Читать книгу Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Und jetzt ganz weit den Mund aufmachen!«, verlangte Dr. Daniel Norden von dem Schüler, der vor ihm stand.

Seine Assistentin Janine Merck reichte ihm ein Holzstäbchen, mit dem er einen Abstrich machte, der sofort unter dem Mikroskop untersucht wurde.

Nach einer Krankheitsepidemie war diese Maßnahme nötig geworden, doch glücklicherweise konnte der Allgemeinmediziner Entwarnung geben.

»Wir haben keine einzige Infektion mehr nachgewiesen«, teilte er der Lehrerin Nicole Rosenholz schließlich mit, die mit ihren ABC-Schützen in der Umkleide der Turnhalle auf das Ende der Untersuchung wartete.

»Zum Glück!« Nicole atmete auf und nahm den kleinen Sebastian lächelnd in Empfang. »Dann kann endlich wieder Normalität in den Schulalltag einkehren. Viele Eltern …« Mitten im Satz hielt sie inne. Das Geschrei der Kinder wurde ohrenbetäubend. Sie lächelte Dr. Norden entschuldigend zu und drehte sich um. »Wenn ihr nicht sofort aufhört, bekommt ihr … bekommt ihr …« Ihre Stimme stockte.

Zuerst dachte Daniel, dass sie über eine geeignete Strafmaßnahme nachdachte, bis er zu seinem großen Schrecken bemerkte, wie sich ihr Körper verkrampfte. Der Blick, den sie ihm aus weit aufgerissenen Augen zuwarf, sprach von der Panik, die sie spüren musste. Sie öffnete den Mund. Doch kein Laut entkam ihren Lippen. Gleich darauf fiel sie wie ein nasser Sack zu Boden. Zuckend und krampfend wand sie sich hin und her, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Schaum bildete sich vor ihrem verzerrten Mund.

Schlagartig verstummte die tobende Kinderschar und bildete einen Kreis um die junge Lehrerin. Der Schrecken stand den Schülern ins Gesicht geschrieben.

»Was ist los mit Frau Rosenholz?« Es war Sebastian, der es wagte, diese Frage zu stellen.

»Vielleicht hat sie zu viel Alkohol getrunken«, mutmaßte eine besonders vorwitzige Schülerin. »Ich hab so was mal im Fernsehen gesehen.«

»Aber es ist doch noch Vormittag«, wandte ihre Freundin ein, ohne den Blick von der Lehrerin zu wenden. »Warum hilfst du ihr denn nicht, Herr Doktor?« Vorwurfsvoll sah sie Dr. Norden an, der neben Nicole Rosenholz auf dem Boden kniete und lediglich darauf aufpasste, dass sie sich nicht an einer der Bänke stieß.

»Ich denke, dass wir es hier mit einem epileptischen Anfall zu tun haben.« Sein Blick ruhte auf der Armbanduhr. Nebenbei versuchte er, die Kinder zu beruhigen. »Das sieht schlimm aus, ist in der Regel aber nicht gefährlich.«

»Aber warum tust du denn nichts?«

»Es ist besser, einen Anfall zu beobachten, als einzugreifen und so Verletzungen zu provozieren«, erklärte er so schlicht wie möglich, als der Krampf langsam nachließ. Damit die Atmung fließen konnte und nicht behindert wurde, brachte er die Patientin in die stabile Seitenlage.

Angelockt von dem dumpfen Schlag und den Schreckensrufen tauchte auch Janine in der Umkleide auf. Ein Blick ihres Chefs genügte und sie wusste, was sie zu tun hatte.

»Kommt, Kinder, wir gehen zurück in euer Klassenzimmer.« Sie klatschte in die Hände, um die Schüler aus ihrer Erstarrung zu wecken und scheuchte sie aus der Umkleide.

Inzwischen kam Nicole langsam wieder zu sich. Sie rollte sich auf den Rücken und sah sich verwirrt um. Daniel beugte sich über sie. Er strich ihr das feuchte, dunkle Haar aus der Stirn. Misstrauisch verfolgte sie jede seiner Bewegungen.

»Was … was ist? Wer sind Sie? Wo bin ich?«, stammelte sie. Ihre Stimme war heiser.

»Mein Name ist Dr. Norden. Sie befinden sich im Umkleideraum der Immanuel-Kant-Grundschule, in der Sie als Lehrerin arbeiten«, beantwortete er ihre Fragen mit ruhiger Stimme. »Sie hatten einen Krampfanfall. Sind Sie Epileptikerin?«

Als wollte sich Nicole Rosenholz versichern, dass er die Wahrheit sprach, huschte ihr Blick hin und her. Endlich kehrte er zu dem Arzt zurück.

»Ich habe keine Epilepsie!«, behauptete sie mit Nachdruck und machte Anstalten, sich aufzusetzen.

Schnell griff ihr Dr. Norden unter die Arme und stützte sie. Mit vereinten Kräften stand Nicole endlich wieder auf den Beinen. Langsam kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück. Zeit, um Fragen zu stellen.

»Hatten Sie so was zum ersten Mal?«

Es dauerte einen Moment, bis sie den Sinn der Worte verstand.

»Ja … ja.« Sie nickte langsam und betastete die Bisswunde an der Lippe, die sie sich während des Krampfs selbst zugefügt hatte. »Das erste Mal.«

Es war offensichtlich, dass Nicole Rosenholz immer noch nicht wieder ganz in die Realität zurückgekehrt war.

»Setzen Sie sich. Ich hole Ihnen was zu trinken.« Daniel drückte sie auf eine der Bänke und ging hinüber in das Zimmer, das ihm als provisorischer Behandlungsraum zur Verfügung gestellt worden war. Mit einem Glas Wasser kehrte er zu ihr zurück. »Hier!«

»Danke.« Ihr Hand zitterte, als sie nach dem Glas griff und in kleinen Schlucken trank.

Dr. Norden ließ sie nicht aus den Augen.

»Besser?«, fragte er nach einer Weile.

Nicole versuchte zu lächeln.

»Ich denke schon.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss zurück in die Klasse.«

»Das halte ich für keine gute Idee«, lehnte Dr. Norden entschieden ab.

»Aber die Kinder …«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Direktorin Frau Päpke steckte den Kopf herein.

»Störe ich?«

»Sie schickt der Himmel«, empfing Daniel sie erfreut.

Thekla Päpke lachte.

»So eine Begrüßung hätte ich gern öfter. Aber was kann ich für Sie tun? Ihre Assistentin hat mir quasi im Vorbeigehen von dem Vorfall erzählt.« Ihr besorgter Blick wanderte zu ihrer Mitarbeiterin, die in sich gekehrt auf der Bank saß. »Wie geht es Ihnen, Frau Rosenholz?«

Doch Nicole schien sich nicht angesprochen zu fühlen. Sie machte keine Anstalten zu antworten.

»Sie hat einen Krampfanfall erlitten, Auslöser unbekannt«, übernahm schließlich Daniel das Wort. »Ich möchte sie in die Praxis mitnehmen, um der Ursache auf den Grund zu gehen.«

Die Direktorin hatte noch viele Fragen auf dem Herzen. Doch die Zeit drängte.

»Natürlich«, erklärte sie sich sofort einverstanden. »Um die Kinder müssen Sie sich keine Sorgen machen. Die werden mich zwar nicht so freudig begrüßen wie Sie, aber ich sollte nicht maßlos sein.« Sie zwinkerte Dr. Norden freundlich zu. Im Gegenzug versprach er, sich zu melden, sobald er wusste, was Nicole Rosenholz fehlte und wie lange sie ausfallen würde.

*

»Heute ist mir unbegreiflich, wie ich mich als Kind gegen den Mittagsschlaf wehren konnte.« Nachdenklich stand Tatjana Bohde in der Backstube vor dem Kinderwagen und betrachtete das erschöpfte Kind. »Essen und schlafen … Das sind heute meine absoluten Lieblingsbeschäftigungen.« Ein paar Tränen hingen noch in den unverschämt langen Babywimpern und zeugten von dem Geschrei, das die Räume kurz zuvor noch erfüllt hatte.

Tatjanas junger Lehrling Titus lachte. Er stand an der Arbeitsplatte und bestrich Zimtschnecken mit Zuckerguss – der Verkaufsrenner um diese Jahreszeit.

»Dasselbe wird sich Fynn in fünfzehn Jahren auch fragen«, stimmte er seiner Chefin zu und leckte einen Tropfen Zuckerguss vom Handrücken.

»Spätestens dann werde ich nachts jede Stunde in sein Zimmer laufen und ihn wecken«, erklärte Marla, Teilzeitmitarbeiterin in der Bäckerei und dem Café ›Schöne Aussichten‹ Diese Vorstellung versöhnte sie zumindest halbwegs mit dem Schicksal, das sie mit fast allen Müttern teilte. »Ich freu mich schon jetzt auf sein Gesicht, wenn ich zum dritten Mal reinkomme.« Nach einem kurzen Abstecher an ihrem Arbeitsplatz – Marla hatte Gebäck für den Kaffeeklatsch mit ein paar Freundinnen gekauft – war sie im Begriff, sich auf den Heimweg zu machen.

»Wir sehen uns morgen!« Sie umarmte Tatjana, schickte Titus eine Kusshand und bugsierte den Kinderwagen hinüber in die Bäckerei.

An der Tür traf sie auf Danny Norden. Obwohl Marla mit ihrer Familie im selben Haus wohnte, bekamen sie sich nur noch selten zu Gesicht.

Umso begeisterter war Danny über die Entwicklung, die Fynn inzwischen durchgemacht hatte.

»Mamamamamama«, plapperte er im Kinderwagen. Statt den Wunsch seiner Mutter zu erfüllen und endlich einzuschlafen, hatte er neue Kräfte gesammelt und strahlte sein Gegenüber an.

»Er kann ja schon sprechen.« Danny beugte sich hinab und kitzelte den Kleinen unterm speckigen Kinn.

»Leider sagt er das auch zu Pascal, zum Nachbarshund und zu seinem Abendbrei.« Marla gab sich keinerlei Illusionen über die Fähigkeiten ihres Kindes hin. »Aber du hast schon recht. Es ist bemerkenswert, welche Fortschritte er macht.« Sie beugte sich über den Kinderwagen und drückte dem Baby einen schmatzenden Kuss auf die runde Wange. Fynn quietschte vor Freude. »Jetzt müssen wir uns aber auf den Weg machen, wenn der Mittagsschlaf nicht komplett ausfallen soll.« Sie zog den Reißverschluss des Fußsacks zu und verabschiedete sich endgültig.

Danny hielt ihr die Tür auf und sah den beiden versonnen nach, wie sie den Gehweg hinab gingen und um die Ecke verschwanden.

»Meine Güte, hat sich der Knirps rausgemacht.« Angelockt vom geschäftigen Klingeln der kleinen Glocke über der Tür, war Tatjana hinter den Tresen getreten. Danny begrüßte sie mit einem Flugkuss. »Was der schon alles kann!« Er sah seiner Freundin dabei zu, wie sie ein Backblech mit ofenfrischen Brezen in den Korb im Regal füllte. »Und wie groß er geworden ist, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hab.«

Im Gegensatz zu seiner Freundin wünschte sich Danny schon länger Kinder. Obwohl er wusste, dass Tatjana noch nicht bereit für so einen Schritt war, sprach er in letzter Zeit wieder öfter darüber.

Tatjana fühlte sich provoziert.

»Es kommt vor, das Kinder wachsen«, erwiderte sie spöttisch.

Doch Danny war so gefangen in seiner Begeisterung, dass er die Gefahr nicht erkannte.

»Ich finde, die beiden können stolz sein auf ihre kleine Familie«, plauderte er munter weiter. »Als ich Marla kennengelernt habe, hätte ich nie gedacht, dass sie mal so eine tolle Mutter sein wird.« Sichtlich amüsiert dachte er an die erste Begegnung zurück. Damals noch blauhaarig, hätte Marla ihn um ein Haar mit dem Fahrrad auf dem Gehweg vor der Bäckerei überfahren.

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Tatjana weigerte sich hartnäckig, sich mitreißen zu lassen.

Und noch immer bemerkte Danny nicht, auf welch dünnem Eis er sich befand. Er bestellte eine Diätcola und ein Tomaten-Mozzarella-Sandwich.

»Diese Rolle würde dir bestimmt auch gut stehen«, erklärte er gedankenverloren, während er auf sein Mittagessen wartete.

»Willst du dir nicht schon mal einen Platz im Café suchen?« Nur mit Mühe konnte sich Tatjana einen gehässigen Kommentar verkneifen. »Dein Lieblingsplatz am Fenster ist noch frei. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange.« Durch das Schaufenster deutete sie auf eine Gruppe Schüler, die auf das Café zustrebten.

»Nur, wenn du mir versprichst, gleich zu mir zu kommen.« Danny nahm das Tablett, das sie über den Tresen schob.

»Wird aber ein bisschen dauern.«

»Kann das nicht Titus übernehmen?«, fragte er fordernd. Allmählich verflog seine gute Laune. »Freust du dich überhaupt, dass ich da bin?«

Tatjana verdrehte die Augen.

»Ach, Danny, komm schon. Jetzt mach mir bitte keine Szene. Ich marschiere doch auch nicht in die Praxis und verlange, dass du sofort Gewehr bei Fuß stehst und Zeit für mich hast.«

Danny haderte kurz mit sich. Sollte er einen Streit vom Zaun brechen?

»Tut mir leid.« Er war vernünftig genug, sich dagegen zu entscheiden.

Tatjana, die ahnte, was in ihm vorging, rechnete ihm diese Reaktion hoch an.

»Ich mach dir einen Vorschlag«, lenkte sie ein. »Nach dem Fitness-Studio heute Abend machen wir eine Kuschelstunde auf dem Sofa mit Themenschwerpunkt Familienplanung.«

Doch auch damit war Danny nicht zufrieden.

»Das klingt wie die Ankündigung zu einem Geschäftsmeeting«, beschwerte er sich.

Zum Glück fielen in diesem Moment die Jugendlichen in die Bäckerei ein wie ein Schwarm hungriger Bienen. Tatjana lächelte, hauchte einen Kuss über den Tresen und widmete sich dann ihren Kunden in der Hoffnung, dass Baguette und Zimtschnecken als Nachspeise imstande waren, ihren Freund wenigstens halbwegs zu versöhnen.

*

»Die verlockende Kombination aus Luxus, Komfort und Flair, die stilvollen Einrichtungen, der hervorragende Service und die schönen Zimmer hinterlassen hoffentlich auch bei Ihnen einen bleibenden Eindruck.« Die Hotelmanagerin Stella Baumann drehte sich zu ihren neuen Gästen um und nickte ihnen lächelnd zu. »Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie irgendeinen Wunsch haben. Unser Personal steht Ihnen Tag und Nacht zur Verfügung.«

Das Paar erwiderte das Lächeln.

»Vielen Dank. Ich denke, wir gehen jetzt auf unser Zimmer«, erwiderte der Ehemann und unterdrückte ein Gähnen.

Die Anreise war lang und anstrengend gewesen.

»Natürlich.« Kaum merklich hob Stella die Hand, und sofort tauchte ein Page auf.

»Wie Sie wünschen.« Die Hotelmanagerin verabschiedete sich und kehrte an die Rezeption zurück.

Das liebenswürdige Lächeln war von ihrem Gesicht verschwunden.

»Konnten Sie den Fehler in den Buchungen bereinigen?«, erkundigte sie sich bei der Mitarbeiterin hinter dem Tresen. Die junge Frau nickte.

»Wir haben das Ehepaar Jacobsen in eine Suite umgebucht. Somit steht das Familienzimmer zur Verfügung.«

»Sehr gut.« Stellas Adlerblick blieb an einem Spiegel im opulenten Goldrahmen hängen. »Und bitte rufen Sie das Reinigungspersonal. Der Spiegel hat Schlieren.«

Erschrocken fuhr die Rezeptionistin herum. Nur einen Augenblick später griff sie nach dem Hörer.

»Natürlich. Wird sofort erledigt.«

»Moment noch.« Stella war noch nicht fertig. »Heute Abend findet die Hauptversammlung der Künstner AG statt. Bitte stellen Sie sicher, dass der Vorstandsvorsitzende pünktlich mit der Limousine vom Flughaften abgeholt wird.« Um die Anliegen besonderer Gäste kümmerte sich die Hotelmanagerin neben anderen Aufgaben höchstpersönlich. Nicht zuletzt dieser Angewohnheit war der Erfolg des Hotels geschuldet.

Stella Baumann machte Anstalten, in ihr Büro zurückzukehren, als ein Mann im gut geschnittenen Anzug hinter sie trat.

»Mein Hans-Dampf in allen Gassen!« Die Stimme ihres Bruders klang spöttisch in ihrem Ohr. »Macht es dir eigentlich Spaß, unserem Personal ständig die Arbeit wegzunehmen? Wenn du dich um alles selbst kümmerst, kann ich die Belegschaft locker um ein Drittel reduzieren.«

Langsam drehte sich Stella um, ein betont entspanntes Lächeln auf den rot geschminkten Lippen.

»Auch wenn du es nicht hören willst, aber meines Erachtens ist meine Sorgfalt …«

»… das Geheimnis unseres Erfolgs, ich weiß.« Moritz erwiderte ihr Lächeln. »Nichts für ungut, aber ich sehe das ein bisschen anders. Ich denke, dass wir einfach ein gutes Team sind und uns perfekt ergänzen.« Seite an Seite schlenderten die Geschwister über kostbare Perserteppiche mit verschlungenen Mustern in Richtung der Büros, die wohlverborgen hinter der Mahagoni-Vertäfelung lagen. Von außen waren sie nicht zu erkennen.

»Deshalb haben wir dieses sagenhafte Angebot in Dubai bekommen.«

Als er Stella daran erinnerte, begannen ihre Augen zu leuchten.

»Wenn man bedenkt, wie klein wir angefangen haben, ist das schon eine bemerkenswerte Karriere.« Wie so oft musste sie daran denken, wie sie nach dem Studium gemeinsam mit ihrem Bruder auf Reisen gegangen war. Damals hatten sie den Kopf voller Flausen gehabt und wollten endlich die lang ersehnte Freiheit genießen. Sie bereisten Thailand, Laos und Vietnam, bis ihnen in Kambodscha das Geld ausgegangen war. Moritz war es zu verdanken, dass sie in einem Hotel zwei Stellen bekamen, Stella als Rezeptionistin, er selbst in der Reservierung. Es war der Beginn einer steilen Karriere gewesen. Nach weiteren Stationen in Südostasien hatten sie den Kontinent gewechselt, in Südafrika, Namibia und zuletzt in Marokko Hotels geleitet. Dank Moritz‘ Beziehungen waren die Häuser exklusiver und die Stellen anspruchsvoller geworden. Seit einem Jahr arbeiteten sie nun gemeinsam in dem Münchner Nobelhotel. Doch die Sehnsucht nach neuen Abenteuern trieb die Geschwister unentwegt weiter. Als das Angebot der Leitung des Palasthotels in Dubai ins Haus geflattert war, hatte es keine Fragen gegeben.

»Und sie ist noch lange nicht zu Ende.« Moritz Baumann schloss die Tür hinter Stella und bot ihr einen Platz auf dem dunklen Ledersofa an. »Die Flugtickets sind heute gekommen. In zwei Wochen geht es los.« Er ging um den Schreibtisch mit Marmorplatte herum und griff nach einem Umschlag, auf dem sein Name stand.

