie Sie sind. Ich finde diese Frauen, die aussehen wie Hungerhaken, völlig unattraktiv.« Das Lächeln, das seine Worte begleitete, war fast zärtlich. Doch als es ihm bewusst wurde, wandte er sich rasch wieder seinen Unterlagen zu.
Verwirrt kehrte Wendy an ihren Schreibtisch zurück.
»Was ist nur passiert?«, fragte sie sich und überlegte, ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte. Hatte sie am vergangenen Tag irgendetwas gesagt oder getan, das ihn nachhaltig verstimmte? »Edgar!«, fiel es Wendy plötzlich siedend heiß ein. »Vielleicht hat er Alexander abgepasst und ihm erzählt, dass er bei mir wohnt. Oder dass er mein Freund ist.« Diese Vorstellung war so schrecklich, dass Wendy ein flaues Gefühl im Magen bekam.
»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte sie sich flüsternd. »Ihm alles gestehen? Aber was, wenn Edgar gar nicht an seiner Verstimmung schuld ist? Dann wecke ich schlafende Hunde.«
Sie saß am Schreibtisch und spielte nervös mit dem Brieföffner. Was hatte sie nur falsch gemacht, dass der attraktive Kontrolleur plötzlich so zurückhaltend war? Nicht, dass sie sich mehr von Alexander Gutbrodt erhoffte. Aber sie brauchte ihn, um Edgar ein für alle Mal loszuwerden. Mal abgesehen davon, dass ein gemeinsames Abendessen sicher nett gewesen wäre. Doch davon war heute keine Rede mehr. »Warum nur?« Wieder und wieder kreiste diese Frage in Wendys Kopf. Obwohl sie ihn nicht kannte, spürte sie instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Und sie hätte zu gerne gewusst, was es war.
In ihre Grübeleien hinein klingelte das Telefon.
»Was willst du, Edgar?«, zischte Wendy wütend in den Hörer, als sich ihr verhasster Gast meldete, und schirmte den Apparat mit der Hand ab. »Reicht es nicht, dass du dich bei mir eingenistet hast wie eine Laus im Pelz?«
»Habe ich dich bei einer wichtigen Arbeit gestört?«, fragte Edgar vollkommen unbeeindruckt. »Das wäre mir natürlich hochnotpeinlich, und ich entschuldige mich in aller Form dafür.«
Am liebsten hätte Wendy ihn mit allen Schimpfwörtern bedacht, die ihr in den Sinn kamen. Um nicht die Beherrschung zu verlieren, atmete sie ein paarmal tief ein und aus.
»Ich möchte nicht, dass du mich hier anrufst. Außer, du willst mich darüber informieren, dass du eine andere Bleibe gefunden oder mein Geld aufgetrieben hast.« Ein Glück, dass das Zimmer, in dem Alexander Gutbrodt arbeitete, im hintersten Winkel der Praxis lag.
»Es ist schön, wenn man von einer Frau so leidenschaftlich geliebt wird«, lamentierte Edgar von Platen.
Wendy verdrehte die Augen.
»Wir haben eine rein geschäftliche Beziehung, verstanden?«, fauchte sie und wunderte sich selbst darüber, wie sehr Edgar sie in Rage bringen konnte. So kannte sie sich im Grunde genommen gar nicht. »Und jetzt sag mir, was du willst! Ich hab jede Menge zu tun.«
»Ich wollte dich nur fragen, was du heute Abend essen möchtest«, erwiderte Edgar äußerst unschuldig. »Wenn ich einkaufen gehen soll, müsste ich allerdings in der Praxis vorbeikommen und mir ein wenig Geld von dir leihen.«
Wendy traute ihren Ohren nicht. Sie überlegte keinen Augenblick und legte wortlos auf. Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass Edgar noch einmal anrief. Doch er tat es nicht. Offenbar hatte er verstanden, dass er seine Grenzen erreicht hatte.
*
Nachdem Wendy die Tür hinter ihm geschlossen hatte, warf Dr. Alexander Gutbrodt den Kugelschreiber ärgerlich auf den Tisch und lehnte sich seufzend zurück. Akten, Unterlagen, ellenlange Computerausdrucke häuften sich vor ihm auf dem Schreibtisch. Das war seine Welt. Mit Medizin und Bürokratie kannte er sich aus und wusste, was er damit machen sollte. Ganz im Gegensatz zu zwischenmenschlichen Beziehungen erschien ihm sein Metier einfach und durchschaubar.
»Es liegt nicht an Wendy, mein Guter!«, murmelte er sich hilflos zu, als er sich dabei ertappte, der wundervollen Assistentin von Dr. Norden die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es wäre so herrlich einfach gewesen … »Bestimmt kann sie nicht verstehen, warum du plötzlich so zugeknöpft bist. Die Einladung zum Abendessen nicht mehr erwähnst. Dabei ist sie eine interessante Frau. Gib doch zu, dass du dich liebend gerne mit ihr unterhalten würdest.«
Er starrte auf seine Hände, die er vor dem Bauch gefaltet hatte. Gedämpft und sehr weit entfernt klang ihre schöne Stimme in sein Zimmer. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Irgendwie klang sie ärgerlich. »Wahrscheinlich ein lästiger Patient, der wieder einmal auf einem Termin beim Senior beharrte, statt dem Können des Juniors zu vertrauen.« Es wäre ein Leichtes gewesen, aufzustehen und sich zu ihr an die Theke zu gesellen. Ein paar Worte mit ihr zu wechseln und sie an die Einladung zu erinnern. Doch Alexander blieb wie festgewachsen auf seinem Stuhl sitzen.
Du rufst sie nicht an!, mahnte ihn die Stimme seines Schwagers Bernd, die in einer Ecke seines Kopfes Quartier bezogen hatte.
»Und wenn ich es doch tue?«, fragte er aggressiv zurück.
Lass die Finger von ihr!
»Ich will mich doch nur mit ihr unterhalten. Mehr nicht.«
Denk an die Folgen! Du weißt, was passiert! Immer wieder diese furchtbare, quälende Stimme, die die Vergangenheit beschwor und schließlich, wie so oft, über Dr. Alexander Gutbrodts Wünsche siegte. So stand er schließlich nicht auf, um zu Wendy zu gehen sondern beugte sich wieder über seine Unterlagen und konzentrierte sich auf das, womit er sich auskannte.
*
Seit Manfred Holler von dem Tumor an seiner Wirbelsäule wusste, wurden die Schmerzen während des Unterrichts schier unerträglich. Er konnte sich nur noch mit hochdosierten Schmerzmitteln durch die Schulstunden retten. Trotzdem wurde jede Bewegung zur Qual.
Dass Natascha in der hübschen Wohnung auf ihn wartete, machte die Sache nicht besser.
»Ich muss mit ihr reden. Es nützt nichts.« Seit Tagen hatte Manfred die mahnenden Worte der Ärzte im Ohr.
Jeder Tag war wichtig, konnte entscheidend sein für den Erfolg oder Misserfolg der Operation. Er hatte eine große Verantwortung, der er sich endlich stellen musste.
Schweren Herzens drehte er den Wohnungsschlüssel im Schloss und trat in den Flur.
»Freddy, mein Liebster, da bist du ja!«, hallte ihm Nataschas fröhliche Stimme entgegen. »Ich bin in der Küche und mach uns gerade einen kleinen Imbiss. Du bist doch hoffentlich hungrig?«
Manfred stellte seine Tasche im Flur ab und machte sich schweren Herzens und mit schleppenden Schritten auf den Weg zu seiner Verlobten. Im Türrahmen der Küche blieb er stehen und sah ihr bei der Arbeit zu. Ihr haselnussbraunes Haar fiel glatt auf ihren schmalen Rücken, der in einer ebenso schmalen Taille und langen schlanken Beinen mündete. Mit geschickten Fingern arrangierte Natascha eine Käseplatte und schnitt knuspriges Weißbrot dazu auf. Nachdem sie weiße und rote Trauben zwischen die appetitlichen Käsestücke gelegt hatte, drehte sie sich zu Manfred um und strahlte ihn an.
»Abendessen ist fertig!«, rief sie gut gelaunt. Doch als sie ihn ansah, versickerte das Lächeln auf ihrem Gesicht wie Regen auf trockener Erde. »Hattest du Ärger?«, fragte sie und wischte die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie kam näher und blieb direkt vor Manfred stehen.
