Читать книгу Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12
Оглавление»Primärprävention bedeutet die Vermeidung der Entstehung einer Krankheit durch Beseitigung ihrer Ursachen. Sekundärprävention zielt dagegen darauf ab, eine Erkrankung im asymptomatischen Frühstadium zu erkennen«, murmelte Janine Merck vor sich hin, während sie in ihrer Wohnung hin und her eilte. Sie befüllte die Waschmaschine und schaltete sie ein, legte im Wohnzimmer eine Decke zusammen, räumte die Spülmaschine aus und schenkte sich bei dieser Gelegenheit einen Kaffee ein. »Logischerweise kommt danach die Tertiärprävention.« Während sie nachdachte, löffelte sie Zucker in die Tasse und öffnete den Kühlschrank, um Milch herauszuholen. »Tertiäre Prävention … Mist, sauer.« Ärgerlich betrachtete sie die Flocken, die im Kaffee schwammen. »Unter tertiärer Prävention versteht man das …, versteht man die … Mensch, Kopf, was ist los mit dir? So schwer ist das doch nicht.« Unwillig ging Janine hinüber zum Tisch, wo ein ganzer Stapel Bücher über-, auf- und nebeneinander lag. Es dauerte eine Weile, bis sie das richtige gefunden hatte. »Hier steht’s ja! Tertiärprävention bedeutet das Aufhalten der weiteren Verschlechterung oder Verminderung von Komplikationen einer bestehenden Krankheit. Das ist doch nicht so schwer«, schalt sie sich selbst. »Warum kannst du dir das nicht merken?«
In ihren Monolog hinein klingelte es an der Tür. Augenblicklich dachte sie an Peter Kern, den sie doch mit Hilfe ihrer Fortbildung ein für alle Mal aus ihrem Kopf verbannen wollte.
Ein paar Monate lang hatte sie sich mit dem Witwer getroffen. Gemeinsam hatten sie neue Hobbys entdeckt, viel unternommen, geredet und gelacht. Nie hatte Peter Anstalten gemacht, ihr zu nahe zu kommen. Janine war das ganz recht gewesen. Nach einigen unerfreulichen Männerepisoden wollte sie es langsam angehen lassen. Wendys Warnung, auf diese Weise würde sie über kurz oder lang auf der Freundesliste landen, hatte Janine in den Wind geschlagen.
Bis eines Tages eine Frau die Tür seines Apartments geöffnet hatte.
»Du kennst doch Hettie?« Verliebt lächelnd hatte Peter den Arm um die andere gelegt. »Wir haben uns beim Klettern kennen gelernt, damals, als du überraschend absagen musstest wegen eines Notfall sin der Praxis.«
Dieser Satz hallte immer noch in Janines Kopf nach. Das Bild von Peter und seiner neuen Freundin war in ihren Kopf eingebrannt. Wendy hatte recht behalten. Doch Janine wollte sich nicht unterkriegen lassen. Nach ein paar Trauertagen beschloss sie, die neugewonnene Zeit gewinnbringend in eine Fortbildung zu investieren. In zwei Tagen stand die Prüfung an. Aber auch wenn sie dachte, Peter überwunden zu haben, blitzte die Erinnerung an ihn immer wieder unerwartet auf. So wie an diesem Mittag. Mit weichen Knien ging sie zur Tür.
»Mein Name ist Lauer von der Telefongesellschaft.« Der Mann vor der Tür lächelte sie an. »Sie haben eine Störung gemeldet.«
»Richtig! Sie hatte ich völlig vergessen.« Janine atmete tief ein und aus, ehe sie zur Seite trat und ihn einließ.
»Wirklich?« Er lachte. »Warum sind Sie dann um diese Uhrzeit zu Hause?«
»Eins zu null für Sie!« Janine schnitt eine Grimasse. »Diese Prüfung bringt mich völlig durcheinander. Hier lang! Da drüben ist mein Telefonanschluss.« Sie winkte ihn mit sich.
»Sie haben eine Prüfung vor sich?« Thomas Lauer machte vor dem Anschluss im Flur Halt und stellte seine Tasche ab.
»Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich geritten hat, als ich mich für die Fortbildung angemeldet hab«, erzählte Janine, während sie ihm dabei zusah, wie er sich an der Telefonbuchse zu schaffen machte, Kabel und Kontakte prüfte.
»Mit dem Kopf verhält es sich wie mit den Muskeln. Ohne Training geht nicht viel.« Er griff zum Telefon und hielt den Hörer ans Ohr. »Und ohne Internet geht Ihr Festnetztelefon nicht.«
»Weil ich das erkannt habe, sind Sie heute hier.«
»Damit steht es unentschieden«, bemerkte Thomas vergnügt. Er öffnete den Koffer und holte ein paar Messinstrumente heraus. »Dann wollen wir mal.« Er steckte eines der Geräte an der Telefonbuchse an und begann mit seiner Arbeit.
»Stört es Sie, wenn ich in der Küche noch ein bisschen Krankheitsprävention lerne?«, erkundigte sie sich.
»Nur zu. Wenn Sie mich nett bitten, frage ich Sie auch später ab.«
»Geht leider nicht. Wenn Sie hier fertig sind, muss ich zurück zur Arbeit.« Janine war schon auf dem Weg in die Küche, als sie sich noch einmal umdrehte. »Wollen Sie einen Kaffee? Aber nur ohne Milch. Die ist mir sauer geworden.«
»Auch ein Prüfungsopfer?«, neckte der Techniker sie gut gelaunt. »In diesem Fall verzichte ich und werde mich beeilen, damit ich Sie nicht länger als unbedingt nötig von Ihrer Arbeit abhalte«, versprach er und beugte sich über sein Messgerät.
Janine blieb noch einen Moment in der Küchentür stehen und sah ihm zu. Dann kehrte auch sie zu ihren Büchern zurück, um vor Ende der Mittagspause wenigstens die Präventionen zuverlässig zu lernen.
*
Um die Mittagszeit war das Café ›Schöne Aussichten‹ immer gut besucht. Schnell hatte es sich herumgesprochen, dass es hier nicht nur den besten Kuchen der Stadt gab. Auch Gemüsequiche, fantasievoll belegter Flammkuchen und kleine Mahlzeiten wie Suppen und Salate erfreuten die Mägen der arbeitenden Bevölkerung.
Seitdem musste Tatjana Bohde einen Platz reservieren, wenn ihr Freund Danny Norden seine Mittagspause mit ihr verbringen wollte. Hektisch, wie es an diesem Montag seit dem frühen Morgen zuging, dachte sie aber erst wieder an ihn, als er durch die Tür der Bäckerei trat.