»Warum falle ich eigentlich immer durchs Raster?«, fragte Stella unwillig, als sie das gefütterte Kuvert betrachtete. »Ich werde behandelt wie dein Anhängsel und nicht wie eine gleichwertige Partnerin.«

»Ach was!« Gut gelaunt winkte Moritz ab. »Ich bin eben der Verhandlungspartner von Scheich Hassans Leuten. Deshalb schicken sie die Unterlagen an mich.«

»Ist ja nicht das erste Mal. Das geht schon die ganze Zeit so.«

Moritz ließ sich auf den Stuhl fallen, legte die Arme auf die Lehne und faltete die Hände. Er nahm Stella ins Visier.

»So was nennt man Arbeitsteilung«, erinnerte er seine Schwester. »Oder willst du dich darum auch noch selbst kümmern?« Sein Gesicht wurde ernst. Er beugte sich vor und sah ihr in die Augen. »Du bist doch jetzt schon hoffnungslos überarbeitet. Zumindest siehst du so aus. Denk mal drüber nach, ob du nicht ein bisschen kürzer treten willst. Nicht, dass dir so kurz vor dem großen Wechsel noch die Puste ausgeht«, gab er ihr einen brüderlichen Tipp.

»Das könnte dir so passen!« Stella lachte künstlich. »Aber ich lass mich von dir nicht auf die hinteren Ränge verweisen.« Nur sie allein wusste, dass ihre amüsiert hervorgebrachten Spitzen einen durchaus ernsten Hintergrund hatten. Ehe Moritz widersprechen konnte, stand sie auf und sah ihn herausfordernd an. »Wir treffen uns heute Abend im Fitness-Studio. Dann werden wir ja sehen, wer mehr Power hat.«

*

»Kann man euch eigentlich nie rauslassen, ohne dass ihr mit mindestens einem Patienten zurückkommt?«, fragte Annemarie Wendel, von allen nur Wendy genannt, nachdem sie Nicole Rosenholz im Behandlungszimmer ans EKG angeschlossen hatte. »Eigentlich haben wir hier genug Arbeit sitzen.«

Sie deutete auf das Wartezimmer, in dem drei Patienten auf ihre Behandlung warteten. Der vierte war bereits im Anmarsch, wie sie aus den Augenwinkeln sah.

Auch Dr. Norden hatte den Neuankömmling bemerkt, der den Gartenweg hinaufging.

»Ich brauche eine halbe Stunde Aufschub. So lange wird die Untersuchung von Frau Rosenholz in Anspruch nehmen. Sie haben die hochoffizielle Erlaubnis, Ihren ganzen Charme spielen zu lassen, um dem Patienten zu erklären, dass er später noch einmal wiederkommen soll.«

»Das will ich dir nicht geraten haben«, mischte sich Janine in das Gespräch ein. Ihr fröhliches Zwinkern verriet, dass sie es nicht ernst meinte. »Herr Kern will zu mir.«

Wendy lächelte süffisant.

»Sieh mal einer an. Der ewige Verehrer. Pass bloß auf, dass aus der heißen Romanze nicht aus Versehen eine lauwarme Freundschaft wird«, gab sie ihrer Freundin und Kollegin einen wohlmeinenden Tipp.

Seit Wochen schon traf sich Janine mit dem Mann, der erst vor einigen Monaten Witwer geworden war. Dieser Schock hatte Peter Kern daran erinnert, dass es außer der Arbeit auch noch ein Leben gab. Nur zu gern ließ er sich von Janine die Welt zeigen, die er bisher so nicht kennengelernt hatte. Gemeinsam gingen sie klettern und tanzen und manchmal auch auf ein Bier in eine der zahlreichen Szene-Kneipen, die München zu bieten hat.

»Peter ist nicht wie die anderen. Außerdem braucht er noch Zeit, was mir ganz recht ist«, rechtfertigte sich Janine. »Ich habe genug von schnellen Abenteuern und halben Sachen. Wenn ich mich jemals wieder auf eine Beziehung einlasse, dann muss ich mir sicher sein.«

Wendys Meinung zu diesem Thema passte in einen einzigen Satz.

»Sicher ist, dass nichts sicher ist«, erwiderte sie trocken und wandte sich mit einem strahlende Lächeln an Peter Kern, der eben die Praxis betrat. »Hallo, Herr Kern, leider habe ich im Augenblick überhaupt keine Zeit. Aber meine Kollegin Janine kümmert sich gern um Sie.« Sie zwinkerte den beiden zu und verließ den Schauplatz Richtung Labor.

Auch Daniel machte sich lächelnd auf den Weg zu seiner Patientin.

Geduldig lag Nicole auf der Liege.

»Wie geht es Ihnen jetzt?« Behutsam entfernte er die Saugnäpfe von ihrer Haut.

»Ganz gut. Ich kann mir auch nicht erklären, was das vorhin war.«

Die Aufzeichnungen des EKGs bestätigten ihre Worte. Das erkannte der erfahrene Arzt auf den ersten Blick.

»Keine Besonderheiten. Und auch die Blutsenkung ist unauffällig, der Blutdruck normal.«

»Dann kann ich ja wieder in die Schule gehen.« Erfreut setzte sich Nicole auf der Liege auf.

Ohne die Augen von dem Papierstreifen zu heben, wiegte Dr. Norden nachdenklich den Kopf.

»Wenn es nur ein kleiner Anfall gewesen wäre, würde ich ohne Bedenken zustimmen«, sagte er langsam. »Nachdem Sie aber knappe vier Minuten gekrampft haben, würde ich Sie lieber in die Behnisch-Klinik schicken, um ein CT vom Kopf machen zu lassen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme«, schickte er schnell hinterher, als er die Angst in Nicoles Augen sah.

»Vier Minuten? Das ist doch nicht der Rede wert«, wollte sie sich selbst Mut machen.

»Sie glauben nicht, wie lang vier Minuten sein können, wenn man machtlos daneben sitzt.«

Diese wenigen Worte gaben den Ausschlag.

»Es tut mir leid. Ich habe nur an mich gedacht.« Nicole zupfte mit den Zähnen an ihrer verletzten Lippe. »Sie dürfen nicht denken, dass ich egoistisch bin. Es ist nur … ich … ich habe heute Abend eine Verabredung … mit einem Mann … wir haben uns erst zwei, drei Mal gesehen …«

Ein Lächeln spielte um Daniel Nordens Lippen.

»Er gefällt Ihnen?«

»Oh ja, sehr«, entfuhr es Nicole. »Wenn ich ihn wegen dieser dummen Geschichte aus den Augen verlöre, würde ich mich den Rest meines Lebens fragen, ob ich meine große Liebe verpasst habe.«

»Wenn es die große Liebe ist, werden Sie sich nicht verpassen.« Daniel Norden war vom Hocker aufgestanden und hatte sich an den Schreibtisch gesetzt. »Dann finden Sie zueinander, egal, welche Steine Ihnen in den Weg gelegt werden.«

Nicole war von der Liege gerutscht. Sie hatte sich wieder angezogen. Auf dem Weg zum Schreibtisch knöpfte sie ihre Bluse zu.

»Sie verwundern mich«, gestand sie, als sie sich setzte. »Meine Freunde lachen mich aus, wenn ich von der großen Liebe träume. Sie halten mich für hoffnungslos romantisch.«

»Sie können Ihren Freunden sagen, dass sie sich irren.« Während er seine Untersuchungsergebnisse in den Computer eingab, schmunzelte Daniel Norden. »Schon als junger Mann habe ich meine große Liebe geheiratet. Wir haben fünf Kinder zusammen und sind noch heute glücklich.«

»Aber nicht wie am ersten Tag«, platzte Nicole halb beeindruckt, halb belustigt heraus. »Das wäre zu kitschig.«

»Stimmt«, gab er ihr recht. »Wir sind noch viel glücklicher.«

Er war so überzeugend, dass sie nicht mehr lachte.

»Sie meinen das ernst, nicht wahr?«, hakte sie ungläubig nach.

»Natürlich. Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich Sie bitten, meinem Rat zu folgen und sich in der Klinik untersuchen zu lassen«, kehrte Daniel zu seinem Anliegen zurück. »Ich verspreche, so schnell wie möglich einen Termin für Sie zu organisieren. Wenn alles glattgeht, können Sie Ihre Verabredung heute Abend einhalten.«

In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft war es dem Arzt gelungen, seine neue Patientin voll und ganz zu überzeugen.

»Im Normalfall bin ich kein leichtgläubiger Mensch und nicht einfach zu überreden«, sagte sie und musterte ihn dabei voller Verwunderung. »Aber Ihnen vertraue ich jetzt schon blind.«

»Ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen.« Daniel Norden freute sich ehrlich über das Kompliment.

Trotzdem vergaß er seine Pflichten nicht und hob den Hörer, um die Behnisch-Klinik anzurufen und dort möglichst zeitnah einen Termin auszumachen.

*

Obwohl sich Tatjana Bohde vorgenommen hatte, pünktlich im Fitness-Studio zu sein, betrat sie die Räume deutlich nach Danny. Nach einer Aufwärmrunde am Stepper schwitzte er bereits an den Geräten. Um ihn nicht zu stören, begrüßte sie ihn lediglich mit einem Winken.

»Ich bin schon acht Kilometer gelaufen!«, teilte er ihr keuchend mit.

»Keine Sorge! In einer Viertelstunde hab ich dich eingeholt«, versprach sie und ging in die Umkleide. Sie war gerade in ihre Sportschuhe geschlüpft, als ungewohnter Lärm durch die Tür drang. Tatjana legte sich das Handtuch um die Schultern und verließ die Kabine.

Vor Jahren war sie bei einem Autounfall erblindet. Bevor sie Danny Norden kennen- und lieben gelernt und durch eine Operation zumindest wieder schemenhaft sehen konnte, war sie vollkommen blind gewesen. In dieser Zeit hatten sich ihre übrigen Sinne ausgebildet. Ihnen verdankte sie einen fast mystischen Spürsinn, eine Sensibilität, die vielen Mitmenschen fast unheimlich war. Diese Empfindsamkeit leitete sie auch an diesem Abend. Mit schlafwandlerischer Sicherheit bahnte sie sich einen Weg durch die Menschentraube, die sich gebildet hatte. Ohne Danny wirklich zu erkennen, wusste sie, dass er im Zentrum des Geschehens stand. Ihr Herz schlug schneller vor Nervosität.

»Was ist passiert?«, erkundigte sie sich bei ihm, als sie endlich zu ihm vorgedrungen war.

Er kniete auf dem Boden über einer Frau, die sich vor Schmerzen wand.

»Die Frau ist von einem Trainingsgerät gestürzt und hat sich offenbar verletzt«, erklärte er knapp.

Ein Mann in Sportkleidung, der auf der anderen Seite kniete, sah den Arzt an.

»Ein Glück, dass Sie ausgerechnet jetzt hier sind.« Moritz Baumanns Stimme war weich vor Erleichterung. »Was fehlt meiner Schwester denn?«

»Beim Sturz vom Laufband muss sie sich verletzt haben. Anders kann ich mir die Oberbauchschmerzen nicht erklären.« Behutsam tastete Danny den Leib der Verunglückten ab. »Tut das weh?«

»Aua!« Als er den Leberbereich berührte, stöhnte Stella gequält auf. »Macht es Ihnen Spaß, Leute zu foltern?«, fragte sie. Zum Glück ließ der Schmerz schnell wieder nach.

»Eine gewisse sadistische Ader schadet nicht, wenn man ein guter Arzt sein will«, erwiderte er nicht ganz ernst. »Was meinen Sie? Können Sie aufstehen?«

»Ich kann’s ja mal versuchen.« Mit Dannys Hilfe kämpfte sich Stella hoch und stand schließlich auf ihren eigenen zwei Beinen. »Gut ist was anderes. Aber immerhin.« Sie lächelte tapfer.

»Zumindest reicht es, dass ich Sie nicht über die Schulter werfen und zum Auto tragen muss.«

Danny war sich der Zuhörerin in seinem Rücken wohl bewusst. Noch immer lag ihm das Gespräch vom Mittag im Magen. Mit dem kleinen Flirt wollte er Tatjana ein wenig provozieren. Obwohl er natürlich nicht im Traum daran dachte, sich mit einer anderen Frau einzulassen.

»Was haben Sie mit mir vor? Sie wollen mich doch nicht etwa entführen?«, ließ sich Stella auf den Scherz ein.

Tatjana verfolgte das Gespräch mit gespitzten Ohren. Genau wie Moritz, der neben seiner Schwester stand und nicht die gewohnte Rolle spielte. Er war zum Nebendarsteller degradiert, was ihm ganz und gar nicht passte. Doch weder Danny noch Stella kümmerten sich darum. Sie schienen die Welt um sich herum vergessen zu haben.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, bringe ich Sie zur Untersuchung in meine Praxis. Sie ist nicht weit weg von hier. Ich möchte mich vergewissern, dass Sie keine inneren Verletzungen davongetragen haben«, erläuterte Danny sein Vorhaben.

Stella dachte kurz nach.

»Also schön«, stimmte sie diesem Vorschlag schließlich zu, nicht zuletzt deshalb, weil Danny Norden ein ausgesprochen attraktiver Mann war. »Wenn es nicht zu lange dauert …«

»Ich beeile mich.«

Stella wandte sich an ihren Bruder.

»Du hast es gehört, Bruderherz. Der Doktor nimmt mich mit und wird mich bestimmt danach ins Hotel fahren. Nicht wahr?« Sie schickte Danny einen aufreizenden Blick.

»Natürlich, kein Problem«, versicherte er und drehte sich zu Tatjana um. »Ich muss noch …«

»In die Praxis«, nahm sie ihm das Wort aus dem Mund und lächelte süffisant. »Ich hab schon gehört.« Auch wenn sie nicht scharf auf das Familienplanungs-Gespräch gewesen war, ärgerte sie sich. Das lag nicht an dem unvermuteten Notfall, sondern vielmehr an Dannys Flirt mit der Patientin. »Ich geh noch eine Runde trainieren.« Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

*

Um diese Uhrzeit herrschte gähnende Leere in der Praxis Dr. Norden. Schwer vorstellbar, dass es tagsüber meist zuging wie in einem Taubenschlag.

»Schick.« Nachdem das Licht aufgeflammt war, sah sich Stella interessiert um. »Ist das Ihre Praxis?«

»Ich arbeite hier zusammen mit meinem Vater«, erwiderte Danny und führte seine Patientin ins Ultraschallzimmer. Auch dort machte er Licht, schaltete die Geräte ein und bat sie, sich auf die Liege zu legen und den Oberbauch frei zu machen. »Nicht erschrecken, jetzt wird es kalt.« Er drückte einen Klecks von dem durchsichtigen Gel auf ihren Bauch, das er für die Untersuchung benötigte.

Stella ließ ihn nicht aus den Augen. Sie hatte gehofft, den Flirt fortsetzen zu können. Doch plötzlich war der Arzt wie ausgewechselt.

»Und? Bin ich schon tot?« Vergeblich versuchte sie, ihm ein Lachen zu entlocken.

»Nein, natürlich nicht.«

»Warum starren Sie dann so sorgenvoll auf Ihren Monitor?«

»Das Ultraschallbild lässt keine klare Diagnose zu. Ich fürchte, wir müssen noch eine Computertomographie machen.«

Stella erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, ernsthaft verletzt zu sein.

»Wie ist das möglich? So schlimm war der Sturz nun auch wieder nicht.«

»Aber leider auch nicht so harmlos wie gedacht.« Nachdem er die Bilder gespeichert hatte, reichte er ihr ein Papiertuch, damit sie das Gel abwischen konnte.

Stella Baumann dachte kurz nach und seufzte endlich ergeben.

»Dann bringen wir es hinter uns«, forderte sie Danny auf.

Zu ihrer Verwunderung schüttelte er den Kopf.

»Tut mir leid. Aber ein CT ist hier nicht rentabel. Dazu muss ich Sie in die Behnisch-Klinik schicken.«

Augenblicklich verzog sich Stellas hübsches Gesicht.

»War ja klar, dass ich aus der Nummer nicht mehr so schnell rauskomme.« Sie musterte Danny aus schmalen Augen. »Wie viel Provision bekommen Sie, wenn Sie einen Patienten an die Klinik weiterreichen?«, fragte sie bitter.

»Entschuldigen Sie mal. Ich habe Sie lediglich untersucht und meine Meinung kundgetan«, wehrte sich Danny energisch gegen diesen Verdacht.

Sein schroffer Ton brachte sie zur Vernunft.

»Tut mir leid!« Ihre Züge wurden weicher. »Es ist nur so, dass ich es ein bisschen eilig habe.« Sie warf das Papiertuch in den Abfall und zog das Sportshirt herunter, über dem sie eine Trainingsjacke trug. »Ich muss nämlich beruflich ins Ausland. Deshalb würde ich gern wissen, worauf ich mich zeitlich einstellen muss.«

Doch so leicht war Danny nicht umzustimmen. Er legte den Ultraschallkopf wieder in den Halter, stellte die Gel-Flasche an ihren Platz zurück und riss den Papierstreifen mit den Bildern ab, um ihn in die Patientenakte zu legen.

»Zu diesem frühen Zeitpunkt kann ich mich leider noch nicht festlegen«, erwiderte er knapp.

Stella verdrehte die Augen. Sie ärgerte sich darüber, dass sich der Arzt nicht von ihrem treuherzigen Blick versöhnlich stimmen ließ.

»Meine Güte! Sind Sie immer so gesprächig?« Trotz der Schmerzen, die wieder aufflammten, rutschte sie von der Liege. Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn feindselig an.

Diesmal verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Danny lächelte.

»Naja, nicht immer!«, witzelte er und ging zu dem kleinen Tisch in der Ecke, auf dem ein Telefon stand. Sein erwartungsvoller Blick ruhte auf Stella Baumann. »Also, was ist?« Er hielt den Hörer hoch. »Soll ich einen Termin ausmachen?«

»Sieht so aus, als hätte ich keine Wahl.« Sie zuckte mit den Schultern und sah Danny Norden dabei zu, wie er die Nummer der Klinik wählte.

*

Nach und nach löste sich die Menschentraube auf. Die Studiobesucher kehrten an die Geräte zurück. Einen Moment lang blieb Moritz Baumann im Gang stehen und starrte auf die Tür, durch die seine Schwester mit dem Arzt verschwunden war.

»Wollen Sie hier Wurzeln schlagen oder nehmen Sie meine Herausforderung an?«

Er drehte sich zu Tatjana um, die es sich anders überlegt hatte und zu ihm zurückgekehrt war. Dannys Flirt schrie nach Vergeltung. Dieses Benehmen konnte sie auf keinen Fall einfach so auf sich sitzen lassen.

»Also? Was ist?« Aus geheimnisvoll dunkelblauen Augen blitzte sie Moritz an.

»Ehrlich gesagt habe ich keine Lust mehr auf Training«, gestand er, obwohl das Angebot verlockend war. In ihrem bauchfreien Sportdress sah die junge Frau wie der Sündenfall persönlich aus. »Ich würde gern wissen, was mit meiner Schwester ist.«

»Aber sie will Sie offenbar nicht an ihrem Schicksal teilhaben lassen«, gab Tatjana zu bedenken.

Moritz seufzte.

»Da haben Sie allerdings recht.« Missmutig starrte er vor sich hin.

»Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.« Sie wollte sich umdrehen, als er sie zurückhielt.

»Halt, wo wollen Sie hin?«

»Wenn Sie nach Hause fahren und mein Sparringspartner auch weg ist, trainiere ich eben allein.«

»Ich kann jetzt unmöglich heimgehen. Dort fällt mir die Decke auf den Kopf«, erklärte Moritz. »Kann ich Sie dazu überreden, auf das Training zu verzichten und stattdessen einen Drink an der Bar mit mir zu nehmen?«

Dieses Angebot klang verlockender, als es war.

Tatjana lachte.

»Sie waren noch nicht oft hier, was?«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Sonst wüssten Sie, dass es an der Fitness-Bar nur Eiweißshakes und isotonische Gesundheitscocktails gibt. Nomen est Omen!«

»In Ihrer Gesellschaft ist mit Sicherheit sogar ein Gemüsesmoothie köstlich.« Moritz sah Tatjana bittend an. »Also was ist? Tun Sie mir den Gefallen?«

Im Normalfall hätte Tatjana ein derart plumpes Kompliment mit einem Lachanfall quittiert. Doch der Ärger über Danny änderte alles.

»Wie könnte ich jetzt noch nein sagen?« Sie hängte sich bei ihm ein, um mit ihm hinüber an die Bar zu schlendern. »Sind Sie schon lange in der Stadt? Ich hab Sie noch nie hier im Studio gesehen«, fragte sie im Plauderton.

»Seit knapp einem Jahr. Aber ehrlich gesagt sind Stella und ich schon wieder auf dem Absprung.« Moritz wartete, bis sich Tatjana auf einen Barhocker geschwungen hatte. Erst dann setzte auch er sich. Sie bestellte einen grünen Smoothie, während sich Moritz für einen Vanille-Eiweißshake entschied.

»Sie arbeiten zusammen?«, fragte sie dann.

»Nicht nur das. Zufälligerweise haben wir sogar den gleichen Job«, gab Moritz bereitwillig Auskunft. »Wir haben beide Tourismusmanagement studiert und nach vielen Stationen jetzt die Chance, gemeinsam ein First-Class-Hotel in Dubai zu übernehmen. Das ist ein so ehrgeiziges Projekt, dass explizit zwei Manager gesucht wurden, was ja eher selten vorkommt. Aufgrund unserer Erfahrung als Team waren Stella und ich die erste Wahl«, berichtete Moritz voller Stolz. Er nippte an seinem weißen Shake und verzog das Gesicht.

Tatjana bemerkte es nicht. Ihre Gedanken waren davongeflogen. In eine andere Zeit, zu einem anderen Ort.

»Dubai.« Dieser Name war Musik in ihren Ohren. »Ich habe mit meinem Vater viel Zeit im Orient verbracht. Am liebsten denke ich an die Souks zurück, die Märkte, auf denen man alles kaufen kann, was das Herz begehrt. Und noch viel mehr.« In schillernden Farben erzählte sie von den Gewürzfrauen, die ihre aromatische Ware in großen Säcken feilboten. Sie beschrieb die Teppichhändler, die bei einem Glas Chai – heißem, schwarzem, stark gesüßtem Tee – Geschäfte machten. Sie berichtete von Gauklern und Marktschreiern, von Bettelkindern und Geschäften voller Gold- und Silberschmuck.

Moritz lauschte fasziniert. Auch er hatte viel von Afrika gesehen und in Marokko einen Eindruck der bunten Vielfalt bekommen. Doch keinesfalls hätte er solche Bilder erfinden können, wie Tatjana sie vor seinem geistigen Auge malte. »Niemals werde ich diese warmen, arabischen Nächte vergessen, voller Duft und Musik und Stimmen. Diese einzigartige Atmosphäre muss man selbst erlebt haben.« Langsam tauchte sie aus ihren Erinnerungen auf und sah Moritz aus verträumten Augen an. »Jetzt, da ich versuche, Ihnen die Stimmung zu beschreiben, kommt mir jedes Wort unzureichend vor.«

Fasziniert von ihrer Ausstrahlung und der Intensität ihres Berichts hatte Moritz schweigend zugehört.

»Das sehen Sie falsch. Sie haben das Zeug zur Erzählerin. Ich habe das Gefühl, als wäre ich schon selbst dort gewesen.« Seine Bewunderung war echt.

In ihrer Verwirrung sah Tatjana so verführerisch aus, dass er sie am liebsten geküsst hätte. Natürlich tat er es nicht. Er wusste, was sich gehörte. Endlich bemerkte sie das Verlangen in seinen Augen und lachte verlegen.

»Jetzt hab ich die ganze Zeit nur von mir gesprochen.« Bevor er protestieren konnte, fuhr sie fort. »Bitte erzählen Sie mir was von sich. Wie sind Sie überhaupt auf Tourismusmanagement gekommen?« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, sog sie an ihrem Strohhalm.

Moritz lehnte sich zurück und dachte nach.

»Ich war schon immer gern unterwegs. Mein Rucksack war mein Zuhause. Heute hier, morgen dort … wie Hannes Wader damals gesungen hat. Deshalb ist mir ein normaler Bürojob gar nicht in den Sinn gekommen.« Wenn er daran zurückdachte, musste er lachen. »Ich habe mir meinen Traum verwirklicht. Wenn es uns an einem Ort zu langweilig wird, ziehen Stella und ich einfach weiter ins nächste Hotel, in ein anderes Land.« Versonnen nippte er an seinem Shake.

»Klingt, als wären Sie eine Art moderner Nomade.«

Dieser Begriff gefiel Moritz.

»Stimmt. Und wenn ich mir meine Freunde ansehe, die allesamt seßhaft geworden sind, mit Kind und Kegel deprimiert in einem Reihenhaus am Stadtrand … das einzige Abenteuer die jährliche Pauschalreise nach Italien oder Spanien … nein, danke. Ich würde niemals tauschen.«

Diese harmlose Bemerkung erschreckte Tatjana. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie auf dem besten Weg war, genau dort zu enden. Das war der Grund, warum ihr Dannys Wunsch nach einer eigenen Familie so viel Angst machte.

»Mir ist es auch geglückt, mein Hobby zum Beruf zu machen.« Nach seinem Bericht empfand sie ihr geordnetes Leben als richtiggehend langweilig und musste sich selbst Mut zusprechen. »Ich esse leidenschaftlich gern Süßes. Deshalb bin ich Bäckerin geworden.«

Sofort war Moritz‘ Interesse geweckt.

»Sie haben eine eigene Bäckerei?«

»Und ein kleines Café«, ergänzte Tatjana nicht ohne Stolz. »Auch das Backen ist jeden Tag wieder ein Abenteuer. Man weiß nie, was dabei herauskommt. Und mit der Einrichtung meines Cafés ist es mir gelungen, ein bisschen verzauberten Orient ins nüchterne München zu holen.«

Moritz lachte.

»Dann weiß ich ja, wo ich mir das Fernweh vertreiben kann, falls das mit dem Hotel nicht klappt.« Er schickte ihr einen tiefen Blick, der sie in Verlegenheit brachte. »Ich kann es kaum erwarten, dein Café kennenzulernen.«

Tatjana erschrak. Moritz war ein interessanter Mann und ein noch spannenderer Gesprächspartner. Der kleine Flirt, das anregende Gespräch hatten ihr gut getan und die Wut auf Danny gedämpft. Mehr wollte sie nicht.

»Du?«

»Oh, habe ich Sie geduzt? Das ist so eine Marotte von mir«, entschuldigte er sich schnell. »Es fällt mir schwer, Menschen zu siezen, die mir sympathisch sind.« Sein Lächeln war entwaffnend.

»Meinetwegen können wir dabei bleiben.« Tatjana brachte es nicht übers Herz, ihm einen Korb zu geben. »Im Übrigen sollten wir in Ruhe abwarten, was Dr. Norden herausfindet«, griff sie seine Bemerkung auf. »Bestimmt ist alles halb so wild, und du kannst wie geplant mit deiner Schwester nach Dubai gehen.«

Moritz bedankte sich lächelnd für den Trost.

»Auf der anderen Seite hätte ich gar kein Problem, noch ein bisschen länger in München zu bleiben«, erklärte er und legte wie zufällig seine Hand auf die ihre.

»Störe ich?« Eine erboste Stimme ließ die beiden herumfahren.

Bebend vor Eifersucht stand Danny Norden in der Bar des Fitness-Studios. Schnell zog Tatjana ihre Hand weg.

»Ich habe versucht, dich anzurufen.«

»Mein Handy ist in der Umkleide«, rechtfertigte sie sich.

»Das habe ich gemerkt. Nachdem du zu Hause auch nicht dran gegangen bist, dachte ich mir, dass du noch hier bist.« Sein Ton war scharf, und sofort flammte der Zorn wieder in Tatjana auf. Immerhin hatte er zuerst mit seiner Patientin geshakert.

»Das hab ich doch gesagt.« Sie sah ihn aufreizend an. »Was kann ich für dich tun? Willst du doch noch trainieren?«

Um die Beherrschung nicht zu verlieren, ballte Danny die Hände zu Fäusten. Das war definitiv die falsche Zeit und der falsche Ort für einen Streit. Er wandte sich an Moritz Baumann.

»Stella muss in die Klinik«, teilte er ihm mit. »Im Ultraschall sind unspezifische Veränderungen des Lebergewebes sichtbar. Für eine genauere Diagnose brauchen wir aber ein CT. Ihre Schwester sitzt im Wagen. Ich bringe sie jetzt in die Klinik. Wollen Sie mitkommen?«

Sofort rutschte Moritz vom Barhocker.

»Natürlich.« Er wollte an Danny vorbei Richtung Ausgang gehen, als er noch einmal stehenblieb. »Was ist mit dir? Begleitest du uns?«, wandte er sich an Tatjana, nicht ahnend, welcher Art ihre Beziehung zu dem Arzt war.

Tatjana dachte einen Moment nach. Im Grunde genommen wollte sie keinen Streit mit Danny. In der Hoffnung, ihn damit versöhnlich zu stimmen, lehnte sie ab.

»Nein, danke. Ich muss morgen früh raus. Höchste Zeit für mich, ins Bett zu gehen.«

*

Ernüchtert blickte Nicole Rosenholz auf das Mobiltelefon in ihrer Hand. Sie versuchte noch zu verstehen, ob das nun das Ende ihrer Romanze war, die so vielversprechend begonnen hatte, als ein Arzt zu ihr trat.

»Frau Rosenholz?«

Aus ihren Gedanken gerissen, zuckte sie zusammen.

»Das bin ich.«

»Eigentlich eine blöde Frage. Ist ja niemand mehr hier um diese Uhrzeit.« Dr. Matthias Weigand lächelte. »Es tut mir wahnsinnig leid, dass wir die Bitte des Kollegen Norden nicht erfüllen und die Aufnahmen schon am Nachmittag machen konnten. Aber wie Sie bestimmt mitbekommen haben, gab es kurz vor ihrem Eintreffen eine Massenkarambolage mit vielen Verletzten.«

»Und die brauchten das CT natürlich dringender als ich. Das verstehe ich schon«, versicherte Nicole.

Sie versuchte ein Lächeln, das gründlich misslang.

Matthias bemerkte es.

»Sie müssen nicht traurig sein. Jetzt habe ich alle Zeit der Welt für Sie. In diesen Genuss kommt beileibe nicht jeder Patient«, versuchte er, sie aufzumuntern.

»Und ich habe jetzt alle Zeit der Welt, noch länger zu warten.« Wie immer trug sie ihr Herz auf der Zunge. Sie hob das Handy hoch und zeigte es dem Arzt. »Meine Verabredung ist gerade geplatzt. Und wenn ich den Herrn richtig verstanden habe, will er mich nicht wiedersehen.«

»Wie bitte? Sie sitzen in der Klinik, und er sägt Sie einfach so ab?« Matthias Weigand konnte es nicht fassen.

Nicole schnitt eine Grimasse.

»Na ja, ich habe erzählt, dass mich meine Mutter überraschend braucht. Dabei hab ich vergessen, dass ich ihm beim ersten Treffen schon gesagt hab, dass meine Eltern in Australien leben.«

Matthias lachte.

»Bitte seien Sie mir nicht böse, aber diese Geschichte ist schon lustig«, entschuldigte er sich, als er ihre betroffene Miene bemerkte. »Warum haben Sie nicht einfach die Wahrheit gesagt?«

Nervös betastete Nicole die Wunde an ihrer Lippe.

»Dann wäre es zu Ende gewesen, bevor es überhaupt angefangen hat«, entfuhr es ihr. »Oder wollen Sie ein Mädchen kennenlernen, das sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden windet?«

»Ich bin gerade dabei und finde es ganz spannend«, gestand Matthias Weigand ohne Zögern.

Seine Offenheit trieb Nicole die Röte auf die Wangen. Schüchtern blickte sie zu ihm auf.

»Sie meinen, ich hätte ihm eine Chance geben sollen, statt ihn zu belügen?«

»Richtig. Aber wenn ihm wirklich etwas an Ihnen liegt, wird er Ihnen verzeihen«,versprach er und winkte sie mit sich.

Es wurde Zeit, sich auf den Weg in die Radiologie zu machen.

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Wenn ich weiß, was mir fehlt, werde ich noch einmal mit ihm reden.«

»Tun Sie das!« Dr. Weigand hielt ihr die Tür auf. »Nach Ihnen, schöne Frau.«

Nicole lachte geschmeichelt und betrat den Raum, in dem die furchteinflößende Röhre stand. Matthias postierte sich vor dem Gerät.

»Das ist also einer unserer wunderbaren, heiß begehrten Computertomographen. Sie müssen nichts weiter tun, als sich auf die Liege hier zu legen. Bevor es losgeht, spritzt Schwester Annabel Ihnen ein Kontrastmittel.« Er trat zur Seite und machte eine einladende Geste. Folgsam legte sich Nicole auf die Liege. »Das, was Sie in Ihrem Kopf haben, leuchtet dann wie ein Weihnachtsbaum und erleichtert uns die Diagnose.« Er blickte freundlich auf sie hinab. »Noch Fragen?«

Nicole zögerte.

»Dummerweise leide ich unter Platzangst«, gestand sie leise und wich seinem Blick aus.

»Ich habe es also mit einer klaustrophobischen Lügnerin zu tun, die obendrein auch noch bildhübsch ist«, fasste Matthias seine Erkenntnisse in einem Satz zusammen. Er spürte, dass sie Angst hatte, und wollte alles dafür tun, um sie abzulenken. »In diesem Fall kann ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben. Oder aber Sie legen Ihr Schicksal vertrauensvoll in meine Hand. Ich überwache die Aufnahmen im Nebenraum und werde die ganze Zeit nicht von Ihrer Seite weichen. Wir sind über ein Mikrofon miteinander verbunden. Außerdem gibt es einen Notfallknopf, den Sie drücken können. Na, was sagen Sie jetzt?«

Diesen Vorschlag ließ sich Nicole durch den Kopf gehen. Dann nickte sie.

»Also gut. Ich bin einverstanden.«

»Sehr schön.« Dr. Weigand freute sich sichtlich darüber, ihr Vertrauen gewonnen zu haben. »Dann legen wir mal los.« Er machte für Schwester Annabel Platz, die schon in den Startlöchern stand.

Ohne dass Nicole etwas davon spürte, spritzte sie das Kontrastmittel. Nur ein paar Minuten später war es so weit. Ein Gestell wurde über ihren Kopf geschoben.

»Wenn Sie einverstanden sind, schicken wir Sie jetzt in die Höhle des Löwen«, kündigte Dr. Weigand an.

Als sich die Liege in Bewegung setzte, schluckte Nicole Rosenholz. Ihr war ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut. Der von dem Internisten angekündigte Lärm setzte ein. Ihre Schläfen dröhnten von dem Geräusch, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie starrte auf das weiße Plastik, das sie wie ein Sarg umgab.

»Mir … mir ist nicht gut«, stammelte sie.

Wie versprochen saß Matthias Weigand im Nebenzimmer. Schwester Annabel war bei ihm.

»Schon gut. Das kommt wahrscheinlich von dem Kontrastmittel. Atmen Sie ganz ruhig. Tief ein und aus, ein und aus«, gab er ihr den Takt vor.

»Und? Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte er sich.

Dr. Weigand setzte sich kerzengerade auf, den Blick starr auf den Monitor gerichtet, der die Bilder übertragen sollte.

»Nicole?«

»Vielleicht ist sie eingeschlafen«, vermutete die Schwester.

Doch Matthias war anderer Meinung.

»Ausgeschlossen. Wir haben vor dreißig Sekunden noch miteinander gesprochen. Wir brechen die Untersuchung ab. Holen Sie sie da raus! Und informieren Sie einen Kollegen. Ich brauche Unterstützung«, wies er Annabel an und sprang vom Stuhl auf. Mit fliegenden Schritten eilte er hinüber ins CT-Zimmer.

Ungeduldig wartete er darauf, dass die Liege aus dem Inneren der Röhre zurückkehrte.

»Ach, du liebe Zeit!«, entfuhr es ihm, als er Nicole zu Gesicht bekam. Ihr Gesicht war grau.

Im selben Moment spürte er, dass jemand den Raum betreten hatte.

»Was ist mit ihr?«

Matthias erkannte die Stimme sofort. Niemand anderer als sein Freund und Kollege Dr. Danny Norden war hinter ihm aufgetaucht. In diesem Augenblick spielte es keine Rolle, was er um diese Uhrzeit hier zu suchen hatte. Darüber konnten sie später sprechen. Im Moment zählte nur Nicole Rosenholz.

»Möglicherweise ein allergischer Schock wegen des Kontrastmittels.«

Danny beugte sich über Nicole, nichtahnend, dass es sich um eine Patientin seines Vaters handelte.

»Atmung negativ.«

»Die Luftröhre hat dicht gemacht. Wir machen eine Tracheotomie. Aber schnell.«

Mit sicheren Handgriffen arbeiteten die beiden Ärzte an der Rettung der Patientin. Ein Beatmungsgerät wurde gebracht.

Endlich konnte Matthias Entwarnung geben.

»Wir haben sie wieder!« Keuchend richtete er sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Gute Arbeit, mein Freund.« Auch Danny war erschöpft. Trotzdem klopfte er Matthias auf die Schulter. Einen Moment standen sie neben der Liege und beobachteten, wie das Beatmungsgerät schnaufend seine Arbeit tat. Nicoles Brust hob und senkte sich. Das Herz im Brustkorb schlug wieder. Ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich. »Wer ist sie? Und was fehlt ihr?«, erkundigte sich Danny schließlich.

Für ihn war ein Patient immer in erster Linie ein Mensch mit einem Schicksal.

»Dein Vater hat sie hergeschickt. Offenbar hat sie heute einen epileptischen Anfall erlitten. Ich sollte herausfinden, was dafür verantwortlich ist.«

Danny grinste.

»Komische Methoden hast du, das muss ich schon sagen.«

»Einen Versuch war es wert«, gab Matthias belustigt zurück und boxte seinen Freund in die Seite, ehe es Zeit wurde, Nicole Rosenholz zur Beobachtung auf die Intensivstation zu verlegen.