»Ich hab dir schon lange nicht mehr gesagt, wie wunderschön du bist, mein Liebling«, murmelte er statt einer Antwort und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Dabei betrachtete er Natascha, als sähe er sie zum ersten Mal. Er beugte sich über sie und verschloss ihre Lippen mit einem zarten Kuss.
Danach wandte er sich abrupt ab, griff nach dem Käseteller auf der Arbeitsplatte und ging auf den Balkon.
Verdutzt folgte Natascha ihrem Verlobten. Sie war verwirrt, und wieder zog ihr die Angst den Magen zusammen. Wortlos sah sie ihm dabei zu, wie er den Teller auf dem gedeckten Tisch abstellte und dann an die Brüstung trat. Manfred ließ seinen sinnenden Blick über die angrenzenden Gärten schweifen.
»Du bist heute so … verändert«, murmelte Natascha, die hinter ihn getreten war. »Irgendwas ist los mit dir. Das spüre ich schon seit einer Weile. Willst du nicht endlich mit mir darüber reden?«
Als sich Manfred nicht bewegte und auch nicht antwortete, schlang sie die Arme von hinten um seine Körpermitte und schmiegte das Gesicht an seine Schultern.
»Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst. Wir gehören zusammen …, bis dass der Tod uns scheidet«, erinnerte sie ihn an den Schwur, den sie bereit war zu leisten.
Sie ahnte nicht, dass sie Manfred damit nicht trösten konnte. Ganz im Gegenteil.
»Ich muss wirklich mit dir reden«, seufzte er heiser. Er drehte sich langsam zu Natascha um und wagte es kaum, ihr ins Gesicht zu sehen. »Genau darum geht es nämlich. Um unsere Hochzeit.«
Natascha stockte der Atem. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus.
»Also doch!«, entfuhr es ihr und sie trat einen Schritt zurück. »Du hast Angst vor der eigenen Courage bekommen«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.
Wenn es nur das wäre!, dachte Manfred bitter und senkte den Kopf.
»Schau mich an und sag es mir ins Gesicht!«, verlangte Natascha, und ihre Stimme drohte überzuschnappen. »Sag mir, dass du mich nicht mehr liebst.«
Sie erschrak, als er die Arme nach ihr ausstreckte und sie fast grob an sich riss. In seinen Augen brannte die Leidenschaft wie ein loderndes Feuer.
»Natürlich liebe ich dich!«, erklärte er heiser. »Mehr als mein Leben. Das macht es ja so schwer.« Er drückte sie an sich wie ein Ertrinkender, ehe er sie ebenso abrupt wieder losließ.
Nun bekam es Natascha endgültig mit der Angst zu tun. Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie ihn an, wartete darauf, was als Nächstes passieren würde.
»Ich bin krank, Natascha«, gestand Manfred schließlich gepresst. »Nein, unterbrich mich nicht!«, gebot er ihr Einhalt, als sie den Mund öffnete. »Sonst schaffe ich es wieder nicht, dir alles zu erzählen.«
Natascha presste die Lippen aufeinander. Kraftlos ließ sich Manfred auf einen der beiden Stühle fallen.
»Die Fortbildung neulich …, die gab es nicht. Stattdessen war ich in der Behnisch-Klinik, um mich von Dr. Norden und einer Frau Dr. Schreiner untersuchen zu lassen.«
Natascha wusste nicht, ob sie erleichtert oder besorgt sein sollte. Erleichtert darüber, dass ihre Angst, Manfred könnte sie nicht mehr lieben, unbegründet war. Oder besorgt wegen der Krankheit … Darüber, dass er ihr gegenüber Ausreden benutzen musste.
»Was fehlt dir denn? So schlimm kann es doch gar nicht sein«, brachte sie ihre Hoffnung zum Ausdruck. »Immerhin bist du Leistungssportler. Ich kenne niemanden, der so gesund lebt wie du.«
Manfred hob die Hand, und Natascha brach hilflos ab.
»Das alles hat mich nicht vor diesem Tumor bewahrt.«
»Tumor?«, wiederholte Natascha tonlos.
Das Schreckgespenst hatte einen Namen bekommen, und augenblicklich begann der Boden unter ihren Füßen zu wanken. Sie klammerte sich an der Balkonbrüstung fest.
»Du hast Krebs?«, presste sie mühsam hervor, als Manfred nicht weitersprach. »Wo?«
Gedankenverloren starrte er auf die Käsestücke, die in der untergehenden Sonne vor sich hin trockneten.
»Zwischen dem letzten Brustwirbel und dem ersten Lendenwirbel«, antwortete er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Ich muss unbedingt operiert werden. Aber es besteht die Gefahr, dass ich danach gelähmt sein werde.« Manfred stieß den Atem durch die Lippen. Das Schlimmste hatte er ihr offenbart. Nun gab es nur noch eines für ihn zu tun. Er riskierte einen vorsichtigen Blick in Nataschas Richtung. Sie lehnte immer noch am Geländer und starrte blicklos vor sich hin.
»Natascha, ich hatte viel Spaß in meinem Leben, bin viel herumgekommen und habe meine Freiheit voll und ganz ausgekostet«, fuhr er heiser fort. »Du bist so viel jünger als ich und hast das alles noch vor dir. Ich könnte nicht leben mit dem Gedanken, dir deine glückliche, unbeschwerte Zukunft zu verbauen. Deshalb sollst du wissen, dass ich es voll und ganz verstehe, wenn du mich unter diesen Umständen nicht mehr heiraten willst. Wenn du dich dazu entschließt, mit einem anderen Mann noch mal von vorne anzufangen. Ich kann dir nicht das geben, was du vom Leben erwartest. Was du wirklich verdient hast.«
Einen Moment lang verharrte Natascha noch reglos am Geländer. Dann stieß sie sich ab und kam auf Manfred zu. Sie setzte sich rittlings auf seinen Schoß und nahm sein Gesicht in ihre Hände, wie er es zuvor bei ihr getan hatte.
»Das ist eine furchtbare Nachricht«, gestand sie und versank in seinen Augen wie in einem tiefen Meer. »Und ich mache mir nichts vor. Ich weiß, dass ich auf vieles verzichten muss, wenn ich bei dir bleibe. Wir werden beide viel Kraft brauchen, mit dieser Situation klarzukommen.« Sie machte eine Pause und dachte nach. Als sie fortfuhr, standen Tränen in ihren Augen. »Aber ich liebe dich nun mal, Freddy. Ich habe mich schon für dich entschieden, als ich dich dort auf der Treppe vor der Schule zum ersten Mal sah …«
»Du auch? An deinem ersten Tag schon?«, fragte Manfred ungläubig. Auch ihm hatte sich ihre erste Begegnung ins Gedächtnis gemeißelt.
»Es war ganz seltsam. Wie ein Blitz fuhr mir der Gedanke in den Kopf, dass du der Mann bist, mit dem ich mein Leben verbringen werde. Ich liebe dich einfach!«
Er schluckte schwer.
»Hast du den Rollstuhl verge…«, wollte er einwenden, als sie ihre Hand sanft auf seinen Mund legte und unter Tränen lächelte.
»Die Operation wird gut verlaufen«, erklärte sie entschieden.
»Und wenn nicht?«
Natascha schniefte.
»Dann werden wir das eben auch meistern. Immerhin wirst du nicht der erste Behinderte auf dieser Welt sein. Und auch nicht der letzte.« Alles in ihr wehrte sich dagegen, in Trübsinn zu verfallen. Das Leben forderte sie heraus. Und sie war bereit, diese Herausforderung anzunehmen.
Manfred lächelte gequält.
»Laut Drehbuch müsste ich jetzt sagen, dass ich dieses Opfer nicht annehmen kann.« Er legte die Hände um ihre schmalen Hüften. »Dummerweise bin ich so selbstsüchtig, dass ich das wohl kaum über mich bringen werde. Ich kann mir ein Leben ohne dich nämlich auch nicht mehr vorstellen. Ohne dein Lächeln, mit dem du mühelos die Welt retten könntest. Ohne deine Stimme wie Puderzucker.« Er betrachtete sie mit einer Mischung aus unendlicher Zärtlichkeit und tiefer Wehmut. »Trotzdem wünsche ich mir, dass du dir Zeit nimmst und noch einmal über alles nachdenkst. Ich will auf keinen Fall, dass du an meiner Seite unglücklich wirst.«
»Ich werde unglücklich, wenn ich dich verliere«, erwiderte Natascha ohne Zögern und schmiegte sich an ihn. »Ich will mit dir leben, Freddy. Ganz egal, was auf uns zukommt.« Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen. Plötzlich hob Natascha den Kopf und sah ihm in die Augen. »Aber ich habe eine Bitte.«
»Ja?«
»Lass uns vor der Operation heiraten.«
*
Schnell und fast schmerzlos verabbreichte Wendy dem blonden Patienten die Injektion.