»Ach, du Schreck, Danny! Was machst du denn heute hier?«
»Super! Ich freu mich auch, dich zu sehen!« Er beugte sich zu ihr hinab und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
»Jedem, wie er’s verdient.« Tatjana ließ ihren unvollkommenen Blick schweifen.
Nach einem Autounfall war sie viele Jahre blind gewesen, bis eine Operation ihr einen Teil des Sehvermögens zurückgegeben hatte. In dieser Zeit hatte sie mithilfe der verbliebenen Sinne eine fast mystische Verbindung zu ihrer Umwelt aufgebaut. Tatjana fühlte und erinnerte mehr, als gesunde Menschen wahrnahmen. Manchmal war sie selbst ihrem Freund Danny unheimlich.
»Du hast mir nachts mindestens drei Mal die Bettdecke geklaut. Deshalb wollte ich heute nicht an dich denken.« Sie zwinkerte ihm zu, nahm ihn bei der Hand und schlängelte sich geschickt vorbei an Stühlen und Tischen, bis sie – ohne sich auch nur ein einziges Mal zu stoßen – vor einem freien Platz Halt machte.
»Haben Sie was dagegen, wenn Ihnen dieser gut aussehende, wohlerzogene junge Mann Gesellschaft leistet?«, fragte sie die Dame, die allein dort saß. »Vielleicht gelingt es ihm sogar, Sie aufzumuntern.«
Irritiert blickte die Dame auf.
»Woher wissen Sie, dass ich traurig bin?«
Danny musterte die Frau überrascht. Tatjana dagegen lächelte und zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht. Ich spüre das. Aber wenn Dr. Norden junior bei Ihnen sitzt, haben Sie sicher schnell wieder gute Laune.« Sie beugte sich zu ihr hinab, als wollte sie ein Geheimnis mit ihr teilen. »Er kann sehr witzig sein«, raunte sie ihr zu.
»Einverstanden.« Die Dame zwinkerte Danny wohlwollend zu, ehe sie sich wieder an Tatjana wandte. »Obwohl es mir schon gut geht, wenn Sie mir noch ein Stück von dieser köstlichen Schoko-Sahne-Torte bringen.« Sie hielt ihr den Teller hin.
»Sehr gern. Sonst noch was? Und für Sie, Herr Norden?«, wandte Tatjana sich scherzhaft an ihren Freund.
»Ich nehme einen Flammkuchen mit Rucola und Tomaten. Und ein Sprudelwasser.«
Wie immer merkte sich Tatjana die Bestellung und machte sich auf den Weg, um das Gewünschte in Auftrag zu geben. Als sie allein waren, wandte sich Danny an die Frau.
»Mich laust der Affe! Frida … Sie …, du bist doch Frida? Mums Freundin, die vor vielen Jahren nach Italien gegangen ist?«
Die Dame lachte.
»Dann habe ich mich also doch nicht verhört. Erkannt hätte ich dich nämlich nicht mehr«, gab sie zu und wirkte schon gar nicht mehr traurig. »So ein Zufall aber auch.«
»Seit wann bist du in München? Weiß Mum davon?«
Frida schüttelte den Kopf.
»Noch nicht. Aber sie wird es bald erfahren.« Vor Freude begannen ihre Augen zu blitzen. Oder lag das an der Torte, die Marla – eine Mitarbeiterin der Bäckerei – vor sie auf den Tisch stellte? »In letzter Zeit hatten wir nicht mehr so viel Kontakt. Wie geht es euch?«
»Ausgezeichnet. Wie du siehst, bin ich in die Fußstapfen meiner Eltern getreten und auch Arzt geworden«, gab Danny bereitwillig Auskunft und griff nach dem Besteck, um dem Flammkuchen zu Leibe zu rücken. »Ich arbeite mit Dad in der Praxis.«
»Und deine Mutter? Macht sie noch diese Fortbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie?« Auch Frida machte sich mit gutem Appetit über die Torte her.
Danny verneinte.
»Sie ist inzwischen Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik. Ihr werdet euch viel zu erzählen haben.« Mehr wollte er nicht verraten. »Aber sag: Wie ist es dir ergangen?«
»Gut, sehr gut. Ich habe allerhand erlebt, viele Erfahrungen gesammelt, bis mich die Sehnsucht nach meiner alten Heimat und meiner lieben Freundin wieder hergetrieben hat.« Inzwischen war auch das zweite Stück Kuchen von Fridas Teller verschwunden. Ihr Blick war der eines noch nicht zufriedenen Babys. »Deine Mutter und ich, wir hatten viel Spaß damals.« Ihre suchenden Augen glitten über die zahlreichen Gäste. Als sie Marla entdeckte, hob sie die Hand. Dann kehrte ihre Aufmerksamkeit wieder zu Danny zurück. »Ich bin gekommen, um die Zeit von damals nocheinmal aufleben zu lassen.«
Skeptisch wiegte Danny den Kopf.
»Glaubst du wirklich, dass das möglich ist? Wann immer ich versucht habe, ein besonders tolles Erlebnis zu wiederholen, war das Ergebnis mehr als ernüchternd.«
Frida lachte.
»Keine Angst. Mir ist schon bewusst, dass die Welt sich ändert. Weder deine Mutter noch ich sind dieselben wie früher. Trotzdem denke ich, dass wir immer noch viel Spaß haben können.«
»Den ich euch von Herzen gönne«, erwiderte Danny lächelnd.
Fridas Gedanken waren unterdessen weiter gewandert.
»Übrigens ist es sensationell, dass ich dich getroffen habe. Das erleichtert mir die Suche. Du kannst mir sicher sagen, wann und wo ich Fee am besten treffen kann.«
»Warum hast du nicht vorher mit ihr gesprochen? Sie hätte sich Urlaub nehmen können.« Danny hatte seine Mahlzeit beendet. Er legte das Besteck beiseite und trank einen Schluck Wasser.
»Und was, wenn das nicht geklappt oder sie aus einem anderen Grund abgelehnt hätte?« Frida schüttelte den Kopf. »Nein. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Ich muss das Leben jetzt feiern.«
Ehe Danny etwas erwidern konnte, trat Marla an den Tisch.
»Na, ihr zwei Hübschen, was kann ich noch für euch tun?«, erkundigte sie sich keck. »Noch eine Schokotorte?«
Frida nickte mit glänzenden Augen.
»Und noch einen Flammkuchen für den Herrn Doktor. Er braucht Kraft für seine Patienten.«
Erschrocken hob Danny die Hände.
»Um Gottes willen. Noch einen Bissen mehr und ich platzte. Mal abgesehen davon, dass das mir das meine schlanke Linie übel nehmen würde. Von Tatjana mal ganz zu schweigen.«
»Ein Glück, dass das bei mir schon egal ist«, erwiderte Frida lapidar und orderte ein weiteres Stück Torte.
