Читать книгу Dr. Laurin Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5
Оглавление»Bitte, schicken Sie mich nicht fort. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich kann nicht mehr weiter!«
Diese Worte, die Hanna Bluhme, die Sprechstundenhilfe Dr. Leon Laurins, von der jungen hochschwangeren Frau vernahm, waren ein Hilfeschrei. Hanna hörte aus ihnen die seelische Verzweiflung, die tiefer saß als körperlicher Schmerz.
Hanna befand sich in einer schwierigen Situation. Dr. Laurin bereitete sich eben auf eine Operation vor. Nur in dringendsten Notfällen durfte man ihn dabei stören.
»Mir ist so elend. Ich kann doch mein Kind nicht auf der Straße zur Welt bringen. Bitte… Sie sind eine Frau… Sie haben doch ein Herz«, flüsterte die junge Frau.
Hanna überlegte nicht länger. Die Zeit drängte. Dr. Laurin würde Verständnis haben.
»Wie war Ihr Name, bitte?« fragte sie.
»Grohn, Emma Grohn«, flüsterte die Fremde, und mit zitternden Fingern legte sie ein Bündel Hunderteuroscheine auf den Schreibtisch.
»Gehen Sie bitte ins Sprechzimmer.« Hanna deutete auf die Tür. »Ich verständige den Chef.«
Mit schleppenden Schritten, die verrieten, daß sie am Ende ihrer Kräfte war, ging Emma Grohn auf die Tür zu. Hanna sagte indessen schon in das Mikrophon der Sprechanlage: »Bitte, Dr. Laurin in einer dringenden Angelegenheit.«
»Was ist denn nun schon wieder los?« meinte Dr. Laurin unwillig, als Hannas Stimme an sein Ohr tönte.
Vielleicht war es gut für Emma Grohn, daß Dr. Laurin so in Eile war, sonst hätte er womöglich unliebsame Fragen gestellt.
Er kam in Windeseile ins Büro geschossen. »Heraus mit der Sprache, mir pressiert’s«, fuhr er Hanna an, die ihm das aber nicht übelnahm, obgleich er ansonsten ein außerordentlich höflicher Chef war.
Sie erklärte es ihm. »Sie ist in ein paar Stunden spätestens soweit, und das Bett in Zimmer 8 ist noch vor der Zeit frei geworden. Sie zahlt bar im voraus«, fügte sie hinzu.
»Als wäre das wichtig, aber ich möchte die Leute kennen, die ich aufnehme.«
Er ging dennoch ins Sprechzimmer, und schon nach drei Minuten kam er wieder heraus.
»Nehmen Sie die Personalien auf, und legen Sie Frau Grohn ins Zimmer 8«, sagte er.
Hanna atmete auf. Sie lächelte der jungen Frau zu, aufmunternd, beruhigend, mütterlich. »Sie haben Glück gehabt«, sagte sie.
Mit müder Stimme sagte die Fremde Namen, Geburtstag und -ort und alles, was Hanna sie fragte. Daß sie manchmal zögerte, fiel nicht so sehr auf, weil Frauen in diesem Stadium manchmal die verwirrendsten Angaben machten. Hanna wußte das. Sie war lange genug in der Prof.-Kayser-Klinik.
»Wie sind Sie denn ausgerechnet auf uns gekommen?« fragte sie freundlich, als sie die junge Frau auf die Station geleitete.
»Ich habe ins Telefonbuch geschaut«, kam die Erwiderung. Hanna ging nach ihrem Gefühl. Ihr war die junge Frau sympathisch. So verschreckt wirkte sie. Wahrscheinlich hatte sie höllische Angst vor ihrer ersten Entbindung.
»Wollen Sie Ihren Mann nicht benachrichtigen?« fragte sie fürsorglich, als sich Emma Grohn schwer auf dem Bett niederließ.
»Mein Mann ist im Ausland, auf einer Geschäftsreise«, erwiderte sie rasch. »Ich weiß gar nicht, wo ich ihn jetzt erreichen kann. Er rechnet damit, daß das Kind erst in vierzehn Tagen kommt. Ich wollte nämlich zu meiner Schwester, aber…«
Stöhnend sank sie zurück, und vorsichtshalber läutete Hanna gleich nach Dr. Rasmus, der Dienst auf der Station machte.
*
Dr. Rasmus interessierte in allererster Linie der Zustand einer Patientin. Überflüssig dünkende Fragen stellte er nie. Seine junge Frau Ulla hatte vor ein paar Monaten ihr erstes Kind zur Welt gebracht, und seither fühlte er noch mehr mit den Frauen, die in der gleichen Situation waren. Allerdings auch mit den Vätern.
Er hielt Emma Grohns Hand. »Es dauert noch ein paar Stunden. Entspannen Sie sich, denken Sie an etwas Schönes, freuen Sie sich auf Ihr Baby. Es wird alles gutgehen. Sie brauchen keine Befürchtungen zu hegen.«
Ebenfalls in diesem Zimmer lag Inge Büren. Sie hatte sich bisher still verhalten, aber als Dr. Rasmus zu einer anderen Patientin gerufen wurde, begann sie zu sprechen.
»Mir ging es auch so wie Ihnen. Ich hatte närrische Angst. Aber hier sind Sie gut aufgehoben. Es sind alles nette Ärzte. Dr. Laurin ist überhaupt der beste, den es gibt.«
Emma Grohn empfand dies beruhigend. Da hatte sie sich anscheinend die richtige Adresse herausgesucht.
»Wohnen Sie in München?« fragte Inge Büren.
»Nein, in Berlin«, erwiderte Emma Grohn mechanisch.
»Jesses, das ist aber ein Endchen weg. Wie sind Sie denn hergekommen? Etwa auf Urlaub? Meiner Schwägerin ist das so gegangen. Sie hat gar nicht gedacht, daß das Kind so schnell kommen würde, und da ist sie mit ihrem Mann noch zur Silberhochzeit von den Schwiegereltern gefahren. Und unterwegs mußten sie dann aus dem Wagen, weil das Kind kam. Das war eine Aufregung. Aber es ist alles gutgegangen. Deswegen bin ich von Garmisch hierher in die Klinik gekommen, weil sie alle so goldig mit der Annette waren.«
Es war Emma Grohn gar nicht unangenehm, daß ihre Zimmernachbarin so lebhaft redete.
»Dann sind Sie auch regelrecht überrascht worden?« fragte Inge Büren nun.
»Ja, es kam ganz plötzlich. Mir war so elend. Ich habe mich nicht mehr weitergetraut.«
Elend war es ihr allerdings erst geworden, als sie vor Irenes verschlossener Wohnung gestanden hatte. Und dabei hatte Irene doch genau gewußt, daß sie bei ihr auf Horst warten wollte.
Emma Grohns Gedanken kreisten unaufhörlich um dieses Rätsel, das sie eine ganze Nacht wach gehalten hatte, aber ganz plötzlich überfiel sie eine bleierne Müdigkeit und sie schlief ein.
Inge Büren war so erschrocken, daß sie nach der Schwester läutete.
Schwester Otti fühlte erschrocken nach dem Puls von Emma Grohn. »Sie schläft«, sagte sie, »sie schläft tatsächlich.«
»Na, die muß Nerven haben«, meinte Inge Büren munter, denn sie konnte nicht ahnen, daß Emma Grohn nur aus totaler Erschöpfung eingeschlafen war.
*
Dieser Schlaf dauerte allerdings nicht lange, denn ziehende Schmerzen brachten Emma Grohn wieder in das Bewußtsein zurück.
Dr. Laurin war gerade mit seiner Operation fertig, als er zu ihr gerufen wurde.
»Ach, die Neue«, bemerkte er beiläufig und sah Hanna an. »Ist alles in Ordnung?«
»Alles«, versicherte sie, »tausend Euro hat sie hinterlegt.«
»Ich meine doch nicht das Geld, ich meine ihre Personalien. Ich habe nämlich keine Lust, mal wieder ein Fiasko zu erleben.«
Hoffentlich nicht, dachte Hanna beklommen, denn ganz sicher war sie sich doch nicht, ob alles stimmte, was die Fremde gesagt hatte, aber sie ging nach ihrem Gefühl, und das sagte ihr, daß diese junge Frau wohl Kummer haben mochte, aber ganz bestimmt ehrlich war.
Augenblicklich gab sich Dr. Laurin keinen Überlegungen mehr hin. Er war Arzt, und in Bezug auf das Kinderkriegen machte ihm Emma Grohn keinerlei Schwierigkeiten. Die Entbindung ging schnell und glatt vonstatten. Schon eine knappe Stunde später konnte er ihr einen gesunden, kräftigen Jungen in den Arm legen.
»Na, hat es sich gelohnt?« fragte er freundlich.
Sie lächelte unter Tränen. »Mein süßer, kleiner Sohn«, sagte sie zärtlich, und wenn eine junge Mutter sich so freute, schwiegen bei Dr. Laurin alle unterschwelligen Zweifel.
*
Es war Mitternacht. Dr. Laurin hatte nachmittags keine Sprechstunde. Seine Frau Antonia war mit den Kindern am See im Alpenvorgebirge, weil die Zwillinge Konstantin und Kaja ihren Skikurs nicht unterbrechen sollten, und am Wochenende wollten sie den Geburtstag seines Schwiegervaters, Professor Kayser, am See feiern.
Frau Grohn hatte sich mit der Geburt so beeilt, daß er sein Vorhaben, ein Geburtstagsgeschenk für Joachim zu kaufen, noch in die Tat umsetzen konnte.
Er wußte auch schon, was er ihm kaufen wollte, aber er mußte vorher noch zur Bank fahren.
»Die Banken haben aber schon zu«, stellte Hanna fest, als er das bemerkte. »Aber Sie können doch mal in die Kasse greifen. Chef, wir haben ja genug darin. Wieviel brauchen Sie denn?«
»So vierhundert«, meinte er. »Antonia hat da ein besonders schönes, handgeschnitztes Schachspiel gesehen.«
Hanna gab ihm die Scheine.
»Der Professor wird sich freuen«, meinte sie noch.
»Na, manchmal bin ich mir nicht sicher, ob wir ihm nicht lieber Spielzeug schenken sollten, das seine Enkel dann aufarbeiten können«, lachte Dr. Laurin.
Professor Kayser war ein närrischer Großpapa. Niemand, der ihn von früher kannte, hätte ihm das zugetraut, aber er stellte es tagtäglich unter Beweis. Natürlich war auch er mit seiner Frau Teresa im Ferienhaus, um die Skikünste der Kleinen zu bewundern und auf sie aufzupassen. Er meinte, daß es auf jeden Fall gut sei, wenn die Ärzte gleich immer zur Stelle wären, und wenngleich auch Antonia Laurin Ärztin war, setzte er auf sie nicht so sehr, denn wenn es um ihre Kinder ging, geriet sie doch leicht in Panik.
Daß es bei ihm nicht anders war, hätte man ihm nicht sagen dürfen.
Während Dr. Laurin sich nun mit seinem Sportwagen den Weg durch das dichte Verkehrsgewühl bahnte, dankte er Gott, daß er das nicht jeden Tag mußte. Früher, als er seine Praxis noch in der Stadt gehabt hatte, machte ihm das überhaupt nichts aus, aber mit den Jahren liebte er die Geruhsamkeit.
Das Geschäft, in dem er das Schachspiel besorgen sollte, lag in der Nähe seiner früheren Praxis. Irgendwie bekam er immer seltsame Gefühle, wenn er in diese Gegend kam.
Recht dramatisch hatte ihre Liebe hier begonnen, dort in jenem Haus, in dem Dr. Borchert, der Zahnarzt, noch immer seine Praxis hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich das Antiquitätengeschäft.
Fürsorglich hatte Antonia das Schachspiel bereits reservieren lassen. Es war ein selten schönes Stück. Daran konnte er sich auch begeistern.
Es wurde ihm eingepackt, er zahlte und ging. Er überlegte, ob er noch auf einen Sprung zu Matthias Borchert gehen sollte, ließ es dann aber doch. Ohne Antonia machte ihm überhaupt nichts Spaß. Wenn ihm jemand das vor acht Jahren gesagt hätte, dem hätte er ins Gesicht gelacht.
Ja, so änderten sich die Zeiten!
Dennoch folgten ihm auch jetzt noch lockende Blicke aus Frauenaugen. Er sah wie eh und je blendend aus, ein Mann, von dem die Frauen zwischen siebzehn und siebzig träumten. Nur, jetzt nahm er es nicht mehr zur Kenntnis.
Hoffentlich ist Konstantin nicht zu ungestüm, dachte er. Um Kaja brauchte er sich solche Sorgen nicht zu machen. Darin unterschieden sich die Zwillinge, die sich äußerlich so ähnlich waren. Kaja war ein süßes, sanftes Mädchen, Konstantin ein Treibauf, und Kevin versprach auch einer zu werden.
Herrgott, wie ihm Antonia und die Kinder fehlten! Und die gute treue Karin, die den Strohwitwer versorgte, machte auch schon ein betrübtes Gesicht.
Leon Laurin fuhr lieber noch mal in die Klinik, damit der Abend nicht gar zu lang wurde.
*
Erschöpft war Emma Grohn eingeschlafen. Wirre Träume warfen sie unruhig hin und her.
»Horst!« stöhnte sie laut, und ihre eigene Stimme riß sie aus dem Schlummer. Zitternd und schweißgebadet lag sie in ihrem Bett. Angstvoll blickte sie zu Inge Büren hinüber.
»Habe ich phantasiert?« fragte sie beklommen.
»Horst, haben Sie gerufen. Das ist wohl Ihr Mann?«
»Mein Bruder«, stammelte Emma Grohn.
Inge Büren schwieg. Sie war zwar redselig, aber nicht taktlos. Vielleicht hatte ihre Bettnachbarin gar keinen Mann. Sie dachte da völlig liberal. Ihr war es gleich, ob eine Frau verheiratet oder nicht verheiratet ein Kind bekam. Sie konnte es nur nicht verstehen, wenn Frauen die Kinder nicht haben wollten.
»Haben Sie Hunger?« fragte sie freundlich. »Sie haben vorhin gar nichts gegessen. Es ist ja nicht so wie bei Operierten. Liebe Güte, ich habe einen Appetit gehabt, als alles überstanden war. Na, hoffentlich gehe ich jetzt nicht ganz aus der Form. Aber eigentlich macht es meinem Mann gar nichts aus. Hauptsache, du bist gesund, sagt er immer. Mein Sohn ist ein schöner Brocken. Sie werden ihn ja sehen. Jetzt bringen sie ihn gleich zum Stillen.«
Da ging die Tür schon auf, und Büren junior wurde hereingefahren. Er schrie Zeter und Mordio.
»Kommt mein Baby nicht?« fragte Emma Grohn zaghaft.
An der Brust seiner Mutter hatte sich auch der kleine Büren schnell beruhigt, und Emma Grohn konnte bald auch ihren kleinen Sohn im Arm halten.
