Читать книгу Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9
Оглавление»O Dan, ich bin wirklich aufgeregt.« Fee Norden stand vor dem geöffneten Kleiderschrank und studierte den Inhalt mit einem Blick, der an eine Röntgenuntersuchung erinnerte.
Im Gegensatz dazu lag ihr Mann in aller Seelenruhe auf dem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Er sah kurz auf. Seine Augen streiften zunächst Fee, ehe sie an den Kleidern, Blusen, Hosen und Röcken hängenblieben, die fein säuberlich aufgereiht auf der Kleiderstange hingen.
»Solange du mir nicht erzählst, du hättest nichts zum Anziehen …«
»Seit der Kreuzfahrt hab ich eher zu viel Auswahl. Ich kann mich gar nicht entscheiden.« Fees Seufzen kam aus tiefstem Herzen.
»Was steht denn auf der Einladung?« Wohl oder übel musste Dr. Daniel Norden einsehen, dass die Ruhepause vorbei war. Seine Frau erwartete Hilfe. Das war nur recht und billig, so selten, wie sie sich in letzter Zeit sahen.
Felicitas war zu ihrem Nachtkästchen gegangen, wo die Einladung zur Silvestergala lag. Gedruckt auf dickem Büttenpapier und verziert mit einer Goldkordel, war die Richtung klar.
»Hier steht nur, dass die Herren im Smoking erscheinen sollen.« Ratlos blickte sie auf. »Und was bedeutet das für mich?«
»Das solltest du deine jüngste Tochter Dési fragen. Sie ist doch in diesem Haus zuständig für Mode- und Stilfragen.« Er schwang die Beine über die Bettkante und sah auf die Uhr. »Wenn du nichts dagegen hast, koche ich uns jetzt Kaffee.«
In letzter Zeit waren Mußestunden dünn gesät, und Daniel kostete jede einzelne Minute bis zur Neige aus. Das gemeinsame Kaffeetrinken mit Frau und, wenn möglich, Kindern gehörte dazu.
»Du hast wirklich die Ruhe weg«, tadelte Fee und verließ das Zimmer, um den Rat in die Tat umzusetzen.
Sie fand ihre Tochter Dési im Wohnzimmer, wo sie lebhaft mit ihrem Zwillingsbruder diskutierte.
»Nur weil du null Geschmack hast, musst du mich nicht auslachen.« Zu einer gehäkelten Patchwork-Jacke trug sie einen selbstgenähten schwarzen Rock und ihre Lieblingsschnürstiefel mit Rosenmuster.
»Ich lache nicht!«, behauptete Janni und versuchte krampfhaft, sich ein Kichern zu verkneifen. »Das ist ein Ausdruck der Angst auf meinem Gesicht. Wenn ich dich anschaue, fürchte ich, blind zu werden.«
Auf der Suche nach einem Gegenstand, den sie nach ihm werfen konnte, fuhr Dési herum und wäre um ein Haar mit ihrer Mutter zusammengestoßen.
»Oh, Mum, tut mir leid. Ich hab dich gar nicht gesehen.«
»Das hab ich gemerkt.« Fee schnitt eine Grimasse. Gleichzeitig musterte sie ihre jüngste Tochter kritisch. Auch aus diesem Mädchen war unweigerlich eine junge Frau geworden. Doch im Gegensatz zu ihren Geschwistern hatte Désirée einen außergewöhnlichen Kleidergeschmack entwickelt. Noch ahnte Fee nicht, ob es sich um eine völlig normale Teenager-Rebellion handelte, oder ob Désis Stil Ausdruck einer nachhaltig eigenwilligen Persönlichkeit war.
Angesichts der bunten Mischung war sich Felicitas in diesem Moment jedenfalls nicht mehr so sicher, ob sie Daniels Rat folgen und ihre jüngste Tochter um Hilfe bei der Kleiderwahl bitten sollte.
Sie haderte noch mit sich, als er sich zu seiner Familie gesellte. Er schwenkte die leere Kaffeekanne hin und her.
»Jemand Lust auf Kaffee?«, fragte er. Sein anerkennender Blick blieb an Dési hängen. »Hübsch siehst du aus!«, lobte er sie gut gelaunt. »Hast du schon eine Idee, was deine Mutter übermorgen Abend auf die Silvestergala anziehen soll?«
Mit dieser Frage nahm er Fee die Entscheidung aus der Hand. Geschmeichelt drehte sich Dési um.
»Du willst wirklich meinen Rat hören, Mum?«
Fee lächelte hilflos.
»Klar. Wenn wir eine Modeexpertin im Haus haben …«
Jannis spöttisches Lachen unterbrach sie.
»Ich seh schon die Schlagzeile vor mir!« Mit der Hand schrieb er unsichtbare Buchstaben in die Luft. »Als Paradiesvogel verkleidete Münchner Ärztin schießt bei Silvestergala den Vogel ab.«
Dési fuhr zu ihm herum. Sie sah so aus, als wollte sie sich jeden Augenblick auf ihren Bruder stürzen.
»Wie war das jetzt mit dem Kaffee?«, fragte Daniel dazwischen, ehe ein Unglück geschehen konnte. »Und wenn ich mich nicht irre, ist noch was von Tatjanas Käse-Sahne-Torte von gestern Abend übrig.«
Die Aussicht auf die Leckerei aus der Backstube von Danny Nordens Freundin ließ Dési ihren Ärger zumindest für den Moment vergessen.
»Jan bekommt nichts!«, verkündete sie, streckte ihm die Zunge heraus und hängte sich bei ihrer Mutter ein, um ihrem Vater in die Küche zu folgen.
*
Es kam selten genug vor, dass Dr. Jenny Behnisch, Chefin der gleichnamigen Privatklinik, einen freien Tag hatte. Das stellte besonders ihr Lebensgefährte, der Architekt Roman Kürschner, immer wieder fest. Vor einiger Zeit hatte ihr notorischer Zeitmangel, verbunden mit der Angst vor Nähe, um ein Haar zur Trennung geführt. Danach hatte sich die Klinikchefin bemüht, mehr Zeit für den Mann an ihrer Seite zu haben. Doch mit den Monaten war der alte Schlendrian wieder eingekehrt.
»Weißt du eigentlich, wie lange es her ist, dass wir mal einen ganzen Tag nur für uns hatten?«, fragte Roman, als er sie an diesem Sonntagnachmittag zu sich auf die Couch zog.
Im ersten Moment wollte sich Jenny sträuben. Doch der Unterton in seiner Stimme ließ sie aufhorchen.
»Lass mich nachdenken.« Sie stützte das Kinn auf seine Brust und studierte sein Gesicht. »Drei Wochen?«
»Über einen Monat. Das entspricht nicht gerade dem, was wir uns in Afrika versprochen haben.« Er streckte die Hand aus und ließ ihr feines, hellbraunes Haar durch die Finger gleiten.
Jenny musste noch nicht einmal die Augen schließen, um sich an das besondere Licht Afrikas zu erinnern. An die schönen Farben, das helle Weiß der Häuser, das Blau der Fenster- und Türrahmen und die grünen Palmen vor der Kulisse des türkisfarbenen Meers. Sie sah auch den Souk vor sich, den orientalischen Markt, wo alle möglichen Waren feilgeboten wurden. Bestimmt diskutierten die Händler auch jetzt wieder mit ihren Kunden über die Qualität der Sachen und feilschten um Preise. Romans Räuspern weckte sie aus ihren Tagträumen.
»Du hat recht«, gestand sie seufzend. »Damals habe ich Besserung gelobt.«
»Eine Weile ging es ja auch ganz gut.« Auf keinen Fall wollte er ungerecht sein. »Aber in letzter Zeit …«
»Ich weiß.« Jenny stützte sich auf seiner Brust ab und küsste ihn. »Was kann ich tun, um dir für deine Geduld und dein Verständnis zu danken?«
Auf diese Frage schien Roman nur gewartet zu haben. Lächelnd küsste er sie zurück, ehe er sie von sich schob und den Prospekt vom Couchtisch angelte.
»Du kannst übermorgen mit mir für ein paar Tage in dieses Hotel fahren.«
»Übermorgen schon?« Erschrocken fuhr Jenny hoch. »Aber so spontan kann ich nicht weg.«
»Mit Afrika hat das auch geklappt.« Seine Augen wurden schmal. »Es tut mir leid, dass ich immer zu solchen Mitteln greifen muss: Wenn dir was an uns und unserer Beziehung liegt, dann machst du es möglich.«
Um Zeit zu gewinnen, setzte sich Jenny kerzengerade auf und blätterte durch den bunt bebilderten Prospekt. Fotos von tief verschneiten Bergen, heimeligen Kaminfeuern und verlockenden Speisen weckten Sehnsüchte in ihr, die sie nicht leugnen konnte. Viel zu lange hatte sie sich schon keine Auszeit mehr gegönnt. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich erschöpft und ausgebrannt. Das wusste auch ihr Lebensgefährte.
»Berghotel Kristall. Das sieht wunderschön aus.« Jennys Stimme klang versonnen.
Roman lächelte. In diesem Moment wusste er, dass er gewonnen hatte.
»Das sieht nicht nur so aus, das ist es auch«, versicherte er und lehnte sich zurück, um die Bilder gemeinsam mit Jenny zu betrachten. »Mein Freund Herbert hat die Inneneinrichtung designed«, berichtete er nicht ohne Stolz.
»Das hätte ich mir denken können. Extravagant wie er«, kommentierte sie Kronleuchter und bunte Stühle im ansonsten schlicht gehaltenen Restaurant.
»Die Saunalandschaft ist auch nicht zu verachten.« Roman deutete auf die Fotos, die in ihr sofort die Sehnsucht nach knisternder Hitze und dem Duft von Holz und aromatischen Ölen bekam.
»Wie lange willst du bleiben?«
»Ich habe vier Nächte gebucht.«
»Ohne mich vorher zu fragen?« Empört blinzelte Jenny ihn an.
Doch Roman lachte nur ungerührt und schloss sie in die Arme.
»Meine über alles geliebte Jen, gib doch zu, dass Erpressung und rohe Gewalt die einzigen Möglichkeiten sind, dich von deiner Klinik wegzulocken.« Er küsste ihren Hals, dass sie kicherte.
»Es ist ja nicht so, das ich nicht wollte. Aber im Augenblick ist Urlaubszeit. Viele Kollegen sind …« Seine hochgezogene Augenbraue ließ sie innehalten. »Schon gut, ich hab verstanden«, gab sie ihre Gegenwehr endlich auf. »Gleich nachher rufe ich Daniel an und frage ihn, ob er mich vertreten kann.« Mit einer geschickten Drehung schwang sie sich auf Romans Schoß und zerzauste mit beiden Händen sein Haar.
»Zumal das Zillertal nicht wirklich weit weg ist«, gab er zu bedenken. »Falls tatsächlich Not am Mann sein sollte, bist du in weniger als zwei Stunden zu Hause.« Er hielt sie an den Handgelenken fest und zog sie zu sich. »Alle Achtung! Sie machen wirklich Fortschritte, Frau Doktor!«, lobte er sie, ehe er sich an sich zog und sich mit einem innigen Kuss bedankte.
*
Ricarda Lohmeier saß neben ihrem Mann in der großen Wohnküche. Fotoalben, in denen sie in liebevoller Kleinarbeit die vergangenen sieben gemeinsamen Jahre dokumentiert hatte, lagen auf dem Tisch. Sie ließen gerade ihre Anfänge wieder aufleben, als sie den nahenden Krampf bemerkte.
»Ich bin gleich wieder bei dir, mein Schatz!«, entschuldigte sie sich und stand so abrupt auf, dass sie gegen den Tisch stieß.
Die vollen Kaffeetassen schwappten über und ergossen sich über eine der Seiten.
Doch Manfred achtete nicht darauf. Verwirrt sah er seiner Frau nach, die aus dem Zimmer stürzte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Als sie auch nach ein paar Minuten nicht zurückgekommen war, stand er auf, um nach ihr zu sehen.
»Ricky, wo steckst du?«
»Im Bad. Ich bin gleich wieder bei dir.« Ihre Stimme klang gedämpft durch die Holztür.
»Geht’s dir gut?«
»Alles bestens, mach dir keine Sorgen.«
Manfred zögerte. Als kein Laut mehr aus dem Badezimmer drang, kehrte er zurück an den Tisch. Inzwischen waren die drei Bilder nicht mehr zu retten. Er löste sie aus dem Album und betrachtete sie noch, als Ricarda zu ihm zurückkehrte.
»Oh, was ist denn mit denen passiert?« Sie sah ihm über die Schulter.
»Als du aufgesprungen bist, hast du Kaffee ausgeschüttet.«
»Ausgerechnet die Fotos von unserem ersten gemeinsamen Urlaub.« Betroffen nahm Ricarda ihm das Bild aus der Hand. »Gartenhotel Kristall. Vier Jahre ist das schon her. Wie die Zeit vergeht.« Ohne es aus der Hand zu legen, setzte sie sich wieder neben Manfred.
»Wir wollten immer mal wieder dorthin fahren.« Er war so versunken in diese Vorstellung, dass er das gequälte Lächeln seiner Frau nicht bemerkte.
»Vielleicht schaffen wir es ja nächstes Jahr«, schlug sie einen betont munteren Tonfall an. »Aber morgen gehen wir erst einmal auf die Silvestergala.« Sie beugte sich zu ihm und streichelte ihm über die Wange. »Das ist so lieb von dir, dass du die Einladung angenommen hast. Wo du doch solche Promiveranstaltungen nicht leiden kannst.« Ihre Worte kamen von Herzen.
Noch immer konnte sie nicht glauben, dass sie nach einer katastrophalen Ehe und Jahren des Singledaseins doch noch die Liebe ihres Lebens gefunden hatte. Auch nach sieben gemeinsamen Jahren waren sie verliebt wie am ersten Tag, respektierten und schätzten einander und das, was sie miteinander hatten.
»Dein Wunsch ist mir Befehl.« Manfred nahm ihre Hand. Ohne sie aus den Augen zu lassen, küsste er die Innenfläche. »Geht’s dir nicht gut? Du bist so blass um die Nasen«, fragte er.
Unwillkürlich erinnerte er sich wieder an ihr plötzliches Verschwinden.
Ricarda erschrak. Auf keinen Fall sollte er Verdacht schöpfen.
»Ich hab heute Nacht schlecht geschlafen.«
»Schade. Und ich dachte schon, du bist schwanger«, scherzte Manfred.
Eines ihrer Lieblingsspiele war es, sich auszumalen, wie ihre gemeinsamen Kinder ausgesehen, welche Charaktereigenschaften sie gehabt hätten. Doch dieser Traum würde niemals in Erfüllung gehen. Dazu hatten sie sich zu spät kennengelernt.
Ricarda lachte pflichtschuldig. Nach ihrer Übelkeit zu schließen, erwartete sie Fünflinge. Aber das sagte sie ihrem Mann nicht. Stattdessen wechselte sie das Thema und sprach lieber wieder über die bevorstehende Silvestergala, mit der Manfred sie überrascht hatte.
*
»Also, im Augenblick geht der Trend wieder zu kurzen Cocktailkleidern. Wenn auf der Einladung aber steht, dass die Herren im Smoking erwartet werden, dann solltest du dich lieber für ein langes Abendkleid entscheiden.« Dési Norden stand im Schlafzimmer ihrer Eltern, die Einladungskarte in der Hand, und interpretierte den Text.
Felicitas Norden musterte ihre Tochter verwirrt.
»Woher weißt du das alles?«
»Ganz einfach.« Dési lachte und warf ihr wunderschönes Blondhaar in den Nacken. »Ich interessiere mich dafür.«
»Ich dachte, du interessierst dich für Mathe und Wirtschaft und solche Sachen.«
»Das auch. Aber zum Glück bin ich nicht so eindimensional wie so viele meiner inselbegabten Mitschüler. Oder wie mein langweiliger Bruder.«
Ihren Worten ließ sie eine wegwerfende Handbewegung folgen. Fee lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Schwer zu glauben, dass dieses bunt gekleidete Mädchen mit der absoluten Unfähigkeit, mit ihrem Taschengeld umzugehen, so vielseitig begabt war.
»Ich kann immer noch nicht verstehen, wie jemand, der ein Faible für Wirtschaft hat, so schlecht im Umgang mit Geld sein kann.« Es war Daniel, der diese Wahrheit laut aussprach. Er war in der Schlafzimmertür aufgetaucht und lächelte seine beiden Frauen an. »Vielleicht erklärst du mir das bei Gelegenheit mal.«
Doch Dési lachte nur.
»Das ist doch ganz einfach. Auf meine Geldprobleme reagiere ich mit Abwehr und Verdrängung«, erläuterte sie. »Die Psychologie ist sich inzwischen einig, dass das eine sinnvolle und notwendige Einrichtung der Natur ist. Sonst würde ich beim Blick auf mein Taschengeldkonto jedes Mal in Tränen ausbrechen.«
»Manchmal frage ich mich, ob das nicht einen heilenden Effekt hätte«, platzte Fee heraus.
»Vorsicht!«, warnte Dési gutmütig. »Du solltest dich gut mit mir stellen. Sonst verrate ich dir nicht, was du anziehen sollst.«
Felicitas schickte ihrem Mann einen Hilfe suchenden Blick. Aber Daniel zuckte nur mit den Schultern.
»Du hast die Kinder erzogen.« Er zwinkerte ihr zu, als irgendwo im Haus das Telefon klingelte.
»Lasst euch nicht stören. Ich gehe es suchen«, versprach er und verschwand von der Bildfläche.
»Also schön. Wo waren wir stehen geblieben?« Dési konzentrierte sich. »Ach ja, bei dem langen Abendkleid.« Sie ging zum Schrank und öffnete ihn. Nach einigem Hin und Her zog sie ein schwarzes Bustierkleid aus weichfließendem Stoff hervor. »Das hier zum Beispiel.«
Fee streckte die Hand danach aus.
»Das hatte ich mir für die Kreuzfahrt gekauft. Ich kann mich nicht erinnern, es je getragen zu haben.«
»Dann wird es höchste Zeit. Es ist wunderschön.« Désirée hielt es sich vor den Körper und drehte sich vor dem Spiegel. »Aber wenn du es nicht magst, nehme ich es gern. Ich könnte hier was wegschneiden und da was abändern …«
»Nein, nein, schon gut. Mir gefällt es sehr«, versicherte Felicitas schnell. »Dazu passt die große Tasche, die ich mir neulich gekauft hab …«
Mitten im Satz ihrer Mutter verdrehte die Tochter die Augen.
»O Mum, das geht gar nicht. Zu einem langen Kleid trägt man möglichst kleine Accessoires. Wo sind denn deine Taschen? Und die Schmuckschatulle?« Sie sah Felicitas erwartungsvoll an, als Daniel zu seinen beiden Frauen zurückkehrte. Er hielt Fee den Hörer hin und strahlte sie an.
»Hier habe ich eine Überraschung für dich.«
»Wer ist es?«
»Geh ran. Dann hörst du es selbst«, forderte er sie auf. Diese Heimlichtuerei machte Felicitas stutzig. Das hatte seinen guten Grund. Nicht nur einmal hatten sich ihre Kinder mit ihrem Mann verbündet, um sich einen Spaß zu erlauben und sie hinters Licht zu führen.
»Wenn das wieder einer eurer Telefonstreiche ist …«
Daniel schüttelte so energisch den Kopf, dass sie ihm endlich glaubte.
»Hallo!« Neugierig lauschte sie in den Hörer.
»Meine Güte, Mum, seit wann bist du so ein Angsthase?«
»Felix!« Mit einem Schlag strahlte Fee übers ganze Gesicht. »Von dir hab ich ja schon eine Ewigkeit nichts mehr gehört.«
»Vier Tage!«, erinnerte der zweitälteste Sohn der Familie Norden seine Mutter mit mildem Tadel in der Stimme.