Danny sagte nichts dazu, wunderte sich aber insgeheim. Er erinnerte sich dunkel daran, dass sie früher sehr auf ihr Gewicht geachtet hatte. Da er sie aber nicht beschämen wollte, verzichtete er auf einen Kommentar und verwickelte sie in ein anregendes Gespräch über ihre Zeit in Italien. An diesem Nachmittag musste er nicht zurück in die Praxis. Er übernahm die Hausbesuche, ehe er am nächsten Morgen mit Tatjana in einen Kurzurlaub aufbrechen würde. So konnte er der Freundin seiner Mutter noch ein wenig Gesellschaft leisten und amüsierte sich über ihre humorvollen Erzählungen, bis es schließlich doch Zeit wurde zum Aufbruch.
Danny zückte seine Brieftasche.
»Lass nur, junger Mann. Diese Rechnung geht auf mich.« Fridas Ton duldete keinen Widerspruch. »Als Ausgleich kannst du mir die Adresse verraten, wo ich Fee finden kann.«
Danny dachte kurz nach.
»Was hältst du davon, wenn ich dich an der Behnisch-Klinik absetze?«
»Nur, wenn es keine Umstände macht.«
»Überhaupt nicht. Den Rest des Tages bin ich mit Hausbesuchen beschäftigt. Und für dich nehme ich den kleinen Umweg sehr gern in Kauf.« Galant half er ihr in den Mantel und bot ihr den Arm.
Frida lachte zufrieden. Nachdem sie sich von Tatjana verabschiedet hatten, ließ sie sich zur Tür führen.
»Deine süße Freundin hat recht. Du bist ein überaus charmanter Zeitgenosse. Ein Glück, dass ich schon so alt bin. Sonst könnte ich mich nicht beherrschen …« Sie zwinkerte ihm zu, und ihrer beider Lachen hallte bis auf den Gehweg hinaus, als sie die Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ gemeinsam verließen.
*
»Oh, Sie sind fertig! Das trifft sich gut. Meine Mittagspause ist auch gleich zu Ende«, teilte Janine dem Telefontechniker mit, der dabei war, seine Sachen zusammen zu packen. »Ich muss zurück an die Arbeit.«
Thomas Lauer klappte den Deckel der Tasche zu. Mit leisem Klacken schnappten die Schlösser ein.
»Leider konnte ich die Störung nicht beheben. Keine Ahnung, was da los ist.« Er stand auf und sah Janine bedauernd an. »Ich fahre in die Zentrale und werde dort die Leitung durchmessen und ein paar andere Sachen ausprobieren. Falls das nicht klappt, komme ich morgen wieder. Um die gleiche Zeit? Können Sie das einrichten?«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Fahrig lief Janine hin und her, zog ihren Mantel an, während sie die Autoschlüssel suchte. Sie fand sie schließlich unschuldig am Haken hängend. »Einen Moment noch!«
Sie eilte noch einmal in die Küche und kehrte mit einem Packen Bücher im Arm zurück.
»Ach, du liebe Zeit, das sieht ja wirklich nach Arbeit aus.« Die Anteilnahme des Technikers war echt. »Kann ich Ihnen was abnehmen?«
»Alles bestens, danke!«, lehnte Janine ab. Wenn sie nicht zu spät kommen wollte, musste sie sich beeilen.
Zuvorkommend hielt er ihr die Tür auf, und gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Vor dem Haus trennten sich ihre Wege. Sie verabschiedete sich, winkte hinauf zu ihrem Nachbarn Marc, der sie unten entdeckt hatte, und stieg in ihren Wagen. Eine Viertelstunde später parkte Janine vor der Praxis.
Gähnende Leere empfing sie, als sie sich mit ihrem Bücherturm durch die Tür schob, bedacht darauf, das wackelige Konstrukt nicht zum Einsturz zu bringen. Lediglich ihre Freundin und Kollegin Wendy saß hinter dem Tresen, über eine Abrechnung gebeugt.
»Was ist denn hier los? Beziehungsweise was ist nicht los?« Nachdem sie die Bücher und Skripte auf der Theke abgelegt hatte, sah sie hinüber ins Wartezimmer.
»Danny macht heute Nachmittag Hausbesuche. Deshalb müssen wir nur die Patienten vom Senior versorgen.« Wendy sah auf die Uhr. »Frau Marsch hat abgesagt, und Herr Pauly verspätet sich um eine Viertelstunde. Und im Augenblick hat er noch eine Besprechung. Es bleibt also noch länger so ruhig.«
»Das trifft sich gut.« Inzwischen hatte Janine den Mantel gegen den Kittel getauscht und die Bücher in die kleine Küche gebracht. »Dann kann ich ein bisschen lernen.« Schnell lief sie in die Küche und kehrte mit einem Skript an ihren Schreibtisch zurück.
»Wo war ich stehen geblieben?«, murmelte sie vor sich hin, während die Seiten durch ihre Finger glitten. »Ach ja, hier …, interventionelle innere Medizin.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Als interventionell bezeichnet man …, bezeichnet man …, aaaaahhhh, ich werd noch verrückt«, schimpfte sie und beugte sich wieder über das Buch. »Diagnose- und Therapieverfahren, bei denen am erkrankten Gewebe gezielte Interventionen vorgenommen werden, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.« Drei Mal musste Janine den Satz wiederholen, bis er endlich saß. Dabei fiel ihr Blick auf Wendy, die sie schmunzelnd beobachtete. »Was ist? Es ist halt nicht mehr so leicht, in meinem Alter was zu lernen.«
»Meine Bewunderung ist grenzenlos«, versicherte die Kollegin. »Bemerkenswert, zu welchen Höchstleistungen dich Liebeskummer antreiben kann.«
Janine schnitt eine Grimasse.
»Dabei weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr, welcher Teufel mich geritten hat.«
»Ein Teufel mit Namen Peter«, entfuhr es Wendy.
Janine schnitt eine Grimasse.
»Wenn ich geahnt hätte, dass mich dieses ›ambulante Operieren in Arztpraxen‹ derart verrückt macht, hätte ich es gelassen. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst ich vor der Prüfung habe.«
»Das kann ich wirklich nicht.« Wendy konnte sich nur wundern. »Du bist gelernte Krankenschwester. Wenn du das nicht drauf hast, wer dann?«
»Ja, stimmt schon. Aber meine Ausbildung ist so lange her. Und die Methoden haben sich teilweise gravierend geändert. Schau dir nur mal das Kapitel ›Beherrschbarkeit der maximal vorstellbaren Komplikationen‹ an.« Janine sprang vom Stuhl auf und lief hinüber in die Küche.
Eine Weile hörte Wendy es rumoren. Dann tauchte ihre Freundin mit sichtlich verstörter Miene wieder auf.