Sie betrachtete ihn mit tränenfeuchten Augen. »Mein Liebling«, flüsterte sie. »Wir haben uns doch so auf dich gefreut. Nun müssen wir beten, daß dein Papi bald wiederkommt. Es muß gut werden.«
Das Kind wußte nichts von ihrem Schmerz, den niemand ahnen konnte. Die Fäustchen an die Wangen gedrückt, schlummerte es in ihrem Arm, und sie drückte ihre Nase an das mit seidigem Flaum bedeckte Köpfchen.
»Wie soll er denn heißen?« fragte Schwester Otti, als sie den Kleinen wiederholte.
»Tobias«, erwiderte Emma Grohn leise.
»Das heißt: Gott ist gut«, sagte Schwester Otti, die sich neuerdings mit Namensdeutung befaßte.
»Ja, ich weiß. Man muß daran glauben«, erwiderte Emma Grohn.
»Blümchen, ich meine Frau Bluhme, wird nachher noch mal zu Ihnen kommen, Frau Grohn. Sie braucht noch Angaben über Ihren Mann und bezüglich der Anmeldung. Das hat sie vorhin vergessen. Es ging ja alles ein bißchen Hals über Kopf.«
Aber als Hanna dann kam, schlief Emma Grohn wieder, oder wenigstens tat sie so, und Hanna meinte, daß es mit dem Nachtrag auch noch bis morgen Zeit hätte.
*
Für Leon Laurin wäre es eigentlich eine geruhsame Nacht gewesen, in der nichts ihn störte. Daß er dennoch nicht ruhig schlafen konnte, lag daran, daß er Antonia vermißte, nicht nach ihrer Hand greifen konnte und ihren Atem nicht hörte.
Karin hatte ihn wie immer gut versorgt. Sie hatten gemeinsam vor dem Fernsehapparat gesessen und sich ein Fußballspiel angeschaut.
Punkt zehn Uhr hatte Leon seine Frau angerufen, weil er dann sicher sein konnte, daß niemand sie störte, aber ihre Stimme klang ihm noch lange in den Ohren, und er wußte, daß sie nach ihm eben solche Sehnsucht hatte, wie er nach ihr.
Er hatte noch ein bißchen lesen wollen und mit den Tageszeitungen eine alte Illustrierte erwischt. Sonst kam er nie dazu, einen Blick hineinzuwerfen, denn ein Gespräch mit Antonia war ihm wichtiger als der Klatsch, der in solchen Illustrierten verbreitet wurde.
Er blätterte auch nur achtlos darin. Sein Blick fiel auf eine Schlagzeile:
›Der mysteriöse Bankraub in Berlin‹, sah das Bild eines Mannes und einer Frau und blätterte weiter, aber irgend etwas in seinem Gehirn reagierte, und er blätterte zurück.
Er sah die Bilder noch einmal an. Zum Lesen war er zu faul. War da nicht eine Ähnlichkeit mit jemandem, den er schon einmal gesehen hatte?
Unsinn, dachte er, in Berlin war ich schon ewig nicht mehr, und schlug die Zeitung zu.
Er schlief dann doch ein, und am Morgen hatte er bereits alles vergessen, weil er wieder an seine Klinik dachte und an das, was vor ihm lag.
Karin hatte den Frühstückstisch bereits gedeckt. Alles war so, wie er es gern hatte. Er brauchte nichts zu entbehren außer Antonias Gesellschaft.
Wahrscheinlich ist es der Kaminkehrer, dachte er, als es läutete.
Karin erschien im Bauernzimmer, und ihre Miene verhieß nichts Gutes. »Da sind zwei Herren von der Kripo, Chef, die wollen Sie unbedingt sprechen«, sagte sie.
Ach, du liebe Güte, was ist denn nun wieder los? dachte Leon Laurin.
Der eine Beamte tat sehr dienstlich. »Herr Dr. Laurin?« fragte er.
»In Lebensgröße«, erwiderte Leon. »Was ist los?«
»Sie haben gestern in einem Antiquitätengeschäft vier Hunderteuroscheine in Zahlung gegeben.«
»Ganz richtig, bei Egon Meyer. Darf man nicht mehr bar zahlen?« fragte Leon ironisch.
»Diese Scheine stammen aus einem Bankraub.«
»Meine Scheine? Daß ich nicht lache!« sagte Leon erbost. »Sie wollen mir doch nicht unterstellen, daß ich einen Bankraub begangen habe?«
Er war wütend. Er explodierte leicht.
»Wir möchten nur wissen, woher Sie die Scheine haben«, sagte der Beamte sanft.
Leon Laurin faßte sich an die Stirn. »Woher ich die Scheine habe? Guter Gott, meine Sprechstundenhilfe hat sie mir gegeben. Ich brauchte Geld, um ein Geschenk für meinen Schwiegervater zum Geburtstag zu kaufen, und die Banken hatten geschlossen.«
»Sie hätten doch mit einem Scheck zahlen können«, mischte sich der andere Beamte ein.
»Mit einem Scheck? Die Scheckbücher hat meine Frau, und sie ist mit meinen Kindern im Wochenende. Ich kümmere mich um das Geld eigentlich gar nicht. Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß meine Hunderteuroscheine aus einem Bankraub stammen?«
»Weil die Nummern der Hunderter und Tausender aus der Beute registriert sind. Die kleineren Noten allerdings nicht. Wir nehmen an, daß die den Räubern ausgegangen sind und sie nun an die größeren heran müssen. Wir wollen Sie doch nicht verdächtigen, Herr Doktor. Wir hoffen nur, daß Sie uns auf eine Spur bringen können.«
»Da müssen wir Frau Bluhme fragen, meine Sprechstundenhilfe«, sagte Leon Laurin nachdenklich.
Mehr wollte er nicht sagen, aber seine Gedanken arbeiteten fieberhaft.
»Wie groß war denn die Beute?« fragte er, während er seinen Mantel anzog.
»Vierhundertzwanzigtausend.«
Leon pfiff durch die Zähne.
»Halleluja«, sagte er, »das hat sich gelohnt.« Diese Summe hatte er doch kürzlich einmal gehört oder gelesen. Er nahm sich nicht die Zeit, in seinem noch immer müden Kopf zu forschen, denn jetzt dachte er erstmal wieder an seine Klinik und an die Unannehmlichkeiten, die auf ihn zukommen konnten. Denn Hanna konnte das Geld eigentlich nur von einer Patientin bekommen haben.
Karin war die verkörperte Empörung. Daß Kriminalbeamte es wagten, in ihr Haus einzudringen, schockierte sie. Daß der Chef aber gemeinsam mit den Beamten das Haus verließ, brachte sie in Rage.
»Keine Angst, Karin, ich habe nichts verbrochen«, sagte Leon lächelnd.
»Das weiß ich, aber niemand hat das Recht, Sie mitzunehmen.«
»Ich gehe ja freiwillig«, beruhigte er sie. »Die Herren brauchen nur ein paar Auskünfte. – Fahren wir mit meinem Wagen«, schlug er draußen vor. »Den brauche ich nachher.«
»Wir kommen nach, Herr Doktor«, sagte der ältere Beamte höflich.
»Eigentlich würde ich mich gern noch mit Ihnen unterhalten«, sagte Leon.
»Gern.« Kriminalkommissar Thal setzte sich neben ihn. »Ich hoffe, Sie haben Verständnis für unsere Ermittlungsarbeit. Sie ist nicht immer angenehm«, sagte er.
»Sie müssen bei mir völlige Unwissenheit voraussetzen«, erklärte Leon. »Ich lese keine Zeitungen, höre kaum Nachrichten, und wenn ich etwas höre, habe ich es spätestens am nächsten Morgen im OP vergessen. Hat der Bankraub hier stattgefunden?«
»Nein, in Berlin«, erwiderte der Kommissar. »Der Hauptverdächtige war ein Kassierer, der erst ein paar Wochen in der Bank beschäftigt war und danach die Flucht ergriff. Es war vor fünf Monaten. Wir haben nicht die geringste Spur von ihm gefunden. Er heißt Geßner. Ihre Hunderteuroscheine sind die ersten, die aufgetaucht sind. Wenigstens bei uns. Wir arbeiten jetzt natürlich auf Hochtouren, und wenn wir bei Ihnen einen Hinweis finden können, sind wir sicher ein Stück weiter.«
Gebe Gott, daß sich alles in Wohlgefallen auflöst und unsere Klinik nicht auch noch in einen Bankraub verwickelt wird, dachte Leon Laurin.
Es war noch nicht ganz acht Uhr, als sie in der Klinik ankamen, aber Hanna Bluhme war schon an ihrem Platz.
»Das ist Frau Bluhme, meine bewährte und über jeden Verdacht erhabene Sprechstundenhilfe«, sagte Leon mit einem warnenden Unterton, den Hanna allerdings sehr gut verstand. Und zu ihr gewandt, fuhr er fort: »Es handelt sich um die Hunderteuroscheine, die Sie mir gestern gegeben haben, Hanna. Die Herren sind von der Kriminalpolizei.«
Hanna klammerte sich an die Schreibtischkante.
»Es kommt so überraschend«, stammelte sie. »Ich muß erst überlegen.«
Sie will nur Zeit gewinnen, dachte Leon, der Blümchen schon sehr gut kannte. Aber was hat sie für einen Grund?
»Verschiedene Patientinnen haben gestern bar bezahlt«, sagte sie zögernd.
Dr. Laurin kam ihr zu Hilfe. »Sie werden verstehen, Herr Kommissar, daß wir nicht irgend jemanden verdächtigen können. Es würde dem Ruf unserer Klinik schaden, wenn wir alle Namen preisgeben und die Damen dann in ein Verhör verstrickt würden, obgleich sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu schaffen haben.«
»Wir wollen ja auch nicht behaupten, daß diese Dame zu den Bankräubern gehört. Wir möchten nur wissen, woher sie das Geld hat«, erklärte Kommissar Thal. »Ich habe durchaus Verständnis, daß Sie diese Angelegenheit unter aller Diskretion behandelt wissen wollen.«
Dr. Laurin blickte auf die Uhr. »Ich muß in den OP«, sagte er mit gekünstelter Ruhe. »Überlegen Sie in aller Ruhe, Blümchen. Aber bevor es zur Befragung einer Patientin kommt, möchte ich informiert werden. Ich kann keinesfalls zulassen, daß der Gesundheitszustand der Betroffenen darunter leidet.«
»Wir werden das alles berücksichtigen«, versprach der Kommissar.
*
So war der Stand der Dinge, als Dr. Laurin sich seiner unaufschiebbaren Arbeit zuwandte. Hanna Bluhme wünschte den Kommissar und seinen Begleiter, mit Verlaub zu sagen, zum Teufel. Sie wußte natürlich genau, von wem diese vier Hunderteuroscheine stammten und hatte noch sechs weitere in der Kassette verschlossen, die eventuell auch falsch sein konnten; aber sich Emma Grohn als Komplizin eines Bankräubers vorzustellen, war ihr unmöglich.
»Ich begreife noch immer nicht ganz«, sagte sie. »Es handelt sich also um einen Bankraub, wie ich Ihren Worten entnehmen konnte. Hat er erst kürzlich stattgefunden?«
Kommissar Thal betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Eine außerordentlich nette Frau in mittleren Jahren, war der erste und überzeugende Eindruck, den er von ihr gewonnen hatte. Gewiß keine Frau, die mit Kriminellen unter einer Decke stecken würde. Aber dieser Geßner, den man des Raubes beschuldigte, sollte auch ein sehr anständiger, sympathischer Mann gewesen sein nach der Aussage seiner Kollegen, die sich vor ihn gestellt hatten, bis er flüchtete.
»Ist Ihnen der Name Geßner bekannt?« fragte er.
»Geßner? Nein, eine Patientin dieses Namens haben wir nicht«, erwiderte Hanna, schon ein wenig erleichtert.
Es klang durchaus aufrichtig.
»Der Bankraub fand in Berlin statt, vor fast fünf Monaten«, erklärte Kommissar Thal nun. »Ein paar Wochen vorher war ein Kassierer angestellt worden, der früher in München wohnte. Er war jung verheiratet, und seine Anstellung erfolgte auf Empfehlung eines Prokuristen der Bank, der sich als Anlageberater selbständig machte. Man war höchst zufrieden mit Herrn Geßner und vertraute ihm.«
»Ja, ich kann mich dunkel erinnern, einmal so etwas gelesen zu haben«, sagte Blümchen. »Aber man vergißt das ja so schnell, weil dauernd etwas Neues passiert, und Banküberfälle sind heute ja schon beinahe an der Tagesordnung.«
»Leider. Hierbei handelt es sich aber um die Summe von vierhundertzwanzigtausend Euro. Der Überfall erfolgte nicht im Kassenraum, sondern zu nächtlicher Stunde wurde der Tresor ausgeräumt. Der oder die Täter haben nicht die geringsten Spuren hinterlassen. Die Alarmanlage war unterbrochen, der Tresor wurde mit Nachschlüsseln geöffnet.«
»Umgebracht aber wurde wohl niemand?« fragte Blümchen ängstlich.
»Nein, aber jetzt geht es um die Aufklärung. Diese Hunderteuroscheine sind die erste Spur. Der Räuber muß in Druck sein, wenn er sie jetzt unter die Leute bringt. Sie sehen also, wie wichtig es ist, daß wir jede noch so kleine Spur verfolgen, Frau Bluhme.«
»Ja, das sehe ich ein, aber würden Sie mir etwas Zeit lassen, damit ich alles nachkontrollieren kann, damit kein Verdacht auf Unbeteiligte fällt?«
Sie hatte ein ganz ungutes Gefühl, Kommissar Thal aber auch. Sie will jemanden decken, dachte er. Vielleicht eine Krankenschwester, eine Patientin, – oder das Geld stammt von ihr selbst. Sie mochte es von jemandem bekommen haben, den sie schützen wollte.
»Gut, ich komme mittags wieder. Vielleicht können Sie bis dahin eine Liste machen von den Leuten, von denen Sie Bargeld in Empfang genommen haben und wieviel«, sagte er.
»Danke, Herr Kommissar«, sagte sie leise.
*
Was nun? dachte Blümchen eine Stunde später. Sie saß erstmals hinter verschlossener Tür in ihrem Büro. Vor sich die Kassette mit dem Geld, das heute eigentlich zur Bank gebracht werden sollte. Sie konnte natürlich nicht unterscheiden, von wem dies und von wem jenes war, denn sie kannte die Nummern der gestohlenen Scheine nicht. Aber wenn sie das Geld zur Bank brachte, würde es herauskommen.
Sie hatte alles fein säuberlich aufgeschrieben. Nein, sie konnte es drehen, wie sie wollte, Frau Grohn hatte ihr zehn Hunderteuroscheine gegeben, obgleich sie soviel gar nicht annehmen wollte.
Ob Frau Grohn einen Ausweis bei sich hatte?
Hanna Bluhme gab sich einen Ruck. Konnte, durfte sie eigenmächtig handeln? Mußte sie nicht erst mit dem Chef Rücksprache nehmen?«
Sie schloß das Geld und ihre Aufstellung wieder weg und machte sich auf den Weg zu Emma Grohns Zimmer.