»So, fertig.«
Er lächelte erleichtert und sichtlich überrascht.
»Wirklich? Ich hab ja gar nichts gemerkt. Cool!«, lächelte er anerkennend und ließ sich willig ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle kleben. »Sie haben echt Talent. Stellen Sie sich vor, neulich war ich beim Blutspenden. Da haben die eine Praktikantin hingesetzt, die hat vielleicht in meiner Vene herumgestochert.« Theatralisch verdrehte er die Augen gen Himmel. »Es hat über eine Woche gedauert, bis ich den blauen Fleck hinterher wieder los war. Und das im Sommer, wo ihn jeder sehen kann. So muss sich ein Junkie fühlen.«
Lächelnd hatte Wendy gelauscht und räumte nebenbei auf. Sie warf die Spritze in einen Eimer und entließ den jungen Mann schließlich.
»Das war’s für heute«, erklärte Danny erleichtert, als sie an die Theke zurückkehrte.
»Niemand mehr da?« Sie warf einen Blick ins Wartezimmer. Es war leer, ganz wie der junge Arzt bereits angekündigt hatte.
»Der Rest der Menschheit ist entweder gesund oder lässt sich woanders behandeln«, lächelte Danny zufrieden mit sich und seinen Patienten. »Dann mache ich mich mal schnell auf den Weg zu Tatjana.«
»Was habt ihr zwei Hübschen denn heute vor?« Wendy bewunderte die Orientalistik-Studentin, die nach einem Autounfall, bei der ihre Mutter ums Leben gekommen war, erblindet war. Trotz ihrer Behinderung hatte Tatjana ihr Leben mit einer bewundernswerten Selbstständigkeit geführt, liebte es, ins Kino und ins Schwimmbad zu gehen und bediente sogar in einem kleinen Café mitten in München. Trotzdem war sie das Wagnis eingegangen und hatte sich Netzhautchips einsetzen lassen, um sich das Leben ein bisschen leichter zu machen. Dieses Hilfsmittel ermöglichte ihr zwar keine wirkliche Sehkraft, doch konnte sie wenigstens Hell und Dunkel unterscheiden und markante Konturen in ihrer Umgebung erkennen.
»Wir gehen ins Kino. Es gibt einen neuen Film, den Tatjana unbedingt sehen will.«
Ihre Leidendschaft fürs Kino war trotz der Sehhilfe ein Rätsel für Wendy.
»Dann wünsche ich euch viel Spaß«, erklärte sie herzlich und setzte sich an ihren Schreibtisch, um noch ein wenig Ordnung zu schaffen. »Dein Vater ist heute Abend übrigens auch unterwegs.«
»Das Laienschauspiel …, ja ich weiß«, grinste Danny fast ein wenig schadenfroh. »Sie sollten auch sehen, dass Sie mal wieder rauskommen«, mahnte er Wendy noch, ehe er ihr zum Abschied winkte und die Praxis verließ.
Wendy lächelte wehmütig, als sie sich über ihren Schreibtisch beugte. Eine Weile arbeitete sie konzentriert, bis sie das seltsame Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Irritiert blickte sie hoch und sah direkt in die freundlichen Augen von Dr. Gutbrodt. Unwillkürlich zuckte sie zusammen.
»Du liebe Zeit!«, entfuhr es ihr.
»Habe ich Sie erschreckt? Das tut mir leid.«
»Ich dachte, Sie sind längst weg.« Wendy atmete tief durch, um sich zu entspannen, stellte aber fast gleichzeitig fest, dass das in Gegenwart des smarten Prüfers nicht möglich war. Alexander Gutbrodt hatte eine Anziehungskraft auf sie, der sie sich nur schwer entziehen konnte. »Sie haben Glück, dass ich noch da bin. Sonst hätte ich Sie hier eingeschlossen, und Sie hätten die ganze Nacht hier verbringen müssen.«
»Keine Sorge, das wäre nicht passiert«, beruhigte Alexander sie lächelnd. »Ich habe nur auf eine Gelegenheit gewartet, Sie alleine anzutreffen. Da das nur abends der Fall zu sein scheint, habe ich kurzerhand eine Überstunde eingelegt«, erwiderte er mit seiner warmen, sympathischen Stimme.
Sein Lächeln erreichte seine Augen und kräuselte die feinen Fältchen in den Augenwinkeln.
Wendy spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
»Ich möchte meine Einladung von neulich wiederholen. Haben Sie zufällig Zeit und Lust, heute mit mir essen zu gehen?«, fuhr Dr. Gutbrodt schnell fort, solange die drohende Stimme in seinem Kopf still schwieg. Den ganzen Nachmittag hatte er dazu gebraucht, sie zum Schweigen zu bringen, sich davon zu überzeugen, dass er das Pech nicht gepachtet hatte. Dass sich die Geschichte nicht zwingend wiederholte. Jetzt hieß es schnell handeln, bevor ihn der Mut wieder verließ. »Es gibt da einen netten kleinen Italiener nicht weit von hier. Können Sie den empfehlen?«
»Der ist neu. Und es riecht immer ganz verführerisch«, entfuhr es Wendy. »Aber ich bin noch nicht dort gewesen.«
»Würden Sie dann das Wagnis mit mir gemeinsam eingehen?«
Wendy zögerte. War es klug, mit Dr. Alexander Gutbrodt auszugehen, wo er doch offenbar ein sehr wankelmütiger Mann war und sich in den vergangenen Tagen ihr gegenüber sehr zurückhaltend gezeigt hatte?
»Nun?« Alexander sah sie fragend an. »Darf ich auf Ihre Begleitung hoffen?«
Es lag ein so bittender Ausdruck in seinen Augen, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihn zu enttäuschen.
»In fünf Minuten bin ich fertig hier.«
Dr. Gutbrodt nickte zufrieden.
»Ich freue mich.«
Wendy freute sich auch, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung. Sie hoffte, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen musste.
*
»Was für ein unglaublich lustiges Theaterstück!« Während Wendy noch mit dem Finanzbeamten am Tisch saß und den Abend genoss, wischte sich Felicitas Norden die Lachtränen aus den Augenwinkeln.
»Ich hätte nie gedacht, dass Frau Bremer so ein komisches Talent hat«, stimmte Daniel seiner Frau zu. Seine Wangen waren erhitzt, und seine Augen leuchteten. »Und sich vor allen Dingen auch noch für so eine Rolle hergibt.«
»Dazu gehört schon Mut!«, bestätigte Fee und erhob sich vom Sessel des kleinen Theatersaals.
In der Luft lag heiteres Murmeln und Lachen. Die zahlreichen Gäste unterhielten sich leise über das eben Gesehene und freuten sich über die unbeschwerten Stunden, die ihnen beschert worden waren.
»Sieh mal, es gibt sogar einen kleinen Sektempfang«, machte Daniel seine Frau aufmerksam und stellte sich an, um zwei Gläser zu besorgen.
Inzwischen gesellte sich Martha Bremer zu ihren Ehrengästen. Natürlich war auch Oliver Herrmann gekommen. Mit stolzgeschwellter Brust stand er neben seiner Angebeteten und wich nicht von ihrer Seite.
»Wie schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meiner Einladung zu folgen!« Ergriffen nahm sie Fee bei beiden Händen und drückte sie fest. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen und Ihrem Mann bin.«
»Mir?«, fragte Fee verwundert. »Was habe ich denn getan?«
Martha zwinkerte ihr verschworen zu.
»Es gibt nicht viele Frauen, die ihren Mann an einem Wochenende klaglos wegfahren lassen, um eine störrische alte Eselin wie mich zu bekehren.«
Felicitas musste lachen und nahm dankend das Glas, das Daniel ihr reichte. Auch er begrüßte Martha Bremer, die von ihrem Galan inzwischen auch mit einem Glas versorgt worden war.