*

Nach Nicole Rosenholz war Danny Nordens Patientin an der Reihe. Diesmal verlief alles ohne Zwischenfall. Bis die Bilder entwickelt waren, wartete Stella mit ihrem Bruder in einem der gemütlichen Aufenthaltsräume, die für die Angehörigen der Patienten bereitstanden. Es gab Heißgetränke und frisches Gebäck aus der Klinikbäckerei. Doch Stella hatte weder Durst noch Hunger. Wie eine Löwin im Käfig lief sie im Zimmer auf und ab. Moritz dagegen hatte sich Kaffee eingeschenkt und auf einem der Stühle Platz genommen. Keiner der beiden sprach ein Wort.

Jedes Mal, wenn sich draußen Schritte näherten, hielt Stella in ihrer rastlosen Wanderung inne und starrte angespannt zur Tür. Einige Male wurde sie enttäuscht und dachte schon, dass Dr. Norden junior sie vergessen hatte, als er endlich mit den ersehnten Neuigkeiten zurückkehrte.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Um nicht gestört zu werden, schloss er die Tür hinter sich.

Unwillig kam Stella seiner Einladung, Platz zu nehmen, nach. Erst dann setzte er sich selbst und sah seine Patientin an.

»Wie geht es Ihnen jetzt?«, erkundigte er sich zunächst.

»Ging schon mal besser. Aber zumindest haben die Schmerzen ein bisschen nachgelassen.«

»Gut.« Danny nickte, auch wenn er nicht sonderlich beruhigt war. »Was weniger gut ist, ist der Befund. Sowohl Ultraschall als auch CT zeigen mehrere Bereiche in der Leber, die auf große Mengen freier Flüssigkeit hindeuten. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das eine Folge des Unfalls.«

Vor Schreck riss Stella die Augen auf.

»Und was bedeutet das genau?«, fragte sie, obwohl sie die Wahrheit bereits ahnte.

»Dass Sie sofort operiert werden müssen. Es tut mir leid.«

Diese Botschaft musste das Geschwisterpaar erst einmal verdauen.

»Dann können wir das Palasthotel in Dubai also abhaken«, seufzte Moritz und leerte seine Tasse.

Doch davon wollte Stella nichts wissen.

»Gibt es keine andere Möglichkeit?« Ihre Stimme war schrill. »Pillen? Tropfen? Irgendwelche Medikamente?« Sie wollte vom Stuhl aufspringen, doch Moritz hielt sie am Handgelenk fest.

»Stella, bitte!« Er versuchte, sie zu beruhigen. »Dr. Norden sagt das nicht zum Spaß. Wenn es eine andere Lösung gäbe, hätte er es dir gesagt.«

Ärgerlich riss sie ihre Hand weg und sprang nun doch auf. Sie fuhr zu ihrem Bruder herum und funkelte ihn an.

»Warum bist du so ruhig? Du weißt doch ganz genau, was auf dem Spiel steht.«

»Nichts ist wichtiger als deine Gesundheit«, versicherte er mit Nachdruck und versuchte, sie zurück auf den Stuhl zu ziehen.

Vergeblich. Stella wollte nicht.

»Wenn alles gut geht, sind Sie in ein paar Tagen wieder auf den Beinen.« Danny Norden wollte seinen Teil dazu beitragen, damit seine Patientin die richtige Entscheidung treffen konnte.

Sie musterte ihn aus schmalen Augen.

»Wie lange dauern bei Ihnen ein paar Tage?«

Mit dieser Frage erwischte sie ihn eiskalt. Er wusste, dass er keine leichtfertigen Auskünfte geben durfte.

»So, wie sich die Situation jetzt darstellt, tippe ich auf höchstens zwei Wochen.« Dieses Zeitmaß hielt er für durchaus vertretbar.

Stella schien seine Ansicht zu teilen. Nachdenklich wiegte sie den Kopf, ehe sie zu ihrem Bruder hinüber sah.

»Zwei Wochen?«

»Das würde haargenau passen.«

Sie nickte.

»Also gut!«

Vor Erleichterung hätte Danny Norden am liebsten die Faust in die Luft gereckt. Doch er wusste, was sich gehörte, und begnügte sich mit einem zufriedenen Lächeln.

»Heißt das, Sie stimmen einem Eingriff zu?«, fragte er vorsichtshalber nach.

»Vierzehn Tage ist genau die Zeit, die uns bis zur Abreise noch bleibt. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht, wenn ich mich in dieser Zeit in der Klinik ausruhe. Dann ist Moritz wenigstens beschäftigt genug, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen«, erklärte Stella vielsagend in die Richtung ihres Bruders.

Sie wusste nichts von der Unterhaltung, die Moritz und Tatjana in der Bar des Fitness-Studios geführt hatten. Doch die Blicke, die er der schönen Sportlerin im Studio zugeworfen hatte, waren ihr nicht entgangen. Sie lächelte süffisant.

»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, wehrte sich Moritz. Um die leidige Diskussion gar nicht erst in Gang kommen zu lassen, wandte er sich an Dr. Norden junior. »Wann können Sie operieren?«

»Gleich morgen früh«, entschied Danny und erhob sich. »Ich habe schon ein Zimmer für Sie vorbereiten lassen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Um der Situation wenigstens ein bisschen Leichtigkeit zu geben, deutete er eine Verbeugung an und machte eine entsprechende Geste.

Seine Bemühungen wurden honoriert.

»Der junge Mann hat Potenzial, findest du nicht?«, fragte Stella ihren Bruder laut und deutlich, als sie an Danny vorbeiging. Dabei zwinkerte sie dem Arzt zu, der lachte und ihr kopfschüttelnd folgte.

*

Die Nacht war noch tiefschwarz, als der Wecker klingelte und Tatjana aus dem Schlaf riss. Als Danny am Abend zuvor nach Hause gekommen war, hatte sie schon geschlafen. Trotzdem brauchte sie sich nicht zu ihm umzudrehen, um zu wissen, dass er neben ihr lag. Obwohl er kaum wahrnehmbar atmete, sagten ihr ihre Instinkte, dass er da war.

Wie jeden Morgen gönnte sie sich noch ein paar Minuten, ehe sie die Beine aus dem Bett schwang. Sie tappte hinüber ins Bad und genehmigte sich eine ausgiebige Dusche. Erst danach nahm sie den Tag in Angriff. Ohne Frühstück verließ sie die Wohnung, stieg die knarrenden Treppen hinab und trat hinaus in den kalten Morgen, der ihr den Atem rauben wollte. Sie zog den Schal vor den Mund und machte sich auf den Weg. Ein paar Meter weiter hörte sie das leise Quietschen eines Fahrrads.

»Hallo, Frau Brunner. Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie die Zeitungsfrau, der sie fast täglich begegnete.

»Oh, ich stelle gerade mal wieder fest, dass ich nicht hierher gehöre«, erwiderte die Austrägerin schlagfertig. »Ich gehöre an einen Strand, in einem Bikini, und mit einer Kokosnuss in der Hand. Das ist mir heute früh klar geworden.«

Tatjanas Lachen hallte von den Häuserwänden wider. Ihr Atem stand in einer Wolke vor ihrem Mund.

»Dann sind wir schon zu zweit. Kommen Sie doch in ein, zwei Stunden in der Bäckerei vorbei. Dann schmieden wir Fluchtpläne.«

»Aber nur, wenn Sie diese sündigen Zimtschnecken haben. Bei diesen Temperaturen braucht man ordentlich Kalorien, damit man nicht erfriert.«

»Ich mach mich sofort an die Arbeit!«, versprach Tatjana, winkte und eilte weiter, um nicht vollkommen auszukühlen. Nur eine halbe Stunde später schob sie das zweite Backbleche in den Ofen und ging hinüber ins Café, um sich eine erste Tasse Kaffee zu kochen.

Sie liebte diese stillen Stunden, bevor das Geschäft wie jeden Morgen zu neuem Leben erwachte. Mit der Tasse in den Händen lehnte sie am Tresen und beobachtete die Sonne, die über den Häuserdächern aufging. Es versprach, ein kalter, aber schöner Tag zu werden, und sie schickte einen versöhnlichen Gedanken zu ihrem Freund, der noch immer selig schlief. Nach zwei weiteren Stunden Arbeit und einem Plausch mit Frau Brunner, die sich ihre Zimtschnecke abgeholt hatte, hielt ein Taxi vor der Tür. Tatjana hatte es bereits erwartet.

»Hallo, Thomas!«, begrüßte sie den Fahrer. Sie reichte ihm zwei Tüten mit ofenfrischen Brötchen und süßen Teilchen, wie man sie nur in den ›Schönen Aussichten‹ bekam. »Mit den besten Grüßen an die Frau Gemahlin.«

»Danke. Zur Klinik wie immer?«, fragte er und stieg aus, um Tatjanas kostbare Ware in den Kofferraum zu laden. »Was bekommt die Chefin denn diesmal?«

»Mini-Zimtschnecken, Heidelbeer-Käsehappen, Apfeltäschchen, Trüffel-Muffins … Ich glaube, das war’s.«

»Und ich glaube, dass ich doch eines Tages mit Ihren Leckereien durchbrennen werde.«

»Das würde ich mir gut überlegen. In diesem Falls müssten Sie mich nämlich mitnehmen«, drohte Tatjana und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

»Da gibt’s nichts zu überlegen«, scherzte Thomas. Er legte den ersten Gang ein und setzte den Blinker. »Mal abgesehen davon, dass Sie eine Augenweide sind, sind Sie der Garant für den Nachschub an den besten Backwaren, die ich je gegessen hab.«

»Wenn das so ist …« Unter munterem Geplauder setzten die beiden das Gespräch fort, bis sie ihr Ziel wenige Minuten später erreicht hatten. »Vielen Dank. Den Rückweg mache ich zu Fuß. Die Platten kann Danny heute mitnehmen. Er ist bestimmt in der Klinik.« Tatjana verabschiedete sich von ihrem Fahrer und machte sich mit ihrer süßen Last auf den Weg.

Wie immer freute sich Jenny Behnisch über die Leckereien, die ihr und ihren Gästen jeden Tag aufs Neue versüßten.

»Zu schade, dass du das Café nicht hier in der Klinik eröffnet hast. Meine Bäcker und Konditoren sind nicht schlecht. Aber du toppst einfach alles Dagewesene«, lobte sie die Bäckerin überschwänglich.

»Danke für die Blumen.« Tatjana lächelte geschmeichelt. »Aber im Augenblick ist da leider nichts zu machen.«

Die beiden Frauen unterhielten sich noch kurz, ehe ein eingehendes Telefonat dem Gespräch ein Ende bereitete. Tatjana winkte zum Abschied. Höchste Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. In Gedanken versunken wanderte sie den Gang hinunter, als sie bemerkte, dass sich ein Mann zu ihr gesellte.

»Guten Morgen, junge Frau. So früh schon auf den Beinen?«

»Ach, Herr Baumann … Ich meine, Moritz«, korrigierte sie sich. »Das ist das Schicksal eines jeden Bäckers. Aber bei den Hoteliers ist es offenbar nicht anders.«

»Im Normalfall muss ich nicht zu nachtschlafender Zeit aufstehen. Aber meine Schwester wird gleich heute früh operiert.«

Diese Nachricht bedauerte Tatjana sehr.

»Oh, tut mir leid. Gibt es schon einen Befund?«

»Eine Flüssigkeitsansammlung in der Leber, wahrscheinlich wegen des Sturzes gestern«, erwiderte Moritz und machte vor einer Tür Halt.

Auch Tatjana blieb stehen.

»Dann wünsch deiner Schwester bitte viel Glück von mir«, bat sie und wollte sich verabschieden, als Moritz sie zurückhielt.

»Stella freut sich bestimmt, wenn du ihr das persönlich sagst.« Als er Tatjanas Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Es dauert auch nicht lange.«

Sein Blick war so bittend, dass sie es nicht übers Herz brachte abzulehnen.

»Also gut. Aber viel Zeit habe ich wirklich nicht. Meine Mitarbeiterin wird sich fragen, wo ich bleibe.«

Da hatte Moritz schon die Tür geöffnet und trat ein.

»Guten Morgen, Schwesterherz.« Er beugte sich über Stella, die hellwach im Bett lag. »Wie geht es dir?«

»In zwei Stunden bestimmt besser als jetzt.« Ihre Blicke flogen hinüber zu Tatjana, die am Fußende des Bettes stehen geblieben war.

Moritz bemerkte die Blicke.

»Ich habe Tatjana auf dem Flur getroffen. Sie wollte dir Glück wünschen.«

»Tatsächlich?« Stella wunderte sich zu Recht und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich hoffe nur, dass Ihr Trainingspartner das mit den zwei Wochen nicht nur gesagt hat, um mich zu beruhigen.«

Ehe Tatjana Gelegenheit hatte, das Missverständnis aufzuklären, ergriff Moritz das Wort.

»Dr. Norden ist mit Sicherheit niemand, der falsche Hoffnungen weckt. Ich habe Tatjana von dem Hotel erzählt und wie wichtig unsere Pläne für uns sind. Sie war selbst viele Jahre im Ausland und kann das gut verstehen. Deshalb wird Dr. Norden alles tun, was er kann, damit du so schnell wie möglich gesund wirst.«

Über seinen Worten war Stellas Lächeln erloschen.

»Ach ja? Du meinst also, wenn du seiner Trainingspartnerin schöne Augen machst und ihr deine Lebensgeschichte erzählst, gibt er sich mehr Mühe?«, fragte sie spitz.

Moritz war sichtlich konsterniert.

»Ich muss doch sehr bitten. Was soll das denn?« Er machte keinen Hehl aus seinem Unmut, doch Stella schien sich nicht dafür zu interessieren.

»Denkst du etwa, ich wüsste nicht, dass sie dir gefällt?« Tatjana war Luft für sie. »Ich finde es einfach geschmacklos, dass du in dieser schwierigen Situation nichts Dümmeres zu tun hast, als dich Hals über Kopf in einen Flirt zu stürzen.«

Moritz suchte noch nach einer passenden Antwort, als Tatjana die günstige Gelegenheit nutzte.

»Tja, ich glaube, ich geh dann mal!« Sie nickte Stella zu und verließ ohne in weiteres Wort das Zimmer.

Die Tür war noch nicht hinter ihr ins Schloss gefallen, als Moritz aus seiner Erstarrung erwachte und ihr nachlief.

»Warte … Es tut mir wahnsinnig leid. Das habe ich nicht gewollt«, versicherte er ihr. »Normalerweise ist Stella nicht so. Ihre Stimmung ist sicher der Situation geschuldet.«

Tatjana lächelte unverbindlich.

»Schon gut, Moritz. Ich muss jetzt wirklich los.« Sie hob die Hand zum Gruß, ehe sie sich umdrehte und sich zielstrebig auf den Weg Richtung Ausgang machte.

*

Danny Norden war bei der zweiten Tasse Kaffee und dem dritten Brötchen angelangt, als seine Freundin endlich ins Café ›Schöne Aussichten‹ zurückkehrte.

»Guten Morgen, Prinzessin. Gut, dass du kommst, sonst hätte ich dir noch den ganzen Laden leer gegessen.«

»Ich bin nicht deine Prinzessin«, widersprach Tatjana und küsste ihm einen Klecks Marmelade aus dem Mundwinkel. »Wenn, dann will ich deine Königin sein.«

»Oh, Verzeihung, Teuerste.« Danny lachte und freute sich, dass sie den vertrauten, liebevoll-neckischen Ton wiedergefunden hatten.

Das machte ihm Mut, von seinem Gespräch mit Marla zu berichten, die kurz nach Tatjanas Aufbruch in die Bäckerei gekommen war und ihn eingelassen hatte.

»Jedenfalls ist Marla davon überzeugt, dass das bei dir nichts anderes als ganz normale Torschlusspanik ist«, teilte er seiner Freundin das Ergebnis der morgendlichen Unterhaltung mit. Er hatte gedacht, dass sie über diesen Scherz lachen würde.

Doch Tatjana dachte nicht daran. Ganz im Gegenteil schnappte sie nach Luft.

»Eigentlich habe ich sie angestellt, damit sie für mich arbeitet und nicht, um mit dir zu tratschen«, fauchte sie ärgerlich.

Beschwörend hob Danny die Hände.

»Huhu, es gab mal Zeiten, in denen du Humor hattest.«

»Entschuldige, dass ich es nicht lustig finde, wenn unser Privatleben ständig Gespräch in der Backstube ist.« Sie baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. »Ich renne doch auch nicht in die Praxis und diskutiere mit den Patienten über deine Hühneraugen.«

»Ich hab keine Hühneraugen!«, verteidigte sich Danny energisch.

Tatjana lächelte böse.

»Und ich keine Torschlusspanik«, konterte sie.

Als sie hinter den Tresen ging, um den Inhalt der großen Körbe zu kontrollieren, sah er ihr nachdenklich nach.

»Warum bist du in letzter Zeit eigentlich so gereizt?«, stellte er eine berechtigte Frage.

Tatjana dankte Marla, die ein Backblech mit frischen Roggenbrötchen brachte. Sie schüttete sie zu den anderen in den Korb und gab das Blech zurück.

»Ich bin nicht gereizt«, erwiderte sie, als Danny die Hoffnung auf eine Antwort schon aufgegeben hatte. Inzwischen hatte sie sich der Theke zugewandt und ordnete kunstvoll Mohnschnecken, Bienenstiche und Mandarinen-Rouladen in der Auslage an. »Ich bin im Augenblick mit meinem Kopf nur woanders.«

»Ach ja?«, hakte Danny verstimmt nach. »Darf ich fragen, wo? Vielleicht bei dem Bruder meiner Patientin?«, konnte er sich eine provokante Frage nicht verkneifen. »Mit ihm scheinst du dich ja ziemlich gut zu verstehen.«

Tatjana hatte gewusst, dass diese Bemerkung irgendwann kommen würde. Trotzdem verletzte sie das mangelnde Vertrauen ihres Freundes. Sie hob den Kopf und funkelten ihn an.

»Stimmt. Mit Moritz kann ich mich wenigstens über was anderes unterhalten als über die Einrichtung von Kinderzimmern und die neuesten Frühfördermaßnahmen«, ätzte sie, bevor sie sich umdrehte und durch den Vorhang in die Backstube verschwand.

Danny starrte ihr ungläubig nach. Doch er hatte keine Zeit mehr, darauf zu warten, dass sie das Gespräch fortsetzen konnten. Die Arbeit rief, und er musste sich auf den Weg in die Klinik machen.

»Was ist nur los, dass wir im Augenblick einfach nicht den richtigen Ton finden?«, fragte er seinen Freund und Kollegen Matthias Weigand, als er wenig später neben ihm im OP stand. »Ich hab das Gefühl, als ob wir ständig aneinander vorbei reden.«

»Woher soll ich das wissen?« Hinter seiner Maske zog Matthias eine Grimasse. »Ich kann zwar ziemlich gut operieren. Aber Hellsehen hab ich noch nicht gelernt.«

»Bescheidenheit scheint auch keine deiner Stärken zu sein.« Dannys Lächeln war nur an den Fältchen um seine Augen zu erkennen. Der Rest des Gesichts wurde von der Maske bedeckt.

»Na und? Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde dir auch ganz gut stehen«, schmunzelte Matthias, ehe er sich über die Patientin beugte, um mit dem wichtigen Eingriff zu beginnen.

*

»Na, mein Schatz, so früh schon auf den Beinen?«, frage Dr. Felicitas Norden frech, als sie sich von hinten über ihren Mann beugte und ihm einen Kuss auf den Mund gab. Gleichzeitig griff sie nach einer Scheibe Brot.