Inge Büren schien sich mit Emma Grohn unterhalten zu haben, und so war es dieser nicht mehr möglich, die Schlafende zu spielen. Hanna sah, daß sie sehr unruhig war.
»Es tut mir leid, wenn ich stören muß«, sagte Hanna, »aber ich brauche von Ihnen noch ein paar Angaben, Frau Grohn.«
Inge Büren bewies unerwarteten Takt. »Ich schau mal, ob mein Mann kommt«, sagte sie freundlich. »Ich werde doch nicht gerade in die Visite hineinlaufen?«
»Dr. Laurin operiert noch«, erwiderte Hanna, ihr einen dankbaren Blick zuwerfend, den Inge Büren richtig deutete.
Sie machte sich ja schon ihre eigenen Gedanken über ihre Bettnachbarin und war überzeugt, daß diese über den Vater ihres Kindes keine Auskunft geben konnte oder wollte. Zumindest nicht vor ganz Außenstehenden, wenn es auch für die Kartei unvermeidlich sein würde.
Hanna holte tief Luft, als Inge Büren das Zimmer verlassen hatte. »Haben Sie einen Personalausweis bei sich, Frau Grohn?« fragte sie gepreßt.
»Brauchen Sie den?« kam die Gegenfrage.
»Wir müssen uns leider an gesetzliche Vorschriften halten.«
»Aber ich habe doch bezahlt. Ich kann Ihnen noch mehr Geld geben«, flüsterte die junge Frau.
»Frau Grohn, ich will Sie nicht erschrecken, aber wir hatten heute morgen schon Besuch von der Kripo. Die Hunderteuroscheine stammen aus einem Bankraub. Wenn Sie mir sagen können, woher Sie diese bekommen haben, brauchen Sie nichts zu fürchten.«
Alles Blut war nun aus dem Gesicht der Patientin gewichen, und plötzlich rollten Tränen über ihre Wangen.
»Nein!« stöhnte sie. »Ich glaube es nicht, ich will es nicht glauben!«
»Was wollen Sie nicht glauben?« fragte Hanna, sanft nach ihrer Hand greifend.
»Ich kann es nicht sagen. Man hat mir das Geld geschickt. Aber Sie können meinen Ausweis haben«, flüsterte sie.
Das eine war mit dem anderen nicht recht in Einklang zu bringen. Hanna war bestürzt.
»Im Nachtschrank ist meine Tasche«, sagte Emma Grohn drängend.
Mechanisch zog Hanna das Schubfach auf. »Bitte«, sagte sie.
Mit zitternden Händen entnahm Emma Grohn einen Personalausweis aus einem Seitenfach und reichte ihn Hanna.
Sie klappte ihn auf. Ein Bild war darin, auf dem Emma Grohn Jahre jünger sein mochte und eine andere Frisur trug, aber es bestand kein Zweifel, daß es ihr Bild war. Es war sehr deutlich, viel deutlicher als die meisten Paßfotos.
Sie las auch die Personalien. »Sie heißen eigentlich Emilia Grohn«, murmelte sie.
»Alle nennen mich Emma«, stieß die junge Frau hervor. »Es ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.«
»Sie sind nicht verheiratet?« fragte Hanna dann behutsam.
Emma Grohn schüttelte den Kopf. »Man sagt es nicht gern«, flüsterte sie.
»Sie brauchen sich nicht zu genieren«, meinte Hanna freundlich. »Ihr Sohn wird also den Namen Grohn tragen.«
»Ja«, erwiderte die andere.
»Dann bliebe noch das Geld.«
»Wissen die Beamten, von wem Sie es haben«, fragte Emma Grohn leise.
»Nein, noch nicht, aber ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich will nicht, daß Sie Unannehmlichkeiten haben, aber dummerweise sind die Nummern der Banknoten der Polizei bekannt.«
Sie hatte tatsächlich dummerweise gesagt. Emma Grohn tat ihr in der Seele leid.
»Sie werden doch wissen, woher Sie das Geld bekommen haben«, meinte Hanna behutsam.
»Ich bekam es geschickt. Ich dachte… Mein… Ich werde nichts sagen. Horst hat nichts mit dem Bankraub zu tun.«
»Horst?« fragte Hanna wachsam.
Emilia Grohn – Hanna fand, daß der Name Emilia besser zu ihr paßte als Emma – preßte die Lippen aufeinander.
»Es tut mir leid«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Sie waren so nett zu mir, aber ich werde auch der Polizei nichts sagen. Ich hatte kein Geld mehr. Jemand hat mir das Päckchen geschickt, ich weiß nicht wer. Es war kein Absender darauf. Ich dachte, es wäre eine Freundin.«
»Wieviel war es denn im ganzen?« fragte Hanna.
»Ich habe Ihnen schon zuviel gesagt«, flüsterte Emilia Grohn. »Sie bekommen nur Schwierigkeiten.«
»Ich möchte ihnen helfen«, sagte Hanna Bluhme.
»Danke, aber mir kann niemand helfen. Schicken Sie die Herren ruhig zu mir.«
»Na, da wird Dr. Laurin auch noch ein Wörtchen mitzureden haben«, sagte Hanna bestimmt.
Nun haben wir wieder das schönste Dilemma, dachte sie, und ich habe es dem Chef eingebrockt.
*
Mit ahnungsvoller Miene kam Dr. Laurin nach der Operation ins Büro.
Er musterte Hanna Bluhme durchdringend.
»Haben die Herren erfahren, was sie wollten?« fragte er.
»Bis jetzt noch nicht«, erwiderte sie wortkarg.
»Darf ich erfahren, was Sie wissen, Blümchen?«
»Das Geld hat mir Frau Grohn gegeben. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie eintausend Euro anbezahlt hat.«
»Warum so aggressiv? Ich nehme an, daß die anderen Scheine auch heißes Geld sind.«
»Sie hat damit bestimmt nichts zu tun. Sie hat nur Angst.«
»Sie sind ein Schäfchen, Blümchen. Auf eine Unschuldsmiene kann man doch nichts geben.«
»Sprechen Sie erst mit ihr. Vielleicht sagt sie Ihnen mehr als mir. Sie verstehen es doch mit den Frauen.«
Er lachte leise. »Das könnte ich jetzt ja falsch auffassen, aber ich kennen Sie. Natürlich werde ich mit ihr sprechen.«
»Es tut mir leid, Chef. Ich habe Ihnen die Suppe eingebrockt.«
»Es ist ja kein Falschgeld, und auch dann wäre Ihnen kein Vorwurf zu machen. Die Frau bekam ein Baby. Es war höchste Zeit, und einen Vorwurf könnten wir uns höchstens machen, wenn wir sie weggeschickt hätten und etwas schiefgegangen wäre. Wir haben die Pflicht zu helfen, unbesehen etwaiger Schwierigkeiten. Ihre Probleme muß Frau Grohn allerdings dann selbst aus der Welt schaffen, wenn das möglich ist.«
»Ich weiß nicht, ob es eine Frau oder ein Fräulein Grohn ist«, sagte Hanna. »Sie hat jedenfalls einen noch gültigen Ausweis, und nach dem ist sie unverheiratet.«
Dr. Laurin ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. »Meine Frau hat auch noch geraume Zeit ihren Paß mit dem Mädchennamen gehabt«, bemerkte er. »Niemand hat ihn ihr abverlangt. Unsere Behörden scheinen da recht großzügig zu sein, aber wir werden sehen.«
*
Er ließ Frau Grohn ins Untersuchungszimmer bringen, um allein und unbelauscht zu sein.
»Sie haben schon von den Schwierigkeiten gehört, Frau Grohn«, begann er.
»Es tut mir leid, Herr Doktor«, sagte sie gepreßt.
»Es gibt zwei Möglichkeiten: Wenn Sie schweigen, besteht die Möglichkeit, daß man Sie in das Krankenrevier des Untersuchungsgefängnisses bringt, aber wenn Sie mir die Wahrheit sagen, kann ich mich dafür verwenden, daß ich Sie unter meinem Schutz behalte. Ich mache keine Umschweife, weil die Zeit drängt. Für mich sind Sie eine Patientin wie jede andere.«
Sie starrte ihn mit traurigen Augen an. »Wenn das Geld aus dem Bankraub stammt, kann ich den Aufenthalt nicht bezahlen«, flüsterte sie.
»Darüber sollten Sie sich die geringsten Sorgen machen«, bemerkte Dr. Laurin, dem klar wurde, daß sie keine Ahnung gehabt hatte, daß das Geld aus diesem Bankraub stammen könnte.
Sonst hätte sie es Hanna Bluhme nicht buchstäblich aufgedrängt.
»Ich möchte für Sie tun, was in meiner Macht steht, Frau Grohn, aber bitte, haben Sie Verständnis dafür, daß dies nur möglich sein kann, wenn Sie mir reinen Wein einschenken. Ich bin für diese Klinik verantwortlich. Ich kann mich nicht ins Zwielicht setzen. Das einzige, was ich für Sie tun kann, ist für Sie und Ihr Verbleiben in der Klinik zu garantieren, bis sich die ganze Geschichte aufgeklärt hat. Wollen Sie mir jetzt nicht alles erzählen?«
»Ich kann meinem Mann nicht in den Rücken fallen. Er hat mit dem Raub nichts zu tun. Er hat es mir geschworen beim Leben unseres Kindes, und wir haben uns so sehr auf das Kind gefreut.«
Sie merkte nicht, daß das Tonband summte, das Leon vorsichtshalber installiert hatte. Er war froh, daß er sich diesen hochmodernen Apparat zugelegt hatte, nachdem er schon einige trübe Erfahrungen hatte machen müssen.
»Horst ist Ihr Mann, und ich nehme an, daß es der gleiche Horst Geßner ist, dem man diesen Bankraub zur Last legt«, sagte er ruhig.
»Er ist dazu gar nicht fähig«, sagte sie unter Tränen. »Ich weiß nicht, wer ihm das in die Schuhe schieben will und warum er geflüchtet ist. Er muß durchgedreht sein, Herr Doktor, bitte, glauben Sie mir doch.«
»Ich will Ihnen ja glauben, aber vor allem muß uns die Polizei glauben, und was noch wichtiger ist, Ihrem Mann muß geholfen werden, wenn Sie von seiner Schuldlosigkeit so überzeugt sind. Sie können ihm vielleicht als einzige helfen, haben Sie daran noch nicht gedacht?«
»Aber wie?«
»Zum Beispiel, wenn zurückverfolgt werden kann, woher Sie das Geld haben.«
Sie verkrampfte die Hände in der Bettdecke. »Aber ich dachte doch, daß Horst es mir geschickt hat, weil er wußte, daß das Kind jetzt zur Welt kommen wird. Ich habe ihn fast fünf Monate nicht gesehen. Aber jetzt denke ich manchmal, daß er vielleicht doch in die Geschichte verwickelt ist, und ich frage mich… Nein, ich will nicht diejenige sein, die ihn ans Messer liefert. Ich liebe ihn.«
Dr. Laurin blickte teilnahmsvoll auf die junge Frau. »Erzählen Sie mir alles der Reihe nach«, sagte er beschwörend.
*
Emilia Grohn oder Geßner, wie sie eigentlich hieß, begann mit stockender Stimme: »Wir kennen uns schon sechs Jahre. Horst war achtzehn, und ich war sechzehn. Wir mochten uns gleich, weil wir beide ein bißchen schüchtern waren und es vielleicht immer bleiben«, fügte sie leise hinzu. »Wir beschlossen schon damals, zusammenzubleiben. Horst stammt aus einer einmal begüterten Familie. Der Vater von Horst war Bankdirektor gewesen. Horst war kein so guter Schüler, aber durch Beziehungen machte er dann die Banklehre. Ich bekam eine Stellung im Büro und verdiente ganz gut. Als wir uns verloben wollten, erhob meine Schwiegermutter Einspruch. Aber dann, vor einem Jahr, bekam Horst eine gute Stellung geboten in München. Ich war inzwischen einundzwanzig. Wir haben geheiratet. Ich habe keine Eltern mehr.« Wieder unterbrach sie sich.
Leon Laurin empfand es so, daß sie eigentlich froh war, ihr Herz erleichtern zu können.
»Ihre Schwiegermutter hatte aber auch etwas gegen die Heirat«, warf er sehr nachdenklich ein.
Emilia Geßner nickte. »Sie machte mir das Leben zur Hölle und sagte, daß ich ihrem Sohn die Zukunft verbaut hätte«, schluchzte sie auf.
»Nicht weinen«, sagte er beruhigend. »Sie müssen jetzt vor allem an Ihr Kind denken, Frau Geßner.«
Sie zuckte zusammen, als er sie mit diesem Namen ansprach, und blickte sich um, ob auch niemand ihnen zuhören konnte. Aber das Tonband summte kaum hörbar, und Leon Laurin kam sich irgendwie schäbig vor. Am liebsten hätte er es ausgeschaltet, aber das hätte sie bemerkt.
»Irene, meine Schwägerin, war immer recht nett zu mir. Sie ist ein ganz modernes Mädchen«, fuhr Emilia Geßner fort. »Sie hatte einen Mann kennengelernt, der genau den Vorstellungen meiner Schwiegermutter entsprach. Er machte Horst den Vorschlag, in eine andere Stadt zu gehen und besorgte ihm die Stellung in Berlin. Er war bei derselben Bank gewesen, hatte sich dann aber als Anlageberater selbständig gemacht.«
Das war nun also jener Mann, von dem Leon schon aus dem Munde von Kommissar Thal gehört hatte.
»Er heißt Dieter Lück«, sagte Emilia. »Er ist wirklich sehr nett zu uns gewesen und wollte uns auch bei der Wohnungssuche behilflich sein. Horst hatte erst eine winzige Wohnung in Berlin, aber die Wirtin war sehr nett und erlaubte, daß ich bei ihm wohnte. Dieter war sehr oft in Berlin. Auch Irene kam.« Nun geriet sie ins Grübeln.
»Und was war dann?« fragte Dr. Laurin.
»Ja, ich muß alles genau überlegen. Dieter war wieder nach Berlin gekommen, und er sagte, daß er nun bald eine günstige Wohnung für uns bekommen könnte. Irene war auch da. Sie wohnte mit ihm im Hotel. Sie wollten nun auch bald heiraten, aber sie sagte mir, daß ihre Mutter Theater machen würde, wenn sie nicht in München leben würden. Es gab auch Differenzen zwischen Dieter und Irene, weil er sich weigerte, mit seiner Schwiegermutter in ein Haus zu ziehen. Ach, es passierte so schrecklich viel in dieser Zeit. Mir ging es nicht so gut, weil doch das Baby unterwegs war, und manchmal zweifelte ich wirklich, daß Horst es allein schaffen würde, obgleich er immer sagte, daß sie sehr zufrieden mit ihm wären in der Bank und daß er es bestimmt zum Prokuristen bringen würde. Er hatte so wenig Selbstvertrauen.