»So ein Mist! Ausgerechnet dieses Skript hab ich daheim liegen gelassen.« Sie war den Tränen nahe. »Bei den Indikationen hab ich die größten Lücken.«
Wendy unterbrach ihre Arbeit. Ihr genervter Blick ruhte auf Janine. Seit Tagen machte sie ihr mit ihrer stetig wachsenden Nervosität das Leben schwer. Anfangs hatte Wendy noch Verständnis gehabt. Doch langsam wurde ihr Nervenkostüm dünner.
»Wenn du so sehr im Lernstress bist, warum hast du dann nicht ein paar Tage frei genommen?«, fragte sie forsch.
»Soll das ein Witz sein?« Mit lautem Getöse ließ sich Janine auf ihren Schreibtischstuhl fallen, um zehn Sekunden später wieder aufzuspringen und rastlos hinterm Tresen auf und ab zu laufen. »Du weißt doch genau, wie es hier immer zugeht.«
»Ach ja!« Wendys Lächeln war süffisant, als sie hinüber zum Wartezimmer deutete. »Besonders heute können wir uns vor diesem Ansturm kaum retten.« Ihr Blick kehrte zu Janine zurück. »Aber jetzt mal im Ernst. Es ehrt dich ja, dass du mich nicht im Stich lassen willst. Aber im Augenblick komme ich ganz gut ohne dich klar. Also fahr schon nach Hause und hol dein Buch.« Sie schickte Janine ein versöhnliches Lächeln. »Oder noch besser: Bleib einfach gleich daheim. Heute Nachmittag brauche ich dich nicht.«
Zweifelnd zog Janine eine Augenbraue hoch.
»Bist du sicher? Sollen wir nicht vorsichtshalber den Senior fragen?«
Wendy schüttelte den Kopf.
»Geht nicht. Er ist noch in einer Besprechung mit Frau Pfeiffer von der Firma Meditec und will keinesfalls gestört werden. Aber das macht nichts«, beschloss sie nach kurzer Überlegung. »Der Tresen ist unser Reich. Hier entscheiden wir. Und wenn ich sage, dass ich gut ohne dich klar komme, dann ist das auch so.« Sie nickte Janine aufmunternd zu. »Außerdem wohnst du ja nicht weit weg. Wenn wirklich Not am Mann ist, ruf ich dich einfach an.«
Endlich schwiegen auch Janine Mercks Zweifel still.
»Überredet.« Sie stürzte auf Wendy zu und schloss sie in die Arme.
»Danke!«
»Nicht so fest. Sonst erdrückst du mich am Ende noch. Dann musst du doch hierbleiben«, ächzte Wendy.
Sofort lockerte Janine den Druck ihrer Arme.
»Du bist halt doch die Beste!«, raunte sie ihrer Freundin ins Ohr. »Übermorgen ist die Prüfung vorbei. Dann werde ich alles wieder gut machen«, versprach sie, als sie hinüber zur Garderobe hetzte und dabei um ein Haar über den Schirmständer gestolpert wäre.
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Wendy und schlug drei Kreuze, als Janine die Praxis verlassen hatte.
*
»… empfehlen wir die Fortführung der oben genannten Medikation und bitten um Wiedervorstellung der Patientin in ca. einer Woche beim zuständigen Hausarzt. Wir danken für das Vertrauen und verbleiben mit kollegialem Gruß …« Obwohl sie die Tür nicht im Blick hatte, spürte Dr. Felicitas Norden, dass sie beobachtet wurde. Sie drückte auf den Knopf des Diktiergeräts und drehte sich um.
»Ja bitte, was kann ich …« Mitten im Satz hielt sie inne. Es dauerte einen Moment, bis sich ihr Verstand einschaltete. »Ich glaub’s nicht… Frida! Was machst du denn hier?« Das Diktiergerät landete auf dem Schreibtisch und wenige Sekunden später lagen sich die beiden Frauen in den Armen.
»Oh, Fee, ich freu mich ja so!«
»Und ich mich erst.« Felicitas schob die Freundin von sich und betrachtete sie eingehend. »Wie lange ist es her, dass wir dich in Italien besucht haben?«
»Ach, das ist schon gar nicht mehr wahr.« Frida winkte ab. »Seitdem ist so viel passiert. Nach der Trennung von meinem Mann hatte ich ein Verhältnis mit einem Gigolo, habe in seinem Restaurant am Meer gearbeitet und schließlich auf einem wunderschönen Fleckchen Erde meine eigene Pension eröffnet. Und jetzt bin ich hier, um mit dir die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen und das Leben zu feiern«, fasste sie die letzten zwanzig Jahre in einem Satz zusammen. »Hast du ein bisschen Zeit für mich?«
»Warum hast du nicht vorher Bescheid gesagt, dass du kommst? Ich hätte mir Urlaub genommen …«, erwiderte Fee und sah auf die Uhr.
»Man merkt, dass Danny und du verwandt seid.« Ein klitzekleines Bisschen Wehmut lag in Fridas Augen und verriet, dass ihr das Leben doch den einen oder anderen Wunsch nicht erfüllt hatte. »Er hat dasselbe gesagt.« Sie erzählte von dem Treffen in den »Schönen Aussichten«.
»So ein Zufall, dass du ausgerechnet im Café seiner Freundin warst.« Felicitas konnte es nicht glauben. Sie war so aufgeregt angesichts dieses unvermuteten Wiedersehens, dass sie sogar vergaß, Frida einen Platz anzubieten.
»Nicht direkt«, gab die nach kurzem Zögern zu. »Ich hab ein bisschen im Internet recherchiert und bin auf einen Artikel über Tatjana Bohdes Bäckerei gestoßen. Darin wurde auch Danny erwähnt. Ich wusste sofort: Das konnte nur dein ältester Sohn sein.«
»Raffiniert!« Fee lachte. »Mit solchen Tricks arbeitest du also. Übrigens hast du Glück. In einer halben Stunde ist meine Schicht zu En …« Mitten im Satz hielt sie inne. Diesmal sah sie, dass jemand den Raum betrat. Sie setzte ein Lächeln auf und drehte sich um. »Frida, darf ich dir meinen Kollegen und Stellvertreter Dr. Volker Lammers vorstellen? Meine Freundin Frida Kraus«, stellte sie die beiden einander vor und hoffte, dass Lammers wenigstens dieses eine Mal Zurückhaltung walten ließ. Vergeblich.
»Tut mir unendlich leid, Sie beim Kaffeeklatsch zu stören, hochgeschätzte Kollegin Norden«, säuselte er so liebenswürdig, dass sie innerlich die Fäuste ballte. »Aber das hier ist eine Klinik. Während Sie hier gemütlich plaudern, liegt nebenan ein Kind im Sterben.«
Frida riss vor Schreck die Augen auf, während Fee fast platzte vor Zorn. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen und stürmte hinaus auf den Flur.