»Aber nur ein kleines Schlückchen, hat die Ärztin in der Klinik gesagt«, erklärte sie und stieß mit Fee Norden an.
»Frau Bremer hat meine Geduld mit dir gerade in höchsten Tönen gelobt«, zwinkerte sie Daniel übermütig zu. »Dass ich dich an einem Samstag zu deinen Patienten fahren lasse, erscheint ihr nahezu wie ein Wunder.«
Ein schelmisches Blitzen in den Augen beugte sich Dr. Norden zu seiner Patientin.
»Wahrscheinlich ist meine liebe Frau froh, wenn sie mich für ein paar Stunden los ist.«
Diesmal war es an Martha zu lachen.
»Das, mein lieber Doktor, können Sie erzählen, wem Sie wollen. Aber nicht mir. Ich bin zwar alt, dickköpfig und ein bisschen senil. Aber blind bin ich noch lange nicht. Zwei Menschen, die so offensichtlich glücklich miteinander sind, habe ich selten gesehen. Man könnte glatt neidisch werden.« Mit einem schelmischen Blick auf Oliver Herrmann drehte sie ihr Glas in den Händen. »Da müssen wir uns ordentlich ins Zeug legen, mein Lieber, damit wir das auch noch hinkriegen«, erklärte sie dann und bewies ein weiteres Mal ihren ausgeprägten Sinn für Humor.
Alle vier brachen in belustigtes Lachen aus und unterhielten sich eine Weile angeregt. Martha Bremer bedankte sich noch einmal bei ihrem Arzt, dass er so hartnäckig gewesen war und auf einem Besuch in der Klinik bestanden hatte.
»Ich hab ja so viel falsch gemacht«, gestand sie zerknirscht und lächelte ihren zahlreichen Bekannten und Gästen zu, die schon ungeduldig Schlange standen, um sie zu ihrem Erfolg zu beglückwünschen. »Dabei ist es eigentlich ganz einfach, wenn man erst mal weiß, worauf man achten muss. Eine gesunde Ernährung und Bewegung haben einen erhebliche Einfluss auf die Menge an Insulin, die ich brauche«, teilte sie sichtlich stolz ihr neues Wissen mit den Nordens. »Dabei muss ich mich gar nicht an so starre Regeln halten, wie ich immer dachte.« Sie hielt inne und senkte den Kopf. Als sie wieder aufblickte, lag ein glückliches Leuchten in ihren Augen. »Aber im Grunde genommen glaube ich ja immer noch daran, dass die Liebe das Lebenselixier schlechthin ist.«
»Mit dieser Einstellung haben Sie gar nicht so unrecht«, hatte Daniel Norden auch darauf eine Antwort. »Unlängst bestätigte eine Studie, dass eine Partnerschaft der Gesundheit beider Geschlechter letztlich sehr zuträglich ist.«
»Wahrscheinlich schon deshalb, weil ich Martha in Zukunft zwinge, besser auf sich zu achten«, bemerkte Oliver Herrmann schmunzelnd und legte den Arm um die Schultern seiner Liebe. »Schließlich habe ich vor, noch viele schöne Jahre mit ihr zu verbringen.«
»Ein schlagendes Argument, finden Sie nicht?« Martha Bremer zwinkerte ihm vergnügt zu. »Was sollte ich dagegen noch sagen?«
Kurz darauf verabschiedeten sich die Nordens und machten sich auf den Heimweg.
»Ist es nicht wunderschön, so ein Paar zu beobachten? Junge Paare haben mich nie sehnsüchtig gemacht. Aber wenn ich zwei wie Martha und Oliver sehe, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als auch so zu werden.«
»Die Chancen dafür stehen doch gar nicht schlecht, oder?« Daniel war abrupt stehen geblieben und schloss seine Frau mitten auf dem nächtlichen Gehweg in die Arme. Dann küsste er sie, dass ihr Hören und Sehen verging.
»Dan!«, schnappte Fee nach Luft, als sich seine Lippen von den ihren lösten. »Was war denn das?«
»Der ultimative Beweis, dass keine andere Frau, egal wie jung oder alt, dir jemals das Wasser reichen kann. Und dass ich fest entschlossen bin, mit dir eines dieser Paare zu werden, die dich jetzt sehnsüchtig werden lassen«, erwiderte er rau, ehe sie zum Wagen weitergingen. Er hielt ihr die Wagentür auf, um sie auf schnellstem Weg nach Hause zu bringen, um dort mit der Beweisführung fortzufahren und ihr jeden zweifelnden Gedanken einzeln und nachhaltig auszutreiben. In seinen Augen brannte unmissverständlich das Feuer Leidenschaft und voller Vorfreude legte Fee die Hand auf seinen Oberschenkel.
*
Der Abend mit Dr. Alexander Gutbrodt verlief viel angenehmer, als Wendy es sich erhofft hatte. Wie sie interessierte er sich für Kino, Kunst und Kultur, und sie fanden mühelos jede Menge Gesprächsstoff. Über ihrer angeregten Unterhaltung wurde sogar das Essen kalt. Als sich der Mediziner kurz entschuldigte, um die Toilette aufzusuchen, blieb Wendy allein am Tisch zurück. Ganz offensichtlich sah dieser Mann in ihr eine begehrenswerte Frau, und sie fragte sich, warum er sich nach der ersten spontanen Sympathiebekundung von ihr zurückgezogen hatte. Er lebte allein, das hatte er mehrfach betont. Aber stimmte es auch?
»Als ich Sie heute gefragt habe, ob Sie mit mir essen gehen wollen, da haben Sie lange nachgedacht«, stellte Alexander Gutbrodt fest, als er sich wieder zu seiner Begleiterin an den Tisch gesellte.
Er hatte Espresso und Ramazotti für sie beide bestellt und der Kellner servierte die Getränke mit einem charmanten Lächeln.
»Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen möchte«, erwiderte Wendy und fühlte die Hitze in den Wangen.
Alexander löffelte Zucker in die kleine Tasse.
»Sie geben mir Rätsel auf, Wendy.« Aus seinem Mund klang ihr Name wie ein Gedicht, weich und fast zärtlich.
Wendy lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. Der Lichtschein der Kerze, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand, lag wie ein Weichzeichner auf ihr Gesicht. Die Konturen verschwammen und ließen sie jünger, zerbrechlicher erscheinen.
Alexander hätte Wendy stundenlang ansehen können. Die geröteten Wangen standen ihr gut.
»Ich Ihnen? Sie doch wohl eher mir«, lächelte sie ein wenig verlegen.
»Das verstehe ich nicht«, gab Alexaner sichtlich erschrocken zurück.
Wendy trank einen Schluck von dem kleinen starken Kaffee und dachte kurz nach. Dann stellte sie die Tasse auf den Tisch und lehnte sich zurück. Nachdenklich betrachtete sie ihr attraktives Gegenüber.
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Als Alexander Gutbrodt schon nervös werden wollte, beschloss sie endlich, das Versteckspiel zu beenden.
»Natürlich. Ich werde sie nach besten Wissen und Gewissen beantworten.«
Daran hatte Wendy keinen Zweifel. Er wirkte durch und durch seriös. Trotzdem schlug ihr Herz aufgeregt in ihrer Brust.
»Könnte es vielleicht sein, dass Sie verheiratet sind?« Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen und bemerkte, wie seine Nasenflügel bebten.
»Nein.«
»Waren Sie es?«
»Vier Jahre lang.« Er klang nicht glücklich. »Und um die nächste Frage gleich zu beantworten: Ariane und ich hatten keine Kinder«, sagte Alexander und griff nach dem Kräuterlikör, um ihn in einem Zug hinunterzustürzen. Er stellte das Glas ab und dachte kurz nach. Dann heftete er seine Augen auf Wendy.
»Ich kann mir denken, warum Sie mir diese Frage stellen«, gestand er. »Ehrlich gesagt hatte ich nicht gedacht, dass Sie so sensibel sind. Aber offenbar hat Sie mein Verhalten irritiert«, sagte er ihr auf den Kopf zu.