»Das ist eine Ewigkeit!«, behauptete sie. »Aber du musst stolz sein auf mich. Ich hab dich nicht mit Anrufen bombardiert.« Sie verschwieg wohlweislich, dass Daniel sie jeden Abend mit sanfter Gewalt davon abgehalten hatte.
»Wahrscheinlich hat Dad heimlich meine Nummer auf deinem Handy blockiert«, ahnte Felix die Wahrheit und lachte, als seine Mutter gutmütig schimpfte.
»Frech wie eh und je!«, seufzte sie und setzte sich aufs Bett. »Wie geht es dir, mein Süßer? Was macht die Pilotenausbildung?«
»Mir raucht der Kopf von Navigation, Meteorologie, Elektrotechnik, Air Traffic Control, Aerodynamik und human performance and limitation«, zählte er die Fächer auf, mit denen er sich in der Pilotenschule herumschlagen musste, die er seit ein paar Monaten besuchte. »Deshalb bin ich froh, dass ich ein paar Tage raus darf.«
»Du hast Ferien?«
»Nicht lange. Aber genug, um an Neujahr bei euch vorbeizuschauen.«
Felicitas konnte ihr Glück nicht fassen. In diesem Jahr hatte die Familie zum ersten Mal nicht zusammen Weihnachten gefeiert. Felix war der Feier auf der Roseninsel ferngeblieben, weil er so viel lernen musste. Natürlich hatte sie Verständnis gehabt, freute sich dafür jetzt umso mehr.
»Wann genau kommst du denn?«
»Kommt drauf an, wie feuchtfröhlich Silvester wird. Ich feiere mit ein paar Freunden in der Nähe von München und fahre am nächsten Morgen mit dem Zug zu euch. Kannst du meinen Geschwistern Bescheid sagen? Ich würd mich freuen, sie mal wiederzusehen.«
Fee versprach es. Mutter und Sohn wechselten noch ein paar freundliche Worte, ehe sich Felix mit dem Versprechen verabschiedete, ausführlich über seine Ausbildung zum Verkehrspiloten zu erzählen, wenn er mit der ganzen Familie um den heimischen Tisch herum saß.
*
Der Silvestermorgen begann beschaulich in der Praxis Dr. Norden. Nur wenige Patienten hatten sich in der Vormittagssprechstunde angemeldet, am Nachmittag war ohnehin geschlossen. So bot sich die Gelegenheit, das scheidende Jahr Revue passieren zu lassen.
»Die Zeit fliegt! Zwölf aufregende Monate sind schon wieder vorbei«, sinnierte Wandy und biss in das Schmalzgebäck, dass Danny zur Feier des Tages aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ mitgebracht hatte.
»Mit den besten Grüßen und Wünschen von der Chefin persönlich«, lächelte er und wischte sich den Puderzucker von der Nasenspitze. »Und von Marla und Titus natürlich auch.«
»Letztes Jahr um diese Zeit habe ich Marla von ihrer Schwangerschaft erzählt«, mischte sich der Seniorchef in das Gespräch ein. Er stand neben seinem Sohn am Tresen. Auch er ließ sich Kaffee und Schmalznudeln schmecken. »Wenn sie gewusst hätte, was sie alles durchmachen muss, wäre der Kleine vielleicht nie auf die Welt gekommen.«
»Dabei sind Marla, Pascal und Fynn heute so eine schöne Familie.« Janine lächelte innig.
»Der liebe Gott weiß schon, warum er uns nicht zu Hellsehern gemacht hat«, erklärte Dr. Norden, als das Telefon klingelte.
»Wer wagt es, unseren Jahresrückblick zu stören?« Danny Norden lehnte sich über den Tresen und versuchte, einen Blick auf das Display zu erhaschen.
»Behnisch-Klinik.« Wendy erkannte den Anrufer schon an der Nummer. »Die Chefin persönlich.« Sie hob ab. »Ich wünsche einen wunderschönen guten Morgen, Frau Dr. Behnisch. Was kann ich für Sie tun?«
Während des kurzen Wortwechsels ruhten alle Blicke auf Wendy. Schließlich reichte sie Daniel den Hörer.
»Tut mir leid, wenn ich dich bei der Arbeit stören muss«, eröffnete Jenny das Gespräch.
Daniel sah die Schmalznudel in seiner Hand schuldbewusst an. Er entschied sich, sein Geheimnis für sich zu behalten.
»Für dich nehm ich mir immer Zeit«, versicherte er. »Was kann ich für dich tun?«
»Hoffentlich zerstöre ich mit meiner Bitte nicht deine Feiertagslaune.«
Daniel stutzte. Konnte sie Gedanken lesen?
»Wie kommst du darauf, dass wir feiern?«
Jenny lachte.
»Ich kenne euch doch. Bestimmt hat Danny ein paar Leckereien aus Tatjanas Bäckerei mitgebracht und ihr habt alle Papphütchen auf.«
»Nein, das ist so nicht richtig«, widersprach er vehement und guten Gewissens. Immerhin entsprangen die Papphütchen dem Reich der Fantasie. »Und jetzt raus mit der Sprache! Was ist los? Du machst mich wirklich neugierig.«
»Roman hat mich für ein paar Tage in ein schickes Hotel ins Zillertal eingeladen. Ich wollte dich fragen, ob du mich ab morgen Nachmittag vertreten kannst.«
Daniel dachte kurz nach.
»Das sollte kein Problem sein. Am ersten Januar haben wir sowieso geschlossen. Und um die Hausbesuche bei den Alkoholleichen kann Danny sich allein kümmern.« Er zwinkerte seinem Sohn gut gelaunt zu. »Wegen der anderen Tage frage ich gleich mal Wendy.« Er wandte sich an seine langjährige Assistentin. »Könnt ihr mich in der ersten Januarwoche entbehren? Jenny braucht mich in der Klinik.«
Wendy leckte den Puderzucker von den Fingern, wischte sie an einem Papiertuch ab und blätterte im Kalender eine Seite weiter.
»Kein Problem. Es sind nicht viele Termine eingetragen. Und im Zweifelsfall schicken wir die Patienten alle in die Klinik.«
»Du hast es gehört«, wandte sich Daniel wieder an seine Freundin und Kollegin. »Im Zweifel musst du deine Abwesenheit mit einem Patientenansturm büßen.«
»Oh, damit kann ich leben«, versicherte Jenny lachend. Sie bedankte sich bei Daniel für seine Unterstützung, ehe sie auflegte, um gleich darauf Roman anzurufen und ihm die frohe Botschaft mitzuteilen.
*
Nur einen Tag später war es so weit. Dr. Daniel Norden und seine Frau Felicitas amüsierten sich auf der Silvestergala. Es war ein herrliches Fest –, nachdem alle Hände geschüttelt und die Festreden endlich vorüber waren.
»Ein Glück, dass das niemand vorher wusste. Sonst wären alle Gäste zu spät gekommen«, raunte Fee ihrem Mann zu. Sie saßen an einem großen, runden Tisch, den sie sich mit vier weiteren Paaren – allesamt fremde Menschen – teilten.
Ein beängstigendes Grummeln ließ Daniel aufhorchen.
»Was war das?« Erschrocken sah er sich um.
»Mein Magen. Ich hab heut extra wenig gegessen, damit ich mehr Platz für das Buffet habe.« Der köstliche Duft, der zu ihnen hinüberwehte, tat ein Übriges, um Fees Magen rebellieren zu lassen.
»Worauf warten wir dann noch?«
»Darauf, dass sich der erste Ansturm legt.« Felicitas deutete auf die Menschenschlange, die sich am anderen Ende des festlichen Saals gebildet hatte. »Ich hab keine Lust auf eine heiße Schlacht am kalten Buffet.«
Doch das interessierte ihren Mann wenig. Er stand auf und zog sie an der Hand mit sich.
»Diese Absätze sind mörderisch«, beschwerte sich Fee, als sie hinter Daniel her zum Buffet stöckelte. »Was hat sich Dési nur dabei gedacht?«
»Dass du mit diesen Schuhen keinesfalls tanzen kannst. Was für eine kluge Tochter wir doch haben.« Daniel zwinkerte seiner Frau belustigt zu und hielt sie sehr fest, als er sie mitnahm zu den reichlich bestückten Silberplatten, Tellern und Schüsseln.
»Schau dir das an!« Allein der Anblick ließ Fee die Schuhe vergessen. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen.
Fantasievolles Fingerfood, kalte Platten, raffiniert eingelegte Vorspeisen, eine Käseauswahl und vieles mehr ließen keine Wünsche offen.
»Da werd ich ja schon vom Anschauen satt«, erklärte Fee staunend, während sie sich in die Schlange einreihten.
»Das war der Plan.« Daniel lächelte.
Sie mussten nicht lange warten, bis sie an die Reihe kamen. Mit leuchtenden Augen wie ein kleines Kind ging Fee hinter ihrem Mann her und füllte ihren Teller mit den unwiderstehlichen Köstlichkeiten.
»Und das ist noch nicht alles«, flüsterte sie Daniel zu und deutete auf das Dessertbuffet, das etwas abseits in einem anderen Teil des Saales wartete. Dort lockten Schüsseln mit Mousse au chocolat, frischer Fruchtsalat, locker-leichte Quarkspeisen und Törtchen darauf, die Gaumen der Gäste zu verwöhnen.
»Du hast ja wenigstens ein Kleid an, in dem nichts einengt«, beschwerte sich ihr Mann mit einem Blick auf seinen gut sitzenden Smoking. »Aber bei mir passt kein Gramm zu viel rein.«
»Manchmal hat es eben auch Vorteile, eine Frau zu sein«, erwiderte Fee und warf übermütig den Kopf in den Nacken. Das hätte sie lieber nicht tun sollen. Die hohen Hacken machten ihr einen Strich durch die Rechnung, und Fee knickte unvermittelt um.
Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, ruderte sie mit den Armen. Dabei machte sich der Inhalt ihres Tellers selbstständig und flog durch die Luft. Er segelte geradewegs auf eine Frau im seidenen Abendkleid zu. Ricarda Lohmeier sah das Unglück auf sich zukommen. Sie wollte ausweichen, stolperte rückwärts und stürzte mit einem Schmerzensschrei zu Boden.
»Ricky!« Der Mann, der hinter ihr in der Schlange gestanden hatte, versuchte sie aufzufangen. Vergeblich. Es gelang ihm lediglich, ihren Aufprall zu dämpfen.
Wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen folgten ihr Zucchiniröllchen, Kartoffelhäppchen mit Lachs und gratiniertes mediterranes Gemüse und landeten mit leisem Klatschen auf dem schönen Kleid.
»Ach, du liebes Bisschen!« Wie vom Donner gerührt stand Felicitas Norden da und starrte auf das Malheur zu ihren Füßen.
Daniel erholte sich schneller von seinem Schrecken. Er drückte Fee den Teller in die Hand und kniete neben der Frau nieder. Sie stöhnte leise. Ihr Mann hatte sich das Sakko vom Leib gerissen und bettete ihren Kopf darauf.
»Ich bin Arzt. Ist Ihnen etwas passiert?«, erkundigte sich Dr. Norden.
Intuitiv tastete er nach dem Puls. Ihre Blässe war besorgniserregend.
»Ricky ist schon seit Tagen so blass«, erklärte Manfred.
Inzwischen hatte sich auch Felicitas wieder halbwegs gefasst.
»Es tut mir so leid. Das wollte ich nicht«, stammelte sie eine Entschuldigung.
Ricarda Lohmeier rang sich ein Lächeln ab.
»Keine Sorge. Es geht schon wieder.« Sie nahm alle Kraft zusammen und wollte sich aufsetzen. Doch ihr Körper machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Ein beißender Schmerz fuhr durch ihren Leib und sie krümmte sich erneut auf dem Boden.
»Ricky, um Gottes willen! Was ist denn nur los mit dir?« Die Angst stand Manfred ins Gesicht geschrieben. Er fuhr zu Daniel Norden herum. »Bitte, Herr Doktor. Sie müssen meiner Frau helfen. Ich glaube, es geht ihr schon seit Tagen nicht gut. Sie denkt, ich merke es nicht. Aber da kennt sie mich schlecht.«
Ricarda lag am Boden und hörte ihrem Mann zu, während Fee ihr Kleid von den Essensresten befreite.
»Unsinn! Glauben Sie ihm kein Wort.« Wieder versuchte sie, sich aufzurichten. Diesmal gelang es wenigstens halbwegs. »Siehst du!« Der Triumph stand ihr ins schmale Gesicht geschrieben.
Inzwischen hatte Dr. Norden eine Entscheidung getroffen.
»Ich würde Sie gern in meine Praxis zur Untersuchung bringen«, machte er einen Vorschlag.
»Das ist wirklich nicht nötig.« Mit Manfreds Hilfe stand Ricarda wieder auf ihren Beinen, unsicher und schwankend zwar, aber immerhin. »Mir geht es gut.«
Auch Daniel war aufgestanden. Sein kritischer Blick ruhte auf Ricarda.
»Wenn Sie meinen.«
»Natürlich. Ich gehe nur schnell ins Bad und wasche mir die Hände. Dann ist alles wieder in Ordnung.« Sie schickte ein Lächeln in die Runde und drehte sich um.
Weit kam sie nicht. Nach ein paar Schritten sackte sie zusammen. Ehe irgendjemand reagieren konnte, stürzte sie zu Boden und blieb reglos dort liegen.
*
»Als ich Ricky kennenlernte, hatte ich gerade eine 25-jährige Ehe hinter mir«, erzählte Manfred Lohmeier, als er neben Felicitas Norden in einem der Aufenthaltsräume saß, die in der Behnisch-Klinik für die Angehörigen der Patienten bereit standen. »Ich dachte, ich wüsste alles, was ein Mann über die Liebe wissen kann. Und dann traf ich sie und nichts war mehr so wie vorher.« Er lächelte versonnen, und Fee unterbrach ihn nicht. Für ihren Geschmack dauerte die Untersuchung schon viel zu lange. Doch sie wollte Manfred nicht beunruhigen. Deshalb hörte sie ihm andächtig zu. »Das ist inzwischen sieben Jahre her. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Gefühlsskala mit Ricky nach oben offen ist. Gegen das, was ich für sie empfinde, war meine Ehe nichts weiter als eine gute Freundschaft.«
Felicitas nickte versonnen.
»Mir geht es mit meinem Mann auch so. Mit dem Unterschied, dass wir schon fast unser ganzes Leben zusammen sind.«
Manfred saß auf dem Stuhl, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, und starrte auf den Boden. Er nickte langsam.
»Dann wissen Sie ja, wovon ich spreche«, seufzte er. »Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist Ricky zu verlieren.«
»Um Himmels willen! Wo denken Sie hin?«, tadelte Felicitas Norden ihren Gesprächspartner. »Mein Mann ist gerade erst dabei, Ihre Frau zu untersuchen, und Sie lassen sie schon sterben?« Deutlicher Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.
Manfred knetete die kalten Hände.
»Ich weiß. Aber ich hab solche Angst davor.«
»Das ist nicht nötig«, versicherte Fee. »Mein Mann und ich sind seit vielen Jahren sehr gut mit der Klinikchefin befreundet. Ich kann guten Gewissens behaupten, dass Ihre Frau hier in den besten Händen ist, die München zu bieten hat. Hier arbeiten hervorragende Ärzte. Es stehen die neuesten medizinischen Geräte zur Verfügung. Seien Sie unbesorgt!«
Manfred wusste nicht, was ihn mehr tröstete: Fees Worte oder der samtweiche Tonfall, in dem sie mit ihm sprach.
»Ich vertraue Ihrem Mann ja auch«, versicherte er, als die ersten Raketen draußen die Ankunft des neuen Jahres ankündigten.
Fee sah auf die Uhr.
»Es ist drei Minuten vor zwölf. Kommen Sie! Wir schenken uns einen Orangensaft ein und stoßen an.«
Ohne lange zu fackeln, ließ sie ihren Worten Taten folgen. Nur zwei Minuten später stand sie Seite an Seite mit Manfred Lohmeier am Fenster.
»..drei, zwei, eins … Prosit Neujahr!«, rief sie ihm fröhlich zu, als die Raketen krachten.
Bunte Fontänen brachten den Nachthimmel zum Glühen. Große Silberblinkerbuketts, durchzogen von tiefblauen und roten Sternen, erstrahlten und verglühten wieder, begleitet von lautem Krachen. Goldener Regen tropfte auf die Zuschauer hinab und erlosch über den Dächern. Selten zuvor hatte Fee ein Feuerwerk derart ungestört beobachtet. Dieser Anblick entschädigte sie für vieles, worauf sie an diesem Abend verzichten musste.
»Da! Sehen Sie nur! Das da drüben sieht aus wie Myriaden von Sternschnuppen!«, rief sie, als eine besonders schöne Rakete erstrahlte. »Wir müssen uns was wünschen!« Sie schloss die Augen und schickte einen Wunsch hinauf in den Himmel.
Manfred sah ihr zu, um es ihr im nächsten Moment nachzutun. Die Begeisterung und Lebensfreude der Ärztin war ansteckend, und für einen kurzen Augenblick gelang es ihm, der Zukunft voller Hoffnung und Optimismus entgegen zu sehen.
*
»Prosit Neujahr!«
Felix Norden zuckte zusammen, als aus dem Nichts eine Flasche Sekt vor seiner Nase auftauchte.
Um ihn herum tobte eine wilde Party. Junge Männer und Frauen hielten lachend und johlend Gläser und Flaschen hoch, um auf das neue Jahr anzustoßen. Die Stimmung war ausgelassen und die Musik laut.
Felix wusste selbst nicht, warum er nicht mit ihnen feierte. Stattdessen stand er am Fenster und beobachtete das Feuerwerk.
»Happy new year!«, antwortete er anstandshalber und drehte sich um auf der Suche nach der Sektflaschenbesitzerin. Sie stand neben ihm im Halbdunkel. Spaßeshalber hatte sie sich halb in einen Vorhang eingewickelt. »Trägst du immer anderer Leute Gardinen?«, fragte er und stieß mit ihr an.
»Schick, nicht?« Sie kicherte, stellte sich als April vor und hielt den bunt gemusterten Stoff hoch. »Gefällt mir.« Vom Alkohol war ihre Stimme verwaschen.
»Du könntest dich mit meiner Schwester zusammentun. Sie ist auch modeverrückt.« Felix hatte keine Lust, sie zu ihrem ungewöhnlichen Namen zu befragen. Stattdessen trank er einen Schluck Bier aus der Flasche und dachte an Dési. Sein Herz wurde schwer. Er wusste selbst nicht, weshalb.
»Ist sie tot, oder warum schaust du so dumm aus der Wäsche?«, fuhr April fort.
»Ich habt sie lang nicht gesehen. Das ist alles.« Felix hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Genauso wenig wie auf die Party.
»Ihr hab ein gutes Verhältnis?«
»Keine Ahnung.« Darüber hatte sich Felix noch nie Gedanken gemacht. »Ich glaub schon. Sie gehört zu meiner Familie.«
Das Mädchen kicherte wieder.
»Na und? Das ist noch lange kein Garant dafür, dass man sich mag«, widersprach sie. »Ich zum Beispiel hab einen Bruder. Zu dem hab ich schon seit Jahren keinen Kontakt mehr.«
»Bei uns ist das anders. Meine Eltern und meine vier Geschwister halten zusammen wie Pech und Schwefel.«
»Vier Geschwister?« April rollte mit den Augen. »Deine Eltern müssen sich ja ganz schön lieb haben.« Ihre Stimme war anzüglich.
Felix wollte ebenso frech antworten, als die Musik lauter und wilder wurde.