»Was soll das?«, stellte sie Lammers vor der Tür zur Rede. »Zufällig weiß ich ganz genau, dass wir keinen Patienten in lebensbedrohlichem Zustand hier haben.«
Volker Lammers grinste unbeeindruckt.
»Ich wollte Ihrer Freundin mal ein bisschen Krankenkausflair bieten. Deshalb ist sie doch hier.«
»Falsch geraten. Sie ist hier, weil sie mich wiedersehen will. Aber solche menschlichen Regungen kennen Sie ja nicht. Vor Ihnen nehmen die Leute ja Reißaus.«
»Ein Glück! So lebt es sich wesentlich entspannter.«
Wieder einmal wurde Felicitas Norden in aller Deutlichkeit klar, dass sie diesen Mann niemals ändern würde. So genial er auf dem Gebiet der Kinderchirurgie war, so sehr versagte er in allem, was einen Menschen ausmachte. Empathie, Emotionen, Einfühlungsvermögen … All das waren Fremdworte für Volker Lammers.
»Das ist Ihre ganz persönliche Meinung. Aber deshalb haben Sie mich sicher nicht aufgesucht«, kam sie auf den Grund seines Besuchs in ihrem Büro zu sprechen.
»Oh, ich wollte Sie nur an ihre Pflichten als Chefin dieser Station erinnern und daran, dass Sie nicht für Tratsch bezahlt werden.«
»Vieln Dank für den Hinweis.« Fees Lächeln war kalt. »Deshalb werde ich jetzt auch nach Hause gehen. Meine Schicht ist ohnehin in einer Viertelstunde zu Ende, und ich war heute schon früher im Haus.« Sie winkte ihm und machte Anstalten, in ihr Büro zurückzukehren. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Im Übrigen habe ich Sie und die Kollegin May heute bei der OP-Nachbesprechung vermisst. Mir wurde zugetragen, dass Sie gemeinsam in der Cafeteria Kaffee getrunken haben. Werden Sie dafür bezahlt?« Einen Moment lang gönnte sie sich den Anblick seiner verdutzten Miene. Dann kehrte sie zu ihrer Freundin Frida zurück, die sie bereits sehnsüchtig erwartete, um Pläne für den Nachmittag zu schmieden.
*
»Bitte sehr. Ihr neuer Termin.« Wendy lächelte freundlich, als sie dem Patienten Andreas Pauly einen Zettel über den Tresen schob.
»Vielen Dank.« Sorgfältig verstaute er das Papier in seiner Brieftasche. »Heute ist ja gar nichts los bei Ihnen. Das hab ich noch nie erlebt«, bemerkte er, während er hinüber zur Garderobe ging, um die Jacke anzuziehen.
»Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, wenn es mal nicht ganz so hektisch ist«, gestand Wendy. »Dann kann ich endlich mal die Sachen erledigen, zu denen ich sonst nicht komme.« Sie deutete auf den Stapel Ablage, der darauf wartete, in die entsprechenden Ordner sortiert zu werden.
»Dann drücke ich Ihnen die Daumen, dass es zumindest heute so ruhig bleibt.« Herr Pauly hob die Hand zum Gruß. »Sie werden es mir bei meinem nächsten Besuch sicher berichten.«
»Versprochen.« Wendy wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann stand sie auf, um seine Patientenkarte sofort in den Schrank einzuordnen. Ein Luxus, den sie sich an hektischen Tagen nicht erlauben konnte. Zurück am Schreibtisch erledigte sie ein paar Telefonate und tippte Erinnerungsschreiben wegen vergessener Krankenkassenkarten. Sie war gerade dabei, eine Medikamentenlieferung in die entsprechenden Schränke im Labor einzusortieren, als es klingelte. Gleichzeitig summte der Türöffner. Wendy ging vor zum Tresen, um den Neuankömmling zu begrüßen. Als sie die Patientin Anna Sperling sah, die sich im Flur krümmte, war es schlagartig vorbei mit der heimeligen Ruhe.
»Um Gottes willen, Frau Sperling, was ist passiert?« Sie eilte um den Tresen herum, legte den Arm um die hochschwangere Frau und brachte sie zu einem der Stühle, die im Flur standen. »Setzen Sie sich!«
Schluchzend tat Anna, was die Assistentin von ihr verlangte.
»Ich …, ich war beim Einkaufen …, mir war ein bisschen übel wie öfter in letzter Zeit. Aber sonst war alles gut. Und dann …, dann …« Dankbar nahm sie das Taschentuch, das Wendy ihr reichte. »Dann hat es auf einmal so wehgetan. Ganz plötzlich!« Anna wollte sich eben die Nase putzen, als ihr Leib von einer neuen Welle des Schmerzes geschüttelt wurde. Sie krümmte sich auf dem Stuhl zusammen.
Routiniert übernahm die langjährige Assistentin die Führung.
»Möglich, dass die Wehen eingesetzt haben. In welcher Woche sind Sie denn jetzt?«, erkundigte sich Wendy.
»In der 35.«
Zumindest gab diese Antwort nicht zu viel Anlass zur Sorge. Die Entwicklung der Organe war zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen. Trotzdem war Wendy in Alarmbereitschaft. Anmerken ließ sie sich aber nichts.
»Keine Angst, ich hole sofort Dr. Norden.«
»Lassen Sie mich nicht allein!«, bettelte Anna Sperling verzweifelt.
Mit ihrer Bitte brachte sie Wendy in Schwierigkeiten. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag vermisste sie ihre Kollegin Janine.
»Also gut. Bleiben Sie hier sitzen. Ich gehe nur schnell rüber zum Telefon und rufe Dr. Norden an. Das ist gleich da drüben.« Sie deutete hinüber zur Theke. »Sehen Sie? Ist das in Ordnung?«
Aber Anna konnte nicht antworten. Wieder stöhnte sie auf. Sie wurde leichenblass. Sie begann, wie Espenlaub zu zittern. Allein mit der Patientin hatte Wendy keine Wahl. In der Hoffnung, Anna möge nicht vom Stuhl fallen, eilte sie hinüber zum Telefon.
»Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffen würde. Früher hatte ich auch keine Kollegin«, schimpfte sie sich selbst, als die Dr. Nordens Durchwahl wählte.
Nur wenige Augenblicke später kniete Daniel neben Anna Sperling.
»Atmen Sie ganz ruhig. Ein und aus, ein und aus«, gab er den Takt vor.
Schon die Anwesenheit des Arztes wirkte beruhigend. Obwohl die Schmerzen noch genauso schlimm waren wie vorher, beruhigte sich die werdende Mutter sichtlich.