»Das klingt ja so, als würde ich jeden Tag bis mittags im Bett liegen«, beschwerte sich Daniel Norden und sah ihr dabei zu, wie sie das Brot mit Käse belegte und mit einer Tomatenscheibe garnierte.

»Statt mir beim Essen zuzusehen, könntest du mir Kaffee einschenken«, schlug sie vor.

»Oh, Verzeihung, Gnädigste.« Lächelnd erfüllte er ihren Wunsch. »Du siehst so zufrieden aus.«

»Das bin ich auch«, gestand Fee. »Dieses Weihnachtfest war wunderschön. Ich freue mich darüber, dass es Anne und Paps gut geht und sie noch ein Weilchen in Deutschland bleiben, bevor sie ihre Europareise mit dem Wohnmobil fortsetzen.«

»Ohne die Entwarnung vom Bauamt wäre das allerdings kein Grund zur Freude. Es hätte Mord und Totschlag gegeben.« Im Zuge von Umbaumaßnahmen war unter dem Haus seines Schwagers ein Loch entdeckt worden. Da nicht klar war, ob es einsturzgefährdet war, hatten Marianne und Mario vorübergehend in die Wohnung von Anne und Johannes Cornelius ziehen müssen. Mit Feuereifer hatte sich Anne auf die Versorgung ihrer Familie gestürzt und ihrer Schwiegertochter alles aus der Hand genommen. Ihre Einmischungen waren für Marianne nur schwer zu ertragen, und es hatte die eine oder andere Auseinandersetzung gegeben. »Ich wusste gar nicht, dass Marianne so eine Furie sein kann.« Daniel schickte seiner Frau einen eingehenden Blick.

»Was ist? Warum schaust du mich so an?«

»Ich frage mich gerade, welche verborgenen Eigenschaften in dir schlummern, die ich noch nicht kenne.«

»In jeder Frau schlummert ein Engel, eine Hexe, eine Prinzessin und ein Drache. Es liegt an dir, was du in ihr aufweckst.« Felicitas hatte ihr Frühstück beendet. Sie schickte ihrem Mann einen belustigten Blick und stand auf. »Leider müssen wir dieses überaus interessante Gespräch heute Abend fortsetzen. Ich muss in die Klinik. Lammers besteht darauf, dass ich ihm bei einer OP assistiere.«

»Ich weiß nicht, ob ich unbedingt den Drachen oder die Hexe in dir kennenlernen will«, schmunzelte Daniel. »Apropos Klinik.« Er sah auf die Uhr und stand ebenfalls auf, um seiner Frau in den Flur zu folgen. »Vor der Sprechstunde wollte ich Nicole Rosenholz noch einen Besuch abstatten.«

»Was ist mit Danny? Kann er nicht die Morgensprechstunde übernehmen?« Diese Frage war durchaus berechtigt. Seit der älteste Sohn der Familie Norden in die Praxis eingestiegen war, hatte sich die Situation deutlich entspannt. Trotz gestiegener Patientenzahlen konnte sich die Ärzte mehr Freiheiten gönnen und die Schauplätze je nach Bedarf wechseln. An diesem Vormittag hatte aber Dr. Norden junior Vorrang.

»Er kommt heute später. Ich schätze, dass er schon mitten in seinem Eingriff steckt«, erwiderte Daniel und half Fee in den Mantel.

Mit diesen kleinen Gesten zeigte er ihr auch nach all den gemeinsamen Jahren jeden Tag aufs Neue, wie sehr er sie liebte.

»Wenn ich nicht schon mit dir verheiratet wäre, würde ich dich spätestens jetzt fragen, ob du mein Mann werden willst.« Sie zwinkerte ihm zu, griff nach ihrer Handtasche und streckte die Hand nach dem Schlüssel am Schlüsselbrett aus.

»Während ich dir unauffällig folge, werde ich mir dieses Angebot durch den Kopf gehen lassen«, versprach Daniel und küsste sie, dass ihr die Luft wegblieb.

*

Nur zwanzig Minuten später küsste Dr. Norden seine Frau ein weiteres Mal. Diesmal, um sich auf dem Klinikflur von ihr zu verabschieden.

Ausgerechnet in diesem Augenblick kam Fees ungeliebter Stellvertreter Volker Lammers um die Ecke.

»Soll ich Ihnen meinen Wohnungsschlüssel geben, damit Sie sich mal ausgiebig vergnügen können?«, fragte er aufreizend.

Doch an diesem Morgen war Felicitas zu gut gelaunt, als dass er ihr etwas anhaben konnte.

»Ich fürchte, bis zu Ihrer Wohnung schaffen wir es nicht mehr. Aber wenn Sie uns den Schlüssel zu Ihrem Büro geben wollen …« Ihre Worte unterstrich sie mit einem elfenhaften Lächeln, dass Lammers nicht wusste, worüber er sich mehr ärgern sollte.

Schnaubend marschierte er an dem Ehepaar vorbei.

»Hoffentlich musst du diesen frechen Spruch nicht gleich wieder büßen.« Daniel strich seiner Frau eine hellblonde Strähne aus dem Gesicht.

»Und wenn schon!« Sie zuckte nur mit den Schultern. »Du und die wunderbare Familie, die du mir geschenkt hast, seid schuld daran, dass ich mich momentan unbesiegbar fühle.«

»Diese Schuld nehme ich gern auf mich.« Stunden hätte Dr. Norden dort stehen und mit seiner Frau plaudern können. Doch die Pflicht rief. Felicitas musste sich auf die Operation vorbereiten, und er machte sich endlich auf den Weg zu seiner Patientin Nicole Rosenholz. Am Abend zuvor hatte Danny ihm von dem Vorfall berichtet, und er machte sich auf das Schlimmste gefasst, als er die Tür zur Intensivstation aufdrückte. Sein erster Weg führte ihn zum diensthabenden Arzt, von dem er sich die Unterlagen besorgte. In der Akte blätternd betrat er Nicoles Krankenzimmer.

Bleich wie die Bettwäsche lag sie in den Kissen und versuchte ein Lächeln.

»Hallo, Doktor.« Inzwischen war der Beatmungsschlauch gezogen worden, die Kehle von dem Fremdkörper aber gereizt und ihre Stimme heiser.

Dr. Norden ließ die Akte sinken und trat an ihr Bett.

»Was machen Sie denn für Sachen, Frau Rosenholz?« Er setzte sich auf die Bettkante und sah sie an. »Mein Sohn Danny Norden war bei dem Vorfall gestern dabei. Er hat mir erzählt, was passiert ist.«

»Hat mein Einsatz wenigstens was gebracht?«

Lächelnd schlug Daniel die Akte wieder auf. Als er aber die Ausbeute sah, wurde er gleich wieder ernst.

»Die Untersuchung musste abgebrochen werden. Deshalb haben wir leider nicht viele Bilder«, musste er zugeben. »Zum Glück sind meine Kollegen begabte Puzzlespieler und haben die Diagnose aus den verschiedenen Resultaten zusammengesetzt. Zum Beispiel ist Ihre Blutsenkungsgeschwindigkeit erhöht, was auf eine Entzündung hinweist. Außerdem gibt es Probleme mit verschiedenen Blutwerten. Dazu die Bilder aus dem CT …«

»Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?« Nicoles Stimme war matt.

»Dass Sie mit ziemlicher Sicherheit an einer sogenannten Vaskulitis leiden, einer Entzündung der Blutgefäße im Gehirn.«

Tapfer kämpfte Nicole gegen ihre Erschöpfung an.

»Ist das eine gute oder schlechte Nachricht? Ist das heilbar?«

Zu gern hätte Dr. Norden eine hoffnungsvolle Antwort gegeben. Leider konnte er es nicht.

»Welche Therapie bei einer Vaskulitis zum Einsatz kommt, hängt unter anderem davon ab, um welchen Auslöser es sich handelt. Das wissen wir aber noch nicht.«

»Dann finden Sie es heraus.«

»Das ist leider nicht so einfach. Wir haben keinerlei Anhaltspunkt, wo wir mit unserer Suche beginnen sollen. Deshalb werden wir nach dem Ausschlussverfahren arbeiten müssen. Unter Umständen eine langwierige und anstrengende Prozedur. Die Nebenwirkungen der Medikamente können gravierend sein und nicht im Verhältnis zum Erfolg stehen.«

Nicole schloss die Augen. Eine Weile lag sie reglos im Bett, ihr Atem ging schwer. Dr. Norden brannte die Zeit unter den Nägeln. Es wurde allerhöchste Zeit, in die Praxis zu fahren. Doch drängen wollte er Nicole auf keinen Fall. Endlich richtete sie ihren blinzelnden Blick wieder auf ihn.

»Hab ich eine Wahl?«

Daniel räusperte sich.

»Nein, haben Sie nicht«, musste er sehr zu seinem Leidwesen gestehen.

Sie nickte matt.

»Gut. Dann tun Sie, was Sie tun müssen. Ich werde es aushalten.« Und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Hoffe ich.« Mehr gab es für den Moment nicht zu sagen.

Nach dem Abschied machte sich Dr. Norden auf den Weg in die Praxis. Die gute Laune vom Morgen war verflogen. Doch der Gedanke an seine Frau half ihm über diesen dunklen Moment hinweg, so dass er Wendy und Janine mit einem Lächeln begrüßen konnte.

*

Nachdem Stella Baumann in den Operationssaal gebracht worden war, zog sich ihr Bruder Moritz zunächst in den Aufenthaltsraum zurück, in dem er am Abend zuvor schon einige Stunden verbracht hatte.

Diesmal hielt er es aber trotz Kaffee und Gebäck nicht lange dort aus. Die Unruhe trieb ihn wieder hinaus und vor den Operationssaal, wo er nervös auf dem Gang auf und ab marschierte. Er wusste nicht, wie lange er gewartete hatte. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sich schließlich die Türen öffneten und Danny Norden in Begleitung von Dr. Weigand herauskam. Beide wirkten erschöpft.

»Endlich!« Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung eilte Moritz auf die beiden zu. »Wie geht es meiner Schwester?«

Danny nahm den Mundschutz ab, der noch an einem Ohr gebaumelt hatte. Unmöglich, in seiner Miene zu lesen.

»Wie sagt man so schön? Den Umständen entsprechend.« Es war Matthias Weigand, der die gewünschte Auskunft gab.

Fragend sah Moritz von einem zum anderen.

»Und was genau heißt das?«

»Ich denke, das sollten wir nicht hier auf dem Flur besprechen.« Danny Norden winkte ihn mit sich und führte ihn ein Büro, während sich Matthias verabschiedete. Der nächste Eingriff wartete schon auf ihn.

Danny schloss die Tür hinter Moritz.

»Unsere Diagnose war nicht ganz richtig.« Er bot ihm einen Platz auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch an. Er selbst setzte sich auf die Tischkante. »Stellas Leber hat eine merkwürdige Oberflächenstruktur mit zystischen Veränderungen. Eine davon ist bei dem Unfall geplatzt. Daher rührten auch die Schmerzen.«

Moritz starrte den jungen Arzt an und versuchte herauszufinden, was diese Worte bedeuteten. Es gelang ihm nicht.

»Und was heißt das jetzt?«

»Wir mussten eine Zyste und einen Teil der Leber entfernen«, fuhr Danny fort. »Im Augenblick werden die Gewebeproben im Labor untersucht. Der Befund wird morgen früh da sein. Dann kann ich Ihnen mehr zu den Ursachen sagen.« Es tat ihm leid, dass er keine besseren Neuigkeiten hatte.«

Moritz sprang vom Stuhl auf. Mit gesenktem Kopf begann er, im Zimmer auf und ab zu laufen. Nach ein paar Runden blieb er vor Danny stehen.

»Und bis dahin verbringe ich vor Sorge wahrscheinlich eine schlaflose Nacht.«

»Zumindest besteht keine Lebensgefahr.« In dieser vertrackten Situation suchte der junge Arzt nach jedem Strohhalm.

»Ein Glück!« Moritz seufzte. »Glauben Sie, dass Stella rechtzeitig gesund wird, um mit mir nach Dubai zu gehen?«

Einen kurzen Moment lang war Danny versucht zu lügen. Aber es nützte nichts. Bedauernd schüttelte er den Kopf.

»Ich fürchte nicht.«

Moritz starrte ihn an. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Stella wird ausflippen, wenn sie das hört.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

Erschöpft sank Moritz auf den Stuhl und vergrub den Kopf in den Händen. Obwohl es noch früh am Morgen war, fühlte er sich ausgelaugt wie nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag. Endlich hob er den Blick und suchte Danny Nordens Blick.

»Können Sie bitte dabei sein, wenn ich es ihr sagen muss? Dann beherrscht sie sich vielleicht ein bisschen?«

Unmöglich, ihm diese Bitte abzuschlagen.

»In Ordnung« ,stimmte Danny schweren Herzens zu, wohl wissend, was ihn erwartete. »Im Augenblick liegt Stella noch im künstlichen Koma. Bis morgen früh soll ihr Körper Gelegenheit haben, sich von dem schweren Eingriff zu erholen. In meiner Mittagspause werde ich nach ihr sehen.«

»Gut. Ich bin da.« Mit Mühe stemmte sich Moritz vom Stuhl hoch. Er trat auf Danny zu und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für alles.« Nicht der Hauch eines Lächelns spielte um seine Lippen.

»Ich hätte gern bessere Nachrichten für Sie gehabt.« Diese Worte kamen aus dem Herzen von Dr. Danny Norden.

Trösten konnten sie trotzdem nicht, und so trennten sich die Wege der beiden Männer schließlich.

*

Hochkonzentriert stand Tatjana an der Arbeitsplatte und überzog eine Miniaturpraline mit Schokolade, als ein brenzliger Geruch durch die Backstube zog.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« In hohem Bogen flog der Spritzbeutel durch die Luft und landete auf einem Blech mit frischen Brezen. Dort zerplatzte er, und sein Inhalt verteilte sich auf das Gebäck. Unterdessen rettete Tatjana das verbrannte Brot aus dem Ofen.

»Sieht nicht so aus, als ob das dein Tag wäre!« Als Marla den Lärm gehört hatte, war sie sofort in die Backstube geeilt. Verhindern konnte sie das Malheur trotzdem nicht. So blieb ihr nichts zu tun, als wenigstens den Spritzbeutel vom Blech zu nehmen und im Abfall zu entsorgen. Das verbrannte Brot folgte auf dem Fuß.

»Die Brezen kannst du auch gleich wegwerfen.« Grimmig starrte Tatjana auf die Bescherung.

Doch Marla war anderer Meinung.

»Warum denn? Wir könnten das als unsere neueste Kreation verkaufen? Wenn es Leute gibt, die verrückt genug sind, Käse auf ein Marmeladenbrötchen zu legen, gibt es auch sicher welche, die Schokobrezen essen.«

»Meinst du?« Schon war Tatjanas Miene nicht mehr ganz so düster. »Einen Versuch ist es wert. Wegwerfen können wir sie später immer noch.«

Marla lachte zufrieden auf.

»So kenne und liebe ich dich.« Entschlossen griff sie nach dem Backblech, um den Worten Taten folgen zu lassen. »Übrigens wartet im Café ein Mann auf dich. Und es ist nicht Danny.«

»Oh!« Tatjana wusste gleich, um wen es sich handelte. Sie sah sich kurz in der Backstube um.

»Geh nur!«, ermunterte Marla ihre Chefin. »Für heute hast du schon genug Unheil angerichtet.«

»Vielen Dank.« Sie zwinkerte ihrer Mitarbeiterin zu und ging hinüber ins Café, wo Moritz auf sie wartete.

Als er sie sah, erhellte sich seine Miene.

»Endlich ein Lichtblick an diesem düsteren Tag.«

Mit einer Tasse heißer Schokolade setzte sie sich zu ihm an den Tisch.

»Vielen Dank für die Blumen. Ich fürchte nur, es braucht ein ganzes Blitzlichtgewitter, um dich aufzumuntern«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Ist die Operation schlecht gelaufen?«

»Das nicht. Aber im Augenblick weiß noch niemand, was Stella fehlt. Irgendwas stimmt nicht mit ihrer Leber.«

»Wirst du dann allein nach Dubai reisen?« Sie löffelte einen Klecks Sahne von der heißen Schokolade und schob ihn genüsslich in den Mund.

Lustlos stocherte Moritz in seinem Käsekuchen.

»Nein, auf keinen Fall«, erwiderte er. »Nach dem ersten Schock wird Stella in ein tiefes Loch fallen. Da kann ich nicht einfach abhauen. Ich muss wenigstens versuchen, sie irgendwie aufzufangen.« Nachdenklich hielt er inne, als ihm ein Gedanke durch den Kopf ging. Er blickte auf und lächelte Tatjana fast zärtlich an, dass ihr heiß und kalt wurde. »Ich für meinen Teil finde es ja gar nicht so schlimm, noch ein bisschen länger hierzubleiben. Dann können wir ja zusammen trainieren gehen.«

»Ja, mal sehen!« Tatjana trank einen Schluck. »Du und deine Schwester, ihr hängt sehr aneinander, oder?« Sie wechselte das Thema, um Moritz von seinen Absichten abzulenken.

Der Plan ging auf.

»Stimmt.« Er legte die Kuchengabel beiseite und schob den Teller weg. »Ich weiß, das wirkt auf Außenstehende manchmal ein bisschen komisch. Aber Stella war und ist für mich die Person, auf die ich mich immer verlassen konnte.«

»Und die deine Sehnsüchte und Träume teilt und dasselbe Leben haben kann wie du«, ergänzte Tatjana laut. »So ein Partner ist schwer zu finden.«

»Wem sagst du das?« Wieder wurden Moritz‘ Blicke tief.

Tatjana beschloss spontan, die Flucht zu ergreifen.

»Ich muss mich jetzt leider entschuldigen.« Sie stand auf und sah hinab auf seinen Teller. »Hat der Kuchen nicht geschmeckt?«

»Doch, doch, schon!«, versicherte er schnell. »Aber ehrlich gesagt kann ich im Augenblick nichts essen.«

»Wenn man so aufgewühlt ist, hilft meistens Sport«, empfahl sie.

»Wenn du mitkommst …« Moritz sah erwartungsvoll zu ihr hinauf.

Tatjana nahm seinen Teller in die eine und ihre Tasse in die andere Hand.

»Ich muss mich jetzt wieder an die Arbeit machen.«

»Und heute Abend?«

Seine Hartnäckigkeit schmeichelte ihr. Trotzdem blieb sie hart.

»Ich weiß noch nicht, wann ich hier rauskomme. Heute scheint irgendwie nicht mein Tag zu sein.«

»Bitte nimm mir nicht jede Hoffnung.« Moritz ließ seinen ganzen Charme spielen und zauberte ein verführerisches Lächeln hervor.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.« In diesem Moment hallte Marlas Stimme durch das Café. Tatjana atmete erleichtert auf. »Mein Typ scheint heute sehr begehrt zu sein.« Sie erwiderte sein Lächeln, bevor sie dem Ruf ihrer Mitarbeiterin folgte.

Moritz sah ihr nach. Ihre Standhaftigkeit machte sie nur noch interessanter, und er nahm sich vor, das Spiel weiterzuspielen, solange er noch in München war.