Wendy konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Sie haben vielleicht vergessen, dass ich seit vielen Jahren in der Praxis Dr. Norden arbeite, mit sehr vielen Menschen zu tun habe und mir einbilde, eine recht gute Menschenkenntnis entwickelt zu haben.« Meistens jedenfalls!, sagte eine hämische Stimme in ihrem Ohr und erinnerte sie unwillkürlich an Edgar von Platen. In diesem einen Fall hatten sie ihre Fähigkeiten im Stich gelassen. Aber war irren nicht menschlich? »Ihr offensichtlicher Wankelmut hat mich irritiert. An einem Tag haben Sie mich zum Essen eingeladen, um mich in den kommenden Tagen mehr oder weniger zu ignorieren.«
»War es wirklich so schlimm?« Alexander Gutbrodt war sichtlich schockiert. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Na ja, ich hab es überlebt«, lächelte Wendy versöhnlich. Auf keinen Fall wollte sie aus einer Mücke einen Elefanten machen.
Doch Alexander schien anderer Meinung zu sein.
»Nein, nein, ich möchte, dass Sie mich verstehen. Deshalb werde ich Ihnen meine Geschichte erzählen.« Er hielt inne und drehte das leere Glas in den Händen. »Aber ich muss Sie warnen. Es ist keine sehr schöne Geschichte«, gestand er und schickte Wendy einen flehenden Blick.
Unwillkürlich zog sich etwas in ihr zusammen, erlosch fast ihre Freude über diesen bisher gelungenen Abend. Schon wieder ein Mann mit Problemen! Auf einmal war sich Wendy nicht mehr sicher, ob sie seine Geschichte noch hören wollte. Plötzlich sehnte sie sich nach ihrer Wohnung – ohne Edgar von Platen natürlich, der dort noch immer beharrlich residierte – nach Ruhe, Entspannung und Einfachheit. Doch nun war sie zu weit gegangen. Es gab keinen Grund, Dr. Gutbrodt nicht zuzuhören, und leise seufzend gab sie sich geschlagen.
»Ich bin daran gewöhnt, unschöne Geschichten zu hören«, erklärte sie sachlich, und stockend begann ihr Begleiter zu erzählen.
*
Obwohl Dr. Verena Schreiner und auch Dr. Daniel Norden dringend von der Hochzeit abgeraten hatten, fand sich eine kleine Gesellschaft vor dem malerischen Standesamt in der Münchner Mandlstraße ein. Nur Dr. Daniel Norden und seine Frau Felicitas sowie Dr. Verena Schreiner waren eingeladen. Die große Feier mit Familie und Freunden sollte erst später stattfinden, wenn die geheim gehaltene Operation, hoffentlich mit positivem Ergebnis, über die Bühne gegangen war.
»Sie sind sehr blass«, stellte Daniel fest, als er Manfred Holler begrüßte. Mit unverhohlener Sorge musterte er seinen Patienten im schwarzen Dreiteiler, der ihm – schlank und gut gebaut, wie er war – ausnehmend gut stand. Im Normalfall hätte dieser Anblick jedes Frauenherz höher schlagen lassen. Wenn er nicht so elend ausgesehen hätte.
Es war Manfreds Geheimnis, dass er sich nur noch mit den starken Schmerzmitteln aufrecht halten konnte, die Dr. Schreiner ihm für den Notfall mitgegeben hatte. Doch dies war ein Notfall. Und wenn es das Letzte war, was Manfred tun konnte: Er wollte Nataschas sehnlichsten Wunsch erfüllen und sie heiraten, auf seinen eigenen Beinen und aufrecht stehend.
»Es geht schon«, winkte er daher tapfer ab und rang sich ein Lächeln ab, das unbeschwert wirken sollte. »Das ist nur die Aufregung vor der Hochzeit. Schließlich gibt man ja nicht jeden Tag ohne Zwang seine Freiheit auf und unterwirft sich dem Joch der Ehe.« Er bemühte sich um einen amüsierten Ausdruck in den Augen.
Doch er konnte Dr. Norden nicht täuschen, der seine Frau Fee besorgt ansah.
Gemeinsam warteten sie vor der Tür des Trausaals, bis sie aufgerufen wurden.
»Alles in Ordnung, Freddy?«, fragte auch Natascha besorgt.
Sie trug ein schlichtes elfenbeinfarbenes Kostüm. Ihr braunes Haar fiel glatt und glänzend über den Rücken. In den Händen hielt sie den Brautstrauß, einen Traum in creme und dunkelrot, und sah ihren zukünftigen Ehemann ernst an.
»Solange du bei mir bist, ist alles bestens«, murmelte er und drückte ihre Hand, als die Tür zum Trauungssaal geöffnet wurde und der Standesbeamte sie hereinbat.
Trotz ihrer Schlichtheit war die Zeremonie anrührend, und Fee tupfte eine Träne aus dem Augenwinkel, als Manfred und Natascha die Ringe tauschten. Dr. Verena Schreiner, die die Suche nach einem Mann längst aufgegeben hatte, beschloss insgeheim, es vielleicht doch noch mal zu versuchen. Schließlich gab es in diesen modernen Zeiten vielfältige Möglichkeiten, auch mit wenig Zeit Männer kennenzulernen. Das Internet und seine zahlreichen Singlebörsen war nur eine davon. Damit hatte sie ihr Glück bisher nicht versucht, und insgeheim nahm sich Verena vor, sich gleich am selben Abend dort anzumelden.
»Wenn die Eheleute und die Trauzeugen jetzt bitte unterschreiben wollen«, unterbrach der Standesbeamte ihre Gedanken und bat sie und Dr. Norden neben Natascha und Manfred an seinen Schreibtisch.
»Oh Freddy, ich war noch nie so glücklich«, flüsterte Natascha ergriffen und konnte den Füller kaum halten, so sehr zitterten ihre Hände. »Jetzt ist unsere Schicksal untrennbar miteinander verwoben.«
Manfreds Miene war undurchdringlich. Er hatte kaum seine Unterschrift unter die Dokumente gesetzt, als es geschah. Ohne einen Laut sackte er in sich zusammen und stürzte zu Boden.
»Freddy!!!« Nataschas gellender Schrei hallte durch den kleinen Saal. Sie fiel neben ihrem Mann auf die Knie. Dass ihr schöner Rock schmutzig wurde, kümmerte sie nicht.
Sofort war Dr. Schreiner auf Manfreds rechter Seite. Behutsam drehte sie ihn auf den Rücken und fühlte den Puls.
»Er hat das Bewusstsein verloren.«
»Ich rufe einen Krankenwagen.« Schon zückte Dr. Norden sein Mobiltelefon und drückte die Taste, unter der die Nummer der Behnisch-Klinik eingespeichert war.
Fassungslos kniete Natascha neben ihrem frisch angetrauten Ehemann. Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht, aus dem jede Farbe gewichen war.
»Das ist alles meine Schuld«, stammelte sie und sah Verena hilflos dabei zu, wie sie Manfred in die stabile Seitenlage brachte. »Warum nur musste ich auf der Trauung bestehen? Ich hätte doch wissen müssen, wie schwach er ist …«
Beschwichtigend legte Verena Schreiner die Hand auf ihren Arm.
»Alles hat seinen Sinn, auch wenn wir ihn in den entscheidenden Momenten nicht erkennen können«, versuchte sie, die aufgeregte Braut zu beruhigen, als auch schon das Martinshorn gedämpft durch das ehrwürdige Gemäuer schallte.
Sichtlich erleichtert stürzte der schockierte Standesbeamte hinter Dr. Norden nach draußen, froh, der schrecklichen Situation entrinnen zu können. So etwas hatte er noch nie erlebt. Und wollte es tunlichst auch nicht mehr.
Nur wenige Minuten später war Manfred Holler auf dem Weg in die Klinik. Da Dr. Norden und Dr. Schreiner den Krankentransport begleiteten, war kein Platz mehr für Natascha.
»Ich muss zu Freddy!«, weinte sie und starrte hilflos dem Wagen nach, wie er mit Blaulicht die belebte Straße entlangfuhr und schließlich um eine Ecke verschwand. »Ich will bei ihm sein, wenn …«
»Im Augenblick können Sie für Ihren Mann nichts tun«, unterbrach Felicitas Norden die unglückliche Braut mit sanfter Stimme. Tröstend legte sie ihr einen Arm um die Schultern. »Mein Mann und Frau Dr. Schreiner mit ihrem Team werden alles tun, damit Ihr Mann den Eingriff gut übersteht.«
»Aber nach der Operation?«, beharrte Natascha in ihrer Verzweiflung. Ihre Vernunft schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Doch Fee war erfahren genug, um dieses Phänomen zu kennen und entsprechend damit umgehen zu können.