Die Meute begann, hemmungslos zu tanzen. Einer seiner Freunde rempelte ihn an, grinste und wollte ihn mit sich ziehen.
»Hey, hör auf mit dem Blödsinn!«, fuhr Felix ihn an. Gleichzeitig wunderte er sich über sich selbst. Im Normalfall war er an vorderster Front dabei. Felix Norden war als Stimmungsmacher bekannt und immer für einen Spaß zu haben. Zum Glück war sein Freund zu betrunken, um Felix‘ Worte auch nur halbwegs ernst zu nehmen. Ein paar Sekunden später hatte er sein Vorhaben schon wieder vergessen. Er hängte sich in die vorbeiziehende Polonaise ein und tanzte davon.
April hatte die Szene mitverfolgt.
»Bist du eigentlich immer so schlecht drauf?« Ohne Felix aus den Augen zu lassen, trank sie einen Schluck Sekt aus der Flasche.
»Stellst du eigentlich immer so viele Fragen?« Er musterte sie. Viel war im schummrigen Licht nicht zu erkennen. Nur, dass ihre langen Haare braun sein mussten und unfrisiert waren. Die Farbe ihrer Augen konnte er nicht identifizieren. Ihr herausforderndes Blitzen schon.
»Wer fragt, ist ein Narr für eine Minute. Wer nicht fragt, ist ein Narr sein Leben lang. Hat ein kluger Mann namens Konfuzius gesagt!«, zitierte sie und kicherte wieder. »Wow, du musst stolz auf mich sein. Hätte nicht gedacht, dass ich das um diese Uhrzeit noch hinkriege.
»Und mit der Menge Alkohol intus«, ätzte Felix. Er dachte nicht daran, freundlich zu sein. »Du bist ein Naturtalent. Oder Alkoholikerin.«
Schnaubend wickelte sich April aus der Gardine. Ihr Anblick ließ Felix nach Luft schnappen. Trotz der winterlichen Temperaturen draußen trug sie zu einer Folklorebluse eine ultrakurze, fransige Jeansshorts. Dazu hatte sie braune Stiefeletten kombiniert.
Leider lachte sie nicht mehr freundlich. Er hatte es geschafft, ihr die Laune zu verderben.
»Vielen Dank, Spaßbremse. Ich hatte mich echt drauf gefreut, dich kennenzulernen. Den großen Felix Norden!« Mit ihrer Sektflasche malte sie eine Krone in die Luft. »Aber offenbar bist du der Falsche. Ich geh mal den anderen suchen.« Im Weggehen winkte sie ihm, stolperte über eine Tasche, die mitten im Zimmer auf dem Boden lag, und tauchte kichernd in der Menge der Feiernden unter.
Felix starrte ihr nach, bis er sie nicht mehr ausmachen konnte. Er wollte sich wieder zum Fenster umdrehen, als sein Blick auf die bunt gemusterte Gardine fiel. Unwillkürlich musste er lächeln, auch wenn es ein trauriges Lächeln war. April war ihm auf die Nerven gegangen. Trotzdem fühlte er sich ohne sie noch einsamer als zuvor. Eine Weile blieb er noch am Fenster stehen und starrte nach draußen. Das Feuerwerk war inzwischen vorbei. Nur hin und wieder leuchtete ein Spätzünder am Nachthimmel auf und verglühte. Wenn sich der Rauch verzogen hatte, schien es, als hätte es die Schönheit dort oben nie gegeben. Randvoll mit trüben Gedanken und Gefühlen trank Felix den Rest Bier aus seiner ersten und letzten Flasche und stellte sie auf die Fensterbank zu Kronkorken, Plastikbechern und Essensresten. Dann bahnte er sich einen Weg durch die feiernde Menge. Er griff nach seiner Jacke, die er wohlweislich nicht wie alle anderen aufs Bett ins Schlafzimmer geworfen, sondern ordentlich an die Garderobe gehängt hatte, und ging nach draußen. Er verabschiedete sich nicht, und niemand bemerkte seinen Aufbruch.
»Morgen früh erinnert sich sowieso keiner mehr an irgendwas«, murmelte er, um sein schlechtes Benehmen vor sich selbst zu entschuldigen. Leise zog er die Tür hinter sich zu.
Als er zum Parkplatz ging, knirschte der gefrorene Kies unter den Füßen. Zu seinem Bedauern lag kein Stäubchen Schnee mehr. Dabei hatte er sich so darauf gefreut.
»Aber noch mehr auf meine Familie«, murmelte er, als er die Schlösser seines Autors aufschnappen lassen wollte. »Nanu, schon offen?« Kopfschüttelnd stieg er ein. »Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme. Und morgen früh in einer anderen Welt – meiner Welt – wieder aufwache.« Der Gedanke an das Haus in München, die Familie, ein gemütliches Frühstück im Kreise seiner Allerliebsten wärmte sein Herz und vertrieb endlich den grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er schaltete den Motor ein und gab Gas.
*
Vom Jahreswechsel bekam Dr. Daniel Norden nicht viel mit. Die Untersuchung der neuen Patientin forderte seine ganze Konzentration. Das neue Jahr war bereits eine Stunde alt, als er die vorläufigen Untersuchungsergebnisse von der Radiologie bekam. Sie bestätigten das, was er schon befürchtet hatte.
Ricarda Lohmeier lag im Behandlungszimmer auf der Untersuchungsliege. Als er hereinkam, drehte sie den Kopf. Ein Blick in sein Gesicht genügte.
»Es ist schlimm, nicht wahr?«
Daniel zog sich einen Hocker heran und setzte sich zu ihr.
»Ich habe Ihre Untersuchungsergebnisse«, begann er, um Zeit zu gewinnen.
Aber Ricky ahnte bereits, dass sie keine Zeit mehr hatte.
»Sagen Sie mir die Wahrheit«, verlangte sie tapfer. »Ich will alles wissen.«
Dr. Daniel Norden war Arzt aus Leidenschaft. Sein Beruf war Berufung. Trotzdem gab es diese Momente, in denen er sich wünschte, etwas anderes gelernt zu haben. Automechaniker etwa oder Gärtner, wie er Fee gegenüber manchmal spaßeshalber behauptete. Dieser Augenblick, als er Ricarda gegenübersaß und nach Worten suchte, war einer davon.
»Sie haben Darmkrebs in fortgeschrittenem Stadium«, kam er ihrem Wunsch schließlich nach. »Ihr Zustand ist ernst.«
Obwohl sie so etwas gefürchtet hatte, füllten sich Ricardas Augen mit Tränen.
»Wie ernst?«, krächzte sie und nahm dankbar das Taschentuch, das Daniel ihr reichte.
»Die bisherigen Untersuchungen lassen zumindest die Hoffnung zu, dass der Tumor noch nicht gestreut hat. Durch die kritische Lage steht allerdings zu befürchten, dass er die Darmwand perforiert.«
»Dann operieren Sie mich!«, verlangte Ricarda so energisch, wie es ihr angeschlagener Zustand zuließ.
»Im Normalfall würden Sie jetzt schon im OP liegen. Leider gibt es ein weiteres Problem.«
»Und welches?« Ricarda schluckte und sah ihren Arzt ängstlich an.
»Ihr EKG war auffällig. Deshalb haben wir uns eingehend mit Ihrem Herzen beschäftigt. Mit schlechtem Ergebnis. Offenbar haben Sie eine Herzmuskelentzündung, die ihrem angegriffenen Immunsystem geschuldet ist. Deshalb ist eine Operation, zumindest im Augenblick, ausgeschlossen.«
Kraftlos sank Ricarda zurück auf die Liege. Weder sie noch Daniel sagten ein Wort, und es wurde ruhig im Zimmer. Nur das Ticken der Uhr an der Wand zerriss unbarmherzig die Stille.
»Ich weiß schon seit einer ganzen Weile, dass irgendwas mit mir nicht in Ordnung ist«, begann sie plötzlich mit schleppender Stimme zu erzählen. Sie sah Daniel nicht an. Er hatte den Eindruck, dass sie mehr mit sich selbst sprach als mit ihm. »Zuerst dachte ich an eine Magenverstimmung. Dann an ein Geschwür. Und dann hab ich einfach nicht mehr darüber nachgedacht.«
»Warum sind Sie nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen?«, fragte Daniel Norden in einer Mischung aus Verzweiflung und Ärger. »Darmkrebs ist heute durchaus heilbar. Je früher mit der Behandlung begonnen wird, umso besser«, sprach er leidenschaftlich auf seine Patientin ein.
Ricarda lächelte traurig.
»Ich dachte, wenn ich mir nicht den Kopf darüber zerbreche und mich darüber hinaus um eine harmonische Lebensweise bemühe, wird alles wieder gut.« Sie hob den Kopf und sah Dr. Norden in die Augen. »Ich wollte mein Leben mit Manfred so weiterleben wie bisher. Mein Glück in vollen Zügen genießen. Ich wollte nicht krank sein. Verstehen Sie das nicht?«
»O doch, natürlich verstehe ich Sie.« Daniels Worte kamen von Herzen. »Aber mit dieser Haltung haben Sie sich in Teufels Küche gebracht.«
»Aus der Sie mir jetzt wieder raushelfen müssen.« Wie um sich selbst Mut zu machen, nickte Ricarda mehrmals hintereinander. »Jawohl. Sie sorgen dafür, dass ich operiert werden kann. Nicht wahr?«
Daniel sah hinunter auf die Akte, die aufgeschlagen auf seinem Schoß lag. Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her.
»Wenn es uns gelingt, Ihr Herz zu stabilisieren, haben wir vielleicht eine Chance.« Er hob die Augen und sah sie an. »Aber versprechen kann ich nichts. Das müssen weitere Untersuchungen ergeben.« Für den Moment gab es nicht mehr zu sagen, und er stand auf. Es wurde Zeit, ein Bett für Ricarda Lohmeier zu besorgen und sich dann zu verabschieden. »Wir sehen uns morgen früh.« Er reichte ihr die Hand und ging zur Tür.
»Herr Dr. Norden!«
Die Hand auf der Klinke, drehte er sich noch einmal um.
»Ja?«
»Bitte sagen Sie meinem Mann nichts davon. Das will ich selbst tun. Aber nicht mehr heute«, bat sie um Aufschub. »Manfred soll morgen wiederkommen.«
Daniel zuckte mit den Schultern. Unmöglich, ihren Wunsch auszuschlagen.
»Wie Sie wollen!«, erklärte er sich einverstanden, ehe er sich endgültig von der Patientin verabschiedete.
Auf dem Weg zum Aufenthaltsraum überlegte er, was er auf die Fragen antworten sollte, die ihm der besorgte Ehemann unweigerlich stellen würde. Lügen war gegen Daniels Prinzipien, was sein Leben nicht unbedingt leichter machte.
Tatsächlich sprang Manfred Lohmeier vom Stuhl auf, kaum dass der Arzt den Raum betreten hatte. Auch Fee erhob sich.
»Da sind Sie ja endlich!«, rief er und stürzte auf Dr. Norden zu. »Wie geht es Ricky? Was fehlt ihr? Kann ich zu ihr?«
Beschwichtigend hob Daniel die Hände.
»Die Schmerzmittel wirken, und es geht ihr den Umständen entsprechend gut.« Das war zumindest nicht gelogen. »Möglicherweise hat Ihre Frau Probleme mit dem Darm. Genaueres erfahren wir morgen aus dem Labor. Sie war sehr müde und hat mich gebeten, schlafen zu dürfen.« Er legte die Hand auf Manfreds Schulter. »Sie sollten jetzt auch nach Hause gehen und sich ausruhen. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Diese Botschaft schien den Ehemann fürs Erste zu beruhigen.
»Ricky leidet öfter mal unter Verdauungsproblemen. Ein Mal wurde sie mit dem Verdacht auf Darmverschluss in eine Klinik eingeliefert«, berichtete er, während er neben Daniel den Flur hinunter ging. Felicitas folgte den beiden Männern in gebührendem Abstand. »Damals ist es noch mal gut gegangen. Das wird es diesmal auch wieder!« Er wirkte, als wollte er sich selbst Mut machen.
Fees Herz wurde schwer. Im Gesicht ihres Mannes hatte sie längst gelesen, dass er mehr wusste, als er gesagt hatte. Und sie wusste auch, dass das kein gutes Zeichen war. Die Sternschnuppen am Silvesterhimmel waren eben doch nicht echt gewesen.
*
»Und das Feuerwerk war wirklich richtig laut?« Noch immer konnte es Jenny nicht glauben. Sie saß am Frühstückstisch und trank die zweite Tasse Tee. Dabei ließ sie ihren Freund nicht aus den Augen. Sie versuchte, in seiner Miene zu lesen.
»Es war ein Höllenspektakel. Direkt neben dem Haus ist ein Kanonenschlag hochgegangen, dass die Scheiben geklirrt haben.« Wenn er daran dachte, hörte er noch immer das Klingen in seinen Ohren. »Aber du bist auf dem Sofa gelegen und hast geschlafen wie ein Baby. Frag unsere Nachbarn. Sie haben um Mitternacht mit mir angestoßen.« Er griff in den Brotkorb und nahm sich noch eine Scheibe Brot. Anders als Jenny brauchte er ein ordentliches Frühstück, auch wenn er an diesem Feiertag nicht in die Arbeit musste und nur ihr zuliebe aufgestanden war.
Sie hingegen nahm die erste Mahlzeit des Tages zur Klinik ein, wenn die knusprigen Croissants aus Tatjanas Bäckerei eingetroffen waren.
»Normalerweise habe ich einen leichten Schlaf. Du weißt das.«
»Also entweder bist du hoffnungslos überarbeitet und brauchst dringend Urlaub. Oder aber du warst betrunken.«
»Nachdem ich nur ein Glas Wein zum Abendessen hatte, scheidet zweiteres aus.«
»Möglicherweise wirst du auch langsam alt und verträgst nichts mehr.« Blitzschnell bückte sich Roman, um dem Wurfgeschoss in Form einer Stoffserviette auszuweichen, die auf ihn zukam.
»Du kannst von Glück sagen, wenn ich trotz deiner Unverschämtheiten heute Gnade vor Recht ergehen lasse und pünktlich aus der Klinik komme«, drohte sie und stand auf.
Höchste Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
»Keine Rückzieher mehr! Du hast es mir versprochen!«, erinnerte Roman seine Lebensgefährtin. »Sonst komme ich höchstpersönlich vorbei, werfe dich über die Schulter und schleppe dich in meine Höhle.«
Jenny musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er es ernst meinte.
»Schon gut. Ich werde pünktlich sein.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn zum Abschied. »Ich will mich ja nicht vor dem ganzen Kollegium der Lächerlichkeit preisgeben.«
»Das wäre mal ein guter Einstieg in ein neues Jahr«, scherzte Roman gut gelaunt und sah ihr nach, wie sie aus dem Zimmer ging.
Wenig später verriet ein Motorengeräusch, dass sie auf dem Weg war.
An diesem ersten Januar war nur wenig Verkehr, und Jenny erreichte ihr Ziel schneller als gedacht. Sie nahm es als gutes Omen.
»Ein gesundes neues Jahr allerseits!«, grüßte sie, wann immer ihr auf den Fluren Mitarbeiter begegneten.
»Aber nicht zu gesund«, bekam sie eine freche Antwort von einem neuen Praktikanten. »Sonst haben wir keine Arbeit mehr hier. Au!«
Jonas fasste sich an den Hinterkopf, dorthin, wo ihn Schwester Elenas Hand getroffen hatte.
Jenny hingegen begnügte sich an diesem Tag mit einem amüsierten Lächeln und ging ihres Wegs. Sie hatte das Büro kaum erreicht, als sie auch schon von ihrer Assistentin Andrea Sander begrüßt wurde.
»Ein gutes neues Jahr und ein Glück, dass Sie da sind. Sie werden bereits ungeduldig erwartet.«
Jenny Behnisch schwante nichts Gutes. Wenn es so dringend war, steckte meist einer dahinter.
»Was will Lammers denn schon wieder?«, seufzte sie.
»Wie kommen Sie auf Lammers? Der ist meines Wissens noch gar nicht im Haus. Zumindest stand sein Wagen vorhin noch nicht auf dem Parkplatz.« Andrea unterstrich ihre Bemerkung mit einem Kopfschütteln. »Ich spreche von Dr. Norden. Er war ein Mal hier und hat danach zwei Mal angerufen.«
»Dann muss es dringend sein.« Jenny Behnisch warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Teller mit den Leckereien der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹, die auch am Feiertag pünktlich wie immer auf dem Tisch standen. »Wo ist er?«
»Hier!« Seine Stimme ließ die beiden Frauen herumfahren. »Ich hab gesehen, wie du auf den Parkplatz gefahren bist«, rechtfertigte er sein Erscheinen. »Das, was ich mit dir zu besprechen haben, können wir auch beim Frühstück machen.« Er schwenkte eine Tüte aus der Bäckerei durch die Luft.
»Das ist wirklich lieb von dir. Aber wir haben bereits unsere obligatorische Lieferung bekommen. Hat Tatjana eigentlich durchgemacht oder sich heute Morgen aus dem Bett gequält?«
»Meines Wissen hatte der Lehrling Titus das Vergnügen, die Frühschicht zu übernehmen.«
Andrea Sander versprach, Kaffee und Gebäck zu bringen, und die Freunde gingen hinüber ins Büro der Chefin.
»Was gibt es am Neujahrsmorgen so Brandeiliges?«, erkundigte sich Jenny, als sie in der gemütlichen Sitzecke Platz genommen hatten.
»Das hier.« Daniel Norden schob eine Akte über den Tisch. Er hatte lange darüber nachgedacht, wie er das Gespräch eröffnen sollte. »Ich möchte dich bitten, dir das anzusehen und mir zu sagen, welche Behandlung du vorschlägst.«
Die Klinikchefin griff nach den Unterlagen.
»Ist das hier eine Quizsendung?«, lächelte sie und schlug die Akte auf. Je länger sie in den Papieren blätterte, umso dünner wurde das Lächeln auf ihren Lippen. Nach einer Weile kehrte sie zum Anfang zurück und studierte die Daten der Patientin. »Erst Ende vierzig. Die arme Frau.«
Das war nicht die Antwort, auf die Dr. Norden gehofft hatte.
»Ich habe vor, sie so schnell wie möglich zu operieren, damit sie bald nicht mehr so arm ist«, klärte er seine Freundin auf. »Welche Medikation schlägst du vor, um ihr Herz möglichst effektiv zu stabilisieren?«
Andrea Sander kam herein, ein Tablett mit frischem Kaffee und Gebäck in den Händen. Wortlos sahen ihr die beiden dabei zu, wie sie den Tisch deckte und sich diskret wieder zurückzog.
Diese Unterbrechung hatte Jenny Behnisch Gelegenheit gegeben, sich eine Antwort zurechtzulegen.
»Du weißt, dass ich dich sehr schätze und ebenso viel Wert lege auf deine fachliche Kompetenz wie auf deine Meinung. Aber in diesem Fall liegst du leider komplett falsch. In ihrem Zustand kann die Patientin auf keinen Fall operiert werden.«
»Aber das ist ihr Todesurteil«, entfuhr es Daniel. »Wenn der Darm perforiert, ist es zu spät. Ich finde, wir müssen ihr eine Chance geben«, ergriff er leidenschaftlich Partei für Ricarda Lohmeier.
Um sich zu beruhigen, hob er seine Tasse und trank einen Schluck.
»Bitte, greif zu!«, forderte Jenny ihn mit einem Blick auf den Teller mit den Süßigkeiten auf.
Doch sein Magen war wie zugeschnürt. Er schüttelte den Kopf.
»Ich bewerte den Zustand von Frau Lohmeier anders als du.«
»Und wie?« Im Gegensatz zu Daniel konnte Jenny dem Croissant nicht widerstehen.