Eines Abends sagte er mir, daß er noch einmal fortgehen würde. Er wäre mit Dieter verabredet. Es sollte bald eine Überraschung für mich geben. Er war so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Eigentlich hatte er nämlich Zahnschmerzen gehabt, aber die schien er vergessen zu haben. Wenn alles klappe, wären seine Zahnschmerzen auch vorbei, sagte er.
Ich wachte auf, als er heimkam. Es war weit nach Mitternacht, und er machte einen sehr bedrückten Eindruck. Er hätte Dieter nicht angetroffen, sagte er, und er hätte nicht noch länger warten wollen, weil sein Zahn so höllisch weh tat. Er nahm ein paar Tabletten und schlief dann auch ein.
Am nächsten Morgen ging er pünktlich in die Bank, aber er kam schon nach zwei Stunden zurück, völlig verstört und mit einer arg geschwollenen Backe. Er packte einen kleinen Koffer und sagte, er müsse in die Klinik fahren, weil ihm der Kiefer aufgemeißelt werden müsse. Was immer ich auch hören würde, er hätte damit nichts zu tun. Ich dachte damals einfach, daß er von den Schmerzen durchgedreht sei. Zahnschmerzen sind doch fürchterlich.«
»Das kann man wohl sagen«, warf Dr. Laurin ein.
»Ich habe Horst seit diesen Tagen nicht mehr gesehen. Ich erfuhr von dem Banküberfall und daß man Horst in Verdacht hätte. Dann kam Irene zu mir und bat mich, von Berlin fortzugehen, damit ich nicht belästigt würde. Sie war sehr besorgt wegen des Kindes und meinte, alles würde sich herausstellen. Dieter würde alles tun, um Horsts Unschuld zu beweisen, auch wenn er die Verabredung in jener Nacht nicht eingehalten hätte. Ich wußte wirklich nicht mehr, was ich tat. Ich fuhr nach Österreich zu einer Adresse, die Irene mir besorgt hatte, und ich wartete auf Nachricht von Horst.
Irene ließ mich wissen, daß er jetzt im Ausland sei. Seine Mutter habe das von ihm verlangt, und
sie hätte auch Rechtsanwälte beauftragt, die ihn verteidigen sollten.
»Aber er war doch noch gar nicht angeklagt«, bemerkte Dr. Laurin.
»Aber man betrachtete ihn als Verbrecher«, sagte Emilia Geßner stöhnend.
»Wie lange waren Sie in Österreich?«
»Bis vor vier Tagen. Irene hatte mir geschrieben, daß ich zu ihr kommen solle, wenn es soweit sei. Sie meinte wenn das Kind sich anmelden würde. Am gleichen Tag bekam ich ein Päckchen mit dem Geld. Es war in Innsbruck abgeschickt, und ich dachte, es käme von Horst. Ich kann nicht glauben, daß er zu einer solchen Tat fähig ist, aber so langsam werde ich es nun wohl glauben müssen.«
Nun strömten die Tränen wieder über ihr Gesicht.
Dr. Laurin ließ sie weinen, aber er streichelte beruhigend ihre Hände.
»Niemand wird Ihnen etwas tun, solange Sie hier sind, Frau Geßner«, versprach er.
»Was kann mir das Leben noch bedeuten ohne meinen Mann? Mein Kind hat keinen Vater, der sich mit mir freut. Wenn ich nicht an Horsts Schuldlosigkeit glauben kann, ist alles zu Ende.«
»Dann glauben Sie fest daran«, sagte Dr. Laurin tröstend.
Emilia Geßner sah ihn verwirrt an.
»Ja«, betonte Dr. Laurin, »glauben Sie an seine Schuldlosigkeit, wenn Sie ihn lieben. Sie lieben ihn doch noch immer?«
»Ich würde ihn auch lieben, wenn er schuldig wäre«, flüsterte sie. »Niemals hat er sich das selbst ausgedacht. Ich könnte mir nur vorstellen, daß er jemandem beweisen wollte, daß er Mut hat.«
Es standen noch immer Fragen offen. Dr. Laurin wollte soviel wie nur möglich herausbringen, damit die Beamten Emilia Geßner nicht selbst fragen mußten.
»Können Sie sich erklären, warum Sie Ihre Schwägerin nicht antrafen, da sie doch mit Ihrem Kommen rechnete?«
Emilia zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Wenn ich doch mit Horst sprechen könnte.«
»Sie haben gar keinen Anhaltspunkt, wo er sein könnte?«
»Nein«, erwiderte sie verzweifelt. »Ab und zu bekam ich eine Karte, einmal aus dem Elsaß, dann aus der Schweiz, immer das gleiche.
›Tausend Grüße, Hilfe.‹
Aber es war seine Schrift. Seit Wochen hörte ich nichts mehr.«
Wenn man ihn nun als lästigen Mitwisser aus dem Wege geräumt hat? überlegte Dr. Laurin. Hanna hatte recht, diese junge Frau war ein bedauernswertes Geschöpf.
»Er muß doch wissen, daß er mir vertrauen kann, mehr als jedem anderen«, sagte sie noch. »Ich kann doch jetzt wieder arbeiten, wo das Baby da ist. Ich werde auf ihn warten, solange es auch dauert. Aber diese schreckliche Ungewißheit kann ich bald nicht mehr ertragen.«
»Dann werden wir eben einiges dazu tun müssen, daß diese Ungewißheit beseitigt wird, Frau Geßner. Haben Sie Vertrauen. Und jetzt denken Sie wieder an Ihr Kindchen.«
*
In der Klinik ging der Betrieb weiter, als lasteten nicht wieder Probleme auf Dr. Laurin. Verspätet machte er seine Visite, war freundlich, aufmerksam und konzentriert wie immer.
In Hanna Bluhmes Büro hatte sich wieder Kriminalkommissar Thal eingefunden. Das Tonbandgerät war dorthin gebracht worden.
»Dr. Laurin hat Ihnen Wichtiges mitzuteilen«, sagte Hanna rasch.
»Und Sie?« fragte er anzüglich. »Wissen Sie, von wem Sie das Geld haben?«
Sie nickte verlegen. »Dr. Laurin wird Ihnen alles sagen«, bemerkte sie.
Er begann eine harmlose Unterhaltung. »Die Prof.-Kayser-Klinik erfreut sich eines ausgezeichneten Rufes«, stellte er fest. »Inspektor Stoll ist mit einer Krankenschwester verheiratet, die hier früher angestellt war, wie ich hörte.«
»Laura, meine Vorgängerin«, nickte Hanna. »Sie hat dann das Tabea-Heim geleitet.«
»Ganz richtig. Eine nette Frau. Hier gibt es anscheinend nur nette Schwestern.« Er sah blinzelnd zu Hanna, und sie errötete.
»Dr. Laurin legt großen Wert auf höfliche Angestellte«, erwiderte sie mit leichtem Spott.
»Ich kann mir vorstellen, daß er großen Eindruck auf die Weiblichkeit macht.«
»Er ist glücklich verheiratet«, bemerkte sie aggressiv.
»Es war ja nur eine Feststellung. In solch einer Klinik passiert wohl auch mancherlei.«
»Das bleibt nirgendwo aus, wo Menschen kommen und gehen. So aufregend wie bei der Polizei ist es aber nicht bei uns.«
»Wir haben ja auch nur mit sehr unangenehmen Dingen zu tun. Hier kommen Kinder zur Welt, das allein bringt Freude.«
»Haben Sie Kinder?« fragte sie.
»Leider nicht. Meine Frau ist nach kurzer Ehe tödlich verunglückt. Ich konnte mich nicht mehr dazu entscheiden, wieder zu heiraten.«
Jetzt erschien er ihr schon richtig menschlich. Der Jüngste war er auch nicht mehr.
»Haben Sie Kinder?« fragte er nun, um die Wartezeit zu verkürzen.
»Zwei, eine verheiratete Tochter und einen Sohn, der Betriebswirtschaft studiert.«
Thal wußte das alles, denn er hatte eingehende Erkundigungen über Hanna Bluhme eingezogen, aber er hätte nicht gewagt, das zuzugeben. Manchmal empfand er seinen Beruf als arge Belastung, weil er so ungeheuer mißtrauisch machte, auch da, wo dieses Mißtrauen gar nicht angebracht war. Aber es gehört nun mal zu diesem Beruf, persönliche Gefühle auszuschalten.
»Darf ich Sie mal zu einem Gegenbesuch einladen?« fragte er überraschend.
Hanna sah ihn verblüfft an. »Was Sie erfahren wollen, erfahren Sie von Dr. Laurin«, erwiderte sie spöttisch.
Ihm stieg tatsächlich das Blut in die Stirn. »So habe ich das nicht gemeint«, rechtfertigte er sich. »Es war eine private Frage.«
Doch da kam Dr. Laurin, und Hanna wurde einer Antwort enthoben.
Als er eine Stunde später ging, konnte Kommissar Thal bemerkenswerte Informationen mitnehmen. Er hatte auf Dr. Laurins Ersuchen darauf verzichtet, Emilia Geßner zu vernehmen. Was dem auf dem Tonband aufgenommenen Gespräch zu entnehmen war, genügte ihm vorerst. Er wußte, wo er anzusetzen hatte.
Sehr höflich verabschiedete er sich von Hanna, und seine Miene drückte Bedauern aus, als sie so reserviert blieb.
»Ein ganz netter Mensch«, stellte Dr. Laurin fest.
»Sie sind alle nett, wenn sie was herauskriegen wollen«, bemerkte sie hintergründig. »Ich bin da vorsichtig.«
Dr. Laurin ging schmunzelnd hinaus. Eine Bemerkung von Kommissar Thal über Hanna hatte ihn stutzig gemacht. Er hatte eben wieder einmal festgestellt, daß Hanna noch immer eine hübsche Frau war. Aber er war durchaus nicht interessiert, daß sie an eine Bindung dachte. Er war froh, wieder eine zuverlässige Kraft zu haben.
*
Kommissar Thal suchte die Wohnung von Irene Geßner auf. Er traf sie nicht an. Es war ein großer Wohnblock mit vielen Apartments. Ein Hausmeister mußte da wohl vorhanden sein.
Es war eine Hausmeisterin. Nähere Auskünfte über Irene Geßner konnte sie nicht geben. Blieb nun also Frau Charlotte Geßner, die Kommissar Thal schon einmal befragt hatte, die aber sehr kurz angebunden gewesen war und bekundete, daß sie nichts mit dieser Geschichte und auch nichts mit ihrem Sohn zu schaffen hätte, nachdem er geheiratet hatte.
Dennoch erschien es unvermeidbar, sie erneut ins Verhör zu nehmen, und dazu mußte er nun in einen Kurort dicht an der Grenze nach Österreich fahren.
In Innsbruck war das Geldpäckchen aufgegeben worden. Es war nur ein Katzensprung bis dahin von der Grenze aus. Man konnte kombinieren, aber das nützte nicht viel. Man mußte sich an nüchterne Tatsachen halten und eventuell in Kauf nehmen, daß wieder eine Spur im Sande verlief.
Am frühen Nachmittag läutete er an der Wohnungstür von Charlotte Geßner. Sie öffnete ihm und war bei weitem nicht mehr so herablassend wie bei seinem ersten Besuch.
»Sie?« fragte sie nur gedehnt, aber er hatte das Gefühl, als hätte sie mit einem solchen Besuch gerechnet.
»Ich muß nochmals ein paar Fragen an Sie stellen, Frau Geßner«, begann er.
»Ich kann Ihnen keinerlei Auskünfte geben. Ich habe nichts von meinem Sohn gehört«, erwiderte sie gepreßt. »Oder haben Sie etwas gehört?« Erwartungsvoll sah sie ihn an, und er fühlte, daß sie die Wahrheit sprach.
»Augenblicklich würde ich gern wissen, wo ich Ihre Tochter erreichen kann«, erklärte er.
Ihr Gesicht wurde noch fahler. »Meine Tochter? Sie hat damit nichts zu schaffen. Sie ist zur Zeit im Urlaub, soviel ich weiß.«
»Eben deshalb. Ihre Schwiegertochter wollte, wie verabredet, zu ihr und stand vor der verschlossenen Tür. Sie sind übrigens Großmutter geworden.«
Ein Zucken lief über ihr Gesicht. Sie rang nach Worten, zitterte aber so stark, daß sie nicht sprechen konnte.
»Ich wußte nicht, daß Emilia zu Irene wollte«, brachte sie endlich mühsam über die Lippen. »Befindet sich Emilia in Not?«
»Das kann man wohl sagen«, erklärte er. »Sie hat den Klinikaufenthalt mit Geld aus dem Bankraub bezahlt. Man hat ihr dieses Geld in einem Päckchen zugeschickt.«
»Dann hat Horst also doch etwas mit diesem Raub zu schaffen«, flüsterte sie erschüttert. »Ich kann es nicht glauben. Er war immer viel zu weich, Herr Kommissar. Er hätte eine Frau gebraucht, die ihn emporzieht.«
»Er hat jedenfalls eine Frau, die ihn sehr liebt und an ihn glaubt, obgleich sie viel durchgemacht hat. Aber unsere Aufgabe ist es jetzt, festzustellen, wer Ihrer Schwiegertochter das Geld geschickt hat. Es wurde in Innsbruck aufgegeben.«
Sie saß wie erstarrt. Immer wieder griff sie zum Herzen. »Es ist zuviel für mich«, flüsterte sie. »Aber ich schwöre Ihnen, daß ich nicht weiß, wo Irene sich aufhält. Mir sagt niemand etwas. Ich sitze hier und warte, daß diese Ungewißheit ein Ende hat. Ich habe nicht mehr viel Geld, aber für den Klinikaufenthalt werde ich aufkommen. Das soll nicht auf dem Kind sitzenbleiben, daß seine Geburt mit gestohlenem Geld bezahlt worden ist.«
»Ihre Schwiegertochter hat versichert, daß sie nichts von der Herkunft des Geldes wußte, und man möchte ihr das glauben. Sie hat angenommen, daß es von ihrem Mann stammt, von Ihrem Sohn, Frau Geßner. Er weiß doch, daß seine Frau ein Baby bekommen würde.«
»Er wird es gewußt haben, ich wußte es nicht. Niemand hat es mir gesagt, aber das ist wohl meine Schuld. Emilia würde das Geld von mir wohl auch nicht annehmen. Könnten Sie das vermitteln, daß es an die Klinik weitergeleitet wird?«
»Sie können sich selbst mit Dr. Laurin in Verbindung setzen«, bemerkte er, »vielleicht findet sich jetzt für Sie ein Weg, Ihrer Schwiegertochter näherzukommen. Um des Kindes willen würde sich der Versuch doch lohnen. Meinen Sie nicht, Frau Geßner?«
»Es ist alles so schwer«, flüsterte sie. »Ich brauche Zeit, aber wir können doch Horst nicht im Stich lassen – wenn er überhaupt noch lebt«, fügte sie niedergeschlagen hinzu. »Führen denn alle Spuren zu ihm?« begehrte sie auf. »Kann es denn nicht sein, daß er vor jemandem Angst hatte oder um jemanden? Ich meine, um Emilia. Mir geht so vieles durch den Kopf.«
Aber etwas schien sie jetzt ganz besonders zu beschäftigen, denn sie wurde völlig geistesabwesend, und ihr Blick schweifte suchend in die Ferne.