»Nach der Operation wird Manfred auf die Intensivstation verlegt und engmaschig überwacht werden. Er wird sehr erschöpft sein und Sie aufgrund der starken Medikamente wahrscheinlich gar nicht erkennen«, erklärte sie behutsam.
Diese vernünftigen Worte ließ sich Natascha durch den Kopf gehen.
»Dann …, dann sollte ich jetzt heimfahren?« Undenkbar, jetzt alleine in der Wohnung zu sitzen und auf Nachricht aus der Klinik zu warten. Verzweifelt blickte sie auf ihren Brautstrauß hinab. Obwohl die Blumen noch frisch waren, schienen auch sie die Köpfe hängen zu lassen.
Felicitas brauchte die arme Natascha nur anzusehen um zu wissen, dass sie im Moment unmöglich allein sein konnte. Blitzschnell traf sie eine Entscheidung.
»Was halten Sie davon, wenn Sie mit zu uns kommen?«, machte sie einen herzlichen Vorschlag. »Wir kochen uns eine schöne Tasse Tee ,und Sie erzählen mir, wie Sie und Manfred sich kennengelernt haben«, fuhr sie fort. »Vielleicht sind auch ein paar unserer Kinder da. Dési liebt es, von unserem Aufenthalt im Orient zu erzählen.«
»Sie waren im Orient?« In Nataschas tieftraurigen Augen flackerte vages Interesse auf.
In diesem Moment wusste Fee, dass sie gewonnen hatte.
»Sogar ein paar Monate lang«, erwiderte sie so unbeschwert wie möglich und hakte sich bei Natascha unter, um sie zum Wagen zu führen. »Wir haben unglaubliche Dinge dort erlebt und auch einige tragische Geschichten, die aber allesamt gut ausgegangen sind.« Sie hielt Natascha die Tür auf und wachte darüber, dass sie nicht vergaß, sich anzuschnallen. »Erst gestern haben wir eine E-Mail mit vielen tollen Fotos von Scheich Ahmed, seiner wunderschönen Frau Leila und ihrer süßen Tochter Nasya bekommen.« Die Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Wenn Sie die Bilder sehen, werden Sie kaum glauben, dass die beiden wochenlang mit dem Tod gerungen haben«, fuhr Fee fort, und das Herz ging ihr auf, wenn sie an die freundschaftlichen Zeilen voller Wärme und Zuneigung dachte, die Ahmed verfasst hatte.
Seine weisen Worte waren fürwahr wie geschaffen dafür, anderen Menschen Mut zu machen und sich ihrem vermeintlichen Schicksal nicht kampflos zu ergeben. Diese Botschaft wollte Fee auch Natascha zuteil werden lassen, die schon jetzt nicht mehr ganz so mutlos wirkte wie noch Minuten zuvor.
*
Der Operationssaal war vorbereitet worden, und Manfred Holler wurde auf den Operationstisch gelegt. Eine Ärztin leitete die Anästhesie ein und der Chirurg Dr. Hartmann wartete, bis der auf der Seite liegende Patient tief und fest schlief. Gemeinsam mit seiner Kollegin Verena Schreiner hatte er die Vorgehensweise des Eingriffs diskutiert, und sie assistierte ihm.
Auch Dr. Norden war als Assistent mit im Operationssaal.
»Wie geht es ihm?«, fragte er nach eine Weile.
»Keine Probleme«, bestätigte die Anästhesistin nach einem Blick auf die Geräte, die die Vitalfunktionen des Patienten überwachten.
»Gut, dann weiter«, murmelte Dr. Hartmann. »Halten Sie bitte die Klemme, Frau Kollegin? Dieses Ding sitzt verdammt tief. Ich komme nicht richtig dran.«
»Natürlich.« Beherzt griff Verena zu, und gemeinsam beugten sie sich über die Operationswunde.
Während sich Falko Hartmann durch Gewebe- und Muskelschichten arbeitete und den glücklicherweise gutartigen Tumor freilegte, herrschte angestrengtes Schweigen.
»Ah, da haben wir den Übeltäter ja«, seufzte er nach einer gefühlten Ewigkeit erleichtert.
»Glauben Sie, dass Sie ihn komplett entfernen können?«
»Wir müssen vorsichtig vorgehen.« Dr. Hartmann bedeutete einer OP-Schwester, ihm den Schweiß von der Stirn zu tupfen.
»Die Verletzung eines wichtigen Blutgefäßes kann die Versorgung des Rückenmarks beeinträchtigen«, erklärte Verena nervös. Es wäre ihr besser ergangen, wenn sie selbst das Skalpell geführt hätte. So aber war sie zum Zuschauen verbannt.
Falko Hartmann erkannte ihre schwere Lage und lächelte ihr aufmunternd zu. Das war allerdings nur an den Fältchen zu erkennen, die seine Augenwinkel kräuselten.
»Keine Sorge. Behutsam entfernte er Stück für Stück des entarteten Gewebes, bis er sicher sein konnte, alles entfernt zu haben. Es war anstrengende Präzisionsarbeit, die eine ruhige Hand und höchste Konzentration erforderte.
Beschämt wandte sich Dr. Schreiner ab, um eine Gewebeprobe für den Transport ins Labor vorzubereiten.
»Schon gut. Ich wollte ja nur wissen, ob Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben«, rettete sie sich mit einem Scherz und schickte eine Krankenschwester mit der Probe fort.
Dr. Hartmann grinste.
»Und? Habe ich bestanden? Bekomme ich eine gute Note?«
»Eine Eins mit Stern.«
Leise stöhnend richtete sich Dr. Hartmann auf und drückte den schmerzenden Rücken durch.
»Geschafft. Als Belohnung für die gute Note dürfen Sie jetzt die Drainage legen zur Ableitung der Nachblutung und des Wundsekrets.« Er wandte sich an Dr. Norden. »Wollen Sie vernähen? Ich glaub, ich brauche eine Pause.«
»Gute Arbeit, Herr Kollege«, erklärte sich Daniel einverstanden und übernahm den Platz des Chirurgen.
Eine halbe Stunde später wurde Manfred Holler in den Aufwachraum der Intensivstation geschoben.
»Ich habe ein gutes Gefühl«, erklärte Daniel Norden, als sie gemeinsam mit Verena am Bett ihres schlafenden Patienten stand.
»Hoffentlich täuscht es uns nicht.«
Entschieden schüttelte Dr. Norden den Kopf.
»Er wird mit Sicherheit nicht im Rollstuhl landen.«
»Aber es wird eine Weile dauern, bis er wieder an einem Triathlon teilnehmen kann«, gab Verena zwinkernd zu bedenken. Wie immer nach einer so anstrengenden Operation fühlten sich die beteiligten Ärzte seltsam euphorisiert.
Daniel Norden lächelte.
»Damit kann er sich mit Sicherheit abfinden.«
*
In der Nacht nach dem gemeinsamen Abendessen mit Alexander Gutbrodt konnte Wendy keinen Schlaf finden. Hellwach lag sie im Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und dachte an das, was er ihr erzählt hatte.
»Meine Menschenkenntnis ist im Allgemeinen auch sehr gut«, hatte er seinen Bericht begonnen. »Nur in Arianes Fall hat sie dummerweise versagt.«
»Was ist geschehen?«, erkundigte sich Wendy pflichtschuldig.
»Sie war Arzthelferin in einer der Praxen, die ich unter die Lupe genommen habe. Wir arbeiteten gut zusammen. Leider sind mir Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Ihr Chef hat sich nicht an die Vorschriften gehalten. Die Praxis musste schließen. Ariane tat mir unglaublich leid, und so lud ich sie zum Essen ein. Ich bin nicht sehr mutig in solchen Angelegenheiten, und das war ein willkommener Vorwand. Schon bald wurden wir ein Paar. Ariane und ich schienen perfekt zusammenzupassen, und schon bald bat ich sie, meine Frau zu werden. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass wir gut zusammenpassen.«
»Das war ein Irrtum?«, mimte Wendy Interesse.
Dabei spürte sie mit jedem Satz mehr, dass sie Alexander Gutbrodts Geschichte nicht unbedingt hören wollte. Ein Mann, der sich Hals über Kopf in ein Abenteuer mit einer Frau stürzte, war ihr schon immer suspekt gewesen.