Sie brach ein Stück ab und steckte es in den Mund.
»Ich denke, dass es durchaus möglich ist, ihr Herz zu unterstützen. Meiner Ansicht nach ist damit ein Eingriff machbar. Sie hat gute Chancen, die OP zu überstehen und mit einer anschließenden Chemotherapie wieder gesund zu werden.«
Jenny wischte die fettigen Finger an einer Serviette ab. Noch einmal nahm sie die Unterlagen zur Hand, blätterte hierhin und dorthin, las hier einen Befund und dort eine Diagnose.
Letztendlich blieb sie jedoch bei ihrer ersten Einschätzung.
»Die Frau ist inoperabel. Das weißt du selbst am besten«, sagte sie Daniel auf den Kopf zu. »Selbst wenn es uns gelingt, sie zu stabilisieren, stehen ihre Chancen in den Sternen.«
»Wenn wir es nicht tun, verurteilen wir sie zum Tod.« Daniel Norden hielt es nicht länger auf dem Stuhl. Zutiefst enttäuscht sprang er auf und lief im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Schließlich blieb er vor Jenny stehen und blickte auf sie hinab. »Ich finde, wir sollten sie operieren.«
Dr. Behnisch legte den Rest des Croissants auf den Teller zurück und seufzte tief.
»Das ist deine ganz persönliche Risikoeinschätzung, mein lieber Daniel.« Wenn sie ihn so nannte, meinte sie es ernst. So gut kannte er sie nach all den Jahren. »Ich bin nicht umsonst Chefin dieser Klinik. Ich werde, mit Verlaub, meiner Erfahrung den Vorzug geben. Auch deshalb, weil ich nicht will, dass du gleich zu Beginn des neuen Jahres einen Todesfall auf dem Tisch hast.« Ihr Tonfall und Haltung sprachen eine deutliche Sprache.
Zum Zeichen, dass die Diskussion an dieser Stelle für sie beendet war, stand sie auf und ging zur Tür. Daniel folgte ihr ebenso schweigend wie wütend. Er wusste, dass er sich Jennys Entscheidung fügen musste. Selbst wenn er anderer Meinung war.
*
Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte Felicitas Norden an diesem Tag frei. Nachdem Daniel in die Klinik gefahren war, hatte sie sich noch einmal umgedreht und zwei Stunden tief und fest geschlafen. Bis ein frecher Sonnenstrahl durch den Spalt zwischen den Vorhängen direkt in ihr Gesicht fiel und sie weckte.
»Was für eine herrliche Ruhe!«, seufzte sie zufrieden.
Alle Kinder hatten Silvester bei Freunden gefeiert und würden erst im Laufe des Nachmittags wieder zu Hause eintrudeln. So lag der Tag wie ein unbeschriebenes Blatt vor ihr, und sie freute sich darauf, nur das zu tun, wozu sie Lust hatte. Doch schon als sie die Treppe herunterging, ahnte sie, dass ihr Plan nicht aufging.
»Felix, das ist ja eine Überraschung. Was machst du denn schon hier?«, begrüßte sie ihren Zweitältesten, der gerade dabei war, den Frühstückstisch zu decken. Mit einem Stapel Teller in der Hand drehte er sich zu ihr um und schnitt eine Grimasse.
»Na, das nenne ich mal eine überschwängliche Begrüßung!«
»Wenn du die Teller hinstellst, kann ich dich sogar umarmen«, scherzte Felicitas gut gelaunt und nahm ihrem Sohn das Geschirr aus der Hand.
Sie schloss ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich.
»Du musst dir nicht so viel Arbeit machen. Deine Geschwister und dein Vater sind nicht mehr oder noch nicht zu Hause, und Lenni hat frei. Sie besucht eine Freundin im hohen Norden.«
»Es ist keiner da?«, entfuhr es Felix sichtlich enttäuscht.
»Nur meine Wenigkeit!« Felicitas brachte die Teller zurück in die Küche und stellte sie in den Schrank. Mit wenigen Handgriffen suchte sie im Kühlschrank alles zusammen, was sie für ein Frühstück brauchten. »Aber wenn das nicht genug ist …«
Felix war ihr gefolgt und kümmerte sich um Kaffee, Milch und Zucker.
»So war das nicht gemeint«, entschuldigte er sich. »Aber ich hatte mich auf ein schönes Frühstück mit meiner Familie gefreut. So wie früher eben.«
Fee lachte.
»Du klingst wie ein alter Mann, der nach einem beschwerlichen Leben erschöpft nach Hause zurückkehrt.« Sie stellte Brot und Butter, Aufschnitt und Marmelade auf den Tisch.
»So fühle ich mich im Augenblick auch«, gab Felix zu und schenkte Kaffee in die Tassen. Sein prüfender Blick wanderte über die gedeckte Tafel. »Haben wir alles?«
»Wenn was fehlt, hole ich es. Aber jetzt setz dich bitte zu mir. Es ist so schön, dass du da bist.« Felicitas legte die Hand auf seinen Arm. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich an Weihnachten vermisst habe?«
»Und ich euch erst«, gestand Felix. »Dabei hätte ich das nie für möglich gehalten. Ich dachte immer, es wäre total cool, Weihnachten endlich mal ganz anders zu feiern. Ohne den ganzen Wahnsinn mit geschmücktem Baum und einem Berg Päckchen und Festessen und so.« Während er sprach, bestrich er eine Brötchenhälfte mit Butter. »Ich dachte, das wird richtig gechillt.«
»Und? Wie war es wirklich?«, fragte Felicitas, obwohl sie die Antwort längst kannte. Schließlich war sie selbst einmal jung gewesen und hatte dieselben Gedanken gedacht wie ihr Sohn.
»Stinklangweilig«, platzte er heraus. »Wir waren auf so einer alternativen Weihnachtsfeier mit Palmen und Sandstrand und Cocktails und so.«
»Klingt doch nett!« Sie löffelte Zucker in ihren Kaffee und rührte um.
»Das hätte es sein können, wenn wir nicht die ganze Zeit in Erinnerungen geschwelgt hätten. Jeder hatte eine Geschichte aus seiner Kindheit auf Lager. Die haben wir uns so lange erzählt, bis wir alle ganz sentimental waren.«
Fee lachte.
»Dann kann ich ja nur hoffen, dass dein Silvester besser war.«
»Ganz nett«, erwiderte Felix und biss in sein Brötchen.
»Ganz nett?«, wiederholte seine Mutter gedehnt. »Richtig prickelnd klingt das auch nicht.«
Prickelnd war nur die Begegnung mit April gewesen, die Felix in diesem Augenblick wieder einfiel. Schnell schob er den Gedanken an das verrückte Mädchen weg.
»Das liegt vielleicht daran, dass mir im Moment einfach alles zu viel ist. Die Ausbildung ist wahnsinnig anspruchsvoll und anstrengend. Der Druck ist irre.« Um seine Worte zu unterstreichen, drückte er das verbliebene Brötchen zusammen und schob es in den Mund. Er sah aus wie in Hamster. Trotzdem lachte Fee nicht.
»Aber es macht dir doch Spaß?« Wie jeder Mutter lag ihr das Wohl ihres Kindes am Herzen. Egal, wie alt es sein mochte.
»Klar. Es ist super. Vor allen Dingen, weil der erste theoretische Teil bald abgeschlossen ist. Im Anschluss geht es für für vier Monate zu einer Flugschule nach Amerika.«
»Vier Monate?« Überrascht sah Fee ihren Sohn an. »Dann sehen wir uns ja eine ganze Weile nicht.«
»Deshalb war ich ja so scharf darauf, meine liebe Familie noch einmal um mich zu scharen.« Allmählich kam Felix‘ schelmische Art wieder zum Vorschein.
Fee nahm es als gutes Zeichen und wollte eben einen Plan schmieden, wie sie ihre Lieben an diesem Abend möglichst vollzählig vereinen konnte, als sie einen Schatten durch den Vorgarten huschen sah.
»Was war denn das?«
»Wer? Wo?« Felix’ Augen folgten ihrem Blick.
»Draußen. Da ist doch jemand.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als zuerst ein großer Hut und darunter ein Gesicht im Fenster auftauchte.
Vor Schreck schrie Fee auf. Felix sprang so schnell vom Stuhl auf, dass er krachend umfiel.
Von draußen ertönte ein helles Lachen. Mit wenigen Schritten war er an der Tür.
»April, verdammt, was soll denn das? Und was machst du überhaupt hier?« Er warf einen Blick über ihre Schulter. Doch an diesem ersten Januarmorgen war keine Menschenseele auf der Straße zu sehen. Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Wie bist du hergekommen?«
»Na, mit dir?«, antwortete sie keck und schob sich den überdimensionalen Hut aus der Stirn.
»Mit mir?« Felix verstand die Welt nicht mehr.
April verdrehte die Augen.
»Du hast mir so von deiner Familie vorgeschwärmt, dass ich dachte: Diese Wundertiere musst du unbedingt kennenlernen! Also hab ich mir’s auf deiner Rücksitzbank bequem gemacht.«
In diesem Moment fiel es Felix wie Schuppen von den Augen.
»Du hast den Wagen aufgesperrt! Woher hattest du den Schlüssel?«
»Du hast es mir leicht gemacht.« April lächelte wie eine Elfe. »Als du auf die Party gekommen bist, hab ich gesehen, wie du deine Jacke an die Garderobe gehängt hast.« Sie zog ihren Poncho enger um sich. »Willst du mich nicht reinlassen? Es ist arschkalt hier draußen.«
Felix sah sich nach seiner Mutter um, die sich trotz aller Neugier diskret zurückhielt. Aus dem Tuscheln hatte sie blitzschnell geschlossen, dass Felix das Mädchen kannte.
»Nur, wenn du dich benimmst und nicht mit solchen Ausdrücken um dich wirfst«, verlangte er. »Wir sind eine anständige Familie.«
»Ach ja?« April streckte die Hand aus, zog ihn zu sich und küsste ihn leidenschaftlich. Bevor sie sich zurückzog, biss sie ihn in die Lippe.
»Aua! Spinnst du?«, entfuhr es Felix. Mit den Fingerspitzen betastete er die Wunde, die leicht blutete.
April lachte aus vollem Herzen.
»Dieser Ausdruck … Ich muss schon sehr bitten, Herr Norden«, spottete sie und blitzte ihn vergnügt an. »Also was ist? Darf ich jetzt rein?«
Auf eine Antwort wartete sie nicht mehr. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, marschierte sie schnurstracks an ihm vorbei.
*
»Macht dreißig Euro!« Die Floristin im Blumengeschäft der Behnisch-Klinik nahm den prächtigen Strauß – ein wahres Feuerwerk an Farben – aus der Vase und ließ ihn abtropfen. »Soll ich ihn einpacken?«
»Nein, danke. Nicht nötig.« Manfred Lohmeier suchte in seiner Brieftasche nach passenden Scheinen und reichte sie über den Tresen. »Ich bringe ihn sowieso gleich an den Mann respektive die Frau.« Er verabschiedete sich mit einem Lächeln und verließ das Geschäft.
Nach Dr. Nordens Worten vom vergangenen Abend blickte er zuversichtlich in die Zukunft. Er glaubte fest daran, dass seine Ricarda schon bald wieder gesund war und das Krankenhaus verlassen konnte. Um ihr die Zeit bis dahin so angenehm wie möglich zu machen, hatte er eine Überraschung mitgebracht.
Als er klopfte, ahnte er nicht, dass sich seine Frau schnell ein Lächeln auf die Lippen zwang.
»O mein Gott, ist der schön!«, hauchte sie beim Anblick des Straußes.
»Fast so schön wie du!« Manfred stellte die Blumen in eine Vase, ehe er sich einen Stuhl ans Bett zog.
»Du machst dich über mich lustig«, beschwerte sich Ricky. »Ich sehe aus wie ein Gespenst.«
»Ich hatte schon als Kind ein Faible für Hui Buh und Konsorten.« Manfred beugte sich vor und nahm ihre Hand zwischen die seinen. Dabei ließ er sie nicht aus dem Blick. »Wie fühlst du dich heute, mein Schatz?«
Seine Miene war so hoffnungsvoll, dass ihr das Herz weh tat. Die Stunde der Wahrheit war unweigerlich gekommen.
»Dr. Norden war heute früh schon bei mir.« Sie wagte es kaum, ihn anzusehen.
»Und? Was hat er gesagt? Mir wollte er gestern nichts mehr verraten.«
Ricarda kämpfte mit sich. Eigentlich hatte sie sich dazu durchgerungen, ihm alles zu sagen. Doch als es so weit war, schaffte sie es nicht. Sie entzog ihrem Mann ihre Hand, legte sie ihm in den Nacken und zog ihn an sich. Wenn sie schon lügen musste, wollte sie ihm dabei wenigstens nicht in die Augen sehen. Das machte es irgendwie weniger schlimm.
»Mein Zustand ist nicht so schlecht, wie es gestern ausgesehen hat«, erklärte sie und war dankbar dafür, dass ihre Stimme nicht wackelte. »Er ist zuversichtlich, dass er mich wieder hinkriegt.«
Manfred schickte ein Stoßgebet in den Himmel.
»Ein Glück!« Mit sanfter Gewalt löste er sich aus der Umarmung. »Und um auch einen Teil dazu beizutragen, damit es dir hier nicht zu gut gefällt, hab ich dir was mitgebracht.« Feierlich zog er einen Umschlag aus der Innentasche des Anoraks und überreichte ihn seiner Frau.
Ricky beäugte ihn skeptisch.
»Was ist das?«
»Mach ihn auf! Dann weißt du es!« Manfred war so gespannt darauf, wie seine Überraschung ankommen würde, dass er aufgeregt auf dem Stuhl hin und her rutschte.
Ricarda tat ihm den Gefallen und zog eine Karte heraus. Auf der Vorderseite war ein Haus abgebildet, das sie nur zu gut kannte.
»Das ist doch das Berghotel Kristall!« Sie klappte die Karte auf. »Eine Woche Aufenthalt in der Junior-Suite inklusive Verwöhnprogramm und Vital-Halbpension mit Produkten aus der Region.«
Manfred hielt es nicht länger aus.
»Ich hab mir gedacht, dass wir uns endlich mal wieder was gönnen sollten. Immer nur arbeiten von früh bis spät … Das kann doch nicht das ganze Leben sein«, erklärte er euphorisch.
»Du bist so lieb«, schluchzte Ricarda auf. Jetzt war es endgültig um ihre Selbstbeherrschung geschehen. »Schon allein deswegen muss ich wieder gesund werden.« Sie fiel ihrem Mann in die Arme und weinte bitterlich an seiner Brust.
Manfred spürte ihre heißen Tränen, die sein Hemd durchweichten. Doch er achtete nicht darauf.
»Aber was ist denn, mein Schatz? Freust du dich nicht?«, erkundigte er sich zutiefst verunsichert.
Ricarda lachte unter Tränen.
»Natürlich. Warum denkst du denn, dass ich weine?«
Manfred atmete auf. Einen kurzen Moment hatte er Angst gehabt.
»Weißt du, ich habe mir heute Nacht viele Gedanken gemacht«, begann er, von seinen schlaflosen Stunden zu erzählen. »Wir verbringen so viel Zeit mit unserer Arbeit und haben auch zu Hause immer so viel zu tun, dass wir darüber oft die wichtigen Dinge des Lebens vergessen.« Wie ein Baby schaukelte er Ricarda sanft in seinen Armen. Die beruhigte sich zusehends. Das Schluchzen wurde leiser, das Zucken ihrer Schultern weniger. »Als wir zwei uns kennengelernt haben, wollte ich jede Sekunde mit dir genießen. Stattdessen sind wir unbemerkt im Alltag gelandet wie alle anderen auch. Damit ist jetzt Schluss! Deine Krankheit soll nicht sinnlos gewesen sein.«
Obwohl Angst und Sorge sie fast zu Boden drückten, breitete sich ein tiefes Lächeln auf Ricardas Gesicht aus.
»Ich hatte nie das Gefühl von Alltag mit dir«, raunte sie ihm ins Ohr, ehe sie, erschöpft von der Anstrengung des Gesprächs, zurück in das Kissen sank und gleich darauf eingeschlafen war.
*
»Ärztin und Mutter von fünf Kindern? Das ist ja rattenscharf!«, lobte April und steckte das letzte Stück Brötchen in den Mund, während sie ihre Hand schon wieder nach dem Brotkorb ausstreckte.
Felix nutzte die Gelegenheit, um sie ausgiebig zu mustern. Bei Tageslicht wirkte ihre Kleidung schäbig und abgetragen. Sie trug noch immer die Kleider vom vergangenen Abend. Nur den Hut hatte sie neben sich auf den Tisch gelegt. Fee fror, wenn sie das dünne Mädchen nur ansah. Wenigstens hatte sie einen Poncho über die fadenscheinige Folklorebluse geworfen, der aber nicht danach aussah, als ob er wirklich vor der Kälte schützen konnte. Dafür war ihr Strahlen umso wärmender.
»Ich hab noch nie so gute Brötchen gegessen«, erklärte sie und schnupperte an dem Gebäck.
»Und ich noch nie so ein hungriges Mädchen«, platzte Felix heraus. Er schämte sich zutiefst für Aprils Benehmen. Zu seiner Erleichterung lächelte Fee nur dazu.
»Ich hab auch schon ewig nichts mehr gegessen«, gestand April. Sie ignorierte die Vorlegegabeln und stapelte Käsescheiben auf ihrem Teller. »Dachte eigentlich, dass es auf der Silvesterparty was Anständiges gibt. Das war ein Grund, warum ich überhaupt gekommen bin. Aber nada, nichts. Nur ein paar Chips und Salzstangen. Davon wird doch kein Schwein satt.« Statt die Semmel ordentlich aufzuschneiden, brach sie sie kurzerhand auseinander, bestrich die Bruchstelle dick mit Butter, legte eine Käsescheibe oben drauf und schob alles zusammen in den Mund. Im selben Atemzug griff sie nach der Kaffeetasse, nahm einen ordentlichen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Wir haben auch Servietten«, bemerkte Felix säuerlich und reichte ihr den Serviettenhalter.
»Schon okay, brauch ich ni…« Als sie Fees amüsierten Blick bemerkte, stockte April. »Ähm, danke.« Brav betupfte sie sich den Mund, zerknüllte die Serviette und stopfte sie unter den Teller.
Um ein Haar wäre Felicitas in lautes Lachen ausgebrochen. Felix dagegen verdrehte die Augen. Eine Weile sahen die beiden April zu, wie sie gierig ihren Hunger stillte. Allmählich schien sie satt zu werden. Darauf hatte Felix nur gewartet. Es war an der Zeit, ein paar Fragen zu stellen.
»Du kanntest die Leute auf der Party gar nicht?«
April schüttelte den Kopf, dass die langen, unordentlich gewellten Haare hin und her flogen. Als sie lachte, strahlten ihre Zähne wie an einem Faden aufgereihte Perlen auf. Ihre grüngrauen Augen strahlten mit ihrem großen Mund um die Wette. Das war der Moment, in dem Felicitas Norden sich in das Mädchen verliebte. Aprils Natürlichkeit war ebenso bestechend wie ihr Benehmen befremdlich. Diese Mischung machte sie unwiderstehlich.