»Sehr gut. Ich bin stolz auf Sie«, sparte Daniel Norden nicht mit Lob. »Holen Sie die fahrbare Liege!«, wies er Wendy an, ohne den Blick von Anna zu wenden. »Wir bringen Frau Sperling in Behandlungszimmer 3.«
Wendy tat, was ihr Chef von ihr verlangte. Als sie aber um die Ecke fahren wollte, geschah das Unglück: Eine Rolle blieb an der Kante hängen. Die Assistentin prallte mit solcher Wucht gegen die Liege, dass ihr die Luft durch die Zähne entwich.
»Uff!«
Daniel fuhr zu ihr herum.
»Ist Ihnen was passiert?«
»Alles gut.« Wendy schluckte den Schmerz herunter und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Sie befreite das Gefährt aus der misslichen Lage und stellte es vor der Patientin ab.
»Das nächste Mal lassen Sie ich von Janine helfen. Für einen allein sind diese Dinger nur schwer zu lenken«, erklärte Daniel. Bis jetzt hatte er neben Anna Sperlings Stuhl gekniet. Nun erhob er sich, um sie gemeinsam mit Wendy auf die Liege zu bugsieren. »Kommen Sie, wir helfen Ihnen hoch. Schaffen Sie das?«
Annas Stirn war feucht vor Schweiß. Die Haare klebten in ihrem Gesicht, und sie konnte kaum das Zittern ihrer Glieder kontrollieren. Trotzdem nickte sie tapfer und lag wenige Augenblicke später auf der Liege.
»Perfekt.« Dr. Norden richtete sich auf und atmete kurz durch, ehe er sich höchstpersönlich mit seiner Patientin auf den Weg ins Behandlungszimmer machte.
*
Janine stand vor ihrer Haustür und überlegte noch, wie sie aufschließen sollte, ohne die Bücher fallen zu lassen, als Hilfe von unerwarteter Seite kam.
»Du siehst so aus, als könntest du Unterstützung brauchen.«
Überrascht drehte sich Janine um. Als sie ihren Nachbarn Marc erkannte, hellte sich ihre Miene auf.
»Was ist denn mit deiner Stimme passiert?«, fragte sie statt einer Antwort.
Marc lachte krächzend.
»Ich hab mir eine tödliche Krankheit zugezogen. Schon mal was von Männerschnupfen gehört?« Er steckte seinen Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. »Nach Ihnen, Schönheit!«
»Oh, mit Männerschnupfen ist nicht zu spaßen«, ging sie nur zu gern auf seinen Scherz ein. »Das hab ich gerade erst in meiner Fortbildung gelernt.« Sie schlängelte sich an ihm vorbei, bedacht darauf, keines der Bücher fallen zu lassen.
Marcs skeptischer Blick ruhte auf der Lektüre.
»Gibt es eine Heilung?«
»Schwierig, aber nicht unmöglich.« Janine ging vor dem Aufzug in die Knie in dem Versuch, mit dem Zeigefinger der rechten Hand, die den Bücherstapel umklammerte, den Knopf zu drücken. »Vielversprechend ist eine Decke mit hohem Kaschmiranteil, Tee mit viel Rum und Balsam-Taschentücher.«
»Verabreicht von einer professionellen Krankenschwester«, ergänzte Marc heiser. Mit sanfter Gewalt schob er seine Nachbarin zur Seite, um selbst den Knopf zu drücken und den Aufzug zu rufen. »Hast du eine Kaschmirdecke?«
»Ich hab auch Tee mit Rum und extraweiche Taschentücher.« Die Türen schoben sich auseinander, und Janine betrat den Lift.
Marc folgte ihr.
»Das ist ja wunderbar. Dann kannst du gleich mit zu mir kommen und mich pflegen.«
»Geht nicht.« Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Ich hab Bereitschaft heute Nachmittag. Durfte nur zum Lernen heim und muss erreichbar sein.« Sie deutete auf die Bücher in ihrem Arm.
»Ach, so ist das.« Ein Hustenanfall überfiel Marc aus heiterem Himmel. Als er ihn überwunden hatte, hatte er auch eine Lösung für das Problem gefunden. »Dann komme ich eben zu dir. Dein Sofa kenne ich ja schon.«
Janine haderte mit sich. Sie kannte Marc, seit ihn seine Freundin vor ein paar Jahren im Wagen vor dem Haus mit einem anderen betrogen hatte. Damals hatte sie ihn kurzerhand mit zu sich genommen und getröstet. Die Freundschaft, die aus dieser selbstlosen Tat entstanden war, war geprägt von gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Janine befand sich in einer Zwickmühle.
»Also gut, du kannst mitkommen. Aber ich hab wirklich keine Zeit, dich zu pflegen. Meine Prüfung ist schon übermorgen.«
»Deine Gesellschaft ist Pflege genug.« Die Grippe schien Marc nur auf den Körper, nicht aber auf den Geist geschlagen zu haben. »Wenn du willst, frage ich dich ab.«
Ihre Miene hellte sich auf.
»Einverstanden!« Die Aufzugtüren öffneten sich.
Keine zehn Minuten später lag Marc auf der Couch, eingehüllt in eine Decke, eine dampfende Tasse Tee neben sich auf dem Couchtisch, und löste sein Versprechen ein.
Glücklich und zufrieden mit dieser scheinbar perfekten Lösung hatte es sich Janine in einem Sessel bequem gemacht. Dass ihr Telefon nicht funktionierte, hatte sie im Prüfungsstress völlig vergessen.
*
»Das waren die schönsten zwei Stunden meines Lebens!« In Fridas Augen strahlte ein Brillantfeuerwerk der Freude, als sie das Geschäft Arm in Arm mit Felicitas verließ. Es war bereits die dritte Boutique gewesen, und zahlreiche Taschen baumelten an ihren Armen.
Auch Fee trug eine Tüte. Sie wand sich vor Verlegenheit.
»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll …«, stammelte sie. »So ein teures Geschenk! Ich hab doch gar nicht Geburtstag.«
»Na und?« Frida lachte ein wenig zu laut. »Freust du dich nicht?«
»Doch. Schon. Aber …«
»Kein Aber. Ich liebe es, andere Menschen glücklich zu machen. Wenn du dich freust, war meine Mission erfolgreich.« Damit war die Diskussion für Frida beendet.
Arm in Arm schlenderten die beiden Frauen über die Maximilianstraße, Münchens exklusivste Einkaufsmeile. Im Normalfall bestaunte Felicitas hier nur die Schaufenster. Doch davon wollte Frida nichts wissen und gab das Geld gleich bündelweise aus.
Insgeheim wunderte sich Fee darüber, wie sehr sich ihre Freundin verändert hatte. Früher war sie eine bescheidene Frau mit einfachen Wünschen gewesen. Davon schien nichts übrig zu sein. Doch Frida hatte so viel Freude an der Shoppingtour, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihr den Spaß zu verderben.