»Der größte Fehler meines Lebens. Kurz nach der Hochzeit stellte sich nämlich heraus, dass Ariane Bescheid wusste über das Tun Ihres Chefs und trotzdem nichts unternommen, einfach zugesehen hat. Ich war über die Maßen enttäuscht, und wir stritten, dass die Fetzen flogen. Das war der Anfang vom Ende. Natürlich wurde die Presse auf den Fall aufmerksam. Eine Zeit lang war Arianes und damit auch mein Name in aller Munde. Einen solchen Skandal in der Öffentlichkeit konnte ich mir natürlich nicht erlauben. Deshalb konnte ich nicht anders, als die Scheidung einzureichen. Ich musste mich von dieser Frau distanzieren, wenn ich meine Karriere nicht ruinieren wollte. Das verstehen Sie doch?«
Wendy starrte ihn ungläubig an.
»Aber Sie hatten sie geheiratet«, stammelte sie. »Das tut man doch nur, wenn man bereit ist, zueinanderzustehen. Mal abgesehen davon, dass sie ihren Chef nur deshalb nicht angezeigt hat, weil sie um ihre Stelle fürchtete.«
Dr. Gutbrodts Augen weiteten sich vor Unglauben.
»Das mag schon sein.« Seine Stimme hatte einen schneidenden Unterton. »Aber wie sollte ich mit so einer Frau zusammen sein? Sie hat noch nicht mal mir die Wahrheit gesagt.«
»Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass Sie sie verlassen würden.« Wendy konnte sich die Not dieser armen Frau lebhaft vorstellen.
Alexander schnaubte unwillig.
»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich niemals in eine Ehe eingewilligt.«
Wendy war sprachlos. Nach und nach wandelte sich das Bild, das sie von dem smarten Kontrolleur gehabt hatte. Hinter der attraktiven Fassade tauchte ein unbarmherziger Rechthaber auf.
»Bestimmt bereute ihre Frau zutiefst, dass sie nicht mutiger gewesen ist.«
»Papperlapapp«, wischte Alexander ihr Argument mit einer energischen Handbewegung fort. »Sie hat nur an sich und ihre Stelle gedacht.«
Wendy schluckte.
»Und was ist aus Ihrer Frau geworden?«, erkundigte sie sich fast schüchtern.
Unwillig verzog Alexander Gutbrodt das Gesicht.
»Der Fall wurde eingehend überprüft, und schließlich wurde sie freigesprochen. Das Gericht war derselben Ansicht wie Sie, Wendy, dass Ariana aus Not gehandelt hat. Aber ich sehe das immer noch anders. Auch Richter irren sich«, seufzte er. »Nach dem Freispruch ist Ariane ins Ausland gegangen. Niemand hat mehr etwas von ihr gehört, auch nicht ihre Familie, die mir nach wie vor Vorwürfe macht.« Das schien Alexander am wenigsten zu verstehen. »Aber reden wir nicht mehr drüber.« Er beugte sich zu Wendy über den Tisch und griff nach ihrer Hand. »Diese Zeiten sind lange vorbei. Jetzt bin ich bereit für etwas Neues. Und nachdem die Praxis Ihres Chefs und auch die Verhältnisse der Behnisch-Klinik ohne Fehl und Tadel sind, schlage ich die Warnungen meines Schwagers Bernd in den Wind und frage Sie, ob Sie sich vorstellen könnten, mit mir …«
Nur bei dem Gedanken daran, wie Dr. Gutbrodt nach diesem Gespräch ihre Hand an seine Lippen gezogen und geküsst hatte, verknotete sich Wendys Magen zu einem einzigen Klumpen.
»Ich weiß schon, warum ich glücklicher Single bin und es bis auf Weiteres auch bleiben werde«, murmelte sie.
Die letzten Wochen waren richtiggehend anstrengend gewesen. Zuerst Edgar von Platen mit seiner weltmännischen Masche und dann noch der rechthaberische Dr. Alexander Gutbrodt – das war eindeutig zu viel für Wendys Seelenleben. Sie war froh, dem Mediziner am Ende des Abends eine klare Absage erteilt zu haben. Die Praxis Dr. Norden hatte ein Zertifikat mit der Bestnote erhalten. Damit war auch die Geschäftsbeziehung zu Dr. Gutbrodt beendet.
Wendy rollte sich auf die Seite, um endlich zu schlafen, als sie ein verdächtiges Geräusch vom Flur her hörte. Schlich sich etwa Edgar von Platen nachts in der Wohnung herum?
Wie von der Tarantel gebissen sprang Wendy aus dem Bett.
»Wenn du es wagst, mein Schlafzimmer zu betreten, dann erlebst du dein blaues Wunder«, schleuderte sie ihm entgegen, als sie die Tür aufriss.
Wie erstarrt stand Edgar vor ihr.
»Aber …, aber … Anna-Maria! Ich habe mir doch nur ein Glas Wasser geholt.«
Schwer atmend stand Wendy im Türrahmen und haderte mit sich.
Nur langsam konnte sie sich beruhigen.
»Das ist alles ein bisschen viel für mich«, gestand sie zerknirscht.
Edgar überlegte nur kurz. Dann legte er den Arm um ihre Schultern. Im ersten Moment zuckte Wendy erschrocken zusammen.
»Komm, lass uns in die Küche gehen. Ich koche uns einen schönen Tee und dann erzählst du mir, was los ist.« Er klang so mitfühlend, dass Wendy diesem Angebot nicht widerstehen konnte.
»Also?«, fragte Edgar, als sie sich am Tisch gegenübersaßen, zwei dampfende Teetassen und einen Teller Gebäck vor sich. »Was ist passiert?«
Nachdenklich rührte Wendy in ihrem Tee.
»Ich glaube, ich wünsche mir einfach nur mein altes Leben zurück. Ohne Männer, ohne Stress, allein und zufrieden in meiner Wohnung.«
»Und dein Kontrolleur?«, hakte Edgar von Platen argwöhnisch nach. »Den willst du auch loswerden?«
Wendy nickte energisch.
»Das hab ich heute schon erledigt.« Ihr Herz war so voll, dass sie nicht anders konnte als Edgar von dem Abend zu erzählen, von der armen Ariane, die für einen Fehler teuer bezahlt hatte.
»Fragt sich, welches der größere Fehler war«, erklärte er lakonisch. »Ihre Angst oder die Ehe mit diesem Gutbrodt.«
Über diese wahre Bemerkung musste Wendy lachen. Es war ein befreites Lachen, und sie beugte sich vor, um ihrem Gast die Hand auf den Arm zu legen.
»Irgendwie hast du das Herz ja doch auf dem rechten Fleck«, gestand sie ein wenig reumütig ein. »Auch wenn ich froh bin, wenn ich dich endlich los bin.«
Eine dunkle Wolke huschte über Edgars Gesicht.
»Dabei hast du mir gerade Hoffnung gemacht, dass aus uns doch noch was wird.«
Schnell nahm Wendy ihre Hand wieder fort und griff nach der Teetasse.
»Oh, nein!« Das kam aus tiefstem Herzen.
Wider Erwarten lachte Edgar.
»Schon gut, ich hab verstanden. Dann wird dich meine gute Nachricht freuen. Den ganzen Abend hab ich auf dich gewartet, um mit dir zu feiern. Aber leider musstest du deine kostbare Zeit ja diesem Gutbrodt zur Verfügung stellen.«
»Dafür schlage ich mir die Nacht mit dir um die Ohren«, machte Wendy ihn auf die Tatsachen aufmerksam.
»Aber anders, als ich das gerne hätte.« Edgar schickte ihr einen so anzüglichen Blick, dass ihr Gesicht in Flammen aufging. Ihr Gast brach in schallendes Gelächter aus. »Es ist herrlich, dich in Verlegenheit zu bringen.«
»Statt dich über mich lustig zu machen, solltest du mir lieber von deiner tollen Nachricht erzählen«, wechselte Wendy schnell das Thema und versenkte ihr brennend rotes Gesicht in ihre Tasse.
Das ließ sich Edgar nicht zweimal sagen. Selbst wenn er sich dickfellig zeigte, so gab es unter der scheinbar charakterlosen Schale doch einen empfindsamen Kern, der nach Anerkennung lechzte.