»Ich werde Sie benachrichtigen, wenn meine Tochter sich meldet«, sagte sie leise. »Vielleicht hat sie eine Spur von Horst gefunden, oder er hat sich mit ihr in Verbindung gesetzt. Irene ist sehr energisch. Ich wollte, Horst hätte etwas von ihr.«
Mehr konnte er wohl nicht herausbekommen, und mit diesem mageren Ergebnis mußte er wieder gehen.
Aber auf der Heimfahrt kam es ihm in den Sinn, daß Frau Geßner nicht in allem die Wahrheit gesagt haben mochte.
*
Inge Büren hatte den ganzen Nachmittag Besuch gehabt. Einer hatte dem anderen die Türklinke in die Hand gegeben. Emilia tat es weh, zu erleben, wie andere sich freuten.
Aber als es dann wieder ruhig wurde und die Babys wiedergebracht wurden, empfand auch sie einen Hauch von Glück. Sie hatte ein gesundes Kind, das sie brauchte, und das Kind sollte froh heranwachsen.
»Es war ein bißchen laut heute«, entschuldigte sich Inge Büren. »Sie meinen es ja alle gut, aber manchmal wird es einem direkt ein wenig zuviel. Bekommen Sie gar keinen Besuch, Frau Grohn?«
»Ich kenne hier ja niemanden«, erwiderte Emilia leise.
Inge Büren stand auf und brachte ihr einen Pralinenkasten. »Mögen Sie? Ich muß auf meine Linie achten, das brauchen Sie bestimmt nicht.«
»Danke, Sie sind sehr nett«, flüsterte Emilia. Tränen drängten sich in ihre Augen, und sie schalt sich, weil sie so wenig Beherrschung aufbrachte.
»Wenn Sie Kummer haben und ich Ihnen irgendwie helfen kann, ich tue es gern«, sagte Inge Büren herzlich.
Wer konnte ihr schon helfen?
Horst, dachte sie wieder. Wir haben ein Kind. Bitte, komm doch endlich, damit wir alles gemeinsam durchstehen können.
*
Am nächsten Tag ließ sich der Betrieb in der Klinik recht geruhsam an. Hanna kam mal wieder dazu, liegengebliebene Arbeit zu erledigen. Gegen zehn Uhr wurde sie dabei gestört.
Laura Stoll mit ihrem Töchterchen Tabea erschien. Es war nicht ungewöhnlich, denn Laura machte von Zeit zu Zeit einen Besuch in der Klinik. Sie schien viel jünger als früher und sah rundherum glücklich aus.
Hanna freute sich über diesen Besuch. Tabea kletterte gleich zu ihr aufs Knie und wollte Hoppe-Reiter machen.
»Sie müssen uns jetzt endlich mal besuchen, Blümchen«, sagte Laura beiläufig. »Sie haben unser Häuschen noch gar nicht gesehen.«
Erst kurz vor Weihnachten hatten Günter und Laura Stoll das hübsche Reihenhaus bezogen, das Hanna nun wenigstens im Bild gezeigt bekam.
»Kommen Sie doch mal am Wochenende«, bat Laura, »oder haben Sie schon etwas vor?«
»Ja, es ginge schon am Wochenende«, sagte Hanna.
»Wir können Sie ja abholen«, schlug Laura vor.
»Mit der S-Bahn geht es wunderbar, da brauchen Sie sich keine Umstände zu machen«, meinte Hanna.
»Wie geht es denn in der Klinik?« erkundigte sich Laura.
»Immer mal was anderes, und nicht immer Erfreuliches«, erklärte Hanna. »Sie kennen ja den Betrieb. Aber ich bin gern hier. Man fühlt sich nicht zum alten Eisen gehörig, wenn man noch schaffen kann.«
»Sie und altes Eisen«, lächelte Laura. »Sie werden immer hübscher.«
»Na, na, na, machen Sie mich nicht eitel. Die Jahre lassen sich nicht leugnen, aber man muß halt das Beste daraus machen.«
Jeder von ihnen hatte sein Päckchen zu tragen gehabt. Hanna, als sie ihren Mann verlor. Laura, als sie von ihrem Verlobten mit dem Kind sitzengelassen wurde. Aber Laura hatte einen anderen Mann gefunden, der sie auf Händen trug, und für Hanna war das Leben auch weitergegangen. Sie verdienten beide etwas Glück, und Laura lächelte vergnügt in sich hinein, als sie mit ihrer Tabea den Heimweg antrat, nachdem sie allen noch »Grüß Gott« gesagt hatte.
Eine kleine Überraschung hielt sie für Blümchen bereit, wenn sie am Wochenende kam.
Laura war kaum gegangen, klopfte es schon wieder an der Tür. Auf Hannas Zuruf kam niemand. Sie stand auf und schaute selbst nach. Draußen stand eine ältere Dame in einem eleganten schwarzen Mantel mit passendem Hütchen.
»Ich hätte gern Herrn Dr. Laurin gesprochen«, sagte sie.
»Dr. Laurin ist bei der Visite. Darf ich wissen, in welcher Angelegenheit?« fragte Hanna.
»Das möchte ich ihm lieber selbst sagen. Mein Name ist Geßner.« Sie sprach ihn nur zögernd aus, als schäme sie sich.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Sie können hier warten. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« Sie merkte wohl, daß Frau Geßner sehr erschöpft aussah.
»Mein Name ist Ihnen bekannt?« fragte die Ältere scheu. Hannas mütterliche Art nahm ihr die Hemmungen.
»Ja, Ihr Name ist mir bekannt.«
»Ich wage schon gar nicht mehr, ihn auszusprechen«, flüsterte Frau Geßner.
»Aber warum denn? Namen sind Schall und Rauch, und die Leute vergessen sie schnell. Übrigens
ist Ihre Schwiegertochter unter
dem Namen Grohn hier eingetragen.«
»Ihr Mädchenname«, sagte Frau Geßner.
»Ja, ich weiß. Ich habe mit ihr gesprochen.«
»Und sie hat Ihnen alles erzählt?«
»Nein, mir hat sie gar nichts erzählt. Sie ist ein liebes, aber verzweifeltes Menschenkind. Wollen Sie sie besuchen?«
»Das kann ich doch nicht wagen.« Nun hatte Frau Geßner schon mehr Zutrauen gefaßt, und man spürte, daß sie erleichtert war, sich unterhalten zu können. »Wie geht es dem Kind? Kommissar Thal war bei mir und hat es mir gesagt. Ich wußte gar nicht, daß Emilia ein Baby erwartete.«
»Ein Junge. Er soll Tobias heißen. Ein prächtiges Kerlchen«, fiel Hanna ihr ins Wort.
»Wenn ich wenigstens an dem Kind etwas gutmachen könnte«, flüsterte sie. »Ich will die Rechnung bezahlen. Ich weiß, daß mit dem Geld…«, sie konnte nicht mehr weitersprechen.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch, Frau Geßner. Ich denke, daß es gut wäre, wenn Sie sich mit Ihrer Schwiegertochter versöhnen würden.«
»Sie wird mich nicht sehen wollen, jetzt erst recht nicht, nachdem Irene sie auch enttäuscht hat.«
»Wir können sie ja fragen«, meinte Hanna tröstend. »Ihren Enkel werden Sie wohl auch sehen wollen.«
Nichts war Hanna fremd, sie verurteilte nie. Ein Mensch trug alles in sich, und manchmal erkannte er sich selbst erst sehr spät. Niemand hatte das Recht, einen anderen zu verurteilen, wenn manche es auch blindlings und unüberlegt taten.
Nun schlug die Alarmglocke an. Erschrocken zuckte Frau Geßner zusammen. Hanna gab die Meldung, die sie erhielt, rasch an die Station weiter.
»Nun wird Dr. Laurin allerdings für längere Zeit beschäftigt sein«, sagte sie erklärend.
Frau Geßner erhob sich. »Würden Sie bitte ein gutes Wort für mich bei meiner Schwiegertochter einlegen?«
»Warten Sie noch ein paar Minuten, dann werde ich zu ihr gehen.«
*
Die Gänge waren leergefegt, nur die Schwestern verteilten das Mittagessen. Emilia war allein im Zimmer. Inge Bürens Mann war diesmal vormittags dagewesen, und sie war mit ihm hinausgegangen, weil Emilia sich mal wieder schlafend stellte.
Es traf sich also gut, als Hanna kam, um ihre Aufgabe zu erfüllen. »Es möchte Sie jemand besuchen, Frau Geß… – Frau Grohn«, unterbrach sie sich.
»Meine Schwägerin?« fragte Emilia.
»Nein, Ihre Schwiegermutter.«
Emilia blickte sie ungläubig an.
»Ja, Sie haben richtig gehört. Sie traut sich nur nicht herein. Aber ich glaube, sie hat Ihnen manches zu sagen.«
Sie machte eine Handbewegung. »Sie kann kommen«, sagte sie dann gepreßt.
Geisterhaft bleich kam sie dann. Die beiden ungleichen Frauen tauschten einen langen Blick.
»Es tut mir leid, Emilia. Alles tut mir leid«, flüsterte Charlotte Geßner.
»Wir werden nicht lange allein sein«, sagte Emilia rasch. »Bitte, sprich nicht über Horst.«
Frau Geßner schüttelte den Kopf. »Ich möchte dir sagen, daß du dir keine Sorgen machen sollst. Das Kind soll nicht leiden und du auch nicht.«
»Aber du leidest«, sagte Emilia nachdenklich. »Du bist gekommen, Mutter.« Tränen strömten über Charlotte Geßners Gesicht.
»Wenn ich nur mehr tun könnte«, schluchzte sie.
Emilia griff nach ihren Händen. »Wir wollen an Horst glauben und hoffen.«
Inge Büren trat ein, aber geistesgegenwärtig sagte sie: »Ach, ich habe noch etwas vergessen«, und verschwand wieder.
»Wenn ich nur wüßte, wer mir das Geld geschickt hat«, flüsterte Emilia. »Ich dachte, es käme von Irene. Hat sie denn nichts von Horst gehört?«
»Ich weiß es nicht, Emilia. Ich habe Irene seit Wochen nicht gesehen. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist.«
»Und von Horst hast du auch nichts gehört?«
»Nein, ich schwöre es dir.«
»Wenn er nur lebt, Mutter«, sagte Emilia mit tränenerstickter Stimme. »Wenn er sich nur nichts angetan hat.«
Mit zitternder Hand strich Charlotte Geßner über Emilias Haar. »Er hatte zu mir kein Vertrauen, Kind. Ich weiß es jetzt. Alles Glück warst du für ihn, und ich wollte es ihm nicht gönnen. Verzeih mir. Wenn Horst etwas tat, was schlecht war, bin ich daran schuld mit meiner Haltung.«
»Er ist dazu nicht fähig. Nein, ich glaube es nicht«, sagte Emilia beschwörend.
»Und wenn es doch so wäre, auf mich kannst du rechnen. Ich komme wieder, Emilia, schon bald, aber jetzt werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um Horst zu finden. Danke, daß du mich nicht zurückgewiesen hast.«
Sie beugte sich zu ihr hinab und drückte ihre kühlen Lippen an Emilias Stirn.
»Denk an dich und das Kind. Ich werde mir meinen Enkel jetzt anschauen.«
Sie tupfte sich noch die Tränen aus den Augen, als sie den Gang entlangging, und Inge Büren sah es.
Als sie das Zimmer wieder betrat, sagte sie zu Emilia: »Wenn Sie Besuch bekommen und mich nicht dabei haben wollen, machen Sie mir ein Zeichen, Frau Grohn. Denken Sie ja nicht, daß ich neugierig bin.«
»Das denke ich nicht. Ich mag Sie gern«, erwiderte Emilia schlicht.
»Ich mag Sie auch«, sagte Inge Büren heiter. »Aber ich bin halt auch nicht immer leicht zu ertragen.«
»Sie sind so fröhlich, das ist schön.«
Ganz spontan setzte Inge Büren sich zu ihr ans Bett. »Es wäre schön, wenn Sie auch fröhlich sein könnten. Ich weiß, daß Sie Kummer haben, aber Sie müssen denken: Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her…«
»Ist das von Ihnen, Frau Büren?«
»Ach wo, das sagt Dr. Laurin. Er hat’s auf seinem Schreibtisch stehen. Ich nehme ja alles leicht, aber mir wird auch nichts schwergemacht. Die alte Dame hat geweint, als sie aus dem Zimmer kam«, fügte sie hinzu.
»Es war meine Schwiegermutter«, sagte Emilia. »Es kann sein, daß Sie nun bald manches über uns erfahren, aber…«
»Wenn es Ihnen mal dazu zumute ist, Ihr Herz auszuschütten, dann tun Sie es unbesorgt. Ich kann auch schweigen.«
Dann brachte Schwester Otti ihnen das Mittagessen, und zum ersten Mal schmeckte es Emilia wieder.
Charlotte Geßner hatte ihren Enkel lange betrachtet. Er hatte seine Augen weit aufgerissen und seltsame kleine Laute von sich gegeben, und die Rührung hatte sie wieder übermannt. Rot umrändert waren ihre Augen, als sie noch einmal bei Hanna Bluhme eintrat.
»Ich wollte nicht gehen, ohne Ihnen zu sagen, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte sie. Dann legte sie einen Umschlag auf den Schreibtisch. »Das ist für Emilia. Wenn sie sonst etwas braucht, sagen Sie es mir bitte. Ich habe ihr nicht mal Blumen mitgebracht«, fuhr sie verwirrt fort. »Aber das hole ich nach.«
Daß sie den ersten Schritt getan hat, war mehr wert als der kostbarste Blumenstrauß, dachte Hanna. Dann schweiften ihre Gedanken ab, und sie überlegte, was sie Laura mitnehmen könnte. Etwas Nützliches, dachte sie, denn in einem jungen Haushalt konnte man noch vieles gebrauchen. Sie freute sich richtig auf das Wochenende, das ohne die Kinder doch einsam gewesen wäre.
*
Am nächsten Morgen war Charlotte Geßner mit der S-Bahn nach München gefahren. Alles war so neu und so fremd. Die Stadt hatte sich sehr verändert, seit sie vor fünf Jahren weggezogen war. Ihr war direkt ein wenig schwindlig, als sie die City erreichte.
Sie hatte ein leeres Gefühl im Magen und erinnerte sich, daß sie seit gestern abend nichts gegessen hatte. In dem modernen Restaurant eines Kaufhauses bestellte sie sich ein Frühstück.
Ob Emilia überhaupt schon Babywäsche hatte? Auf jeden Fall konnte es nicht schaden, auch dafür zu sorgen.
Sie kaufte von allem ein halbes Dutzend. Für sie stand es bereits fest, daß Emilia und der kleine Tobias zu ihr kommen würden. Jetzt war es ihr trotz aller Sorge doch schon etwas zuversichtlicher ums Herz.