»Nö. Ich hab ein paar Mädchen in der Trambahn zugehört, wie sie über die Fete gequatscht haben, was sie anziehen wollen und so. Weil da doch dieser wahnsinnig geile Typ kommen sollte. Felix Norden.« Sie setzte eine gewichtige Miene auf und legte den Zeigefinger ans Kinn. »Intelligent, witzig, charmant, gut aussehend«, zählte sie so ernsthaft auf, dass Fee fast platzte vor unterdrücktem Lachen. April bemerkte es und gab ihre Pose auf. »Na ja, da dachte ich, diesen Superman muss ich auch kennenlernen. Aber wen treffe ich?« Sie seufzte theatralisch. »Eine stinklangweilige Spaßbremse, die nach seiner Mami heult.« Sie schickte Felicitas ein freundliches Lächeln. »Was ich jetzt natürlich verstehen kann. Du bist der Knaller, Frau Mama-Doktor.«
Felix stand der Mund offen. Er wünschte sich nichts sehnliche, als ein Loch im Erdboden, in das er verschwinden konnte.
»Vielen Dank.« Fee dagegen machte keinen Hehl daraus, dass sie sich über dieses Kompliment freute. »Aber was ist denn mit deiner Familie? Wo kommst du überhaupt her?«
April streckte die Hand nach den Orangenspalten aus und stopfte ein paar davon in den Mund. Der Saft lief ihr aus dem Mundwinkel.
»Auf Norddeuffland«, nuschelte sie. Schon wollte sie sich wieder mit dem Handrücken über den Mund wischen, als sie sich an die Lektion von vorhin erinnert. Sie zog die zerknüllte Serviette unter dem Tellerrand hervor. »Meine Mutter hatte vor ein paar Monaten die Schnauze voll vom Muttersein und ist mit einem Kerl durchgebrannt. Mein Erzeuger ist ein Alki. Den hat es noch nie gekümmert, was mit mir los ist«, erklärte April lakonisch, während ihre hungrigen Augen über Käseteller, Brötchenkorb, Obstplatte und Joghurt wanderten und schließlich den Marmorkuchen vom Vortag ins Visier nahmen. Wieder streckte sie ihre Hand aus und zog zielstrebig das größte Stück heraus. Gierig biss sie hinein, während Mutter und Sohn noch mit ihrer Bestürzung kämpften. Unwillkürlich musste Felix wieder an seine Unterstellung vom vergangenen Abend denken, als er April eine Alkoholikerin genannt hatte. Jetzt wusste er, dass ein paar Schlucke Sekt auf nüchternen Magen schon genügt hatten, um sie betrunken zu machen. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. »Dieser Kuchen ist der Hammer!«, seufzte sie glücklich in die Stille hinein.
»Dann bist du ganz allein unterwegs?«, fragte Felix schließlich.
Mit übertriebenen Bewegungen sah April von links nach rechts. Sie bückte sich sogar, um einen Blick unter ihren Stuhl zu werfen.
»Klar. Oder siehst du hier noch jemanden?« Sein Gesicht brachte sie zum Lachen. Es klang klang wie ein Wiehern und Schnauben, und um ein Haar wäre sie vom Stuhl gefallen.
»Vorsicht.« In letzter Sekunde hielt Fee sie fest. »Warum bist du überhaupt zu Felix ins Auto gestiegen, wenn er doch so eine Spaßbremse war, wie du sagst?«, fragte sie, als sich das Mädchen erholt und die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte.
»Ich wollte unbedingt rausfinden, ob seine tolle Familie genauso banane ist wie er.«
»Banane?« Verständnislos zog Fee eine Augenbraue hoch.
»Daneben, bescheuert, verrückt, fehlgeleitet«, fand April schnell ein paar Synonyme. »Ein Typ, der von den Mädels so angehimmelt wird und dann so ein Versager ist … Ich wollte einfach wissen, was dahintersteckt.«
»Aber das ist hoffentlich nicht der einzige Grund, warum du hier bist«, tat Felix seine Hoffnung kund. Allmählich erholte er sich von dem Schock. »Ich bin nämlich wirklich so toll, wie die Mädels in der Tram erzählt haben. Meine Familie übrigens auch. Aber das hast du ja schon festgestellt.« Er zwinkerte ihr zu. »Gestern hatte ich nur einen schlechten Tag. Silvester ist nicht so mein Ding. Da werde ich immer sentimental.«
»Kein Wunder«, erwiderte April. Sie machte ihrem selbstgewählten Namen alle Ehre und wurde plötzlich ernst. »Das Leben gleicht einer Reise, Silvester einem Meilenstein.«
Wieder einmal gelang es ihr, ihre Umwelt zu überraschen.
»Das ist von Fontane.« Felix durchbohrte sie mit Blicken. April verwirrte ihn. Ihr schlechtes Benehmen und ihre mitunter schreckliche Ausdrucksweise standen in krassem Gegensatz zu der verletzlichen Zartheit und der Bildung ihres Geistes. »Heute Nacht hast du auch so einen Spruch losgelassen.«
April schürzte trotzig die Lippen. Sie wusste, was er dachte.
»Na und? Nur weil ich heimatlos bin, heißt das noch lange nicht, dass ich keine Bildung habe«, wies sie ihn so scharf zurecht, dass Fee beschloss, dazwischen zu gehen.
»Darf ich dich noch was fragen, bevor du ihm den Kopf abreißt?«
Mit dieser Bemerkung nahm sie April den Wind aus den Segeln. Ehe Fee es sich versah, fand sie sich in einer innigen Umarmung wieder. Ein klebriger Kuss landete auf ihrer Wange.
»Du darfst alles, Frau Mama-Doktor. Dich mag ich.« Sie legte den Kopf schief und wirkte plötzlich wie ein kleines Mädchen.
»Bist du wirklich nur wegen der Spaßbremse Felix in seinen Wagen gestiegen oder gibt es noch einen anderen Grund, warum du ausgerechnet in München gelandet bist?«, versuchte Fee, ihr Geheimnis zu ergründen.
»Eigentlich bin ich nur auf der Durchreise. Ne Cousine von mir hat ein Hotel in Österreich. Da kann ich arbeiten.« Aprils Ehrlichkeit war entwaffnend. »Aber wenn ich darf, bleib ich erst noch ein bisschen hier. Hier gefällts’s mir.« Sie drehte sich zu Felix um und zwinkerte ihm zu. »Außerdem muss ich unbedingt noch deine Schwester kennenlernen. Die, die statt Kleidern Gardinen trägt.«
»Wie bitte?« Diese Bemerkung war auch für Fee zu viel.
Felix hingegen verdrehte nur die Augen und lachte.
*
»Habe ich was vergessen?« Dr. Jenny Behnisch stand vor dem Schreibtisch ihrer Assistentin und dachte nach.
Andrea Sander ging die Liste noch einmal durch.
»Sämtliche Termine habe ich Dr. Norden in den Online-Kalender kopiert. Ihre Teilnahme am Kongress habe ich abgesagt, Ihr Vortrag ist verschoben. Die Kollegen Wimmer und Kühn von der Ambrosius-Klinik kommen erst, wenn Sie wieder da sind«, zählte sie einen Stichpunkt nach dem anderen auf. »Ihre Fälle und die anstehenden Operationen haben Sie ja selbst an den Kollegen übergeben. Den Namen des Hotels habe ich. Aber ich verspreche hoch und heilig, Sie in Ruhe zu lassen und Ihnen die Mitarbeiter vom Leib zu halten. In den paar Tagen wird ja wohl nicht viel passieren.«
Jenny nickte, während sie in ihrer Handtasche nach Handy und Autoschlüsseln suchte.
»Ach ja, halten Sie bitte in der Akte fest, dass Frau Lohmeier auf keinen Fall operiert werden darf. Das hab ich über der Diskussion mit Daniel völlig vergessen.«
Andrea machte sich eine entsprechende Notiz am Ende der langen Liste und hob den Kopf.
»Fertig! Dann können Sie jetzt in den wohlverdienten Urlaub aufbrechen.« Noch immer war sie ganz begeistert von der romantischen Idee, die Roman gehabt hatte.
»Wenn ich meine Schlüssel finde, schon.« Jenny schnitt eine unglückliche Grimasse.
»Nehmen Sie inzwischen doch die hier!« Andrea nahm den Bund vom Schreibtisch und klimperte damit.
Jenny Behnisch schüttelte den Kopf.
»Wie kommt der denn da hin?«
»Den haben Sie heute morgen hier liegen gelassen.«
»Unglaublich.« Sie bedankte sich bei ihrer Assistentin und wünschte eine gute Zeit. »Jetzt muss ich aber wirklich los. Sonst macht Roman seine Drohung wahr und schleppt mich über der Schulter aus der Klinik.«
Andrea Sanders Lachen verfolgte sie bis hinaus auf den Flur. Auch auf Jennys Gesicht spielte ein Lächeln, als sie durch die Tür in den kühlen, aber sonnigen Januartag trat. Allmählich machte sich die Vorfreude auf ein paar entspannte Tage breit. Sie hätte es niemals eingestanden, aber insgeheim war sie Romand, dankbar für seine Hartnäckigkeit. Seit dem letzten Urlaub war schon wieder viel zu viel Zeit ins Land gezogen. Wenn Jenny ehrlich war, fühlte sie sich ausgelaugt und erschöpft, wie ihr Lebensgefährte wenig später selbst feststellte.
»Früher haben mich meine Freundinnen vom Beifahrersitz aus angehimmelt, wenn wir gemeinsam in den Urlaub gefahren sind«, beschwerte er sich und setzte den Blinker, um in die Hoteleinfahrt abzubiegen.
»Sind wir schon da?« Verschlafen blinzelte Jenny in die Welt.
»Schon ist gut!« Roman lachte. »Wir sind eine geschlagene Stunde im Stau gestanden. Aber ich freue mich, dass du dich ausruhen konntest.« Er stieg aus und ging um den Wagen herum, um ihr die Tür aufzuhalten.
»Nimm es als Zeichen meines Vertrauens in deine Fahrkünste.« Neugierig sah sie sich um. »Du hast mal wieder einen exzellenten Geschmack bewiesen«, lobte sie die Wahl ihres Lebensgefährten.
»Wart’s ab, bis wir erst drinnen sind.« Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie ins Hotel.
Roman hatte nicht zu viel versprochen. Jenny war begeistert vom gelungenen Stilmix des Hauses. Wie selbstverständlich fügten sich alpenländische Handwerkskunst und moderne Elemente zu einer harmonischen Einheit zusammen.
»Alle Achtung. Da hat dein Freund Herbert ganze Arbeit geleistet.«
»Schön, wenn du dich wohlfühlst.« Das Paar stand an der Rezeption, um die Anmeldeformalitäten zu erledigen.
»Ich glaube, es gefällt mir noch besser, wenn ich satt und zufrieden bin«, spielte Jenny auf ihren leeren Mangen an, der seit dem Croissant am Morgen nichts mehr bekommen hatte.
»Sie können sich gleich unseren Nachmittagssnack schmecken lassen«, bot die Rezeptionistin freundlich an. »Exklusiv für unsere Gäste bieten wir täglich ab 14 Uhr ein kleines Buffet aus kalten und warmen Speisen, an denen sie sich bedienen können.«
Das ließ sich Jenny nicht zwei Mal sagen. Nur ein paar Minuten später saß sie mit Roman am Tisch und ließ sich eine wärmende Kürbissuppe mit knusprigen Croutons schmecken. Dabei wanderten ihre Gedanken zurück zum letzten Urlaub, den sie gemacht hatten.
»Weißt du noch, wie ich dir damals nach Afrika gefolgt bin?« Das Bild stand ihr noch deutlich vor Augen: Roman, wie er allein auf dem Barhocker saß und reglos aufs Meer hinaus starrte.«
Er folgte ihr willig und beschwor die Vergangenheit herauf.
»Damals dachte ich, dass ich dich für immer verloren hätte.«
»Ich weiß. Du wolltest mehr Verbindlichkeit, Sicherheit. Mehr Zuneigung und Wärme von mir«, erinnerte sie sich und schickte ihm einen zweifelnden Blick. War es ihr gelungen, ihm all das zu geben?
»Im Gegenzug hast du mir gesagt, dass du nie die anschmiegsame Frau sein wirst, die sich jeder Mann wünscht.«
Jenny legte den Kopf schief und sah ihn prüfend an.
»Und? Wie kommst du inzwischen damit klar?«
»Solange du dir unter Androhung von Gewalt immer mal wieder Zeit nimmst für mich, ist alles in Ordnung.« Roman lächelte das Schulbubenlächeln, das Jenny so an ihm liebte. In diesem Moment klingelte ihr Mobiltelefon. »Du musst nicht jedes Mal dein Handy im Pool versenken«, erinnerte er sich an den gezielten Wurf von damals. »Es genügt, wenn du es ausschaltest.«
Diesen Gefallen tat sie ihm, ohne auf das Display zu sehen. Dann beugte sie sich vor und sah ihm tief in die Augen.
»Seit wann so bescheiden, Herr Kürschner?«, fragte sie ihn herausfordernd.
»Ich? Bescheiden?« Er lachte dicht an ihren Lippen. »Wärst du dann die Frau an meiner Seite?« Ungeachtet der anderen Gäste im Raum und obwohl er wusste, dass Jenny körperliche Liebesbekundungen in der Öffentlichkeit nicht gerade schätzte, ließ er seinen Worten einen leidenschaftlichen Kuss folgen. Und sie war klug genug, um sich nicht dagegen zu wehren.
*
An diesem Spätnachmittag konnte Fee Norden ihr Glück kaum fassen.
»Heute früh hätte ich nie gedacht, dass es mir gelingt, euch alle zusammenzutrommeln.« Ihr Blick wanderte durch’s Wohnzimmer, wo es sich ihre Kinder samt Freunden und Freundinnen auf Sofas, Sesseln und auf dem Boden bequem gemacht hatten. Zwei Kannen Tee und die Plätzchenreste von Weihnachten standen auf dem Couchtisch. »Jetzt fehlt nur noch Dan.« Sie sah auf die Uhr. »Ich hab vor einer Stunde mit ihm telefoniert, und er hat versprochen, gleich da zu sein. Hoffentlich hat er es nicht wieder vergessen.« Dankend nahm sie die Tasse, die Dési ihr reichte, und machte es sich auf dem Sofa bequem.
Ein Feuer prasselte im Kamin, und der winterliche Duft nach Zimt und Nelken stieg aus der Teetasse.
»Dein Problem ist, dass du uns notorisch unterschätzt«, sagte Janni seiner Mutter auf den Kopf zu.
»Wenn mein kleiner Bruder Felix sich schon mal die Ehre gibt, müssen wir doch da sein«, stimmte Danny ihm ausnahmsweise einmal zu..
Tatjana lachte.
»Kleiner Bruder ist gut.« Sie saß auf dem Fußboden und wuschelte Felix, der es sich neben ihr bequem gemacht hatte, durchs Haar. Die beiden verband eine besondere Freundschaft, und sie vermisste ihn sehr, seit er die Pilotenausbildung begonnen hatte. »Er ist mindestens einen halben Kopf größer als du.«
»Na und? Die großen Ochsen ziehen nicht die größten Furchen«, schmetterte eine laute Stimme durch’s Zimmer, gefolgt von einem Wiehern und Schnauben, das an ein Pferd erinnerte.
Schlagartig konzentrierte sich das Interesse auf April, die sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte.
»Das hast du ja mal wieder ausgesprochen nett gesagt!«, bedankte sich Felix für diese Spitze in seine Richtung. »Hast du eigentlich für jede Lebenssituation einen dummen Spruch parat?«
»Wieso dumm?«, fiel Danny ihm ins Wort. »Ich finde diesen Kommentar ausgesprochen passend.« Er stand vom Boden auf, um sie zu begrüßen und sich vorzustellen. »Ich bin Danny, ältester Bruder und Dompteur der Geschwister-Meute.« Ehe er Gelegenheit hatte, ihr die Hand hinzustrecken, boxte April ihn burschikos in den Oberarm.
»Dann bist du also der Oberlangweiler?«, erkundigte sie sich Kaugummi kauend und versenkte die Hände in die Taschen der Jeans, die an ihr schlotterten wie ein Sack. Genauso wie der Pullover, beides Leihgaben aus Fees Schrank.
»Aua!« Verwirrt rieb Danny sich den Oberarm. »Das ist ja eine nette Begrüßung.«
Schlagartig verschwand die Freude aus Aprils Gesicht und machte einem Ausdruck echter Bestürzung Platz.
»Oh, tut mir leid. Hab ich dir weh getan?«
»Alles gut.« Tatjana war auf die Beine gesprungen. Ausgestattet mit einer fast übernatürlichen Sensibilität erspürte sie Aprils Hilflosigkeit. Die vielen fremden Menschen verunsicherten sie, was sie mit besonderer Coolness überspielen wollte. Dabei trat sie in jeden Fettnapf, den sie finden konnte. All das erfasste Tatjana in Sekundenbruchteilen und trat auf April zu. »Danny ist nicht aus Zucker. Das überlebt er schon.« Ungeniert schloss sie das Mädchen in die Arme und hieß sie in der Familie willkommen.
April wusste nicht, wie ihr geschah. So viel Freundlichkeit war sie nicht gewohnt.
»Du bist bestimmt die modeverrückte Schwester von Felix«, versuchte sie es mit einem Lob, um sich für die Herzlichkeit zu revanchieren. »Dein Pulli schaut genauso aus wie die Gardine, in die ich mich gestern eingewickelt hab. Stimmt’s?«, wandte sie sich an Felix.
Einen Moment lang herrschte fassungslose Stille. Dann brach Tatjana in prustendes Gelächter aus.
Felix dagegen hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Er hatte geahnt, dass ein Aufeinandertreffen von April und seiner Familie schwierig werden könnte, aber trotzdem das Beste gehofft. Vergeblich, wie er jetzt feststellen musste.
»Tatjana ist nicht meine Schwester. Und ihr Pullover ist ein Geschenk von ihrem Freund Danny«, erklärte er kraftlos. »Ein Designer-Stück. Dafür bekommst du mindestens fünf Gardinen.«
Aprils ungläubiger Blick wanderte zwischen den beiden hin und her.
»Echt?« Es war ihr anzusehen, dass sie es nicht glauben konnte. »Und du schießt mich auch wirklich nicht hoch?«
Wortlos schüttelte Felix den Kopf.
»O Mann, tut mir echt leid«, entschuldigte sich April. Sie fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Tatjana wollte eben ein paar tröstende Worte sagen, als der Ofen klingelte.
»Abendessen ist fertig, Kinder!«, rief Felicitas erleichtert und klatschte in die Hände. »Setzt euch an den Tisch, ich bin sofort bei euch. Wenn ich nur wüsste, wo euer Vater schon wieder steckt …« Ihre Stimme verhallte im Flur.
Als alle Familienmitglieder aufsprangen, drehte sich April zu Felix um.
»Kann ich irgendwas helfen?«
»Lieber nicht!«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Du musst mir nur einen einzigen Gefallen tun. Oder sagen wir zwei.«
»Und welche?«
»Wirf den Kaugummi weg«, verlangte er. »Und sag bitte kein einziges Wort beim Essen. Sei einfach still.« Er durchbohrte sie mit Blicken, ehe er sich umdrehte und sie einfach stehen ließ.
Ratlos sah April ihm nach. Sie wollte ihm schon folgen, als ihr der Kaugummi wieder einfiel.
»Wo soll ich …«, setzte sie zu einer Frage an. Aber da war niemand mehr, der sie beantworten konnte.
»April, wo steckst du denn?«, hallte Felix‘ Stimme durchs Erdgeschoß.
»Ich bin gleich da.« Sie nahm den Kaugummi aus dem Mund, sah sich suchend um. Schließlich klebte sie ihn unter den Couchtisch, ehe sie sich verlegen lächelnd zum Rest der Familie setzte, bedacht darauf, nicht schon wieder etwas falsch zu machen.
*
»Herr Dr. Norden, was machen Sie denn noch hier?« Andrea Sander steckte den Kopf zur Bürotür herein, wo er noch am Schreibtisch saß, einen Stapel Bücher vor sich. »Ich dachte, Sie wären längst zu Hause.«
Daniel fuhr zusammen. Erst jetzt bemerkte er, dass es draußen inzwischen stockdunkel war. Nur die Schreibtischlampe spendete Licht.