»Schau mal, der Schal da!« Fridas entzückter Schrei riss Fee aus ihren Betrachtungen. »So einen wollte ich schon immer mal haben. Und reduziert ist er auch noch.« Sie klebte förmlich an der Schaufensterscheibe.
Fee warf einen Blick auf das Preisschild und verschluckte sich.
»Für diesen Preis bekomme ich in meinen Geschäften nicht nur einen Schal, sondern auch einen Mantel und ein Paar Stiefel obendrein.« Sie hustete. »Komm, lass uns irgendwo einkehren und einen Happen essen.« Der Versuch, ihre Freundin abzulenken, gelang.
Sofort war Frida Feuer und Flamme und sah sich um.
»Du hast recht. Den Schal kann ich später auch noch kaufen.« Ihr unruhiger Blick schweifte über die Straße. »Was hältst du von dem Restaurant da drüben? Das sieht doch schick aus.« Frida wartete gar nicht auf eine Antwort. Der Nachmittag war noch nicht zum Abend geworden. Trotzdem war es schon stockfinster. Sie wurde von der fantasievollen Beleuchtung des Gasthauses angelockt wie eine Motte vom Licht.
»Das sieht ziemlich teuer aus«, wagte Fee einen vorsichtigen Einspruch.
»Na und? Ich lade dich ein! Komm schon! Mach mir die Freude!« Frida dachte nicht daran, ein ›Nein‹ zu akzeptieren, und ehe es sich Felicitas versah, fanden sie sich an einem mit teurem Porzellan gedeckten Tisch wieder. Raffinierte Lichtakzente ließen das Tafelsilber schimmern, Stoffe und gemusterte Tapeten in warmen Farben nahmen dem Ambiente die Strenge.
»Jetzt hab ich schon zwei Lieblingsplätze in München. Dieses Restaurant und Tatjanas Bäckerei. Perfekt«, seufzte Frida zufrieden.
Der Ober hatte ihnen die Speisekarte gereicht, doch Fee wagte es kaum, einen Blick hinein zu werfen. Beim Anblick der Preise würde ihr garantiert der Appetit vergehen. Als hätte Frida das geahnt, übernahm sie die Bestellung.
»Wir haben uns für das Vorspeisenquartett für zwei Personen entschieden«, beschloss sie und klappte die Karte zu. »Da ist sicher was für jeden dabei. Als Aperitiv nehmen wir Champagner.« Fridas Augen wurden schmal. Sie hatte eine Idee. »Wie viele Angestellte hat dieses Restaurant?«
Der Kellner sah sie überrascht an.
»Im Moment sind ungefähr fünfzehn Leute in der Küche und im Service. Warum fragen Sie?«
»Meine Freundin hat heute Geburtstag. Deshalb lade ich Sie alle ein, mit uns anzustoßen. Na, wie klingt das?« Frida lachte wie ein junges Mädchen.
Als der Ober davon geeilt war, konnte Fee nicht länger an sich halten.
»Bist du verrückt geworden?« Sie beugte sich über den Tisch, blankes Entsetzen im Gesicht. »Weißt du, was das alles kostet? Du wirst dich ruinieren! Mal abgesehen davon, dass das eine glatte Lüge war.«
Doch auch diese Warnung schlug die Freundin ungeniert in den Wind.
»Lass das mal meine Sorge sein. Ich bin gekommen, um mit dir unsere Freundschaft und das Leben zu feiern, solange ich es noch kann. Also hör endlich auf mit deiner Bedenkenträgerei und freu dich einfach mit mir.«
Einen Moment lang haderte Fee mit sich. Schließlich musste sie aber einsehen, dass ihr im Augenblick nichts anderes übrig blieb. Gleichzeitig erklang ein vielstimmiges ›Happy Birthday‹, und die ganze Mannschaft des Restaurants marschierte vor dem Tisch auf, um mit den beiden Damen anzustoßen und einen Gruß aus der Küche zu servieren, der sich sehen lassen konnte.
*
»Und? Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Wendy, als Dr. Norden nach einer gefühlten Ewigkeit wieder am Tresen auftauchte. Seine Miene verhieß nichts Gutes.
»Die Herztöne des Kindes gefallen mir nicht und der Muttermund hat sich bereits ein paar Zentimeter geöffnet. Wir können Frau Sperling nicht mehr in die Klinik bringen.«
Wendys Augen wurden groß und rund.
»Ja …, aber …, aber …, dann wird das Kind hier auf die Welt kommen«, stammelte sie so verwirrt, dass Daniel trotz seiner Sorgen lachen musste.
»Ehrlich gesagt dachte ich, dass Sie nichts mehr aus der Ruhe bringen kann.«
»Das nicht …«, setzte sie zu einer Erklärung an.
Aber die Zeit drängte.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Schließlich haben wir ja auch noch unsere gelernte Krankenschwester Janine«, fuhr der Arzt fort. »Gut, dass sie die Fortbildung ›Ambulantes Operieren in Arztpraxen‹, gemacht hat. Dann kann sie ihr theoretisches Wissen sofort anwenden.« Er sah sich suchend um. »Aber im Ernst. Sagen Sie Janine bitte Bescheid. Sie soll sich bereit halten.« Er drehte sich um und wollte ins Behandlungszimmer zurückkehren, als er Wendys klägliche Stimme hinter sich hörte.
»Janine ist nicht mehr da. Ich hab ihr freigegeben, weil ich dachte, dass heute nichts mehr passiert. Wo sie doch so im Prüfungsstress ist.«
Dr. Norden fuhr herum und funkelte seine langjährige Assistentin an.
»Sie haben WAS getan?«, fragte er fassungslos. So etwas war in all den Jahren noch nicht vorgekommen.
»Ich …«
»Egal!« Unbarmherzig schnitt er Wendy das Wort ab. »Rufen Sie sie an. Sie soll sofort in die Praxis kommen. Und informieren Sie die Behnisch-Klinik. Wir brauchen so schnell wie möglich einen Wagen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und eilte davon.
Wendys Hand zitterte, als sie nach dem Hörer griff und Janines Nummer wählte.
»Geh dran, geh bitte dran!«, flehte sie. Doch ihre Bitte wurde nicht erhört. Die Leitung war tot und bei Janines Mobiltelefon meldete sich nur der Anrufbeantworter.
*
»Ich bin sicher, dass du mehr weißt als mein Arzt«, lobte Marc schon nicht mehr so heiser. Der Tee war ausgetrunken, die Kaschmirdecke zurückgeschlagen. Ganz offensichtlich schlug Janines Behandlung an. Nebenbei waren sie den gesamten Prüfungsstoff durchgegangen. Er klappte das Buch zu. »Du bist perfekt.«
Sie lachte geschmeichelt.