Sie stand wieder auf der Straße und überlegte. Dann nahm sie doch kurz entschlossen ein Taxi und fuhr zu Irenes Wohnung.
Sie benutzte den Lift nicht, sondern stieg mühsam die drei Treppen empor.
Atemlos drückte sie auf die Klingel. Dreimal kurz, wie früher ihr Zeichen gewesen war.
Sie lehnte an der Wand und wartete, und plötzlich tat sich die Tür auf.
Charlotte Geßner blickte in das eingefallene graue Gesicht ihres Sohnes.
»Mutter«, stammelte er.
Sie schwankte und wäre fast zu Boden gestürzt, hätte er sie nicht aufgefangen.
Es dauerte lange Minuten, bis sie wieder denken konnte. »Seit wann bist du hier, Horst?« fragte sie mit versagender Stimme.
»Seit zwei Stunden. Irene hat mir die Schlüssel geschickt. Sie schrieb mir, daß Emilia hierherkommen würde.«
Sie starrte ihn fragend an und konnte es noch immer nicht fassen, daß sie ihren Sohn lebend vor sich sah.
»Emilia ist in der Klinik«, flüsterte sie. »Ich habe sie eben besucht. Du hast einen Sohn, Horst.«
Ungläubig blickte er sie an. »Wir haben ein Kind?« fragte er heiser.
Sie konnten lange nichts mehr sagen. Ihre Hände hatten sich ineinander verkrampft, und über sein Gesicht rannen Tränen.
»Einer mußte sich doch um Emilia kümmern«, sagte sie schließlich. »Ich erfuhr es von einem Kriminalkommissar. Oh, mein Junge, warum kommst du erst jetzt?«
»Wie geht es Emilia?« brach es aus ihm hervor. »Wie geht es dem Kind?«
Charlotte Geßner hatte die Fassung wiedergewonnen, weil sie spürte, daß ihr Sohn jetzt einen Halt brauchte. Mochte sie auch lange Zeit immer zuerst an sich gedacht haben, das war jetzt alles vergessen.
»Emilia ist in guter Hut. Der Junge ist gesund. Ein goldiges Kerlchen ist er, Horst. Emilia war sehr lieb zu mir. Ich bereue alles so sehr. Mein Egoismus hat uns ins Unglück gebracht. Uns alle, ich sah es zu spät ein.«
»Glaubst du, daß ich schuldig bin, Mutter?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich weiß nur noch, daß ich unsagbar viel Schuld auf mich geladen habe und sie wieder abtragen will. Um Emilia und das Kind brauchst du dich nicht zu sorgen, Horst. Ich werde mich um sie kümmern und sie beide zu mir nehmen. Schau, ich habe schon Sachen für meinen Enkel gekauft.«
Er nahm sie in die Arme. »Ich habe nichts getan, Mutter. Ich schwöre es dir. Ich war nur feige. Aber jetzt will ich Emilia sehen, und dann gehe ich zur Polizei.«
»Jetzt werden wir alles ganz in Ruhe besprechen«, erklärte sie energisch. »Ich will wissen, wo du warst und woher Emilia das Geld hat.«
»Welches Geld?« fragte er bestürzt.
»Das Geld aus dem Bankraub. Sie bekam ein Päckchen mit fünftausend Euro. Weil sie mittellos war, zahlte sie in der Klinik tausend Euro davon an. Dadurch kam alles ins Rollen.«
Er sank in sich zusammen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Jetzt weiß ich gar nichts mehr«, flüsterte er. »Ich muß erst nachdenken.«
»Ich will jetzt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. So sagt man doch bei Gericht.«
»Du glaubst mir nicht, Mutter?« fragte er.
Sie richtete sich auf. »Ich habe mich fünf Monate hinter dem Gedanken verschanzt, daß mein Sohn mir so etwas nicht antut. Du hast nicht einmal deine Frau wissen lassen, wo sie dich finden könnte. Wir dachten beide, Emilia und ich, daß du dir etwas angetan haben könntest.«
»Du weißt doch nicht, warum ich es tat«, murmelte er.
»Dann wird es höchste Zeit, daß ich es erfahre.«
»Ich möchte erst zu Emilia.«
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Du gehst erst zu ihr, wenn ich alles weiß.«
*
Antonia Laurin wurde von ihren neugierigen Kindern bestürmt. »Sag doch, was Papi Opi schenkt«, wollte Konstantin wissen.
»Sage es doch, Mami«, schloß Kaja sich an.
»Kevin will das auch wissen«, schrie der Jüngste kategorisch.
»Es soll eine Überraschung sein«, meinte sie seufzend. »Ihr könnt nichts für euch behalten.«
»Ich bin verschwiegen«, erklärte Konstantin wichtig.
»Ich sage bestimmt nichts«, sagte Kaja.
»Pst«, machte Kevin und legte den Finger auf den Mund.
»Nicht mal telefonieren kann ich in Ruhe mit Papi«, beschwerte sich Antonia.
»Ist auch unser Papi«, stellte Konstantin empört fest. »Wir haben ihn schon lange nicht gesehen.«
»Sehr lange«, meinte Kaja bekümmert.
»Will Papi sehen«, schluchzte Kevin sehnsüchtig.
»Liebe Güte, doch erst vor ein paar Tagen. Er kommt am Wochenende, oder sollen wir heute etwa heimfahren?«
»Geht doch nicht. Dann ist Opi traurig«, sagte Kaja. »Hat doch Geburtstag.«
»Und der Skikurs ist teuer genug«, stellte der sparsame Konstantin fest. »Was kriegt Opi nun? Was zum Spielen?«
»Ja, was zum Spielen«, meinte Antonia, um Ruhe zu bekommen.
»Ein Trimm-dich?« fragte Konstantin.
»Das ist doch nicht zum Spielen«, erklärte Kaja. »Das ist zum Schwitzen und daß man schlank wird.«
»Opi ist schlank«, bemerkte Konstantin.
Opi stand höchstpersönlich in der Tür.
»Worum geht die Debatte?« fragte er.
»Verraten wir nicht«, erwiderte Konstantin. »Wir können es für uns behalten.«
»Na, dann behaltet es für euch«, tat Joachim Kayser gekränkt. »Aber es ist Zeit für uns. Hopp-hopp, meine Herrschaften, auf geht’s!«
»Zweimal Skifahren ist schon viel«, seufzte Kaja. »Mir tut der Po weh.«
»Mußt halt nicht soviel hinfallen«, sagte ihr Bruder Konstantin.
»Kaja fährt schon sehr schön«, lenkte Antonia ein, da sie wußte, wie empfindlich Kaja sein konnte.
»Er kann ja auch allein fahren«, sagte Kaja da auch schon.
»Wir werfen denen das Geld nicht in den Rachen«, sagte Konstantin energisch.
»Von wem haben sie das wohl?« fragte Teresa Kayser lächelnd, als die Kinder mit dem Opi davonzogen.
»Weiß der Himmel, von Leon nicht, und von mir auch nicht.«
»Von Joachim auch nicht. Also müssen sie was von mir mitbekommen haben«, sagte Teresa lachend. »Aber schaden tut es ja nicht, wenn sie das Geld schätzenlernen.«
»Jetzt möchtest du wohl wissen, was du zum Geburtstag kriegst?« fragte Konstantin seinen Opi.
»Nein«, erwiderte der.
Konstantin riß die Augen auf. »Wirklich nicht?«
»Ich lasse mich überraschen.«
»Zum Spielen kriegst du was«, sagte Kaja.
»Was, wissen wir leider auch nicht«, meinte Konstantin. »Mami hat es uns nicht verraten.«
Joachim Kayser unterdrückte ein Lachen. Hätte Antonia es gesagt, wüßte er es nun bestimmt schon. Sie konnten wirklich nichts für sich behalten, diese Trabanten. Aber wer hätte ihnen denn böse sein können, wenn sie so treuherzig schauten.
»Papi hat es besorgt, von ganz allein«, sagte Kaja, »stell dir mal vor, Opi.«
»Das allein ist ja schon was wert«, sagte der Professor.
*
»Es stimmt alles, Mutter, glaube es mir. Ich hatte so höllische Zahnschmerzen, und da muß ich die Adresse falsch verstanden haben, die Dieter mir genannt hatte. Im Hotel Astor wohnten sie jedenfalls nicht.«
»Warum bist du denn mit den Schmerzen nicht zum Zahnarzt gegangen?« fragte sie.
»Ich war so aufgeregt, weil Dieter sagte, er hätte eine Wohnung für uns. Ich müßte mich aber schnell entscheiden. Ich wollte Emilia zum Geburtstag damit überraschen.«
»Dafür bekam sie dann eine böse Überraschung«, sagte Charlotte Geßner bitter.
»Als ich hörte, daß der Einbruch zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr passiert war und daß man Nachschlüssel benutzt hatte, fiel mir ein, daß ich kein Alibi hatte für diese Zeit. Sie sahen mich so ungläubig an, als ich sagte, daß ich mit Dieter und Irene verabredet war und sie nicht angetroffen hätte. Da hat was bei mir ausgehakt. Ich bin nach München gefahren. Die Schlüssel für Irenes Wohnung hatte ich ja. Ich habe mich drei Tage hier versteckt. Dann kam sie. Sie hat sich auch schrecklich aufgeregt und gesagt, daß es besser wäre, ich würde abwarten, daß man den Täter findet. Sie würde sich schon um Emilia kümmern.«
»Wo ist Irene jetzt?« sagte seine Mutter gedankenvoll.
»In Innsbruck. Sie wollte sich mit Dieter treffen. Er ist geschäftlich unterwegs.«
»So, in Innsbruck«, sagte Charlotte Geßner tonlos und sah ihren Sohn prüfend an.
»Ich ziehe mich um und gehe zu Emilia, und dann gehe ich zur Polizei, Mutter. Niemand kann mich zurückhalten«, sagte Horst.
»Ich halte dich bestimmt nicht zurück«, sagte sie ruhig. »Ich will endlich Klarheit haben.«
*
Für Emilia war der Nachmittag unterhaltend geworden. Inge Büren hatte von ihrer Kindheit erzählt. Sie gab drollige Erlebnisse zum besten, die Emilia ein Lächeln abnötigten.
Dann war Schwester Otti hereingekommen und hatte auch ein bißchen mit ihnen geplaudert, und dann blieben auch wieder die Kinder bei ihnen.
Es war eine zärtliche Zeit mit den Kleinen, die von Schwester Marie leider beendet wurde.
»Darf ich Sie ins Untersuchungszimmer bitten, Frau Büren?« fragte sie.
»Jemine, warum denn?«
»Zur Kontrolluntersuchung. Der Chef hat gerade Zeit, und am Wochenende, wenn Sie abgeholt werden, ist er nicht da.«
Inge Büren folgte ahnungslos, und nur ein paar Minuten verstrichen, als es an der Tür des Krankenzimmers klopfte.
Emilia hatte den Blick zur Tür gerichtet, als sich diese auftat. Ein kleiner Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Fassungslos starrte sie den Mann an, der ihr einen großen Strauß roter Rosen auf das Bett legte. Ihre Arme legten sich um seinen Hals.
»Horst, Liebster«, stammelte sie.
Er preßte die Lippen auf ihre Hände.
»Was habe ich dir angetan, meine kleine geliebte Emilia?« stieß er hervor.
»Du bist da, und alles wird gut werden, Horst. Ich halte zu dir«, sagte sie tröstend und voller Zärtlichkeit. »Nun wirst du deinen Sohn doch sehen, und Mutter…« Sie unterbrach sich. »Hast du sie schon gesprochen?« fragte sie.
»Es war ein Zufall. Ich konnte nicht wissen, daß sie hier ist und daß sie zu dir gehen würde. Sie hat sich wirklich sehr verändert, Liebstes.«
»Ja, ich weiß.« Ihre Hand fuhr durch sein Haar. »Du siehst elend aus.«
»Müde bin ich, Emilia. Es war doch so sinnlos, sich zu verstecken.«
»Ja, es war sinnlos, Horst. Es gibt immer gute Menschen, die einem helfen. Die Welt ist nicht so schlecht, wie du dachtest. Was wirst du jetzt tun?«
»Zur Polizei gehen. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis wir uns wiedersehen, aber ich hoffe, daß sich meine Schuldlosigkeit erweisen wird. Danach werde ich das Leben energisch anpacken, für dich, für unseren Sohn.«
»Für uns, Horst. Wir gehören zusammen. Ich kann warten. Ich hätte auch gewartet, wenn du eine Riesendummheit gemacht hättest, obgleich ich sie dir nie zugetraut habe.«
Leise klopfte es. Schwester Marie schob das Bettchen herein.
Horst Geßner konnte sein Kind betrachten, ohne daß jemand ihn beobachten konnte außer Emilia. Für sie war dieser Augenblick nur Glück, als ein Lächeln sein Gesicht verklärte und er die kleinen Hände küßte.
»Du wirst nun keinen Feigling als Vater haben, mein Junge«, sagte er innig. »Ich verspreche es dir und deiner Mami.«
»Hast du es gehört, Tobias?« sagte Emilia mit einem kleinen Lachen. »Unser Papi wird bald wieder bei uns sein.«
*
»Das ist ja eine reizende Untersuchung, Herr Doktor«, lachte Inge Büren. »Bei Kaffee und so köstlichem Gebäck, das lasse ich mir gefallen.«
»Eigentlich wollte ich nur ein bißchen mit Ihnen plaudern«, sagte Dr. Laurin.
»Ach, bekommt Frau Grohn mal wieder Besuch?« fragte sie schelmisch.
Er war nun doch verblüfft. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Intuition.«
»Verstehen Sie sich gut mit ihr?«
»Blendend. Ich habe doch gleich bemerkt, daß sie etwas bedrückt. Hat der Vater sie sitzenlassen? Wenn sie nicht weiß, wohin sie soll, kann sie zu uns kommen. Bei meinen Eltern ist viel Platz. Ich wollte es ihr nur nicht so direkt sagen.«
»Das ist jetzt nicht mehr nötig. Nur, damit mir kein Vorwurf gemacht werden kann, muß ich Ihnen sagen, daß Frau Grohn eigentlich Frau Geßner heißt und ihr Mann polizeilich gesucht wird. Wenn Sie darauf bestehen, Frau Büren, verlege ich Sie in ein anderes Zimmer.«
Sie sah ihn konsterniert an. »Aber warum denn, um Gottes willen? Was kann denn die arme Frau dafür? Sie ist doch die Unschuld in Person.«
»Nicht alle würden so denken wie Sie, und dafür danke ich Ihnen.«
»Sie müssen aber eine schöne Meinung von mir haben«, protestierte Inge Büren. »Lieber Herr Dr. Laurin, Sie sollten doch die Menschen kennen.«
»Aber es ist immer besser, sich rückzuversichern«, bemerkte er. »Sie ahnen ja nicht, was wir schon alles erlebt haben. Nochmals herzlichen Dank.«
»Ich habe zu danken für das herrliche Gebäck.« Ja, wenn sie alle so wären, dann wäre hier das reinste Sanatorium, dachte Dr. Laurin.