»Das ist gefährlich, was Sie da machen, Frau Sander«, mahnte er die Assistentin und fuhr sich mit der Hand über die geröteten Augen. »Sie dürfen einen alten Mann nicht so erschrecken.«
»Ich sehe keinen alten Mann!« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt nach Hause. Und wenn Sie mir einen Rat erlauben: Dasselbe sollten Sie auch tun.«
»Wie spät ist es denn?«
»Halb sieben durch.«
Dr. Norden erschrak.
»Unmöglich. Ich hab doch erst vor zehn Minuten mit meiner Frau …«, erwiderte er. Gleichzeitig sah er auf die Uhr und unterbrach sich selbst. »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wo ist denn die Zeit geblieben? Ich wollte nur noch kurz was nachschauen …« Abrupt klappte er das Buch zu, in dem er gelesen hatte. »Den Rest räume ich morgen auf.« Plötzlich hatte er es eilig und schaltete die Schreibtischlampe aus. »Mein Sohn Felix ist heute das letzte Mal zu Hause, bevor er für vier Monate nach Amerika geht. Meine Frau hat extra die ganze Familie zusammengetrommelt.« Er war zur Garderobe gelaufen und schlüpfte in Windeseile in seinen Mantel.
»Der Abend ist ja noch jung. Noch ist nichts verloren«, versuchte Andrea, ihn zu trösten.
»Hoffentlich sehen meine Frau und Felix das genauso.« Daniel bückte sich nach seiner Aktentasche. Er sah sich noch einmal im Büro um, während er den Schlüssel aus der Manteltasche zog. »Ich glaub, ich hab alles. Einen wunderschönen guten Abend, Frau Sander. Wir sehen uns morgen in alter Frische.« Er winkte der Assistentin und verließ das Büro.
Weit kam er allerdings nicht.
»Herr Dr. Norden, halt! Bitte warten Sie!« Die Stimme gehörte einer Schwester, die ihn auf dem Flur entdeckt hatte und ihm nachlief. »Frau Lohmeier … Es geht ihr nicht gut.«
Daniel blieb stehen und drehte sich zum. Wenn ein Patient seine Hilfe brauchte, gab es kein Zögern, musste alles andere hinten anstehen. Das galt auch für seine Familie. Schließlich hatte er nicht irgendeinen Beruf. Er war Arzt! Er schickte eine stumme Entschuldigung zu Fee in der Gewissheit, dass sie ihn verstand. Gleich darauf blieb die Krankenschwester vor ihm stehen. Ihr Atem ging schnell. Es war ihr anzusehen, dass sie sich Sorgen machte. »Können Sie bitte nach ihr sehen?«
»Ich komme.«
»Ein Glück, dass Sie noch hier sind. Ich hatte schon Angst, Sie könnten zu Hause sein.«
»Das wäre ich normalerweise auch. Welche Symptome hat Frau Lohmeier?«, erkundigte sich Dr. Norden, um den Weg zu Ricarda nicht ungenutzt zu lassen.
»Sie war schon den ganzen Nachmittag so unruhig. Als ihr Mann gegen Abend gegangen ist, wurde es noch schlimmer.« Im Laufschritt erreichten sie das Zimmer der Patientin. »Sie hat sich sogar zwei Mal erbrochen«, erklärte Schwester Alice noch, ehe sie die Tür öffnete und dem Arzt den Vortritt ließ.
Ricarda lag im Bett und stöhnte. Ihre Augen waren geschlossen, hektische rote Flecken waren auf ihren bleichen Wangen. Rasch stellte Daniel die Aktentasche in eine Ecke und beugte sich über Ricky. Er wusste um die Gefahr, in der sich seine Patientin befand. Trotzdem blieb er äußerlich ruhig.
»Hallo, Ricarda, ich bin’s, Dr. Norden«, redete er auf sie ein. »Ich werde Sie jetzt untersuchen.« Er schob das Nachthemd hoch und betastete ihren heißen Leib. Seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich.
»Rufen Sie Dr. Weigand«, wies er die Schwester an, die neben ihm stand.
»Der ist nicht mehr hier.«
»Dann eben jemand anderen. Ich brauche einen OP und ein Team, das mir assistiert. In fünf Minuten bin ich wieder hier. Dann kann es losgehen.«
Ehe die Schwester auch nur ein Wort sagen konnte, war er auf dem Weg Richtung Ausgang. Er hatte Glück und erwischte Andrea Sander auf dem Parkplatz. Unterwegs war sie Fee Nordens Stellvertreter Volker Lammers begegnet. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen verstand sie sich prächtig mit ihm. Zu ihr war er stets freundlich. Die Vorwürfe, er sei eine menschliche Niete, tat sie daher als Neid ab.
Auch an diesem Abend auf dem Parkplatz hatten sie wieder Späße zusammen gemacht, ehe er sich verabschiedet hatte und zu seinem Wagen weitergegangen war.
Davon ahnte Dr. Norden nichts, als er Andrea zu seiner Erleichterung noch antraf.
»Warten Sie, Frau Sander!«, rief er über den Hof.
Als er auf sie zulief, tanzte sein Atem als weiße Wolke vor dem Mund.
Überrascht drehte sie sich um.
»Herr Dr. Norden! Ich dachte, Sie sitzen längst mit Ihrer Familie beim Abendessen.«
»Das dachte ich auch!« Keuchend blieb er vor ihr stehen. Er presste die Hände in die schmerzenden Flanken. Ein paar Meter weiter und verdeckt von einem Geländewagen lauschte Lammers interessiert dem Gespräch. »Wo kann ich Jenny erreichen?«
»Gar nicht. Das Handy ist aus und die Nummer des Hotels kenne ich nicht.« Das war noch nicht einmal gelogen.
Daniel war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Anmerken ließ er es sich nicht.
»Es geht um einen Notfall. Frau Lohmeier. Ich muss sie operieren.«
Andrea Sander legte den Kopf schief.
»Frau Lohmeier?«, wiederholte sie so langsam, dass Daniel sie am liebsten geschüttelt hätte.
Mit neben dem Körper geballten Fäusten stand er vor ihr.
»Genau die.«
»Sie wissen doch, dass Frau Dr. Behnisch ein Operationsverbot verhängt hat.«
Volker Lammers hielt die Luft an. Jetzt wurde es spannend. Vollkommen unverhofft bot ihm das Schicksal wieder einmal eine Chance, seiner ärgsten Konkurrentin und ihrem Mann eins auszuwischen. Das neue Jahr begann wahrlich gut.
Selbst wenn Daniel geahnt hätte, dass der Intrigant Zeuge des Gesprächs wurde, hätte ihn das in diesem Moment nicht interessiert.
»Waren Sie heute schon bei Frau Lohmeier?«, fragte er scharf.
Andrea Sander sah ihn verdattert an.
»Nein. Was sollte ich auch da? Ich bin Chefsekretärin, keine Krankenschwester.«
»Aber ich war bei ihr. Deshalb werde ich sofort operieren. Ob mit oder ohne Jennys Einverständnis.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und hastete über den Parkplatz zurück in die Klinik.
Volker Lammers zögerte nicht lange. Er nutzte die Deckung der parkenden Autos, um sich ebenfalls zurück zu schleichen. Nur Andrea Sander stand da und überlegte verzweifelt, was sie jetzt tun sollte.
*
Während des Abendessens war jedes Mitglied der Familie Norden darum bemüht, Felix aufzumuntern.
»Erzähl doch mal von Amerika. Darfst du dann wirklich selbst fliegen?«, erkundigte sich Anneka. »Ein richtiges Flugzeug?« Allein der Gedanke machte sie schwindlig.
»Das ist der Plan«, gab Felix wortkarg zurück.
»Ich könnte mir vorstellen, dass das Fliegen nicht so das Problem ist.« Es war Danny, der die Frage seiner Schwester der Höflichkeit halber aufnahm. »Start und Landung sind wahrscheinlich viel spannender, als oben zu sein.«
»Merk dir: Ein guter Flieger hat genauso viele Starts wie Landungen«, warf Janni ein, und die Familie lachte.
Alle, außer Felix. Der ärgerte sich immer mehr darüber, dass sein Vater der Runde fern blieb. Dementsprechend schlecht war seine Laune.
»Mann, Felix, was ist denn eigentlich los mit dir?«, stellte Tatjana ihn schließlich zur Rede.
»Nichts. Warum?«, schnappte er zurück.
»Ich kann zwar nicht besonders gut sehen. Aber dein Gesicht ist so böse, dass ich auch so schon Angst bekomm.«
»Du und Angst?« Felix schnitt eine Grimasse. »Dass ich nicht lache.«
»Ja, lach doch einfach mal!«, machte Danny einen letzten Versuch, seinen Bruder aufzuheitern.
»Haha!«, knurrte Felix mürrisch und widmete sich wieder seinem Teller.
Fee, Danny, Anneka, Dési, Tatjana und Janni tauschten vielsagende Blicke. Doch niemand sagte mehr ein Wort.
Genauso wie April, die während der ganzen Mahlzeit geschwiegen hatte. Dabei hätte sie genug zu sagen gehabt, wagte es aber nicht. Verkrampft saß sie auf der äußersten Kante des Stuhls und stocherte in ihrem Essen herum. Ihr unsicherer Blick flog zwischen den Familienmitgliedern hin und her.
»Was ist?« Felix, der neben ihr saß, deutete auf ihren Teller. »Schmeckt’s dir nicht?«
Schon öffnete sie den Mund, um zu antworten. Dann fiel ihr ein, dass sie nicht sprechen sollte und nickte nur. Das genügte Felix als Antwort. Seine Gedanken kreisten ohnehin um ein anderes Thema.
»Seit ich weg bin, hab ich das Gefühl, überhaupt kein Teil dieser Familie mehr zu sein«, platzte er schließlich heraus.
»Was?« Annekas Schreck war echt. »Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?«
»Das frag ich mich allerdings auch«, pflichtete Janni ihr bei und bemühte sich, ernst zu bleiben. »Vor allen Dingen seit es diese tragbaren Telefone gibt, die über Funk mit dem Telefonnetz kommunizieren und ortsunabhängig eingesetzt und mit denen sogar Bilder und Textnachrichten verschickt werden können.« Der Spott in seiner Stimme war unverhohlen.
Felix rollte mit den Augen.
»Du hast doch keine Ahnung, Grünschnabel«, fauchte er. »Warte erstmal, bis du aus dem Nest gestoßen wirst und dich allein in der großen, weiten Welt zurechtfinden musst, während alle anderen zusammen Spaß haben.«
»Moment!« Fee ging energisch dazwischen. »Darf ich dich darauf hinweisen, dass dich niemand gestoßen hat? Es war ganz allein deine Idee, auf die Pilotenschule zu gehen.«
»Und es ist nicht unsere Schuld, dass du an Weihnachten nicht bei uns warst«, hielt auch Danny mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. »Wenn du unzufrieden darüber bist, nicht mehr bei der Familie zu sein, dann ist das dein Problem. Wir tun alles dafür, um dich zu sehen. Wären wir sonst heute spontan alle hierher gekommen?«, stellte er eine berechtigte Frage.
Felix starrte demonstrativ auf seinen Teller. Er wusste, dass Danny recht hatte. Er durfte seine Unzufriedenheit nicht an seiner Familie auslassen. Trotzdem konnte er sich im Augenblick nicht anders helfen.
»Aber Dad ist nicht hier«, führte er ein weiteres Argument ins Feld. »Das ist doch der beste Beweis dafür, dass ich ihm nicht wichtig bin«, erklärte er mit trotziger Schuljungenstimme Stimme, als ein lautes Rülpsen die Familie am Tisch zusammenzucken ließ.
Schlagartig gehörte alle Aufmerksamkeit April. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ihre Wangen glühten vor Verlegenheit.
»Tut mir leid. Der ist mir so rausgerutscht!« Sie spürte Felix‘ Zorn fast körperlich. »Schau mich nicht so an, als würdest du mich am liebsten gleich auffressen«, wehrte sie sich verzweifelt gegen seinen stummen Vorwurf. »Und überhaupt. Worüber beschwerst du dich? Wenn du die ganze Zeit nur rummeckerst, ist es doch kein Wunder, dass dich keiner dabei haben will«, beschloss sie, zum Angriff überzugehen. »Du weißt doch gar nicht, wie gut du es hast! Ich wäre froh, wenn meine Familie nur halb so viel Interesse an mir hätte wie deine an dir.« Mit diesen Worten sprang sie vom Tisch auf und lief aus dem Zimmer.
Betretenes Schweigen machte sich im Esszimmer breit.
»Tja, wo sie recht hat, hat sie recht.« Es war Janni, der Aprils Beispiel als erster folgte und aufstand.
Einer nach dem anderen verschwand aus dem Zimmer, bis Felix mit seiner Mutter allein war. Felicitas saß am Tisch und musterte ihn mit ernster Miene.
»Ich weiß nicht, warum dein Vater nicht hier bei uns ist«, sagte sie endlich. »Aber eines ist sicher: Es geht nicht darum, dass du ihm nicht wichtig bist. So gut solltest du ihn kennen. Dein Vater ist Arzt!«
Mehr gab es dazu nicht zu sagen, und auch Fee stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Sie wollte den restlichen Abend so harmonisch wie möglich mit ihren Kindern und auch mit April verbringen, der ein bisschen Nestwärme auf keinen Fall schadete.
*
Als Daniel zu Schwester Alice zurückkehrte, war ein Chirurg bei ihr. Erleichtert atmete er auf.
»Sie schickt der Himmel, Kollege Voss.« Er nickte ihm zu. »Die Patientin leidet an einem Darmkarzinom. Der Tumor liegt so ungünstig, dass ich fürchte, dass er die Darmwand perforiert hat. Sie wissen, was das heißt. Wenn das tatsächlich geschehen ist, wird ihr Körper innerhalb weniger Stunden vergiftet. Dann stirbt sie vor unseren Augen. Das kann ich nicht verantworten.«
Heribert Voss hatte aufmerksam zugehört.
»Sie wissen aber schon, dass die Chefin einen Eingriff verboten hat, oder?«, stellte er eine berechtigte Frage.
Einen Moment lang starrte Daniel ihn an, Fassungslosigkeit im Blick.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, stöhnte er und verdrehte die Augen. Gleichzeitig dachte er fieberhaft nach. »Haben Sie sich wenigstens mal Ricardas Werte angesehen? Möglich, dass die Herz-Medikamente inzwischen angeschlagen haben und das Verbot der Chefin hinfällig ist.«
Dr. Voss versenkte die Hände in den Kitteltaschen.
»Das habe ich getan«, gestand er. »Der Zustand ihres Herzens scheint sich tatsächlich verbessert zu haben …«
»Dann ist ein Eingriff also möglich?«, unterbrach Daniel Norden ihn hoffnungsvoll.
Der Kollege haderte mit sich.
»Es gibt eine winzige Chance …« Weiter kam er nicht.
»Das genügt mir!«, triumphierte Daniel. »Eine winzige Chance ist besser als gar keine. Besser als zuzusehen, wie Frau Lohmeier vor unseren Augen stirbt.« Er war so enthusiastisch, dass er das Zögern des Kollegen nicht bemerkte. »Dann mal los!«, forderte er ihn auf und wollte schon zur Tat schreiten, als er Voss‘ Zögern bemerkte. »Was ist? Worauf warten Sie noch?«
Der Chirurg wagte es kaum, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Tut mir leid. Aber ich kann nicht. Sie wissen doch, wie die Chefin dazu steht. Und ich will nicht wegen dieser Sache meinen Kopf riskieren.«
Dr. Norden fuhr zu ihm herum. Er konnte nicht glauben, was er gehört hatte.
»Aber Sie waren doch eben erst selbst bei der Patientin. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, dass sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert hat. Das konnte auch Jenny Behnisch nicht voraussehen. Ich bin sicher, sie würde jetzt genauso entscheiden wie ich.«
»Das glaube ich nicht. In diesem Fall hätte sie kein Operationsverbot ausgesprochen«, blieb der Kollege bei seiner Meinung.
Es fehlte nicht viel, und der sonst so beherrschte Daniel Norden wäre ihm an die Gurgel gegangen.
»Sie können doch nicht ernsthaft wollen, dass Ricarda Lohmeier stirbt?«
Zu seiner großen Verwunderung stahl sich ein feines Lächeln auf Heribert Voss‘ Lippen.
»Denken Sie an das, was die Chefin gesagt hat. Die Patientin würde auch eine Operation nicht überleben. Also lassen Sie es. Mehr als diesen Rat kann ich Ihnen nicht geben.«
Daniel Norden schluckte.
»Das heißt, dass Sie nicht dabei sind? Sie werden mich nicht unterstützen?«
»Richtig!« Der Chirurg nickte ihm zu und machte Anstalten zu gehen.
Diesmal konnte sich Dr. Norden nicht mehr beherrschen.
»Dann hauen Sie doch ab! Aber glauben Sie ja nicht, dass ich mich noch einmal wegen einer Beförderung für Sie einsetzen werde. Ein Arzt, der noch nicht mal drüber nachdenkt, ein Menschenleben zu retten, hat den falschen Beruf gewählt!«, rief er dem Chirurgen nach.
Der war schon auf halbem Weg zur Tür, als er sich noch einmal umdrehte.
»Vergessen Sie nicht, wer hier der Chef ist.« Voss‘ Stimme war schneidend. »Sie jedenfalls nicht.« Gleich darauf fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Schwer atmend blieb Daniel zurück. Sein Kopf dröhnte wie nach einer Ohrfeige.
Schwester Alice, die unfreiwillige Zeugin der Szene geworden war, stand schüchtern in der Ecke.
»Und was machen wir jetzt?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Viele Kollegen sind heute nicht im Haus.«
Mit hängenden Schultern stand Daniel Norden vor ihr. Doch wenn sie dachte, dass er sich in sein Schicksal fügte, täuschte sie sich. Sein Kopf arbeitete auf Hochtouren.
»Informieren Sie jeden verfügbaren Arzt in der Klinik«, verlangte er schließlich. »Irgendeiner wird sich schon finden, der mir zur Seite steht. Ich muss kurz telefonieren. Wir sehen uns dann im OP.«
Bevor Schwester Alice noch etwas sagen konnte, lief er aus dem Zimmer. Die Zeit drängte. Jede Minute war kostbar, wenn Ricarda Lohmeier das neue Jahr noch länger erleben sollte.
*
Während sich Kinder und Freunde über dies und das unterhielten und auch April in ein munteres Gespräch verwickelten, saß Fee schweigsam in ihrem Sessel und machte sich ihre ganz eigenen Gedanken. Auf der einen Seite verstand sie Felix und dessen Gefühle. Wie oft hatte sie sich einsam und verlassen gefühlt, wenn ihr Mann wieder einmal viel zu spät nach Hause gekommen war. Für ihren Zweitältesten musste es noch viel schlimmer sein, hatte er doch zum ersten Mal mit großen Veränderungen in seinem Leben zu kämpfen. Das war nicht leicht, auch wenn er es selbst so gewollt hatte.
In ihre Gedanken hinein klingelte das Telefon. Sofort war sie auf den Beinen und eilte hinaus in den Flur, wo der Apparat auf der Kommode lag.
»Endlich!«, überfiel sie ihren Mann. »Wo steckst du denn? Felix ist todtraurig, dass du keine Zeit hast für ihn. Dabei ist er nur noch heute Abend bei uns. Wir werden ihn lange nicht wiedersehen«, hielt sie mit ihren Gedanken nicht hinter dem Berg.
Daniel hatte mit dieser Reaktion gerechnet.