*

Es war später Vormittag, als Matthias Weigand die ersten freien Minuten dieses Tages nutzen konnte. Doch statt sich ein Mittagessen in der klinikeigenen Cafeteria zu gönnen, machte er sich auf den Weg zu Nicole Rosenholz. Aus irgendeinem Grund wollte ihm die elfenhafte Patientin mit dem kurzen Pony nicht aus dem Kopf gehen. Die Diagnose beschäftigte ihn. Er wusste, wie schwer es werden konnte, den Auslöser für ihre Krankheit herauszufinden, und welch harten Weg sie unter Umständen vor sich hatte.

Umso erstaunter war er, als er sie aufrecht im Bett sitzend vorfand, das Tablett mit dem Mittagsessen vor sich.

»Na, ihnen scheint’s ja zu schmecken!«

Nicole schob einen Löffel Gemüsereis in den Mund und nickte eifrig.

»Es ist köstlich! Kompliment an die Klinikküche.«

»Nicht so hastig. Nicht, dass Sie sich verschlucken«, mahnte Matthias lächelnd, als sie sofort ein Stück Fisch hinterher schob.

Nicole lachte. Grübchen erschienen auf ihren Wangen. Dr. Weigand betrachtete sie fasziniert. Um sie nicht fortwährend anzustarren, konzentrierte er sich auf die Aufzeichnungen in ihrer Akte. Bevor Dr. Norden an diesem Morgen gegangen war, hatte er sich gemeinsam mit seinen Kollegen für eine Behandlung entschieden. Es war erstaunlich, wie schnell sie anschlug.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie herrlich es ist, endlich wieder normal zu essen. In letzter Zeit war mir permanent schlecht. Das ist plötzlich vorbei.«

»Sie fühlen sich tatsächlich besser?« Matthias konnte es nicht glauben, dass das Heilmittel so schnell gefunden war.

Nicole legte den Kopf schief und sah ihn an.

»Ja«, bestätigte sie. »Viel besser. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich nun doch nicht so kompliziert bin, wie es ausgesehen hat«, fuhr sie scherzend fort.

»Nein, nein, natürlich nicht«, versicherte Matthias und klappte die Akte zu. »Wissen Sie, dass Sie großes Glück haben? Ehrlich gesagt dauert die Suche nach einem geeigneten Medikament manchmal Wochen und Monate.«

»Wirklich?« Sie schob den letzten Löffel Reis in den Mund und schob das Tablett von sich. Satt und zufrieden lehnte sie sich zurück. »Gott sei Dank hat mir das niemand vorher gesagt hat.«

»Das stimmt. Manchmal ist es besser für die Psyche, nicht allumfassend informiert zu sein.« Ein Gedanke schwirrte ihm im Kopf herum. »Und? Bekommen Sie heute Besuch?«

Nicole wusste sofort, worauf er anspielte.

»Drei Verabredungen konnten meinen Verehrer offenbar nicht genug überzeugen«, gab sie ihm die gewünschte Auskunft. »Kein Wunder. Sie hätten mich auch nicht gewollt, wenn mir beim Essen ständig schlecht geworden wäre.«

»Das würde ich so nicht unterschreiben«, schlug Matthias einen unbeschwerten Ton an. Gleichzeitig zog sich sein Herz zusammen vor Mitgefühl. Das Leben war manchmal ungerecht. »Was ist mit Freunden? Kollegen?«

»Ich bin noch nicht so lange in München. Die meisten Menschen, die ich hier kennengelernt hab und mag, sind zwischen sechs und sieben Jahren alt.« Nicole unterdrückte ein Gähnen.

Die Mahlzeit hatte sie müde gemacht.

»Na, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als öfter mal vorbeizukommen«, versprach Dr. Weigand. »Aber jetzt lasse ich Sie erst einmal schlafen.« Er verabschiedete sich und war schon an der Tür, als Nicole plötzlich aufschrie.

»Meine Augen! Ich … ich kann nichts mehr sehen.«

Ruckartig fuhr er zu ihr herum. Sie saß aufrecht im Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihm direkt ins Gesicht. Aber sehen konnte sie ihn nicht. »Was ist mit meinen Aug …« Als ihre Glieder anfingen zu krampfen, versagte ihr die Stimme.

Mit großen Schritten stürzte Dr. Weigand zurück ans Bett, in dem Nicole kämpfte und sich wie von Sinnen wand. Der Herzmonitor zeichnete ihre rasenden Herzschläge auf. Blitzschnell drückte er den Notknopf und wollte Unterstützung anfordern, als ein durchdringendes Pfeifen ertönte. Nicole Rosenholzs Herz hatte aufgehört zu schlagen.

*

»Herrgott noch einmal, Janine, das ist die falsche Akte! Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass ich die Unterlagen von Maria Schneyder mit y brauche und nicht mit i?«, schimpfte Danny Norden.

Das schlechte Verhältnis zu seiner Freundin wirkte sich auf seine Stimmung aus. Gegenüber den Patienten gelang es ihm, professionelle Freundlichkeit walten zu lassen. Doch bei den Mitarbeitern hörte die vornehme Zurückhaltung auf.

Die Patientenkarte klatschte so heftig auf den Tresen, dass die Assistentin zusammen zuckte.

»Tut mir leid«, stammelte sie erschrocken und schickte dem Seniorchef, der hinter seinem Sohn aufgetaucht war, einen hilfesuchenden Blick. »Machen Sie nie einen Fehler?«

»Doch, tut er.« Es war Daniel Norden senior, der an Dannys Stelle antwortete. »Zum Beispiel durch die Praxis schreien, dass die Wände wackeln.« Seine Stimme war voller Tadel. »Du hast nur Glück, dass keine Patienten mehr da sind. Sonst hättest du jetzt ein ernsthaftes Problem mit mir.«

Danny zögerte kurz, ehe er sich umdrehte.

»Schon gut. Entschuldige, Dad.«

»Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei Janine.«

Zerknirscht lächelnd folgte der Junior der Aufforderung und wandte sich an die Assistentin.

»Reicht ein Kniefall?«

Janine hatte die Zeit genutzt, um sich eine geeignete Strafe auszudenken.

»Davon hab ich ja nichts. Ich fordere die Zimtschnecke, die Sie sich aufgehoben haben.«

»Das ist nicht fair. Sie können alles haben. Mein neues Handy, meinen Wagen, die Wohnung … aber bitte nicht die Zimtschnecke«, flehte Danny um Gnade.

Mit verschränkten Armen und unbarmherziger Miene stand Janine hinterm Tresen.

»Zimtschnecke! Oder ich kündige.«

Danny seufzte theatralisch.

»Also schön. Bedienen Sie sich«, gab er sich schließlich mit einem Augenzwinkern geschlagen.

»Das ist unfair! Ich möchte auch eine Zimtschnecke haben«, mischte sich Wendy an dieser Stelle in die Diskussion ein.

»Dazu musst du dich schon von Danny anschnauzen lassen«, kicherte Janine und biss herzhaft in das süße Teil.

»Leider würde das im Augenblick nichts nützen. Die Tüte ist leer.« Zum Beweis zerknüllte Danny die Papiertüte, zielte und warf sie in den Abfall. »Cool!«, lobte er sich selbst. »Wenn ich es mir mit euch allen verderbe, kann ich immer noch Basketball-Profi werden.«

»Keine Sorge. So leicht kommst du mir nicht davon. Ich muss mit dir reden.«

Die ernste Stimme seines Vaters ließ Danny aufhorchen.

»Ist was passiert?«, fragte er, während er Daniel in sein Sprechzimmer folgte.

Sie setzten sich in die Besucherecke.

»Erinnerst du dich an die Patientin, die im CT kollabiert ist?«, eröffnete Dr. Norden ohne Zögern das Gespräch.

»Natürlich.« Danny musste nicht lange nachdenken. »Nicole Rosenholz. Hübsches Mädchen. Ich habe gehört, dass sie an einer Vaskulitis leidet.«

»Richtig.« Daniel schenkte zwei Gläser Wasser ein, trank einen Schluck und lehnte sich zurück. Sein Blick war sorgenvoll. »Nachdem wir nicht wissen, was die Erkrankung hervorgerufen hat, mussten wir auf Verdacht behandeln. Erstaunlicherweise erzielten wir bereits mit dem ersten Medikament einen durchschlagenden Erfolg. Schon ein paar Stunden nach der Infusion hat sich ihr Zustand dramatisch verbessert.«

»Das ist doch fantastisch!«, freute sich Danny über den Erfolg seines Vaters. Zumindest für den Augenblick war der Ärger mit Tatjana vergessen. »Und warum machst du dann ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«

»Weil Frau Rosenholz heute Mittag einen weiteren Krampfanfall, diesmal mit Herzstillstand, erlitten hat. Zum Glück war Matthias im Zimmer. In letzter Sekunde ist es ihm gelungen, sie zu retten.«

Danny konnte es nicht fassen.

»Das ist ja furchtbar.« Schwer vorstellbar, dass eine so blühende junge Frau so krank war. »Und jetzt? Wie geht es jetzt weiter?«

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, musste Daniel gestehen. »Wenn ein Medikament so eine Reaktion hervorrufen kann, wäre es unverantwortlich, die Behandlung mit anderen Wirkstoffen fortzusetzen. Zumindest so lange wir nicht wissen, was die Vaskulitis ausgelöst hat. Damit würden wir ständig Nicoles Leben riskieren.«

Diesem Argumente war wenig entgegenzusetzen. Das wusste auch Danny Norden.

»Das heißt, dass ihr kaum mehr tun könnt, als die Entzündung medikamentös in Schach zu halten.«

»Du siehst das genauso?« Insgeheim hatte Daniel auf eine Idee seines Sohnes gehofft. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ich denke drüber nach. Vielleicht fällt mir was ein«, versprach er. »Fährst du heute noch einmal in die Klinik?«

Daniel verneinte.

»Das würde nicht viel nützen. Bis wir in die eine oder andere Richtung weitermachen können, muss sich Nicole erst einmal erholen.« Er sah seinen Sohn nachdenklich an. »Wie läuft es denn mit deiner Patientin? Stella Baumann?«

Wenigstens in diesem Fall gab es halbwegs gute Neuigkeiten.

»Für mich positiv, für sie so lala«, gestand Danny. »Im Gegensatz zu Nicole wissen wir bei ihr zumindest jetzt, was für die Leberveränderung verantwortlich ist. Leider ändert das nichts an der Tatsache, dass wir noch einmal operieren müssen. Morgen früh hab ich das Vergnügen, ihr diese Botschaft zu überbringen.«

»Aber immerhin gibt es berechtigte Hoffnungen auf eine Heilung. Was fehlt ihr denn?«

»Offenbar hat sie sich bei einem ihrer Auslandsaufenthalte eine Wurminfektion zugezogen, die bislang unbemerkt verlief.«

»Würmer!«, wiederholte Dr. Norden sichtlich überrascht.

»Ganz recht. Da wäre ich nie im Leben drauf gekommen. Aber die Befunde aus dem Labor sind eindeutig.« Danny sah hinüber zu seinem Vater, der geistesabwesend auf dem Sofa saß. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Die ungeduldige Stimme riss Daniel aus den Gedanken.

»Natürlich«, versicherte er schnell. »Hatte sie keine Beschwerden? So angegriffen, wie ihre Leber ist, muss sie doch etwas gemerkt haben.«

»Mit Sicherheit hat sie das. Aber Stella ist vom Ehrgeiz zerfressen. Genauso wie ihr Bruder übrigens. Zumindest ist das meine Meinung. Um ihre Träume zu verwirklichen, schonen sich die beiden nicht.«

»Das tun wir auch nicht«, lächelte Daniel Norden, als er aufstand, um seinen Sohn zur Tür zu bringen. Allmählich wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. »Aber offenbar haben wir uns gesündere Träume ausgesucht.«

»Und liebende Menschen um uns, die uns immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen.« Unwillkürlich musste Danny wieder an Tatjana denken, und er nahm sich vor, sie nach seinem Besuch im Fitness-Studio um Verzeihung zu bitten. Das Leben war eindeutig zu kurz für Streit. Das zeigte das Beispiel Nicole Rosenholz wieder einmal mehr als deutlich. Und mehr noch: Inzwischen vermisste er die Harmonie zwischen sich und seiner großen Liebe so sehr, dass es fast weh tat.

*

Danny Norden schwitzte auf dem Laufband, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie ein Mann auf das Gerät neben ihm stieg. Er wandte den Kopf und erkannte Moritz Baumann, der das Handtuch über den Halter warf. Der fühlte den Blick auf sich ruhen und sah hoch.

»Ach, sieh mal einer an. Heute Abend scheint sich die halbe Belegschaft der Klinik hier verabredet zu haben. Vorhin hab ich schon zwei Schwestern und einen Arzt getroffen.«

»Schon möglich«, keuchte Danny unwillig.

Er war nicht gerade erpicht darauf, neben seinem Konkurrenten zu trainieren. Moritz hingegen schien sich über die Begegnung zu freuen. Er startete das Gerät und lief los.

»Ich dachte mir, ich tobe mich vor dem Gespräch mit Stella morgen noch einmal so richtig aus«, fuhr er im Plauderton fort.

»Gute Idee. Sport baut erwiesenermaßen überschüssiges Adrenalin ab. Wenn unser Körper Adrenalin freisetzt, erhöhen sich Blutdruck, Herzfrequenz und Blutzuckerspiegel. Die Bronchien erweitern sich«, dozierte Danny wie ein wandelndes Medizinlexikon. »Normalerweise wird das Adrenalin schnell wieder abgebaut. Hält der Stress aber an, schadet die ständige Überdosierung Herz und Kreislauf.« Ohne seinen Lauf zu unterbrechen, griff er nach dem Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Moritz schickte ihm einen bewundernden Blick und lachte.

»Vielen Dank für den Einblick in die Welt der Medizin. Da häng ich doch gleich noch eine Stunde dran an mein Programm.« Das Gerät erhöhte das Tempo, und langsam geriet auch er außer Atem. »Schade nur, dass Tatjana heute nicht dabei ist. Sie würde meine Motivation ins Unermessliche steigern.«

Trotz des Sports bemerkte Danny, wie sich sein Magen vor Ärger zusammenzog.

»Wem sagen Sie das?«, erwiderte er knapp.

Die Episode in der Praxis hatte ihm zu denken gegeben. Auf keinen Fall wollte er noch einmal die Beherrschung verlieren.

Moritz ahnte nichts von den Gefühlen seines Laufband-Nachbarn und lachte arglos.

»Sagen Sie bloß, dass Sie auch ein Auge auf die schöne Bäckerin geworfen haben?«

»Nein. Das würde mir gar nicht in den Sinn kommen«, hörte sich Danny zu seiner eigenen Überraschung sagen. »So eine Traumfrau hat ein Mann doch nie für sich allein.« Mitten im Training hielt er das Laufband an. »Diese ständige Sorge … ist gerade wieder ein Kerl hinter ihr her … wird sie nicht doch mal schwach … nein.« Entschieden schüttelte er den Kopf. »So was kann ich nicht brauchen.« Er trocknete das Gesicht und hängte sich das Handtuch um den Hals. »Dann viel Spaß noch beim Adrenalin-Abbau.« Er nickte Moritz zu. »Und nicht vergessen: Lieber ein bisschen mehr trainieren.« Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg in die Umkleide.

Moritz Baumann sah ihm nach.

»Was ist nur mit dem Doc los? Er wirkt reichlich unentspannt«, murmelte er. Einen Moment dachte er noch über Danny nach. Als aber gleich darauf eine hübsche Blondine das frei gewordene Laufband belegte, geriet der Arzt schnell in Vergessenheit.

Während Moritz noch eifrig flirtete, wollte Danny so schnell wie möglich nach Hause. Wenn er seine Gedanken und Sorgen noch länger für sich behielt, würde er platzen. Trotz Sport. Das war ihm während des Gesprächs mit Moritz erschreckend klar geworden. In rasender Fahrt hetzte er durch die Stadt und parkte den Wagen endlich vor dem Häuserblock, in dem ihre gemeinsame Wohnung lag.

*

Lange bevor Danny das oberste Stockwerk erreichte – er verzichtete darauf, den Aufzug zu benutzen –, wusste Tatjana schon, dass er kam. Auf diesen Moment hatte sie nur gewartete und warf einen letzten, prüfenden Blick auf den gedeckten Couchtisch. Weingläser schimmerten im sanften Licht der Kerzen, die sie im ganzen Wohnzimmer verteilt hatte. Eine liebevoll arrangierte Käseplatte, garniert mit Trauben und Birnen, wartete auf hungrige Esser. Scheiben von krossem Weißbrot lagen in einem Korb.

»Alles da!«, murmelte Tatjana zufrieden, als sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Statt ihm entgegen zu gehen und ihren Liebsten zu begrüßen, setzte sie sich auf der Couch in aufreizender Pose für ihn zurecht. Sie hörte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss. Sie ahnte, dass er die Schuhe auszog, und wusste, dass er die Jacke aufhängte. Doch das alles dauerte viel länger als sonst. Langsam wurde sie unruhig.

»Willst du nicht zu mir kommen?«, rief sie Danny schließlich zu.

»Schon dabei.« Endlich betrat er den großzügigen Wohnbereich mit den fließenden Übergängen.

»Oh, was ist denn hier los? Haben wir was zu feiern?« Seine Stimme klang kühl und reserviert.

Enttäuscht setzte sich Tatjana auf.

»Ich dachte, wir verbringen einen gemütlichen Abend zu zweit …

»Und unterhalten uns über deinen Verehrer? Gute Idee«, bemerkte Danny beißend.

Weit genug von ihr entfernt, setzte er sich auf einen Sessel und streckte die Hand nach einem Käsewürfel und ein paar Trauben aus.

Innerlich fuhr Tatjana die Stacheln aus.

»Und wer sollte das sein?«, fragte sie spitz.

Diese Kunst beherrschte sie mindestens genauso gut wie ihr Freund.

»Tu doch nicht so, als hättest du keine Ahnung. Ich hab mich mit Moritz Baumann unterhalten. Bei ihm hast du offensichtlich den Eindruck erweckt, dass du noch zu haben bist.« Danny versuchte nicht länger, seine Eifersucht zu verbergen.

Tatjana lachte schrill auf.

»Daher weht also der Wind. Dein Besitzerinstinkt rebelliert.« Sie blitzte ihn zornig an.

»Das ist doch völliger Unsinn!«, setzte sich Danny zur Wehr. »Aber ist es so verwerflich, dass es mir nicht gleichgültig ist, wenn sich ein fremder Mann an meine Freundin ranmacht?«

Vor Empörung stand Tatjana der Mund offen.

»Was verstehst du denn bitte unter ›ranmachen‹?«

»Ihr habt euch mehrmals miteinander unterhalten. Und zusammen Kaffee getrunken in den ›Schönen Aussichten‹ habt ihr auch«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

»Soso, haben wir?«, schnaubte Tatjana. Sie wusste, dass Danny zumindest teilweise recht hatte, und ihr schlechtes Gewissen wog schwer. Schließlich hatte sie Moritz wirklich keinen reinen Wein eingeschenkt und den Flirt mit ihm genossen. Trotzdem war sie weit davon entfernt, auch nur einen Hauch von Schuld einzugestehen. Dannys vorwurfsvolle Art verbot das von selbst. »Stell dir vor: Wir haben über den Orient geredet, und es war sehr interessant.«

»Soso. Der Orient also.«

»Wo ist das Problem? Darf ich mich jetzt nicht mehr mit anderen Männern unterhalten, nur weil ich zufälligerweise mit dir zusammen bin?« Ihre Worte sollten verletzen. »Moritz hat mich an meine eigene, tolle Zeit im Orient erinnert. So sind wir ins Gespräch gekommen. Es war schön, mal wieder darüber zu reden. Und wenn ich jemanden kennenlerne, der sich für Orientalistik interessiert …«

»Dann ist das natürlich viel aufregender, als sich mit einem langweiligen Arzt über die alltäglichen Dinge des Lebens zu unterhalten. Oder über Hochzeiten und Kinderkriegen.«

Ungläubig hatte Tatjana ihm zugehört. Hatte er recht? Langweilte sie sich mit ihm und flirtete deshalb mit dem Hotelier?