»Solange du mich abfragst, mag das ja sein. Aber wehe, ich stehe vor den Prüfern. Dann versagt mein Gedächtnis.«
»Du hast einfach viel zu viel Respekt vor diesen Leuten. Dabei sind sie auch nur aus Fleisch und Blut. Und sterben bei einem Männerschnupfen genau wie ich den Heldentod. Daran solltest du denken, wenn du vor ihnen stehst.«
»Und was, wenn meine Prüfer nur Frauen sind?«, stellte Janine eine berechtigte Frage.
Entschieden schüttelte Marc den Kopf.
»Ausgeschlossen. So weit ist die Emanzipation noch nicht vorangeschritten.« Er zwinkerte ihr zu. »Mach dir keine Sorgen. Du wirst mit einer Eins bestehen. Genauso, wie ich meine tödliche Krankheit auch diesmal überleben werde. Mit deiner Hilfe. Du bist ein Genie. Mir geht’s schon viel besser.«
Mit angezogenen Beinen saß Janine in ihrem Lieblingssessel. Als sich Marc aus der Decke schälte und Anstalten machte aufzustehen, starrte sie ihn entgeistert an.
»Was hast du vor?«
»Ich hab dich lang genug belästigt und geh heim.«
Janine sah auf die Uhr.
»Du kannst mich nicht allein lassen. Was mache ich denn jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag?«
Sie sah Marc dabei zu, wie er Teetassen, Teller und Löffel einsammelte und hinüber in die Küche brachte.
»Auf keinen Fall solltest du allein hier rumsitzen und über deine Prüfung nachdenken«, rief er. Er tauchte in der Wohnzimmertür auf. Ein spitzbübisches Grinsen tanzte auf sein Gesicht. »Was ist mit dem Typen, der heute mit dir aus dem Haus gekommen ist? Der sah doch ganz nett aus. Warum verabredest du dich nicht mit ihm.«
»Weil das ein Techniker …«, setzte Janine zu einer Erklärung an, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. »O nein, das darf nicht wahr sein!« Sie sprang so schnell vom Sessel auf, dass sie sich in ihrer Decke verhedderte und der Länge nach hinfiel.
Mit einem Satz war Marc bei ihr und half ihr hoch.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte er besorgt.
Doch Janine hörte ihm gar nicht zu. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, lief sie hinüber in den Flur. Obwohl sie genau wusste, was sie erwartete, versuchte sie es trotzdem: Sie nahm den Hörer ab und presste ihn ans Ohr.
»Tot. Die Leitung ist tot.« Sie war den Tränen nahe. »Dabei hab ich Wendy versprochen, dass ich erreichbar bin.«
»Keine Panik. Wenn was gewesen wäre, hätte sie dich bestimmt auf dem Handy angerufen«, versuchte Marc, seine Nachbarin zu beruhigen.
»Das Handy!« Atemlos warf Janine den Hörer zurück auf die Station und eilte hinüber zur Garderobe, wo ihre Jacke hing. Mit fliegenden Fingern nestelte sie den Apparat aus der Tasche und starrte darauf. Ein Blick genügte, um das ganze Ausmaß der Katastrophe zu erfassen. »Fünf Anrufe in Abwesenheit«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Sie reichte Marc das Mobiltelefon und schlug die Hände vors Gesicht.
»Du bist nicht schuld. Ich hab kein Klingeln gehört«, versuchte er, seine Nachbarin zu trösten.
Doch Janine wusste es besser.
»Kannst du auch nicht. Bei der Arbeit stelle ich das Handy immer stumm. In meinem Prüfungswahn hab ich ganz vergessen, es wieder laut zu machen.«
Hilflos zuckte Marc mit den Schultern. Was konnte er jetzt noch sagen?
»Vielleicht ist es nicht so schlimm!«
Doch die vielen vergeblichen Anrufe ließen Janine wenig Hoffnung.
*
Nach dem fünften Versuch, ihre Kollegin zu erreichen, gab Wendy frustriert auf. Bevor sie aber ins Behandlungszimmer gehen und ihrem Chef die schlechte Nachricht überbringen konnte, stürmte ein Mann in die Praxis. Das zerzauste Haar wollte nicht recht zu dem schicken Anzug passen, den er unter dem Mantel trug.
»Mein Name ist Sperling. Anna …, meine Frau … Sie hat mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich war in einem Meeting. Sie wollte hierher kommen. Geht es ihr gut? Sie hat so seltsam geklungen.« Hilflos hielt Theo Sperling inne.
Am liebsten hätte Wendy vor Verzweiflung angefangen zu weinen. Dieser Tag hatte so strahlend begonnen. Und nun drohte alles im Chaos zu versinken.
»Ganz ruhig, Herr Sperling.« Sie wunderte sich selbst über die Festigkeit ihrer Stimme. Wieder einmal waren es Erfahrung und Routine, die das Ruder übernahmen. »Ihre Frau ist bei uns.«
»Warum? Was ist passiert? Kann ich sie sehen? Sie ist schwanger. Wir bekommen unser erstes Kind.« Die Sorgen machten Theo gesprächig.
»Das wissen wir«, redete Wendy beruhigend auf ihn ein. »Sie ist mit vorzeitigen Wehen zu uns gekommen. Ein Transport in die Klinik ist zu gefährlich. Aller Voraussicht nach wird das Kind hier auf die Welt kommen. Ein Krankenwagen ist auf dem Weg.« Wenigstens das hatte geklappt!
Theo Sperling wurde bleich vor Schreck. Er starrte Wendy an, als hätte er kein Wort von dem verstanden, was sie ihm gesagt hatte.
»Um Gottes willen. Kann ich Anna sehen?«
Wendy zögerte kurz.
»Ich frage Dr. Norden. Wenn Sie so lange drüben im Wartezimmer Platz nehmen wollen.« Sie wies ihm den Weg, ehe sie sich in gezwungenermaßen in die Höhle des Löwen wagte.
Als sie eintrat, atmete Daniel Norden erleichtert auf.
»Da sind Sie ja endlich. Wo steckt Janine? Ich brauche sie dringend hier. Wenn die Geburt nicht bald vorangeht, müssen wir hier einen Kaiserschnitt machen. Ich kann nicht mehr lange warten.«
Die nächste Wehe rollte heran,und Anna atmete schneller. Trotz der Infusion, die Dr. Norden gelegt hatte, stöhnte sie vor Schmerzen. Daniels besorgter Blick flog hinüber zum CT, das unermüdlich die Herztöne des Kindes aufzeichnete.
»Zum Glück hat sich der Zustand des Babys stabilisiert.« Er wandte sich wieder Wendy zu, die zu Anna getreten war und ihr gut zuredete. »Wo steckt denn jetzt Janine?«