»Es tut mir wahnsinnig leid«, zögerte er nicht, die Schuld auf sich zu nehmen. »Ich war auf dem Weg zu euch, als mich eine Schwester aufgehalten hat. Frau Lohmeiers Zustand hat sich gravierend verschlechtert. Deshalb wird es noch ein paar Stunden dauern, bis ich zu euch kommen kann. Ich muss operieren.«
»Frau Lohmeier?« Felicitas dachte fieberhaft nach. Der Name kam ihr bekannt vor, und sie erinnere sich an das Gespräch, das sie vor ein paar Stunden mit ihrem Mann geführt hatte. »Moment mal, ist das nicht die Patientin, bei der Jenny eine Operation für nicht vertretbar hält?« Sie war so konzentriert, dass sie nicht bemerkte, wie Felix hinter sie trat.
»Du hast mich nicht verstanden!«, rief Daniel ungeduldig. »Sie stirbt, wenn wir nichts unternehmen. Aber dazu brauche ich deine Hilfe.«
Fee erschrak.
»Was kann ich da tun?«
»Du musst in die Klinik kommen. Keiner der Kollegen hat genug Schneid, um mir zu assistieren. Ich brauch dich im OP.«
»Du kannst die Operation nicht machen, Dan!« Eine eiskalte Hand griff nach Fees Herz und drückte es erbarmungslos zusammen. »Wenn die Patientin stirbt, kann dich das deine Approbation kosten.« Sie verriet nicht, dass das nicht ihr einziger Gedanke war. Selbst wenn sie ein schlechtes Gewissen dabei hatte, dachte sie auch an Felix. Vier lange Monate würde sie ihn nicht wiedersehen. Dies war ihr letzter Abend. Sie wollte ihn nicht auch noch im Stich lassen. Auf der anderen Seite war da diese Frau …
»Das ist mir egal!«, donnerte Daniel in ihre Gedanken hinein. »Ricarda stirbt, und ich habe eine winzig kleine Chance, das zu verhindern. Bitte, Fee, du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen.«
»Aber Dan …« Ein Klicken in der Leitung verriet ihr, dass er aufgelegt hatte. Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen, als sie fühlte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Zu Tode erschrocken fuhr sie herum und starrte in das Gesicht ihres Zweitältesten.
»In diesem Zustand kannst du unmöglich Auto fahren. Ein Glück, dass dein Sohn einer der besten Chauffeure der Welt ist«, erklärte er und zwinkerte ihr zu zum Zeichen, dass er alles gehört hatte.
Es dauerte einen Moment, bis sich Fee gefangen hatte.
»Du?« Erst nach ein paar Augenblicken konnte sie auf seinen Scherz reagieren. »Ich bete jeden Abend, dass du mal besser fliegst als Auto fährst.«
»Das hab ich jetzt nicht gehört.« Er nahm sie an der Hand und zog sie durch den Flur zur Garderobe. »Zieh dir was an! Ich hol nur noch schnell Danny. Dad klang so, als ob er jede Unterstützung brauchen könnte.«
Als Felicitas Norden ihrem Sohn nachsah, ging ihr das Herz auf vor Glück.
»Aber du bist doch heute den letzten Abend hier«, rief sie ihm nach. »Den wolltest du doch mit uns verbringen. Ich dachte, wenn ich jetzt auch noch gehe …«
Felix drehte sich um und lachte.
»Wie war das mit dem Propheten und dem Berg?«, fragte er. »Wenn Dad nicht zu mir kommt, fahre ich halt zu ihm. Und wenn’s sein muss, assistierte ich im OP.«
»Auf keinen Fall!« Danny hatte ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt und hatte nicht gezögert. »Wir müssen ein Menschenleben retten. Da hab ich keine Zeit, nebenbei auch noch meinen Bruder wiederzubeleben.« Im Laufschritt eilte er an Felix vorbei in die Garderobe.
Der sah ihm kopfschüttelnd nach.
»Wenn das nicht der beste Beweis dafür ist, wie unwichtig ich dir bin.« Doch der zufriedene Ausdruck in seinen Augen zeugte davon, dass er es nicht ernst meinte. Es hatte lange gedauert. Aber jetzt war er endlich wieder in seiner Familie angekommen.
*
Obwohl es schon dunkel war, schimmerten die weißen Gipfel der Berge durch die großen Fensterfronten des Hotelrestaurants. Drinnen sorgte ein Kaminfeuer für wohlige Atmosphäre. Leiser Barjazz ertönte aus unsichtbaren Lautsprechern. Jenny Behnisch hielt das Weinglas in der Hand und sah verliebt zu Roman hinüber.
»Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt so einen perfekten Tag erlebt habe«, seufzte sie zufrieden. »Zuerst der Winterspaziergang, dann der Saunabesuch und jetzt noch dieses fantastische Essen …«
Roman prostete ihr zu, ein Lächeln auf den Lippen.
»Fehlt nur noch ein würdiger Abschluss«, bemerkte er. »Hast du das Käsebuffet gesehen? Ich glaube, ich stelle uns noch einen Teller zusammen.«
»Für mich aber nur noch ein paar klitzekleine Happen. Viel hat nicht mehr Platz.«
»Ein wenig Käse mit Früchten geht immer.« Roman rückte den Stuhl zurück und stand auf.
Versonnen stellte Jenny das Glas auf den Tisch und sah ihm nach. In letzter Zeit hatte sie kaum darüber nachgedacht. Jetzt aber spürte sie wieder einmal überdeutlich, wie sehr Roman ihr Heimat geworden war. Er kannte sie besser als sie sich selbst, wusste, wann sie Ruhe und Rückzug brauchte, um das enorme Arbeitspensum, das die Leitung einer Klinik mit sich brachte, die riesige Verantwortung, zu stemmen.
»Was ist? Warum schaust du mich so an?«, fragte er.
Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie er zurückgekommen war.
»Ich dachte eben darüber nach, wie glücklich du mich machst«, gestand sie. Dabei wurde sie rot wie ein Mädchen. Schnell beugte sie sich über den Teller und studierte die Auswahl an verschiedenen Käsesorten, die Roman mit sicherem Gespür zusammengestellt hatte.
Lächelnd nahm er ihren Kommentar zur Kenntnis, sagte aber nichts. Eine größere Liebeserklärung hatte er nie aus ihrem Mund gehört, und er wollte diesen besonderen Moment voll auskosten, als er aus den Augenwinkeln sah, wie die Rezeptionistin zielstrebig auf ihren Tisch zukam.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Frau Dr. Behnisch.« Mit einem strahlenden Lächeln wandte sie sich an Jenny. »Sie werden am Telefon verlangt.«
Jenny stutzte. Nur eine Person kannte ihren Aufenthaltsort. Und die hatte versprochen, sich nur im äußersten Notfall zu melden.
»Wer will mich sprechen?«, erkundigte sie sich. Sie hatte keine Geheimnisse vor Roman.
»Ein Herr Lammers von Ihrer Klinik. Er hat schon mehrfach versucht, Sie am Handy zu erreichen. Leider vergeblich. Deshalb musste er Ihren Aufenthaltsort ausfindig machen und hier anrufen. Es sagt, es sei sehr dringend.«
»Ich will mir gar nicht vorstellen, woher er weiß, wo ich bin«, schimpfte Jenny leise und nahm sich vor, gleich nach ihrer Rückkehr ein Hühnchen mit Andrea Sander zu rupfen. Sie sah kurz hinüber zu Roman, der sich zurückgelehnt hatte und mit gespannter Miene auf ihre Entscheidung wartete.
Dann wandte sie sich an die junge Frau.
»Bitte richten Sie Herrn Lammers aus, dass ich nicht zu sprechen bin. Weder jetzt noch während meines gesamten Aufenthalts hier.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.
Zutiefst beeindruckt von dieser Entschlossenheit zog sich die Rezeptionistin zurück.
Und auch Roman sah sie überrascht an.
»Alle Achtung, Frau Dr. Behnisch. Sie erstaunen mich immer wieder auf’s Neue!«
Jenny lachte belustigt auf.
»Ich muss ja zusehen, dass du dich nicht mit mir langweilst.«
»Keine Sorge. Ich hab so wenig von dir, dass ich davon noch meilenweit und jahrelang entfernt bin.« Seine Stimme war rau vor Zärtlichkeit.
»Dann ist es ja gut.« Jenny zwinkerte ihm zu und beugte sich dann über den Käseteller. Als hätte es den Anruf nicht gegeben, kehrte sie zur Tagesordnung zurück. »Und jetzt musst du mir bitte erklären, was das alles ist.«
*
»Danke!« Dr. Norden drehte sich zu Schwester Alice um, die den OP-Kittel im Rücken zugebunden hatte. »Wo bleibt Lammers? Er hatte doch zugesagt.«
Alice wagte es kaum, ihrem Chef ins Gesicht zu sehen.
»Dr. Lammers kommt doch nicht. Er hat gesagt, dass er sich noch mal Gedanken gemacht hat und es doch nicht verantworten kann.«
»Dieser Feigling!«, knurrte Daniel. Sein Blick wanderte über die Kollegen, die sich trotz des Operationsverbots eingefunden hatten. Bis auf einen Assistenzarzt war das Team komplett.
»Was machen wir jetzt?«, fragte die Schwester schüchtern. »Ohne zweiten Arzt können wir nicht anfangen.«
»Das weiß ich …«
In diesem Moment öffnete sich die Schiebetür, und Fee und Danny stürmten herein. Sie waren bereits fix und fertig angezogen.
»Wie stehen die Chancen?«, fragte Fee atemlos.
An den Augen ihres Mannes erkannte sie, dass er lächelte.
»Wir sind die Chance! Und ihr seid großartig!« Sein zweiter Gedanke galt seinem zweitältesten Sohn. »Das wird Felix mir nie verzeihen. Dabei wollte ich den Abend wirklich mit ihm verbringen. Aber was soll ich tun? Ich bin nun mal Arzt.«
Seine offensichtlichen Seelenqualen schnitten Felicitas tief ins Herz. Doch Danny hatte den passenden Trost parat.
»Ich denke, er hat dir schon verziehen«, verriet er, bevor er den Mundschutz anlegte. »Er hat uns hergefahren und wartet im Aufenthaltsraum auf uns.«
Ein Strahlen glitt über Daniels Gesicht. Jetzt war alles gut.
»Dann sollten wir ihn nicht zu lange warten lassen«, gab er das Signal, mit der Operation zu beginnen.
Er trat an den Tisch. Nach einem kurzen Blick auf die schlafende Patientin sah er hinüber zur Anästhesistin. Die verstand die stumme Frage.
»Von mir aus können wir anfangen. Blutdruck und Atmung sind stabil, die Sauerstoffsättigung sehr gut.«
Dr. Norden atmete ein Mal tief durch.
»Skalpell!«, verlangte er und streckte die Hand aus.
Die Operationsschwester legte ihm das gewünschte Besteck in die Hand. Mit geübter Bewegung setzte er den Schnitt. Danny und Fee standen ihm gegenüber am Tisch. Der Junior assistierte seinem Vater, während sich Fee bereithielt, um einzuspringen, wenn Not am Mann war. Konzentriert arbeiteten sie sich vor. »Saugen. Tupfer.« Daniels Befehle kamen gewohnt ruhig. Nur einmal stöhnte er leise auf.
»Wie du es befürchtet hast.« Ein Blick genügte, und Fee wusste Bescheid. »Der Darm ist perforiert.«
»Die Sauerstoffsättigung ist nicht mehr optimal«, warnte die Anästhesistin. »Beeilen Sie sich!«
Dr. Norden zog eine Augenbraue hoch.
»Wir müssen den schadhaften Teil des Darms und möglichst den ganzen Tumor entfernen«, erklärte er seinem Sohn, während er fieberhaft weiter arbeitete. »Wenn wir damit fertig sind, muss die Bauchhöhle gespült werden. Das Eindringen von Darminhalt in den Bauchraum führt zu Entzündungen, stärksten Schmerzen und hohem Fieber.«
»Und endet meist tödlich. Wär doch blöd, wenn Felix ganz umsonst auf uns verzichten muss«, scherzte Danny, um seiner Anspannung Luft zu machen.
Doch Daniel lächelte noch nicht einmal.
»Schweiß!«, machte er die Schwester darauf aufmerksam, ihm die feinglitzernden Perlen von der Stirn zu wischen. Sein nächster Blick galt der Anästhesistin.
»Der Blutdruck fällt!«, warnte sie. »Ich kann sie nicht mehr lange halten. Beeilen Sie sich!«
»Ich brauche noch ein paar Minuten.« Daniels Herz schlug schneller. Seine Hände wollten zittern, aber noch war er stärker.
Fieberhaft arbeitete er weiter, entfernte krankes Gewebe und fügte mit Dannys Hilfe gesunde Teile wieder aneinander. Mehr als einmal flachte Rickys Herzlinie gefährlich ab. Als die Spülung erfolgreich durchgeführt war, atmete er auf. »Wie geht es ihr?« Sein Blick flog hinüber zu den Messinstrumenten.
»Nicht gut. Wie weit sind Sie?«
»Wir machen jetzt zu. Schafft sie das noch?«
»So Gott will.« Selbst der Anästhesistin stand die Anspannung in das bisschen Gesicht geschrieben, das die Maske freiließ.
Daniel Norden nickte seinem Sohn zu. Danny verstand die stumme Aufforderung und machte sich an die Arbeit, während seine Eltern den Operationssaal verließen.
Ohne ein Wort zu sagen, nahm Daniel Norden die Maske vom Gesicht und warf sie in den Abfall. Minutenlang ließ er sich am Waschbecken das Wasser über die Hände laufen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so knapp werden würde«, gestand er endlich, nachdem sämtliche Spuren des Eingriffs beseitigt waren. »Und noch ist sie nicht über den Berg.«
»Morgen früh wissen wir mehr.« Tröstend legte Fee die Hand auf den Rücken ihres Mannes, wohlwissend, dass nur Ricarda Lohmeiers Überleben wahren Trost spenden konnte.
*
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es April. Sie war so begeistert von den Zeichnungen, die Dési ihr zeigte, dass sie ihren sprachlichen Fauxpas gar nicht bemerkte. »Das hast du selbst gezeichnet?«
Nachdem Felix mit Danny, Tatjana und Fee in die Klinik aufgebrochen war – Tatjana wollte zu Hause abgesetzt werden, da sie am nächsten Morgen wieder früh zur Arbeit musste –, waren auch Janni und Anneka bald ins Bett gegangen. Nur Dési wollte noch nicht ins Bett gehen. Sie unterhielt sich mit April. Mühelos plätscherte das Gespräch dahin, bis sie schließlich bei Désis Lieblingsthema, der Mode, landeten. Auf Aprils Bitte hin hatte sie ihre Zeichenmappe mit den Entwürfen geholt.
»Gefallen sie dir?«, fragte Dési geschmeichelt.
»Die sind irre. Absolut abgefahren!«, schwärmte April in ihrer unverblümten Art. »Du musst unbedingt auf eine Modeschule gehen.«
»Findest du?« Nachdenklich blätterte Dési durch ihre Entwürfe. »Ich weiß nicht. Mum und Dad wären nicht begeistert von dieser Idee. Sie wollen bestimmt, dass ich Abi mache und eine vernünftige Ausbildung anfange. Was mit Zukunft.«
»Gibt es was Vernünftigeres als Klamotten?«, platzte April heraus. Mit untergeschlagenen Beinen saß sie auf der Couch und lachte Dési an. »Wenn die keine Zukunft haben, dann weiß ich auch nicht. Kleider werden die Leute immer brauchen.«
»Aber vielleicht nicht unbedingt solche.« Kichernd deutete Dési auf einen ihrer Entwürfe. Er zeigte ein Abendkleid aus Schichten aus Samt, Satin und besticktem Organza. Asymmetrische Verzierungen funkelten auf der Schulterpartie, fantasievolle Stickereien verhinderten zu tiefe Einblicke.
»Es muss auch Spiel und Unschuld sein und Blütenüberfluss …«, wartete April unvermittelt mit einem weiteren Zitat auf. »Aber eigentlich haben deine Eltern schon recht. Geht doch nichts über eine gute Ausbildung. Bildung ist die mächtigste Waffe, um die Welt zu ändern. Sagte Nelson Mandela.«
Dési lachte und klappte ihre Mappe zu.
»Wir sollten lieber mal über dich reden. Woher hast du diese wahnsinnig schlauen Sprüche?«
Diesmal war es April, die verlegen wurde.
»Ich weiß schon, dass man’s mir nicht gerade anmerkt, aber ich finde Bildung und so was ziemlich wichtig. Ich hab ja an meinen Alten gesehen, wo man ohne Schulabschluss und richtigem Beruf landet. Deshalb les ich alles, was mir so in die Finger komme, seit ich nicht mehr zur Schule geh. Zur Zeit ist es so ein Buch mit lauter Zitaten von klugen Menschen. Hat mir die Frau von der Bücherei geschenkt. Ziemlich cooles Teil. Ich kann’s dir ja mal zeigen, wenn du magst«, bot sie an und wollte schon von der Couch aufspringen, als Dési sie zurückhielt.
Sie hatte noch eine Frage, die keinen Aufschub duldete.
»Warum gehst du nicht mehr zur Schule, wenn du gern lernst?«
»Meine Mutter wollte nicht, dass ich ihr noch länger auf der Tasche lieg. Deshalb musste ich mit fünfzehn runter von der Schule und eine Lehre machen.«
»Was hast du gelernt?«
»Ich hab als Verkäuferin angefangen. Aber meine Sprache war nicht fein genug.« April schnitt eine Grimasse und lachte. »Deshalb bin ich dann als Zimmermädchen in einem Hotel gelandet. Da war ich bis vor ein paar Wochen. Seitdem bin ich unterwegs.«
»Und wo willst du hin?«
Aprils Schicksal machte Dési betroffen.
»Zu meiner Cousine nach Österreich. Die hat da ein Hotel. Da kann ich arbeiten und wohnen. Und irgendwann vielleicht wieder zur Schule gehen, Abitur machen und studieren. Und wenn ich dann mal richtig viel Schotter hab, ruf ich bei meiner Mutter an.« April gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. »Aber jetzt muss ich dringend schlafen. Sonst komm ich morgen nicht aus den Federn und geh euch noch länger auf den Wecker.« Sie stand auf und streckte die langen, dünnen Glieder.
Auch Dési stand auf.
»Du willst morgen schon weg?«, fragte sie bedauernd. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Tu nicht so!« Gutmütig zwinkerte April ihr zu. »Mich hält keiner lange aus. Deshalb ist es besser, wenn ich schnell wieder verschwinde. Sag Felix schöne Grüße!« Sie umarmte Dési linkisch und floh in das Reich, das Fee Norden ihr zur Verfügung gestellt hatte, bevor die Arzttochter noch etwas sagen konnte.
Es dauerte lange, bis Dési an diesem Abend einschlafen konnte. Und als es ihr endlich gelungen war, träumte sie von einem Mädchen in wundersamen Kleidern, das allein im Regen tanzte.
*
Als Dr. Daniel Norden in dieser Nacht erwachte, wusste er sofort, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Draußen war es stockfinster. Kein Lichtschein fiel durch den Spalt der Vorhänge ins Zimmer. Eine Weile lag er still und lauschte auf den regelmäßigen Atem seiner Frau. Aus Erfahrung wusste er, dass es keinen Sinn hatte, in der Stille der Nacht nachzudenken. Trotzdem tat er es und verlor sich in Überlegungen über den Fall Lohmeier. War es richtig gewesen, sich Jennys Anweisung zu widersetzen? Was, wenn Ricarda auf dem Tisch geblieben wäre? War er überheblich gewesen? Erst im Nachhinein war ihm entsetzlich klar geworden, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Und noch lag ihr Schicksal im Dunkeln.