*
Für Kommissar Thal gab es keine festen Arbeitszeiten. Insofern war sein Beruf doch mit dem des Arztes vergleichbar. Den ganzen Tag war er kaum zum Essen gekommen, und gerade jetzt, als er die Kantine aufsuchen wollte, läutete das Telefon.
Als er hörte, wer ihm da offeriert wurde, blieb ihm allerdings die Sprache weg. Er verspürte keinen Hunger mehr und war auch nicht mehr müde.
Wenige Sekunden später stand Horst Geßner vor ihm. »Bitte«, sagte er leise, »ich stehe zur Verfügung.«
In diesem Mann einen Verbrecher zu sehen, fiel selbst dem mißtrauischen Kriminalbeamten schwer. Fünf Monate hatte man nach diesem Mann vergeblich gesucht. Nun war er da, freiwillig gekommen.
»Haben Sie schon mit Ihrer Frau gesprochen?« fragte Kommissar Thal zuerst.
Horst Geßner nickte. »Ich habe alles falsch gemacht«, sagte er gepreßt.
»Das kann man wohl sagen«, meinte Kommissar Thal und begann mit dem Verhör.
Inge Büren hatte währenddessen von Emilia auch einige Details erfahren.
»Es wird für Sie nicht angenehm sein, mit mir das Zimmer zu teilen«, sagte Emilia beklommen.
»Liebe Güte, nun machen Sie aber mal ’nen Punkt. Es wird schon alles in Ordnung kommen. Was Sie alles durchgemacht haben müssen«, fuhr sie mitfühlend fort.
»Horst hat es nicht getan. Ich bin überzeugt davon. Er ist ja so naiv. Ja, das ist alles, was ihm vorzuwerfen ist. Er sucht nur immer das Gute in den Menschen. Er ist einfach zu weich für diese Welt.«
»Dieser Bankräuber muß ein ganz raffinierter Bursche sein, und so dürfte es schwerfallen, ihn zu kriegen. Vielleicht hat er das ganze Geld schon verjubelt. Sagen Sie mal, Emilia, meinen Sie nicht, daß er Ihren Mann sehr gut gekannt haben muß und den Verdacht mit voller Überlegung auf ihn gelenkt hat?« fragte Inge Büren.
»Mir ist da ein Gedanke gekommen, aber der ist zu abwegig. Nein, das ist ganz unmöglich«, erwiderte Emilia.
»Wollen wir nicht mal alles genau durchgehen? Man müßte auch das ganze Abwegige in Betracht ziehen.«
»Aber es ist ungerecht, einen Verdacht zu äußern und ihn nähren.«
»Der kann doch leicht widerlegt werden, wenn er nicht stimmt. Wenn ich alles genau überlege, kommt es mir fast so vor, als müßte Ihr Mann auch einen solchen Verdacht gehegt haben. Weil er ihn für abwegig und nicht beweisbar hielt, hat er die Flucht ergriffen. Er muß es gewußt haben.«
*
Es ging sehr nüchtern zu bei Horst Geßners Verhör. Aber gerade diese nüchternen Fragen, die Kommissar Thal stellte, forderten Horst Geßner zu ganz präzisen Überlegungen und Antworten heraus. Alles, was Monate wirr in seinem Kopf herumgespukt hatte, reihte sich nun aneinander.
Kommissar Thal gelangte zu der Überzeugung, daß Horst Geßner der raffinierteste Lügner sein mußte, der ihm je begegnet war, wenn seine Darstellung nicht der Wahrheit entsprach.
»Sie hätten uns sehr viel Mühe erspart, wenn Sie sich gleich gestellt hätten«, sagte er gedankenvoll. »Nun werden Sie wohl einige Zeit bei uns verbringen müssen, bis wir alles überprüft haben.«
Charlotte Geßner fand keine Ruhe. Sie sah ihren Sohn hinter Gittern und fürchtete, daß seine Unschuld nie zu beweisen wäre.
Sie ging in Irenes Wohnung, die sehr geschmackvoll eingerichtet war. Irene hatte als Modezeichnerin gut verdient, aber Dieter schien zu dieser Einrichtung manches beigetragen zu haben, denn es waren sehr wertvolle Möbel.
Dieter war so ganz anders als Horst. Er verstand es, seine Vorteile zu nützen. Warum eigentlich hatten die beiden noch nicht geheiratet? Warum waren sie während der letzten Monate nie mehr bei ihr gewesen? Was war der Grund, daß auch Irene so verändert war?
Charlotte Geßner öffnete mechanisch den Kleiderschrank. Viele Sachen schien Irene nicht mitgenommen zu haben. Warum war sie weggefahren, obgleich sie mit Emilias Kommen rechnen mußte?
Immer wieder bewegten sie diese Fragen. Sie hatte Horst, der zwei Jahre jünger war als Irene, verhätschelt. Sie hatte ihn an sich binden wollen und gehofft, daß er immer bei ihr bleiben würde.
Als er dann Emilia kennenlernte und sie merkte, daß sie ihn doch verlieren würde, wünschte sie sich eine andere Schwiegertochter. Eine aus bester Familie, sie wünschte, daß er im Gesellschaftsleben eine Rolle spielte. Welch falscher Ehrgeiz! Horst war dazu nicht geschaffen.
Müdigkeit kroch durch ihre Glieder. Sie legte sich auf das breite Bett, aber das Unbehagen, das sie in dieser Wohnung fühlte, die doch ihrer Tochter gehörte, ließ sie nicht mehr los. Bei jedem Geräusch, das von der Straße heraufdrang, fuhr sie empor. Sie stand wieder auf und überzeugte sich, daß sie den Schlüssel von innen hatte steckenlassen. Sie drehte ihn noch einmal herum.
Dann legte sie sich wieder hin und sank in einen unruhigen Schlaf.
*
Nach ein paar Stunden wachte Charlotte Geßner schweißgebadet auf. Schreckliche Träume hatten sie gequält. Sie wollte das Licht anknipsen, aber ihre Hand war so zittrig, daß sie ihre Ringe, die sie auf das Bettbord gelegt hatte, herunterstieß. Von dem Geräusch wurde sie vollends wach, fand den Schalter, und Licht erfüllte den Raum.
Sie stand auf, um ihre Ringe zu suchen, aber sie mußten unter das Bett gerollt sein. Das Bett war sehr niedrig, und ohne ein Gerät konnte sie gar nicht darunter langen.
Sie holte einen Besen, doch dieser stieß auf einen Widerstand. Sehen konnte sie nichts, so nahm sie die Lampe herunter und leuchtete unter das Bett. Weit in die Mitte geschoben, sah sie zwei flache Koffer. Davor lagen ihre Ringe. Mit dem Besen angelte sie diese hervor, blieb aber auf dem Boden knien und starrte die Koffer an.
Sie versuchte, sie mit dem Besen vorzuziehen, schob sie aber eher weiter zur anderen Seite.
Sie mahnte sich, daß es sie gar nichts anginge, und doch war ihre Neugierde geweckt.
Was bedeuteten diese beiden Koffer? Warum hatte Irene sie so weit unter das Bett geschoben? In der Kammer war doch genügend Platz, und dort war alles säuberlich in Regale geordnet.
Sie überlegte krampfhaft. Gehörten diese Koffer gar Horst? Hatte er sie versteckt? Ihr Herz begann angstvoll zu hämmern bei dem Gedanken, daß sie Geld enthalten könnten, das Geld, das gestohlen worden war.
Nein, wie bisher konnte es nicht weitergehen. Sie mußte Horst sprechen, ihn nach diesen Koffern fragen, von denen etwas Unheimliches auszugehen schien.
Das Telefon schrillte.
Es klang gespenstisch. Charlotte Geßner starrte den Apparat an und nahm dann den Hörer ab.
»Geßner«, meldete sie sich und vermeinte einen schnellen Atemzug zu hören. Dann war Stille und schließlich ein Klicken in der Leitung. Die Verbindung war unterbrochen. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war sieben Uhr morgens. Eine Fehlverbindung, überlegte sie, oder wollte jemand wissen, wer in der Wohnung war?
Schon eine halbe Stunde später, von Angst und widersprüchlichen Empfindungen bewegt, verließ sie die Wohnung, schloß sorgfältig ab und ging leise die Treppe hinunter.
*
In der Prof.-Kayser-Klinik hatte der neue Tag begonnen. Die Patientinnen waren schon beim Frühstücken. Emilia wunderte sich sehr, daß sie einen so guten Appetit hatte.
»Na, das freut mich aber«, stellte Inge Büren fest. »Es tut mir leid, daß ich Sie morgen verlassen muß«, fuhr sie fort, »aber nun wird Ihre Schwiegermutter Ihnen wohl die Zeit vertreiben.«
»Es ist jetzt alles gar nicht mehr so schlimm«, sagte Emilia.
Die Kinder spielten jetzt die Hauptrolle, und alle anderen Sorgen waren in den Hintergrund getreten. Emilia hatte keine Ahnung, was sich an diesem Morgen schon tat.
*
Kommissar Thal hatte den Tag früh begonnen. Er hatte eine Fährte, und nun wollte er am Drücker bleiben. Aber damit, daß Frau Geßner schon um halb acht Uhr erscheinen würde, hatte er doch nicht gerechnet.
»Ich muß meinen Sohn sprechen, Herr Kommissar«, sagte sie entschlossen.
»Es ist gegen die Vorschrift«, erwiderte er.
»Es ist aber ungeheuer wichtig.«
»Können Sie es mir nicht sagen?«
»Nein, das geht nicht. Nicht, bevor ich mit Horst gesprochen habe. Bitte«, sagte sie flehend.
Er befand sich in einer Zwickmühle, überlegte aber doch, ob er nicht einen Schritt weiterkommen würde, wenn er dieses Gespräch zuließ. Schließlich gab es in einem Besucherzimmer eine Abhöranlage.
Horst Geßner war zuerst einmal bestürzt, seine Mutter so früh zu sehen. »Mir geht es gut, Mutter, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Das will ich hoffen«, sagte sie mit einem aggressiven Unterton, »aber ich muß dich etwas fragen. Was ist mit den Koffern?«
»Mit welchen Koffern?« fragte er.
»Die unter Irenes Bett stehen.«
»Ich weiß nichts von Koffern«, sagte er, aber seine Stimme klang erregt.
Sie sah ihn forschend an. »Wirklich nicht, Horst? Meinst du nicht, daß es an der Zeit ist, alles zu sagen?«
»Aber ich habe dem Kommissar gesagt, was ich weiß. Ich verstehe nicht, warum du dich wegen ein paar Koffern aufregst.«
»Ich will Klarheit haben. Ich verstehe Irenes Verschwinden nicht. Warum ist sie nicht da und hat dir die Wohnungsschlüssel geschickt?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht«, stöhnte er.
»Und von wem hat Emilia das Geld?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Ist es vielleicht in diesen Koffern?«
»Mutter«, schrie er auf, »das kannst du doch nicht glauben!«
Kommissar Thal war hellwach. Er hörte nicht mehr zu. Er tat schon den nächsten Schritt.
Wenig später erfuhr Kommissar Thal auch aus Charlotte Geßners Mund noch einmal von diesen Koffern.
»Vielleicht bin ich auch schon durchgedreht, Herr Kommissar«, sagte sie. »Ich will endlich Gewißheit haben. Das Verschwinden meiner Tochter bereitet mir große Sorgen. Ich habe so entsetzlich geträumt.«
»Wir werden uns um den Verbleib Ihrer Tochter kümmern«, sagte er beruhigend. »Können Sie uns einen Anhaltspunkt geben?«
»Horst sprach davon, daß sie in Innsbruck sei. Ihre Adresse weiß er auch nicht.«
»Wenn es Ihnen recht ist, werden wir jetzt gemeinsam zur Wohnung Ihrer Tochter fahren.«
Er hatte bereits einen Durchsuchungsbefehl beantragt.
Die Wohnung war so, wie sie sie verlassen hatte.
Wenig später standen die Koffer verstaubt auf dem Tisch. Sie waren verschlossen.
»Wir werden sie mitnehmen«, sagte Kommissar Thal.
»Das ist mir auch lieber. Ich bleibe nicht in der Wohnung. Ich gehe in ein Hotel und werde hier eine Nachricht hinterlassen, falls meine Tochter doch noch kommen sollte.«
Sie sagte es so, als könne sie daran schon nicht mehr glauben.
»Ich muß auch Emilia besuchen. Sie darf von alledem nichts erfahren«, flüsterte sie. »Es wäre furchtbar, wenn Horst…«
Sie unterbrach sich und preßte die Lippen fest aufeinander, aber er wußte, wie ihr zumute sein mußte, und sein eigenes Konzept war auch ins Wanken geraten.
*
Die junge Frau im Kamelhaarmantel eilte durch die Straßen. Was um sie herum geschah, war ihr völlig gleichgültig.
Sie kam von ihrer Wohnung, in der sie die Nachricht ihrer Mutter vorgefunden hatte. Mutter in München, dachte sie unentwegt. Wie kam sie in meine Wohnung? Wer hat sie eingelassen, und warum ist sie dann doch in ein Hotel gezogen?
Sie ging schneller, und dann stand sie plötzlich vor dem kleinen Hotel in der Seitenstraße.
Ihr Herz schlug bis zum Halse, als sie an die Rezeption trat, hinter der ein junges Mädchen saß.
»Frau Geßner? Ja, sie ist im Hause. Zimmer 21. Soll ich die Dame herunterbitten?«
»Ich gehe hinauf. Ich bin die Tochter«, sagte Irene geistesabwesend.
Sie bemerkte den Herrn nicht, der gleich nach ihr die kleine Hotelhalle betreten hatte und sich in einem Sessel niederließ. Sie war schon die Treppe hinaufgeeilt, als das junge Mädchen an der Rezeption ihn fragte, wen er zu sprechen wünsche.
»Ich warte«, erwiderte er liebenswürdig, aber wortkarg.
Irene stand ein paar Sekunden vor der Tür, bevor sie anklopfte. Ein Schlüssel drehte sich, und dann stand sie vor ihrer Mutter.
Wortlos blickten sie sich an. Frau Geßner wich zurück, als Irene sie umarmen wollte. Ihr Gesicht drückte Abweisung aus.
»Was ist denn los, Mutti?« fragte Irene heiser. »Warum tust du so fremd?«
Frau Geßner schloß sorgfältig die Tür wieder ab. »Ich glaube, ich bin es, die Fragen zu stellen hat«, sagte sie kühl.
»Ich wollte dich besuchen, fand alles verschlossen – dann hier in meiner Wohnung deine Nachricht. Da mußte ich mich doch wundern.«
»Ich wundere mich über manches«, sagte Frau Geßner.