»Was soll das denn?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Danny war vom Sessel aufgesprungen und marschierte wie ein Tiger im Käfig vor dem Couchtisch auf und ab. Schließlich blieb er vor Tatjana stehen und blickte auf sie hinab. Erstaunt bemerkte sie, dass sich die Stimmung im Raum verändert hatte. Alle Wut war aus seinem Gesicht verschwunden. Plötzlich wirkte er deprimiert.

»Na ja, wenn du auf einmal das große Fernweh bekommst, bin ich wohl nicht der Richtige für dich.«

»So ein Unsinn!« Jetzt gab es kein Halten mehr, und auch sie sprang auf die Beine. Nasenspitze an Nasenspitze standen sie sich gegenüber. Sekundenlangen starrten sie sich wortlos in die Augen, spürten den warmen Atem des anderen auf dem Gesicht. »Nur weil ich mit jemandem über den Orient gesprochen habe …« Dannys Aftershave stieg Tatjana in die Nase und machte sie nervös.

»… der dich zufällig für eine wahnsinnig intelligente, schöne, sexy Frau hält …«, ergänzte er heiser.

Seine Reibeisenstimme ging ihr durch und durch. Mit einem Mal bemerkte sie, dass sie gar nicht mehr böse war. Ganz andere Gefühle brachten sie durcheinander.

Sie legte den Kopf schief und blinzelte ihn an.

»Das bin ich doch auch, oder?«

»Wenn du mich so fragst …« Er machte sich einen Spaß daraus, sie zu necken.

Tatjana ging auf sein Spiel ein.

»Etwa nicht?« Sie legte die Hand in ihren Nacken. Mit einer verführerischen Geste fuhr sie den Hals hinunter, ließ die Fingerspitzen zwischen ihren Brüsten hinab wandern.

Dannys Augen wurden schmal vor Verlangen.

»Es … es ist schon spät. Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, ins Bett zu gehen? Sonst bist du morgen wieder müde und unausstehlich.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er die Arme nach ihr ausstreckte, sie mühelos hochhob und kurzerhand über die Schulter legte.

Tatjana kreischte, schrie und zappelte, als er sie hinüber ins Schlafzimmer trug und aufs Bett warf. Um sie an der Flucht zu hindern, kniete er sich über sie und hielt sie an den Armen fest.

»Jetzt zeige ich dir, wie sexy und begehrenswert du bist.« Seine Augen waren dunkel vor Leidenschaft. »Und wenn du nachher immer noch das Gefühl hast, mit mir was zu verpassen, dann werde ich dich nicht mehr aufhalten.«

Ehe Tatjana etwas erwidern konnte, beugte er sich über sie und küsste sie, dass ihr die Luft wegblieb und sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Und es auch nicht mehr wollte.

*

Bis tief in die Nacht hinein saß Dr. Norden am Computer und recherchierte. Und auch, als er endlich neben seiner Frau ins Bett geschlüpft war, fand er keine Ruhe. Er wälzte sich so unruhig hin und her, dass Fee ihn sogar aufweckte. Er schreckte hoch, stammelte ein paar unzusammenhängende Worte, nur um gleich darauf in den gleichen, unruhigen Schlaf wie vorher zu fallen.

Ohne Frühstück und völlig gerädert fuhr er am nächsten Morgen direkt in die Klinik. Kopfschüttelnd sah Fee ihm nach, als er durch die Tür nach draußen stürmte. So aufgewühlt hatte sie ihren Mann lange nicht gesehen.

Eine halbe Stunde später hastete Dr. Norden über den Klinikflur auf der Suche nach Matthias Weigand. Er fand ihn im Aufenthaltsraum der Ärzte, wo er sich mit ernster Miene mit Schwester Annabel unterhielt.

»Wie geht es ihr?«, fiel Dr. Norden mit der Tür ins Haus.

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen!« Matthias lächelte den geschätzten Kollegen betont freundlich an.

Daniel atmete tief durch.

»Tut mir leid. Ich hatte eine unruhige Nacht.«

»Erzähl mir keine Märchen. Du bist seit einer Ewigkeit mit Fee verheiratet«, scherzte Matthias trotz seines Kummers. »Da gibt es keine heißen Nächte mehr.«

Daniel schenkte sich Kaffee aus der Maschine ein und nahm einen Keks vom Teller, ehe er sich umdrehte.

»Erstens solltest du Fee das lieber nicht hören lassen. Sonst weckst du womöglich den Drachen oder die Hexe in ihr, und ich bin nicht sicher, ob ich das erleben will. Zweitens sprach ich von unruhig. Und nicht von heiß.« Er nippte an seinem Kaffee und schob den Keks hinterher. Unwillig verzog er das Gesicht. »Die von Tatjana sind besser.«

»Wir Normalsterblichen sind froh, dass wir überhaupt etwas zu essen bekommen.« Inzwischen war das Lächeln aus Matthias Weigands Gesicht verschwunden. »Aber um deine Frage von vorhin zu beantworten: Ich fürchte, Nicole geht es gar nicht gut. Annabel hat ihr heute Morgen schon mehrmals Bilderkarten vorgelegt, die sie zu einer Geschichte ordnen sollte.«

»Und? Hat es geklappt?«

»Das erste Mal schon, das zweite Mal nicht«, antwortete Schwester Annabel.

Matthias nickte nachdenklich dazu.

»Genauso verhält es sich mit ihrer Sprachfertigkeit. Seit dem Anfall schwankt sie extrem.«

Daniel hatte aufmerksam zugehört. Sein Kopf arbeitete auf Hochtouren.

»Das klingt aber nicht nach einer zerebralen Störung infolge von Sauerstoffmangel.«

»Das klingt danach, als ob sich in ihrem Gehirn etwas verändert«, bestätigte Dr. Weigand. »Wenn Nicole einen Tumor hätte, würde ich sagen, dass er weiter in den Hirnstamm hinein wächst.«

»So plötzlich?« Daniel griff nach einem weiteren Keks. Seine Augen waren schmal, und er schien angestrengt nachzudenken.

»Offenbar haben die Medikamente eine Entwicklung angestoßen. Leider nicht zum Guten.« Matthias hielt inne. »Was ist? Warum schaust du mich so an?« Der stechende Blick des Kollegen irritierte ihn.

»Hältst du es für möglich, dass sich Nicole Rosenholz mit Würmern infiziert hat?«, stellte Daniel schließlich die Frage, die ihm seit dem Gespräch mit Danny am vergangenen Tag nicht mehr aus dem Sinn ging. Ihr hatten auch seine nächtlichen Recherchen gegolten.

Matthias Weigand lachte ungläubig. Diese Idee war so abwegig, dass er nicht anders konnte. Als Dr. Norden nicht mit einstimmte, hielt er inne.

»Du denkst, sie hat einen Wurm im Gehirn?«, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach.

»Ich denke eher an eine Larve. Und wenn du dir mal Gedanken über das machst, was du in grauer Vorzeit im Studium mal gelernt hast, wirst du mir zustimmen.« Daniel stellte die Tasse in die Spüle. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, im Zimmer auf und ab zu wandern. »Ich habe die halbe Nacht recherchiert, und das, was du sagst, bestärkt mich nur in meiner Annahme«, fuhr er fort. Als Matthias etwas einwenden wollte, hob er die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Wo Nicole sich die Wurminfektion eingefangen hat, können wir nicht sagen. Aber wir wissen, dass sich diese Larve mit winzigen Werkzeugen im Darm festbeißt. Sie wächst zu einem Wurm heran, der zwanzig bis dreißigtausend Eier am Tag produziert.« Er blieb vor Schwester Annabel stehen und sah sie an. »Wohin wandern die Eier? Was denken Sie?«

»Sie werden ausgeschieden?«, fragte sie schüchtern zurück.

»Das auch. Aber nicht alle.« Daniel Norden setzte seine Wanderung fort. »Da die Eier winzig klein sind, können sie direkt in den Blutstrom gelangen. Er bringt sie überall hin.«

»Wenn es dumm läuft, auch ins Gehirn«, setzte Matthias Weigand den Gedankengang seines Kollegen fort. Gespannt wie ein Flitzebogen saß er am Tisch. Sein Blick ruhte auf dem Kollegen, doch er sah ihn nicht.

»Auffallend richtig«, stimmte Dr. Norden zu.

»Aber warum hat der Körper so lange nicht auf den Eindringling reagiert?«, stellte Schwester Annabel eine berechtigte Frage.

»Sehr guter Gedanke!« Daniel nickte ihr anerkennend zu. »Das liegt daran, dass sich der Angreifer vor dem Immunsystem quasi verstecken kann. Erst wenn er krank wird oder Gefahr läuft zu sterben, verliert er diese Tarnkappe. Das Immunsystem stürzt sich mit Feuereifer auf ihn und versucht, ihn zu vernichten.«

»Daher rührt also die Entzündung der Blutgefäße in Nicoles Gehirn«, rief Matthias aufgeregt.

»Das nehme ich zumindest an.« Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte ein zufriedenes Lächeln um Daniels Mundwinkel. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, ob wir recht haben.« Das war der Knackpunkt an der Geschichte.

»Und wie machen wir das?«, stellte Matthias Weigand die alles entscheidende Frage, die auch Daniel die halbe Nacht umgetrieben hatte.

»Wir müssen ein weiteres Medikament ausprobieren und beten und hoffen, dass wir mit unserer Vermutung richtig liegen«, gestand er seufzend. »Darüber wird Frau Rosenholz nicht gerade glücklich sein.«

»Dann müssen wir sie davon überzeugen.« Matthias sprang vom Stuhl auf. »Sonst stirbt sie.«

*

Als Danny Norden an diesem Morgen vor der Sprechstunde in die Klinik kam, spielte ein zufriedenes Lächeln um seine Lippen, und seine Augen leuchteten, dass sogar Moritz Baumann es bemerkte.

Er hatte auf den Arzt gewartet, um sich gemeinsam mit ihm in die Höhle des Löwen zu wagen.

»Nanu, Doc, Sie sehen ja so zufrieden aus.«

»Das ist der beste Beweis dafür, wie positiv die Wirkung intensiven Trainings sein kann«, gab der junge Arzt zurück, während er den Flur hinabging.

Wohlweislich verschwieg er, von welcher Art der körperlichen Ertüchtigung er sprach, und Moritz fragte vorsichtshalber nicht nach.

Im Augenblick hatte er ohnehin andere Sorgen. Seine Gedanken waren schon weitergeeilt.

»Hoffentlich flippt Stella nicht total aus«, murmelte er, als sie vor ihrem Krankenzimmer Halt machten.

»Das werden wir gleich wissen.« Nachdem er geklopft hatte, drückte Danny beherzt die Klinke herunter.

Erschöpft von dem schweren Eingriff, lag Stella flach im Bett. Aber sie war wach und blinzelte ihre Besucher an. Nach ein paar Begrüßungsfloskeln kam Danny auf die Diagnose zu sprechen.

»Laut Laborbefund ist eine Wurminfektion verantwortlich für die Oberflächenveränderung Ihrer Leber«, erklärte er anhand der Bilder aus der Radiologie, die er extra ausgedruckt und mitgebracht hatte. »Eine oder mehrere Larven müssen sich in Ihre Leber eingenistet haben. Sie sind für die Zystenbildung verantwortlich.«

Ungläubig starrte Stella zuerst auf das Bild und dann dem Arzt in die Augen.

»Würmer?« Der Ekel stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wo sollte ich die herhaben?«

»So was passiert schon mal bei Reisen in exotische Länder.« Dr. Norden junior wandte sich an Moritz. »Sie sollten sich auf jeden Fall auch untersuchen lassen.«

»Später. Im Augenblick geht es um meine Schwester.« Nervös rieb Moritz die Handflächen an der Tuchhose. Der schwierigere Teil des Gesprächs stand ihnen noch bevor.

»Natürlich.« Daniel nickte lächelnd und konzentrierte sich wieder auf seine Patientin.

Inzwischen hatte Stella Zeit gehabt, sich Gedanken zu machen.

»Aber man kann diese Tiere doch bestimmt irgendwie abtöten.« Ihr hoffnungsvoller Blick ruhte auf Danny Norden.

»Schon. Aber das ist leider nicht das Problem. Wir konnten bei der Operation nur einen Teil des zystischen Gewebes entfernen.«

»Warum haben Sie nicht weitergemacht?« Stella versuchte, sich im Bett aufzusetzen.

Moritz eilte ihr zu Hilfe. Er griff nach der Fernbedienung und stellte das Rückenteil ein wenig hoch.

»Besser so?«

Doch sie beachtete ihn nicht. Sie fixierte den jungen Arzt. Der hielt ihrem Blick tapfer stand.

»Wir waren nicht auf so einen großen Eingriff vorbereitet«, erklärte Danny sachlich. »Zudem wussten wir nicht, mit welchem Gegner wir es zu tun haben. Diese Dinge sind nun geklärt.«

»Geklärt! Geklärt!«, äffte Stella ihn nach. »Gar nichts ist geklärt. Sagen Sie mir endlich, wie es weitergeht. Muss ich noch einmal operiert werden?«

Nur mit Mühe konnte Danny ein Seufzen unterdrücken. Die Reaktion seiner Patientin entsprach in etwa dem, was Moritz vorher gesagt hatte. Eines musste man ihm lassen: Er kannte seine Schwester wirklich gut.

»Das stimmt«, bestätigte er Stellas Annahme. »Und zwar so schnell wie möglich. Es besteht die Gefahr eines dauerhaften Leberschadens. Daran, was passiert, wenn eine weitere Zyste platzt, will ich gar nicht denken.«

Stella legte sich in die Kissen zurück. Ihr Blick wanderte an die Decke und blieb dort hängen. Ihr Gesichtsausdruck war bewegt, als könnte sie dort oben etwas erkennen, was niemand außer ihr sah.

»Egal, was Sie mit mir anstellen. In spätestens zwei Wochen muss ich hier raus sein. Sonst platzt unser Projekt.«

Obwohl sie immer noch an die Decke starrte, wusste Danny, dass sie mit ihm sprach.

Der nächste Satz fiel ihm schwer.

»Das kann ich unter diesen Umständen nicht verantworten.«

Bevor sich Stella von ihrem Schrecken erholt hatte, meldete sich Moritz zu Wort. Auch seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das Schicksal seiner Schwester. Auch er war auf der Suche nach einer Lösung.

»Gibt es denn keine Alternative?«

»Es gibt eine Art Chemotherapie. Sie stoppt aber lediglich das Wachstum der Zysten. Zurückbilden oder die Krankheit gar heilen kann sie nicht.«

Moritz seufzte.

»Also doch operieren?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte Danny schweren Herzens.

In diesem Moment befand Stella, dass sie lange genug stillgehalten und geschwiegen hatte.

»Und wenn ich mich weigere?« Wie ein Peitschenhieb hallte ihre Stimme durch’s Zimmer.

Erschrocken fuhren die beiden Männer herum.

»Wie meinst du das?«

Trotzig sah sie von einem zum anderen.

»Na, wenn ich mich nicht operieren lasse?«

»Dann riskieren Sie Ihr Leben«, mahnte Danny Norden ernst. Er sah auf die Uhr. Höchste Zeit, sich auf den Weg in die Praxis zu machen. »Bitte überdenken Sie Ihren Entschluss noch einmal. Ich komme in meiner Mittagspause wieder. Der Operationstermin ist für heute Nachmittag um drei Uhr festgesetzt. Bis dahin brauche ich eine Entscheidung.« Er nickte dem Geschwisterpaar zu und verließ das Zimmer.

Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

»Da gibt es nichts nachzudenken. Ich setze doch diese tolle Chance im Orient nicht aufs Spiel«, erklärte Stella bockig.

Moritz traute seinen Ohren nicht. Er trat ans Bett und packte sie an den Armen. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Nur die Infusionen in ihrer Armbeuge hinderten ihn daran. So begnügte er sich damit, ihren Blick einzufangen und festzuhalten.

»Was hast du von dieser tollen Chance, wenn du sie nicht überleben wirst? Hallo?«

Stella wehrte sich verzweifelt gegen den Griff ihres Bruders. In ihren Augen standen Tränen.

»Aber ich will dieses Stelle antreten! Ich will einfach!«, schluchzte sie so verzweifelt auf, dass sich sein Herz vor Mitleid zusammenzog.

Er ließ sie los und sank neben ihr auf die Bettkante.

»Vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit … Du könntest zum Beispiel später nachkom …«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, unterbrach sie ihn unwirsch. »Es gibt genug andere Interessenten. Da wird mir doch kein Platz freigehalten.«

Moritz suchte fieberhaft nach einer Lösung.

»Ich könnte mit dem Chef reden. Vielleicht lässt sich da irgendwas machen.« Er wusste selbst, wie hilflos er klang, und verfluchte sich dafür.

Genau wie Stella.

»Ich will nicht, dass du schon wieder ein ›gutes Wort‹ für mich einlegst«, fauchte sie. »Warum kapierst du nicht endlich, dass ich mir meine Lorbeeren selbst verdienen will? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie satt ich es habe, dass alle denken, ich bekäme die tollen Stellen nur wegen dir!« Sie regte sich so sehr auf, dass die Wunde trotz der vielen Medikamente zu schmerzen begann. Stöhnend hielt sie inne.

Mit diesem Vorwurf hatte Moritz nicht gerechnet. Er traf ihn ins Mark.

»Wie bitte? Erstens ist das völliger Blödsinn. Und zweitens: Seit wann interessiert dich die Meinung anderer Leute? Lass sie sich ihr Maul zerreißen. Das ist uns doch egal.« Er wollte ihre Hand nehmen.

Doch Stella zog sie weg.

»Hör endlich auf, dich in mein Leben einzumischen! Du versuchst doch nur, mich mal wieder klein zu halten.«

»Jetzt reicht’s aber langsam.« Am liebsten hätte sich Moritz die Ohren zugehalten. Der Zorn seiner Schwester war noch viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Nie im Leben hätte er mit dieser Abrechnung gerechnet. Es traf ihn wie ein Keulenhieb, dass sie ganz anders empfand als er. Dass offenbar nur er das Gefühl einer perfekten Symbiose hatte. Ratlos und sichtlich geschockt erhob er sich von der Bettkante. »Du hast viel durchgemacht und solltest dich jetzt ausruhen. Ich komme später wieder.«

Ehe Stella Gelegenheit zu einer Antwort hatte, ging er mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf zur Tür und verließ das Zimmer. Mit ein paar Worten hatte Stella alles zerstört, woran er immer geglaubt hatte. Jetzt wusste er nicht mehr, was er denken sollte.