Das Gedankenkarussell drehte sich immer schneller, und bevor ihm davon schwindlig wurde, beschloss Daniel schließlich aufzustehen. Bedacht darauf, Fee nicht zu wecken, schlüpfte er in eine Fleecejacke und schlich aus dem Zimmer. In der Küche holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Als er sich umdrehte, um sich an die Theke zu setzen, erschrak er zu Tode. Vor ihm stand sein Sohn Felix und grinste ihn an.
»Zwei Dumme, ein Gedanke!« Er deutete auf das Bier in Daniels Hand.
»Bist du verrückt geworden? Mich so zu erschrecken. Gerade in meinem Alter kann das fatale Folgen haben.«
»Keine Sorge, ich hab einen nagelneuen Erste-Hilfe-Kurs in der Tasche. In Wiederbelebung bin ich jetzt fit«, scherzte Felix und ging an seinem Vater vorbei zum Kühlschrank. Daniel wartete auf ihn.
»Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte er, als sie sich zusammen an die Theke setzten.
Felix nickte und trank einen Schluck Bier. Einen Moment lang starrte er vor sich hin, als suchte er nach einer Antwort.
»Tut mir leid, dass ich mich heute so blöd benommen hab«, konnte er sich endlich zu einer Entschuldigung durchringen. »Das war albern und kindisch und nicht sehr erwachsen.«
Daniel lächelte.
»Ehrlich gesagt hab ich davon nicht viel mitbekommen. Ganz im Gegenteil. Es war großartig, dass du Fee und Danny heute in die Klinik gebracht hast. Ohne euch wäre Ricarda jetzt tot.«
Felix musterte das Profil seines Vaters. Der Tonfall irritierte ihn.
»Trotzdem wirkst du nicht gerade glücklich.«
»Ich weiß auch nicht …« Daniel zögerte. »Ich muss die ganze Zeit dran denken, was geschehen wäre, wenn sie mir auf dem Tisch geblieben wäre.« Selbst im heimeligen Licht der Kerze, die Felix angezündet hatte, verlor dieser Gedanke nichts von seinem Schrecken.
»Hey, Dad, alles gut. Du hast Angst vor der eigenen Courage bekommen. Wie ich.« Felix verstand seinen Vater nur zu gut. »Das scheint ganz normal zu sein. Kein Grund zur Aufregung.« Er klopfte ihm auf die Schulter und stieß mit ihm an. Dumpf klangen die Flaschen aneinander.
Nachdem er einen Schluck genommen hatte, rang sich Daniel ein Lächeln ab.
»Nein, natürlich nicht. Du hast schon recht. Trotzdem habe ich mir vorher nicht klar gemacht, wie knapp es werden könnte. Um ein Haar wäre es schief gegangen.« Nachdenklich betrachtete er die Flasche in seiner Hand. »Dann hätte ich eine falsche Entscheidung getroffen.«
Seine gequälte Miene berührte Felix zutiefst.
»Die meisten Menschen kommen doch gar nicht in so eine Situation. Die müssen niemals zwischen Leben und Tod entscheiden. Und müssen sich hinterher schon gar nicht fragen lassen, was passiert wäre, wenn sie eine andere Entscheidung getroffen hätten«, redete er leidenschaftlich auf Daniel ein. »Du bist eben kein Mensch wie jeder andere. Du und Mum, ihr habt es mir heute selbst gesagt: Du bist Arzt. Und ein ganz besonderer obendrein. Darauf kannst du dir echt was einbilden.« Felix‘ Stimme bebte vor Ergriffenheit und Stolz.
Und doch erreichten seine Worte ihr Ziel nicht. Daniel lächelte zwar, aber das Lächeln spiegelte sich nicht in seinen Augen wider. Das, was er Felix gestehen wollte, war nicht leicht.
»Weißt du, das Problem ist, dass mir bisher nie etwas wirklich daneben gegangen ist«, begann er zögernd. »Manchmal war ich fast so weit, mich für unfehlbar zu halten. Der großartige Dr. Norden …«, er machte eine ausladende Geste, »… legt hier die Hand ein bisschen auf, schneidet dort was weg, näht anderswo was an, und alles ist wunderbar.« Daniel schnitt eine Grimasse. »Schon können die Lahmen wieder gehen und die Blinden wieder sehen.« Daniel Norden ging hart mit sich ins Gericht.
Felix lächelte trotzdem. Er kannte diese Stimmung nur zu gut. Er legte die Hand auf den Rücken seines Vaters und lehnte sich an ihn.
»Für all das hast du heute ein wunderbares Geschenk bekommen«, erinnerte er ihn.
Wieder stießen die Flaschen aneinander. Während sie tranken, ruhte Daniels Blick auf seinem Sohn.
»Und welches?«
»Du hast mal wieder gemerkt, dass du nicht nur Arzt, sondern auch Mensch bist«, erklärte Felix innig. »Und es musste noch nicht mal jemand dafür sterben.«
Zufrieden bemerkte er, dass das Lächeln diesmal die Augen seines Vaters erreichten. Nur die heimliche Träne der Rührung, die Daniel verstohlen mit dem Ärmel von der Wange wischte, die bemerkte er nicht.
*
Als Manfred Lohmeier am nächsten Tag voller Vorfreude ins Krankenzimmer seiner Frau stürzte, traute er seinen Augen kaum: Ihr Bett war leer! Der wunderschöne Blumenstrauß vom Vortag stand einsam und verlassen auf dem Nachtkasten.
»Ricarda?«, fragte er und drehte sich um die eigene Achse. Er ging hinüber ins Badezimmer und sah auf dem Balkon nach, bis er einsehen musste, dass sie nicht da war. Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer und machte sich auf die Suche nach einer Krankenschwester. »Wissen Sie, wo meine Frau ist? Sie wird doch nicht schon nach Hause gegangen sein?«, erkundigte er sich bei Schwester Nicole, die an diesem Morgen Frühdienst hatte.
»Als ich heute früh gekommen bin, war sie jedenfalls nicht mehr hier. Aber warten Sie, ich sehe mal nach«, bot sie an und verschwand im Schwesternzimmer. Ihre Miene war betreten, als sie kurz darauf zu ihm zurückkehrte. »Ihre Frau liegt auf der Intensivstation, Zimmer 32.«
Manfred starrte sie an.
»Intensivstation?« Er konnte es nicht glauben. »Warum das denn? Gestern hat sie mir noch versichert, dass sie bald wieder heimkommt.«
Nicole ahnte, dass Ricarda Lohmeier aus falsch verstandener Rücksichtnahme nicht die Wahrheit gesagt hatte. Doch es war nicht Ihre Aufgabe, ihn aufzuklären.
»Die Kollegen auf der ITS können Ihnen sicher mehr sagen.« Sie lächelte ihn entschuldigend an, ehe sie sich wieder an die Arbeit machte.
Als Manfred wenige Minuten später das Zimmer 32 betrat, erschrak er. Abgelenkt von medizinischen Überwachungsgeräten, die zu beiden Seiten des Bettes standen, bemerkte er Ricarda erst auf den zweiten Blick. Als sie ihn sah, lächelte sie matt.
»Manfred, du hast mich also gefunden.« Ihre Stimme war heiser vom Tubus. An der Hand, die nach der seinen tastete, war eine Infusionsnadel festgeklebt.
Doch was ihn viel mehr erschreckte, war ihr schlechtes Aussehen. Seine Knie waren weich, als er neben ihr auf die Bettkante sank.
»Was ist passiert, Ricky? Ich dachte, du kommst bald wieder raus hier.«
Ricarda schluckte. Es wurde Zeit für die Wahrheit, egal, wie schwer sie ihr auch fallen mochte.
»Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss«, gestand sie so leise, dass er sie kaum hörte.
»Du kannst mir alles sagen«, erwiderte er heiser. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Sein Herz schlug hart in seiner Brust. »Das weißt du doch hoffentlich.«
Tränen glitzerten in ihren Augen.
»Ehrlich gesagt hatte ich es für kurze Zeit vergessen.« Als er etwas erwidern wollte, legte sie ihm die Fingerspitzen auf den Mund. Wenn sie jetzt nicht den Mut fand, ihm alles zu sagen, würde sie es nie mehr tun. »Ich weiß schon eine ganze Weile, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Aber ich wollte es selbst nicht wahrhaben.« Nach der anstrengenden Operation fiel ihr das Sprechen schwer. Obwohl ihre Hand nicht mehr auf seinen Lippen lag, unterbrach Manfred sie nicht. »Ich wollte die Zeit mit dir festhalten, jede Sekunde genießen. Ich dachte, wenn ich einfach nicht an den Feind in mir denke, ist es auch nicht wahr. Dann gibt es ihn gar nicht.« Ihr Lächeln war schmerzlich. »Leider ist die Rechnung nicht aufgegangen. Wenn Dr. Norden und seine Familie nicht gewesen wären, hätte ich diese Nacht nicht überlebt.«
»Wie bitte?« Noch im Nachhinein wurde Manfred bei diesem Gedanken schlecht.
Das Lächeln auf Ricardas Gesicht wurde tiefer.
»Keine Angst. Dr. Norden ist ein wunderbarer Arzt. Er war heute früh schon bei mir. Ihm und seinem Sohn ist es gelungen, den Tumor ganz zu entfernen. Mit einer Chemotherapie hab ich gute Chancen, wieder gesund zu werden. Dann darf ich den Traum mit dir noch weiterträumen. Ist das nicht wunderbar?«
»Oh, Ricky!« Manfreds Seufzen kam aus tiefstem Herzen. Er war den Tränen nahe. »Was mach ich nur mit dir?«
Sie lachte leise und legte die Hand um seinen Nacken, um ihn zu sich zu ziehen.
»Mich lieben«, raunte sie dicht an seinem Ohr. »Und im Hotel anrufen, dass wir ein paar Wochen später kommen.
»Alles, was du willst. Wenn du nur bei mir bleibst«, erwiderte Manfred unter Tränen und versenkte sein Gesicht an ihrem Hals.
*
Das Paar war so beschäftigt mit sich, dass es den Beobachter nicht bemerkte. Zufrieden stand Dr. Daniel Norden in der Tür und weidete sich an diesem Anblick, als er ein Tippen auf der Schulter spürte.
»Jenny!« Er starrte seine langjährige Freundin und Kollegin ungläubig an. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist ein paar Tage weg.«
»Keine Sorge. Ich bin nur hier, um dich einen Kopf kürzer zu machen«, zischte sie. »Dann fahre ich wieder zu Roman und kann den Rest meiner Ferien hoffentlich ungestört genießen. Kommst du bitte mit in mein Büro!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging voraus.
Schwester Alice hatte die Szene beobachtet. Sie schickte Dr. Norden einen mitfühlenden Blick, den er mit einem Schulterzucken quittierte. Sich ihrer Blicke in seinem Rücken wohlbewusst, machte er sich auf den Weg.
Jenny saß schon am Schreibtisch und wartete nur darauf, dass er die Tür hinter sich schloss.
»Das habe ich noch nie erlebt«, donnerte sie los. »Du hast nur darauf gewartet, bis ich aus dem Haus bin, um zu operieren.« Es krachte, als sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
Im Vorzimmer zog Andrea Sander eine Augenbraue hoch. Volker Lammers, der sich eben zu ihr gesellt hatte, lachte sich ins Fäustchen. Jedes einzelne von Jenny Behnischs Worten drang durch die Tür und war Balsam auf seiner teuflischen Seele.
»Um entgegen meiner ausdrücklichen Anweisung zu operieren«, wiederholte sie erbost.
»Beruhig dich, Jenny!«, versuchte Daniel, auf sie einzuwirken. »Frau Lohmeiers Zustand hatte sich extrem verschlechtert. Ich wollte ihr nicht beim Sterben zuschauen. Deshalb hatte ich keine Wahl. Mal abgesehen davon, dass es ja gut gegangen ist.« Dank Felix waren die Selbstzweifel auf ein gesundes Maß geschrumpft. Hoch erhobenen Hauptes konnte Daniel nun zu seiner Entscheidung stehen.
Während Jenny den Operationsbericht studierte, atmete sie ein paar Mal tief ein und aus.
»Diesmal ist es gut gegangen. Aber es war mehr als knapp. Und was ist das nächste Mal?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Ich kann dich ja nicht mehr als Stellvertreter in meine Klinik lassen, wenn du dich nicht an meine Anweisungen hältst.«
Im Vorzimmer stieß der Kollege Lammers triumphierend die Faust in die Luft.
»Jetzt bekommt dieser überhebliche Fatzke mal eine in die Fresse«, zischte er und ignorierte gekonnt den befremdeten Blick, den Andrea Sander ihm zuwarf. »Hoffentlich schmeißt sie ihn und seine Gespielin endlich raus.«
Unterdessen fuhr Jenny drinnen fort.
»Und wie ich hier lese, bist du nicht davor zurückgescheut, deine halbe Familie mit in die Sache hineinzuziehen. Sogar Fee ist mir in den Rücken gefallen.« Sie schüttelte den Kopf. »Was soll ich nur mit euch machen?« Sie maß ihren Freund mit nachdenklichem Blick und konnte sich nur wundern über sein selbstsicheres Lächeln.
»Ich finde, du solltest dich darüber freuen, dass du so verantwortungsbewusste Mitarbeiter hast, die sich auch dann noch für ein Menschenleben einsetzen, wenn es sie Kopf und Kragen kosten könnte. Und das waren beileibe nicht nur wir Nordens allein«, zollte Daniel dem mutigen Operationsteam seinen Respekt.
Gebannt stand Volker Lammers draußen hinter der Tür und wartete auf einen weiteren, beißenden Kommentar der Chefin. Doch die folgende Stille zog sich in die Länge. Er konnte Jennys Lächeln nicht sehen, das sich schließlich Bahn brach. Aber er ahnte schon jetzt, dass sein kühner Wunsch auch diesmal nicht in Erfüllung gehen würde.
Drinnen war Jenny Behnisch inzwischen zu einem Schluss gekommen. Sie klappte die Akte zu und stand auf. Gut einen Meter blieb sie vor Daniel Norden stehen und sah ihm offen in die Augen.
»Ich fürchte, in diesem Fall habe ich tatsächlich einen Fehler gemacht. Meine Einschätzung der Sachlage war falsch.«
»Vielleicht hat Frau Lohmeiers Herz aber einfach auch besser als erwartet auf die Medikamente angesprochen«, räumte Daniel ein.
Jenny lächelte fein.
»Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, was für ein besonderer Arzt und Mensch du bist?«, fragte sie so laut, dass auch Volker Lammers es hören konnte.
Ihre Frage brachte Daniel zum Lächeln.
»Um ehrlich zu sein: Ja, heute Nacht. Felix. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich so vor dir stehen kann«, gestand er, als sie gemeinsam zur Tür gingen.
»Eine erstaunliche Familie!« An der Tür angekommen, verharrte die Klinikchefin noch kurz, versunken in ihre ganz eigenen Gedanken. Dann schüttelte sie den Kopf, schenkte ihrem Freund ein herzliches Lächeln und öffnete die Tür. Volker Lammers hatte gerade noch Zeit, sich dahinter zu verstecken.
»Sag Roman schöne Grüße von mir«, bat Dr. Norden, als er Seite an Seite mit ihr durch das Vorzimmer ging und hinaus auf den Flur trat. »Ihr habt euch euren Urlaub redlich verdient!« Er zwinkerte Jenny Behnisch zu, ehe sich ihre Wege trennten, nichtahnend, dass der Kollege Lammers in diesem Moment am liebsten vor Zorn geplatzt wäre.
*
Der Frühling hatte mit aller Macht Einzug gehalten und ein Duft nach Lindenblüten erfüllte die Luft. Eine fröhliche Gesellschaft nutzte das herrliche Wetter, um im Hof des Cafés ›Schöne Aussichten‹ an einer langen Tafel das Leben zu feiern.
»Hey, du Vielfraß, lässt du mir gefälligst noch was von dem Streuselkuchen übrig!«, rief Danny Norden und beobachtete mit Panik im Blick, wie sich sein Bruder Janni Stück für Stück der Köstlichkeit auf den Teller häufte.
»Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich vor der Versuchung bewahre. Dein Körperumfang lässt keine weitere Kalorienzufuhr mehr zu.«
»Was zum Teufel …«, entfuhr es Danny, als er eine Hand am Bauch fühlte. Sie gehörte seiner Freundin Tatjana.
»Janni hat recht. Du hast zugenommen. Oder was meinst du, Felix? Du hast ihn am längsten nicht gesehen und den besten Überblick.«
»Wie? Überblick?« Danny schnappte nach Luft. »Der hat um ein Haar einen Flieger in einen Heuschober gesetzt. Und du sprichst von Überblick?«
Fee, die sich Sahne aus einer Schüssel auf ihren Apfelkuchen löffelte, hielt schlagartig inne. Ihr entsetzter Blick ruhte auf ihrem zweitältesten Sohn.
»WAS hast du getan?«
»Halb so wild. Das war bei meinem ersten Flug. Ist ja noch mal gut gegangen«, winkte Felix ungerührt ab. »Bis jetzt hab ich mich brav an Jannis Rat gehalten und genauso viele Starts wie Landungen hingelegt.«
»Das ist ja schon mal ein vielversprechender Anfang«, spottete Danny.
Dieses Stichwort erinnerte Dési an den Brief, der an diesem Morgen im Briefkasten gelandet war. »Apropos Anfang. Ich hab heute einen Brief von April bekommen.«
Als er diesen Namen hörte, begann Felix‘ Herz, schneller zu schlagen. Obwohl sie ihm ziemlich auf die Nerven gegangen war, hatte er das verrückte Mädchen nicht vergessen können, das so unvermittelt in sein Leben gesprungen und ebenso schnell wieder verschwunden war.
»Wie geht es ihr?« Er versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu klingen.
Aber seine Schwester kannte ihn gut genug, um in seinen Augen zu lesen. Trotzdem verriet sie ihn nicht.
»Ich soll schöne Grüße an alle sagen. Im Hotel ihrer Cousine sind momentan Gäste aus München. Stellte euch vor: Die Frau wurde vor ein paar Monaten in der Behnisch-Klinik operiert. Sie feiert gerade einen neuen Anfang.«
Fee schickte Daniel einen vielsagenden Blick. Doch schon fuhr Dési mit ihrem Bericht fort.
»Die Arbeit im Hotel ist offenbar ganz in Ordnung. Trotzdem überlegt April, ob sie nicht weiterreisen soll, wenn sie genug Geld gespart hat.«
»So ein rastloser Geist.« Felix schüttelte den Kopf. »Schreibt sie auch, was sie vorhat?« Die offensichtliche Hoffnung in seiner Frage verriet ihn.
Tröstend legte Tatjana die Hand auf seinen Arm.
»Man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Und außerdem bist du maßlos. Du solltest dich darüber freuen, dass wir heute alle Zeit haben für dich. Sogar dein Dad ist hier …«
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als laut und deutlich ein Telefon klingelte.
Verlegen zog Daniel den Apparat aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display.
»Heribert Voss von der Behnisch-Klinik«, murmelte er halblaut und steckte das Handy wieder weg. Er wusste, dass dieser Anruf rein persönlicher Natur war. »Nicht so wichtig«, winkte er deshalb ab.
Felix sah ihn entgeistert an.
»Aber Dad, du bist doch Arzt!«, platzte er heraus. »Du musst deinen Patienten helfen.«
In aller Seelenruhe lehnte sich Daniel zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
»Jenny ist in der Klinik und für das Schicksal ihrer Patienten und Mitarbeiter verantwortlich«, korrigierte er seinen Sohn lächelnd. »Und hin und wieder bin ich nicht nur Arzt,, sondern auch Ehemann und Vater. So wie heute. Und wisst ihr was: Das ist ein tolles Gefühl!«