»Ich hatte heute ein Gespräch mit meinem Geschäftspartner. Stell dir vor: Meine Idee hat eingeschlagen wie ein Bombe. Die jüngsten Zahlen und Statistiken haben bewiesen: Das Unternehmen hat Zukunft. Als Geschäftsführer kann ich mir in Zukunft sogar ein ordentliches Gehalt bezahlen.«
In der Vergangenheit hatte Wendy solche und ähnliche Hymnen schon zu oft aus seinem Munde gehört, dass sie ihn noch ernst nehmen konnte.
»Erzählst du mir gerade von einem weiteren Luftschloss?«, fragte sie skeptisch.
»Von wegen Luftschloss!«, widersprach er theatralisch, wie es nun mal seine Art war. »Diesmal hat alles Hand und Fuß. Als ich letztes Mal hier in München war, hab ich gemeinsam mit meinem Geschäftspartner einen Handwerker-Service für Wohnungs- und Hausbesitzer ins Leben gerufen. Paul hat sich hier in München drum gekümmert, während ich in anderen Städten unterwegs war, um die Lage zu sondieren. Und was soll ich sagen: Es läuft!« Am liebsten hätte er Wendy umarmt und wäre mit ihr durch die Küche getanzt. Da er aber ahnte, dass das nicht in ihrem Sinne war, begnügte er sich damit, glücklich die Arme in die Luft zu werfen.
Wendy hätte nicht gedacht, dass sie sich einmal in Gesellschaft dieses Mannes amüsieren würde. Doch wenn sie ehrlich war, dann tat sie genau das in dieser Nacht. Es war schön, seine ehrliche Freude über diesen Erfolg zu teilen. Selbst wenn sie die Sache nicht ganz selbstlos sah.
»Das heißt, dass ich mein Geld von dir zurückbekomme?«, fragte sie erwartungsvoll.
Statt beleidigt zu sein, wurde das Grinsen auf Edgars Gesicht noch tiefer.
»Natürlich, sobald die Banken morgen früh öffnen. Aber nicht nur das. Es heißt auch, dass ich schon morgen früh abreisen werde, um mich um die anderen Geschäfte zu kümmern.«
»Morgen!« Ein wunderbarer Gedanke. Schon morgen sollte sie ihren Frieden, ihr geliebtes Singleleben wiederhaben.
»Morgen bist du mich endlich los«, versicherte Edgar von Platen noch einmal und betrachtete sie forschend. »Bist du wenigstens ein bisschen traurig.«
Obwohl Edgar sie viele Nerven gekostet hatte, konnte Wendy ihm letztlich nicht böse sein.
»Also schön«, ließ sie sich von ihrem weichen Herzen dirigieren. »Ein ganz kleines bisschen.«
Edgar strahlt sie an.
»Komm her!«, sagte er. Er stand auf und zog sie ohne Umschweife in eine freundschaftliche Umarmung. »Lass dich trösten. Nur ein einziges Mal.«
Dagegen hatte Wendy nichts einzuwenden und als sie wenig später ins Bett ging, fielen ihr sofort die Augen zu. Wie ein Stein schlief sie durch bis zum nächsten Morgen und fühlte sich trotzdem frisch und ausgeruht wie lange nicht.
*
Auch für Manfred Holler verlief die Nacht ruhig, und am nächsten Tag konnte er von der Intensivstation in ein schönes ruhiges Einzelzimmer in der Behnisch-Klinik umziehen. Dieser Tag versprach, ein aufregender zu werden.
»Heute testen wir die Reflexe der Beine. Wenn alles gut geht, werden Sie mit Hilfe von Frau Dr. Schreiner zum ersten Mal aufstehen«, erklärte Dr. Norden, der es sich nicht hatte nehmen lassen, dieses Ereignis selbst zu begleiten. Mit keinem Wort verriet er, dass Natascha draußen auf dem Flur nur auf ein Zeichen der Ärzte wartete.
»Zuerst werden wir die Patellarreflexe testen«, erklärte Daniel Norden, doch Manfred Holler hob die Hand und winkte ab.
»Tun Sie, was immer Sie wollen. Aber tun Sie es schnell!«, forderte er den Arzt ungeduldig auf.
»Immer mit der Ruhe«, mahnte Dr. Verena Schreiner lächelnd und schlug die Bettdecke zurück. Sie wollte Manfred helfen, sich aufzusetzen, als er einen triumphierenden, heiseren Schrei ausstieß.
»Da! Haben Sie das gesehen?«
»Was denn?« Irritiert blickte sie hinab auf seine bloßen Füße.
»Meine Zehen! Ich kann die Zehen bewegen!«, rief Manfred Holler aufgeregt. »Und ich spüre sie sogar.« Seit er wieder bei Bewusstsein war, hatte er heimlich im Krankenbett geübt, in sich hineingelauscht, ob er irgendetwas bemerkte. Doch da war nichts gewesen und die Enttäuschung in ihm riesig groß.
Verena schickte Dr. Norden einen erleichterten Blick.
»Gute Arbeit, Frau Kollegin«, lobte er sie und machte keinen Hehl aus seiner Erleichterung. Nicht immer gingen diese Geschichten gut aus. Nicht jeder hatte so ein Glück wie Manfred Holler.
»Der Dank gebührt dem Kollegen Hartmann. Er wäre gerne dabei gewesen. Doch leider war er verhindert. Irgendeine dumme Geschichte mit seiner Frau«, erklärte sie schulterzuckend und wandte sich wieder ihrem Patienten zu. »Wollen wir das Experiment wagen und aufstehen?«
Manfred sah sie erschrocken an.
»Was? Jetzt?«
»Natürlich. Oder wollen Sie erst abwarten, bis Wochenende ist?«, scherzte Verena gut gelaunt und nickte Daniel zu.
Der trat auf die eine Seite, während Verena ihn beherzt an der anderen Schulter packte.
Auf drei stellten sie Manfred auf seine Beine.
»Ich kann stehen!«, rief er begeistert und konnte sein Glück kaum fassen. »Ich kann wirklich stehen! Und gehen!«
Angelockt von den Jubelschreien ihres Mannes stürzte Natascha ins Zimmer. Freudentränen stürzten aus ihren Augen, als Manfred mit langsamen, unbeholfenen Schritten und gestützt von den beiden Ärzten langsam auf sie zukam. »Siehst du das? Ich hab’s geschafft! Du kannst den Rollstuhl-Katalog zurückschicken.« Sogar Witze reißen konnte er schon wieder. Seine Stirn war schweißüberströmt, als er wieder im Bett lag. Dafür hatte Natascha ihn noch nie so glücklich gesehen.
»Das alles hab ich dir zu verdanken«, erklärte er mit rauer Stimme. »Wenn du nicht so vorbehaltlos zu mir gehalten hättest …, dass du mich trotz der düsteren Zukunftsaussichten geheiratet hast …«
»Das werde ich mir nie verzeihen!«, entfuhr es Natascha. Als sie sein erschrockenes Gesicht sah, fügte sie rasch hinzu: »Mit dieser Aktion hätte ich dich um ein Haar umgebracht.«
Manfreds Gesicht entspannte sich wieder und wurde weich und zärtlich. Er streckte die Hand aus und strich zärtlich eine dunkle Strähne aus Nataschas Gesicht.
»Mit dieser ›Aktion‹ – wie du unsere wunderschöne Hochzeit nennst – hast du mir das Leben gerettet, mein Engel«, versicherte er so ernst, dass Nataschas Herz vor Liebe für diesen Mann zerfließen wollte. »Wer weiß, wann ich mich endlich zur Operation entschlossen hätte. Wären die Anstrengungen der Hochzeit nicht gewesen, hätte ich wahrscheinlich noch eine ganze Weile durchgehalten aus Angst vor dem, was mich möglicherweise erwartet.«
»Oh Freddy, dann hat Frau Dr. Schreiner ja doch Recht gehabt«, flüsterte sie unter Tränen und sah sich nach der Ärztin um. Doch die hatte, diskret wie sie war, das Zimmer schon in Begleitung von Dr. Norden verlassen. »Alles hat seinen Sinn im Leben.«
»Besonders, wenn du bei mir bist«, ergänzte Manfred. »Jetzt weiß ich, dass ich ganz schnell wieder auf die Beine kommen muss, denn auf mich wartet die wunderbarste Frau der Welt.«
Natascha lachte unter Tränen und strich ihm durch das verwuschelte Haar, und als sie ihn küsste, schmeckte er das salzige Nass ihres unaussprechlichen Glücks.