*

Als Dr. Daniel Norden das Zimmer seiner Patientin betrat, dachte er zuerst, sich geirrt zu haben. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass die Frau im Bett tatsächlich Nicole Rosenholz war. Sie lag ausgestreckt da und drehte langsam den Kopf, um ihn zu mustern. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. Jeder Glanz war daraus verschwunden. Die Lippen waren rissig und durch die eingefallenen Wangen hatte ihr Gesicht die vertrauten Konturen verloren.

Obwohl Dr. Norden bemüht war, sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen, durchschaute Nicole ihn sofort.

»Ich sehe aus wie eine Leiche«, murmelte sie erstaunlich klar.

»Kein Wunder nach all dem, was Sie hinter sich haben.« Dr. Norden zog sich einen Stuhl ans Bett. Schon auf dem Weg zum Zimmer hatte er darüber nachgedacht, was er Nicole sagen sollte. Von Angesicht zu Angesicht gab es jedoch keine Fragen mehr. Die kranke, junge Frau hatte keine Kraft mehr für Vermutungen. Sie brauchte Gewissheiten. »Nachdem wir jetzt endlich wissen, was Ihnen fehlt, wird es Ihnen bald besser gehen.«

Nicole verzog das Gesicht.

»Sie wollen nur nicht, dass ich den Lebensmut verliere.«

Daniel Norden schluckte. Damit hatte sie gar nicht mal so unrecht.

»Ich will vor allen Dingen nicht, dass Sie Ihr Leben verlieren«, erklärte er mit fester Stimme und nahm ihre Hand. »Aber jetzt, da wir endlich herausgefunden haben, was Ihnen fehlt, wird das auch nicht passieren.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, sah er ihr fest in die Augen.

»Was habe ich denn?«, fragte sie.

Daniel lächelte sie aufmunternd an.

»Das verrate ich Ihnen nur, wenn Sie mir versprechen, vor Schreck nicht tot umzufallen«, schlug er einen scherzhaften Ton an.

Diesmal war das Lächeln auf Nicole Rosenholz‘ Gesicht deutlich erkennbar.

»Das mit dem Umfallen dürfte mir im Augenblick schwer fallen. Also sagen Sie schon: Was ist los mit mir?«

»Sie haben einen Wurm im Kopf«, ließ Dr. Norden endlich die Katze aus dem Sack.

Nicole durchbohrte ihn mit Blicken.

»Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?«

Unvermittelt befand er sich in einer Zwickmühle.

»Wenn es Ihnen besser geht, plaudere ich ein wenig aus dem Nähkästchen und erzähle Ihnen von meinen diagnostischen Erfolgen«, redete er sich heraus. »Nicht, weil ich mich damit brüsten will, sondern um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht der Schlechteste meines Jahrgangs war.«

»Aber offenbar nicht gut genug, um zu wissen, dass ich keine Vaskulitis habe«, erwiderte sie schonungslos.

Einen kurzen Moment war Dr. Norden sprachlos.

»Alle Achtung. Die Kollegen warnten mich, dass Ihre sprachlichen Fähigkeiten stark schwanken. Davon ist im Augenblick aber nichts zu merken.«

»Dafür kann ich nicht mehr laufen und keine Bildergeschichte mehr zusammensetzen.« Ein bitterer Zug erschien um Nicoles Mund. »Deshalb habe ich eine Bitte: Behandeln Sie mich nur, wenn Sie sicher sind.«

»Ich will Sie nicht behandeln. Ich will Sie heilen«, versicherte Daniel mit Nachdruck. Sein Herz war schwer, aber er hatte keine Wahl. »Und ich kann Sie nur bitten, mir zu vertrauen.« Während er sprach, zog er eine kleine Plastikdose aus der Tasche. Er öffnete den Deckel und reichte sie Nicole. Dann stand er auf, um ihr ein Glas Wasser zu bringen.

»Was ist das?« Verwirrt starrte sie auf die beiden Tabletten in der Dose.

»Das Medikament, das sie gesund machen wird.«

»Zwei Tabletten? Ist das alles?«

»Zwei Monate lang täglich zwei Tabletten.« Daniel reichte ihr das Wasserglas. »Und ich weiß«, fuhr er fort. »Das scheint lächerlich einfach im Gegensatz dazu, was Sie durchgemacht haben. Aber so leicht, wie Sie denken, wird es nun auch wieder nicht.«

Nicole sah abwechselnd von der Dose zu Daniel und zurück. »Wieso?«

»Die Nebenwirkungen sind nicht unerheblich. Möglich sind Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Benommenheit und Haarausfall«, zählte er auf, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Als er geendet hatte, machte sich Stille im Zimmer breit. Nichts war zu hören als das leise Quietschen von Gummisohlen draußen auf dem Flur.

Mit jeder Minute, die verrann, wurde Dr. Daniel Norden nervöser. War es ihm gelungen, Nicole zu überzeugen und damit ihr Leben zu retten? Unruhig wartete er auf ein Wort von ihr, das nicht kam. Stattdessen glitt plötzlich ein Lächeln wie ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Sie hob den Becher, kippte die beiden Tabletten in den Mund und spülte mit dem Wasser nach. In diesem Moment hätte Daniel die Welt umarmen können. Er wusste: Nicole hatte sich entschieden: Für das Leben!

*

Bevor Tatjana Bohde in die Klinik gefahren war, hatte sie sich mit einem Anruf in der Praxis versichert, dass Danny auch tatsächlich dort war. Auf keinen Fall wollte sie ihm in die Arme laufen und damit das Glück gefährden, das endlich wieder Einzug gehalten hatte in ihrer Beziehung. Trotzdem musste sie noch etwas erledigen, ehe sie dieses Kapitel guten Gewissens abschließen konnte.

Bedacht darauf, von so wenigen Leuten wie möglich gesehen zu werden, wanderte sie durch die Flure Richtung Stella Baumanns Krankenzimmer. Sie hatte Glück. Allzu weit musste sie nicht gehen, als ihr mit wehenden Fahnen ausgerechnet der Mann entgegenkam, den sie suchte.

»Moritz! Was ist denn mit dir los? Du bist ja total aus dem Häuschen!«

Ihr Eindruck täuschte sie nicht. Moritz Baumann war in der Tat so aufgewühlt, dass er sich noch nicht einmal wunderte, Tatjana zu treffen.

»Jetzt reicht‘s mir!«, schimpfte er drauflos, als hätte er nur auf eine passende Gelegenheit gewartet. »Die kann mich mal kreuzweise und kariert.«

Tatjana überlegte nicht lange. Sie packte ihn am Ärmel und zog ihn in das nächstbeste freie Zimmer, das sie fand. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, verlangte sie eine Erklärung. Moritz ließ sich nicht lange bitten. Mit erhitztem Gemüt erzählte er, was vorgefallen war. Schweigend lauschte Tatjana dem Bericht.

»Du darfst nicht jedes Wort von ihr auf die Goldwaage legen«, redete sie ihm ins Gewissen. »Schon gar nicht in dieser Situation.«

Doch Moritz schien sie gar nicht zu hören.

»Nicht nur, dass ich mir unser gutes Verhältnis all die Jahre nur eingebildet habe, sie will sich auch nicht operieren lassen. Und das nur wegen dieser idiotischen Stelle! Wegen eines Jobs, wie es Hunderttausende gibt auf der Welt.«

Tatjana war irritiert.

»Ich dachte, es handelt sich um eine einmalige Chance.«

»Im Augenblick vielleicht«, winkte Moritz ab. »Aber in zwei, drei Wochen kann die Welt schon wieder ganz anders aussehen. Das Hotelgeschäft ist sehr schnelllebig, das Personalkarussell dreht sich rasant. Mal abgesehen davon, dass ich meine Gesundheit für keinen Job der Welt aufs Spiel setzen würde.« Keuchend hielt er inne und schöpfte Atem.

Die Leidenschaft ließ ihn strahlen, wie einen Kometen. Noch vor ein paar Stunden wäre Tatjana angesichts dieser Ausstrahlung ins Zweifeln geraten. Doch Moritz Baumann hatte seine Wirkung auf sie verloren. Nüchtern betrachtet konnte er Danny noch nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen, und sie fragte sich, welcher Teufel sie in den vergangenen Tagen geritten hatte.

»Hast du ihr gesagt, dass du für sie auf die Stelle verzichten würdest?«, lenkte sie sich selbst von diesem unangenehmen Thema ab.

»Ich hab ihr angeboten, ein gutes Wort für sie einzulegen. Und was ist der Dank? Beschimpfungen und Beleidigungen.« Langsam wurde Moritz ruhiger, und endlich nahm er auch Tatjana wahr, die vor ihm stand und ihn mit tiefseeblauen Augen musterte. Plötzlich schien er eine Idee zu haben. »Warum kommst du nicht mit mir in den Orient?« Er wollte nach ihren Händen greifen, um sie an die Lippen zu ziehen. Doch Tatjana entzog sie ihm.

»Ich?« Sie lachte auf. »Nette Idee. Aber eigentlich bin ich gekommen, um dir etwas ganz anderes zu sagen.«

Moritz legte den Kopf schief und versuchte, in ihrer Miene zu lesen.

»Noch eine Abfuhr ertrage ich heute nicht.« Offenbar ahnte er, was kommen mochte.

Doch Tatjana konnte und wollte sich nicht beirren lassen.

»Das kann ich dir leider nicht ersparen«, erwiderte sie leise. »Dr. Danny Norden ist nicht nur mein Trainingspartner. Er ist auch mein Freund.«

»Oh.« Mehr fiel Moritz im ersten Augenblick nicht ein. Diese Chance nutzte Tatjana.

»Weißt du, du hast mich in einem sehr labilen Moment erwischt, als ich vieles in Frage stellte. Mit seinen Plänen wegen Familie und allem drum und dran hat Danny mir ganz schön Angst gemacht. Aber statt darüber zu reden, haben wir uns gegenseitig gepiesackt und schikaniert.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Dank dir haben wir endlich wieder zueinander gefunden. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mir sicher nicht so viele Gedanken um meine Unzufriedenheit gemacht.« Sie lächelte ihn an. Einer spontanen Eingebung folgend beugte sie sich vor und küsste ihn rechts und links auf die Wange. »Danke!«

Moritz grinste schief.

»Ich sollte wohl besser aufpassen, für wen ich mich interessiere.«

Tatjana schüttelte den streichholzkurzen Haarschopf.

»Nein, nein, das ist nicht deine Schuld«, widersprach sie. »Ich hätte dir einfach gleich sagen sollen, dass ich seit Jahren in festen Händen bin.«

Zu ihrer Verwunderung schien sich Moritz erstaunlich schnell von seinem Schmerz zu erholen.

»Ach, das hätte mich wahrscheinlich nur noch mehr gereizt«, gestand er. »Ich halte mich selbst für unwiderstehlich und denke, dass jede meinem Charme verfallen muss. Blöd nur, dass ich damit keinen Erfolg habe.«

»Kein Wunder!«, entfuhr es Tatjana. So viel Überheblichkeit war ihr richtiggehend zuwider.

Doch Moritz war noch nicht fertig. Unvermittelt wurde er ernst.

»Die einzige Beziehung, die immer gehalten hat, ist die zu meiner Schwester. Das ist auch der Grund, warum ich mich so an sie klammere. Ich weiß gar nicht, wie sie auf die Idee kommt, dass sie nur mein Anhängsel ist.«

Tatjanas Gefühle für Moritz pendelten zwischen Ablehnung und Sympathie. Im Grunde genommen konnte er ihr aber nur leid tun.

»Vielleicht solltest du ihr das sagen, ehe du den Stab über sie brichst. Und glaub mir: Ich spreche aus Erfahrung«, erklärte sie so warm, dass Moritz nicht anders konnte, als sie in den Arm zu nehmen.

»Dann denkst du, dass es mir doch gelingen könnte, Stella von einer Operation zu überzeugen?«

»Natürlich. Hast du nicht selbst gesagt, du seist unwiderstehlich?«

Ehe sie begriff, wie ihr geschah, fühlte sie seine Lippen auf den ihren. Doch es war nur ein unschuldiger Kuss, mit dem er sich für ihren Zuspruch und ihre Hilfe bedankte, ehe er sich auf den Weg zu Stella machte, um sich seine Fähigkeiten zu beweisen.

*

Es war nur ein leises Geräusch, das Nicole Rosenholz Tage später aus leichtem Schlummer weckte. Ehe sie herausfinden konnte, um was es sich handelte, öffnete sich die Tür, und Dr. Matthias Weigand kam herein.

»Störe ich?«, fragte er und wirkte plötzlich fast schüchtern. Ihre wiedererwachte Schönheit irritierte ihn jedes Mal wieder, wenn er das Zimmer betrat.

»Natürlich nicht«, versicherte sie schnell und setzte sich aufrecht im Bett auf. Hektisch fuhr sie sich mit der Hand durchs dunkle Haar. »Wenn es Sie nicht stört, dass ich nicht auf Herrenbesuch vorbereitet bin.«

Er bemühte sich um eine strenge Miene.

»Tut mir leid, aber diesmal bin ich in meiner Eigenschaft als Ihr Arzt hier.« Um das Lachen aus seiner Kehle zu vertreiben, räusperte er sich. »Ich habe die zweifelhafte Ehre, Sie auf Ihre Entlassung morgen vorzubereiten.«

»Dann müssen wir morgen schon Abschied nehmen?« Damit hatte Nicole nicht gerechnet. Im ersten Moment war sie erschrocken. Doch sie erholte sich schnell und blinzelte ihm verschwörerisch zu. »Wenn ich mich nicht irre, haben Sie sich neulich heimlich meine Telefonnummer aus der Akte rausgeschrieben. Sie wissen also, wo Sie mich finden können.«

Schlagartig färbten sich Matthias Weigands Wangen dunkelrot.

»Das haben Sie gesehen? Ich dachte, Sie schlafen.«

»Tja, ich bin eben immer für eine Überraschung gut.«

»Nicht nur Sie!« Sein Lächeln spiegelte die Vorfreude wider, die er empfand. »Wie Sie wissen, gelten in dieser Klinik gewisse Regeln. Und jetzt wissen Sie ja auch, dass ich dazu neige, manche Regeln zu brechen. Ich habe mir da etwas ausgedacht. Aber ich warne Sie! Wenn Sie mich verraten, könnte dieser Regelverstoß unangenehme Folgen für mich haben.«

»Ich werde schweigen wie ein Grab«, versprach Nicole. Sie war gespannt wie ein Flitzebogen.

»Das ist sehr gut.« Matthias Weigand ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. »Wenn jemand fragt: Ihre Mutter ist zu Besuch mit ihren sieben Schwestern und elf Brüdern.« Er zwinkerte ihr zu und öffnete die Tür. Fast im selben Moment stürmte eine Kinderschar in Begleitung der Rektorin Thekla Päpke herein und versammelte sich um das Bett ihrer Lehrerin. Die Erstklässler lachten und kreischten vor Freude, ihre geliebte Frau Rosenholz endlich wiederzusehen. Matthias Weigand stand in der Ecke und kostete diesen herzerwärmenden Anblick aus, bis er zu einem Notfall gerufen wurde.

*

Mit offenen Worten war es Moritz Baumann tatsächlich gelungen, seine Schwester von der dringend notwendigen Operation zu überzeugen. Trotzdem schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er drei Tage nach dem Eingriff zum ersten Mal wieder zu ihr durfte.

»Hallo, Stella«, begrüßte er sie fast schüchtern, als er zu ihr ans Bett trat. Er reichte ihr einen Strauß lachsfarbener Rosen. »Für dich.«

»Danke. Sie sind wundervoll!« Sie war noch blass und merklich angeschlagen. Aber der Glanz in ihren Augen zeugte davon, dass sie sich auf dem Wege der Besserung befand. »Schön, dich zu sehen, Bruderherz.«

»Wirklich? Oder sagst du das nur so?«

Seine Unsicherheit verwirrte sie. So bescheiden kannte sie ihn nicht.

»Eigentlich solltest du wissen, dass ich eine sehr beharrliche Person bin.«

»Das schon. Aber es könnte ja sein, dass du es dir inzwischen wieder anders überlegt hast.« Nachdem die befürchtete Ablehnung ausblieb, setzte sich Moritz auf die Bettkante. Heimlich schickte er einen warmen Dank an Tatjana. Ihrem Zuspruch war es zu verdanken, dass es dieses Treffen geben konnte.

»Nein.« Stella schüttelte den Kopf. »Ich bleibe dabei: Unser Streit war völlig unsinnig. Es tut mir leid, was ich dir alles an den Kopf geworfen habe.« Sie lächelte warm und tastete nach der Hand ihres Bruders.

»Ich habe auch Fehler gemacht.«

»Von denen du keine Ahnung hattest. Und statt dir meine Unzufriedenheit mal an den Kopf zu werfen, habe ich sie jahrelang in mich reingefressen. Das war weder fair noch richtig.«

Sanft streichelte Moritz ihre Hand.

»Zum Glück haben wir das ja aus der Welt geschafft. Ab sofort werde ich alles anders machen.«

»Die Stelle in Dubai sind wir los, oder?«

Als Moritz das hörte, schüttelte er ungläubig den Kopf.

»Hey, du bist gerade dem Tod von der Schippe gesprungen. Kannst du da nicht ausnahmsweise mal an was anderes denken, als an die Arbeit?«

Stella hob den Kopf und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

»Doch! Natürlich! In den vergangenen Tagen habe ich besonders viel darüber nachgedacht, was für ein unverschämtes Glück es ist, einen Bruder wie dich zu haben.«

Diesmal war es Moritz, der betreten wegsah. Er konzentrierte sich auf den Anblick ihrer Hand in der seinen. Das, was er Stella zu sagen hatte, fiel ihm nicht leicht.

»Ich hoffe, das bleibt auch so, wenn wir uns in Zukunft nur noch ab und zu sehen.«

Stella legte den Kopf schief.

»Wie meinst du das?« Ihre Stimme zitterte leicht. »Du gehst allein nach Dubai?«

Lächelnd schüttelte Moritz den Kopf.

»Nein. Aber du wirst gehen. Ich habe mit dem Manager gesprochen. Er will dich unbedingt haben und wartet so lange, bis du wieder gesund bist.«

»Das ist nicht wahr!«, platzte sie ungläubig heraus.

»Natürlich ist das wahr. Das zum Thema: Du bist nur mein Anhängsel. Auf mich hat er ohne mit der Wimper zu zucken verzich­tet.«

»Ich verstehe nicht. Er braucht doch zwei Leute.«

»Nachdem ich ihnen erklärt habe, dass ich so lange bei dir bleibe, bis du wieder ganz gesund bist, hat er einen anderen Bewerber eingestellt, der die Geschäfte allein führt, bis du einsteigen kannst.«

»Oh, Moritz!« Als Stella das hörte, stiegen ihr Tränen in die Augen. »Das hast du für mich getan?«

»Na ja.« Er begann, unruhig auf der Bettkante hin und her zu rutschen. »Ganz so selbstlos bin ich natürlich immer noch nicht«, gestand er. »Ich habe ein anderes, sehr verlockendes Angebot im Oman bekommen.«

»Oman?« Als sie nachdachte, wurden ihre Augen schmal. »Das ist ja nicht weit weg. Dann können wir uns ja oft treffen.«

»Moment mal! Ich dachte, du wolltest dich von mir emanzipieren?«, widersprach Moritz überrascht.

»Zwei Stunden Flug sind Emanzipation genug«, lachte Stella und fiel ihrem Bruder in die Arme.

Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman

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