»Wie bist du in meine Wohnung hineingelangt?«
»Horst hat mir die Tür aufgemacht.«
»Horst? Mein Gott, wo ist er denn jetzt?«
»Im Untersuchungsgefängnis.«
Irene wurde bleich. Sie klammerte sich an die Tischkante. »Und Emilia?«
»Sie ist in der Klinik. Ihretwegen bin ich hiergeblieben. Meine Kinder brauchen mich jetzt wohl nicht mehr, aber mein Enkel wird mich brauchen. Das Kind eines Bankräubers!« Es klang hart und verächtlich.
»Du bist wahnsinnig, Mutter«, stieß Irene hervor. »Wie kannst du das sagen?«
»Ich kann es sagen, weil es Beweise dafür gibt. Ja, ich gehe noch weiter und behaupte, daß du mit ihm unter einer Decke steckst.«
Irene starrte ihre Mutter an.
»Beweise, welche Beweise?« fragte sie tonlos.
»Tu nicht so scheinheilig. Hast du Emilia Geld geschickt oder nicht?«
»Ja, ich habe es ihr geschickt, aber…«
»Es waren Noten aus dem Bankraub. In den beiden Koffern unter deinem Bett war die übrige Beute. Wenigstens der größte Teil. Ja, da staunst du, daß ich die Koffer entdeckt habe.«
»Koffer unter meinem Bett?« murmelte sie. »O Gott!«
Sie lief zur Tür, aber Charlotte verstellte ihr den Weg. »Wohin willst du? Dich etwa auch Monate verstecken? Aber Sie werden dich schnell kriegen. Ich werde dich nicht decken. Meine Kinder – das sind meine Kinder!«
»Ich fahre zur Polizei, Mutter«, flüsterte Irene. »Ich schwöre es dir. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.«
»Ja, hoffentlich hast du noch so viel Anstand, daß du es deinen Bruder nicht allein ausbaden läßt«, sagte Charlotte kalt. »Ich habe jetzt wenigstens Emilia, und dem armen Kind habe ich so sehr unrecht getan.«
Die letzten Worte hörte Irene schon nicht mehr. Sie jagte die Treppe hinunter, an der Rezeption vorbei, hinaus ins Freie.
Doch da packte sie plötzlich eine feste Hand. »Wohin so eilig, Fräulein Geßner?« fragte eine tiefe Männerstimme.
Sie blickte in ein noch junges Gesicht, das aber jetzt hart und entschlossen wirkte.
»Was wollen Sie? Lassen Sie mich los? Ich habe es eilig.«
»Das sehe ich, und deswegen halte ich Sie fest. Fräulein Geßner, Sie sind verhaftet.«
»Ich wollte ohnehin zur Polizei«, stieß sie hervor, als sie endlich begriffen hatte.
»Das können Sie jetzt leicht sagen«, meinte der Beamte spöttisch.
*
Dr. Laurin war bestürzt, als Kommissar Thal Emilia Geßner nun doch zu sprechen wünschte. Zuvor hatte der Kommissar schon einen vernichtenden Blick von Hanna Bluhme einstecken müssen. Ihr hatte er allerdings nicht gesagt, was er nun Dr. Laurin erzählte.
»Leider scheint Geßner doch nicht das Unschuldslamm zu sein, als das er sich ausgibt«, sagte er. »Ich muß Frau Geßner ein paar Fragen stellen. Es ist unerläßlich.«
»Aber Sie dürfen ihr nicht sagen, daß Sie ihren Mann für schuldig halten.«
»Ich werde ihr nichts sagen«, versprach Kommissar Thal. »Ich möchte nur wissen, ob sich ihre Aussagen mit denen ihres Mannes decken, was die Unglücksnacht anbetrifft. Ich kann es ja selbst nicht glauben, daß ich mich so in dem Mann getäuscht haben soll, aber unter Gottes weitem Himmel ist kein Ding unmöglich. Wir haben schon die bittersten Erkenntnisse sammeln müssen.«
»Ich auch«, gab Dr. Laurin seufzend zu, und er sah das Wochenende im Kreise seiner Lieben schon in der Ferne entschwinden. »Ich werde Frau Geßner in mein Zimmer holen. Dort sind Sie ungestört.«
»Darf sie denn schon aufstehen?« fragte Thal, nun doch besorgt.
»Sie muß sogar. Es ist gut, wenn sich junge Mütter beizeiten bewegen.«
Dr. Laurin war überzeugt, daß er sanft mit Emilia Geßner umgehen würde.
»Na, wollen wir beide mal einen kleinen Spaziergang machen?« fragte Dr. Laurin Emilia.
Das Blut kroch ihr in die Wangen, und sie sah gleich viel lieblicher aus. Sie ahnte auch, warum er sie aus dem Zimmer haben wollte.
»Gibt es etwas Neues?« fragte sie bebend.
»Kommissar Thal möchte sich gern einmal mit Ihnen unterhalten. Da kommen wir doch nicht drumherum«, erwiderte er betont harmlos. »Es wird bestimmt nicht schlimm. Er ist ein netter Mann.«
Kommissar Thals Gesicht strahlte väterliche Güte und Wohlwollen aus.
»Geht es dem Baby gut?« erkundigte er sich.
»Doch, sehr gut. Wie geht es meinem Mann?«
»Auch gut«, erwiderte er ausweichend. »Ich werde mich kurz fassen, Frau Geßner. Ich möchte mir nur noch einmal von Ihnen die Ereignisse jener Nacht berichten lassen. Vielleicht ist Ihrem Mann doch einiges entfallen. Können Sie sich erinnern?«
»Ganz genau. So schnell werde ich diese Nacht nicht vergessen«, erwiderte sie und begann dann mit Horsts Zahnschmerzen.
Kommissar Thal lauschte aufmerksam. Kein Wort entging ihm. Sie war ganz ruhig und wußte sehr anschaulich zu erzählen. Es waren Nebensächlichkeiten, aber er unterbrach sie dennoch nicht.
»Dann erklärte er, Dieter habe ihn angerufen, er sei mit ihm verabredet«, sagte sie. »Dieter Lück, der Verlobte meiner Schwägerin. Es war genau halb neun Uhr. Ich wollte mich hinlegen, weil es mir nicht gutging. Da habe ich die Uhr und den Wecker gestellt.«
Genau das hatte Horst Geßner auch gesagt. Aber irgend etwas fehlte. »Sie wußten nicht, wohin er fuhr?« fragte er.
»Doch, natürlich«, stammelte sie. »Mir ist da eben etwas eingefallen. Horst verriet mir zwar nicht, was er so Wichtiges mit Dieter zu besprechen hatte, aber er sagte mir, daß er ihn im Hotel ›Astor‹ aufsuchen würde, und er nannte auch die Straße. Es kann einfach nicht möglich sein, daß er sich vertan hat, aber im ›Astor‹ wohnte Dieter nicht, sondern in der Pension Astoria, aber die ist in einer ganz anderen Gegend. Das kommt mir eben in den Sinn.«
»Sehen Sie, wie gut es ist, daß wir uns unterhalten haben, Frau Geßner!« meinte der Kommissar. »Das genügt mir eigentlich.«
»Aber wieso? Ist das denn so wichtig?«
»Es kann sehr wichtig sein. Wir brauchen jetzt nur festzustellen, ob Herr Lück Ihrem Mann die falsche Adresse angegeben hat und warum.«
Sie sah ihn konsterniert an. »Dieter? Aber er ist doch Horsts Freund.«
»Sind Sie ganz sicher? Er ist der Verlobte Ihrer Schwägerin, aber er könnte andere Freunde haben, die man einmal unter die Lupe nehmen sollte, oder…«
Er behielt lieber für sich, was er noch sagen wollte. »Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir so genaue Auskunft gegeben haben, Frau Geßner. Hoffen wir, daß bald alles für Sie durchgestanden ist.«
»Würden Sie meinen Mann von mir bitte grüßen?« fragte sie flüsternd.
»Selbstverständlich.«
Dr. Laurin war beruhigt, als Emilia erleichtert sagte: »Er war wirklich sehr nett und freundlich. Ich bin froh, daß Horst mit ihm zu tun hat.«
Ihre Hoffnungen waren wenigstens nicht zerstört worden.
*
»Irene Geßner haben wir auch«, wurde Kommissar Thal empfangen.
»Um so besser«, sagte er. »Dann wird der Kreis sich ja hoffentlich bald schließen. Herein mit ihr.«
Er war so gut gelaunt, daß man staunte und noch mehr überzeugt war, daß die großen Fische im Netz saßen.
Irene hatte ihre Fassung wiedergewonnen und gab erst einmal ihrem Unwillen Ausdruck.
»Ich wollte freiwillig kommen, Herr Kommissar, aber Ihr Beamter hat mich gewaltsam hergeschleppt.«
»Verzeihen Sie es ihm, er tat seine Pflicht. Er hatte einen Haftbefehl in der Tasche. Sie werden einiges erklären müssen, Fräulein Geßner.«
Er hatte seine Amtsmiene aufgesetzt.
»Mein Bruder ist unschuldig«, sagte sie rasch. »Ich werde Ihnen alles erklären.«
»Ja, darauf warte ich und hübsch der Reihe nach, beginnend mit jener Nacht in Berlin. Sie waren doch auch dort, wie ich hörte.«
»Ja, ich war in Berlin. Ich war spät abends angekommen. Mein Verlobter, Herr Lück, wollte mich vom Flugplatz abholen, aber ich wartete vergeblich. Ich fuhr zur Pension Astoria, diese Adresse hatte er mir angegeben.«
»Haben Sie sich nicht getäuscht? War es nicht das Hotel ›Astor‹?«
»Nein, es war die Pension Astoria. Deswegen kam mir ja die Erklärung meines Bruders, Dieter hätte ihn ins Hotel ›Astor‹ bestellt, so merkwürdig vor. Jetzt sehe ich das anders.«
»Aus welchem Grunde?«
»Deswegen wollte ich ja herkommen, um Ihnen das zu erklären. Meine Mutter hat mich mit entsetzlichen Vorwürfen überhäuft, wegen dieser Koffer und des Geldes, das ich Emilia geschickt habe. Jetzt begreife ich alles, Herr Kommissar.«
»Das müssen Sie mir schon genauer erklären. Also, fangen wir noch mal in jener Nacht an. Sie fuhren also zur Pension Astoria.«
»Ja, mit dem Taxi. Dieter war nicht da. Er müsse eben mal weggegangen sein, sagte der Portier.«
»Wie spät war es da?«
»Zehn Uhr, vielleicht auch etwas später. Ich war sehr ärgerlich. Ich ging aufs Zimmer, das für mich reserviert war, und legte mich hin.«
»Haben Sie Herrn Lück in dieser Nacht noch gesehen?«
»Natürlich. Er kam gegen elf Uhr und sagte mir, daß er mit Horst verabredet wäre, weil er dringend mit ihm über eine Wohnung sprechen wollte. Er wunderte sich, daß er noch immer nicht da sei. Ich fragte ihn natürlich, warum er weggegangen wäre. Er sagte, daß er Ausschau nach Horst gehalten und sich Zigaretten besorgt hätte.«
»Er hätte Ihren Bruder doch anrufen können.«
»Nein, das ging nicht. Dieter sagte mir, daß Horst wahrscheinlich doch zu starke Zahnschmerzen gehabt hätte, und am nächsten Morgen erfuhren wir dann von dem Bankraub.«
»Durch wen?«
»Durch das Radio.« Sie biß sich nervös auf die Lippen. »Aber wir brauchen uns damit nicht aufzuhalten. Ich weiß heute mehr und werde Ihnen alles sagen.«
»Ich höre!« Kommissar Thal lehnte sich zurück und betrachtete sie unter halbgeschlossenen Augen.
Verflixt attraktiv war Horst Geßners Schwester. Ganz anders als er. Eine clevere, selbstbewußte Frau, wenn sie auch jetzt nervös und deprimiert wirkte. Man mußte sie jedenfalls mit äußerster Vorsicht genießen.
Ihr Gespräch dauerte sehr lange, und es war sehr aufschlußreich. Irene war maßlos überrascht, als er ihr, nachdem das Protokoll aufgenommen war, sagte, daß sie gehen könne.
»Und Horst?« fragte sie gepreßt.
»Den behalten wir noch hier«, erklärte er.
»Aber ich habe doch wohl bewiesen, daß er schuldlos ist.«
»Sie haben den Versuch gemacht. Es muß sich erst herausstellen, ob alles stimmt.«
»Warum lassen Sie dann mich frei?«
»Weil unsere Gesetze es verlangen. Wir haben keine Handhabe, Anklage gegen Sie zu erheben.«
Aber er hatte ganz andere Gründe, sie freizulassen, und hätte Irene diese gekannt, wäre ihr sehr bange gewesen.
Der Kommissar beauftragte Inspektor Minden, Irene Geßner zu beschatten. Ihn kannte sie noch nicht. Er war ein gutaussehender Mann, und Hubert Minden hatte genau die richtige Art, mit Frauen umzugehen. Zudem war er immer für einen Flirt zu haben.
*
Es war finstere Nacht, als Irene auf die Straße trat. Weit und breit war kein Auto zu sehen.
Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, aber zu dieser Zeit traute sie sich nicht, ein Lokal allein zu betreten. Diesbezüglich wirkte die konservative Erziehung in ihrem Elternhaus immer noch etwas nach. Sie lehnte sich an eine Mauer und atmete ganz tief durch. Ein junger Mann stand nun ganz plötzlich vor ihr.
»Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte er höflich.
»Ich habe Hunger«, flüsterte Irene. »Mir ist ganz schlecht.«
»Dem ist doch abzuhelfen. Sie stehen direkt vor einem Speiselokal, Gnädigste.« Er lächelte liebenswürdig.
»Das ist es ja eben«, murmelte Irene, ohne ihn anzusehen. »Aber um diese Zeit…«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht den Geldbeutel daheimgelassen«, bemerkte der Fremde – Hubert Minden spielte seine Rolle so großartig, wie sein Chef es von ihm erwartete – nachsichtig.
Es ging alles viel besser, als vorauszusehen war, aber fast tat es ihm ein wenig leid, ihr diese Komödie vorzuspielen, denn er sah mit Kennerblick, daß sie wirklich eine Dame war.
»Ich muß einfach etwas essen«, sagte Irene, die ihre Selbstsicherheit wiedergewann und den fremden Kavalier in die Klasse der Wohlerzogenen einstufte, nachdem sie ihn kurz, aber eingehend gemustert hatte.
»Gut, wenn Sie so nett sind und mich begleiten? Ich möchte Sie dafür aber einladen.«
»Wenn es unbedingt sein muß«, sagte er, da er dann seinem Auftrag gemäß auch einen Blick in
ihr Portemonnaie werfen konnte. Daß solche Sachen ausgerechnet immer ihm zugeschanzt werden mußten, mißfiel ihm jedoch gründlich.
»Wenn Sie aber noch ein paar Schritte gehen können, würde ich vorschlagen, daß wir ein sehr nettes anderes Lokal aufsuchen«, sagte er.
Irene konnte.
Als sie dann, von ihm gestützt, das wirklich reizende Lokal betrat, ließ sie sich Spezialitäten des Hauses servieren, weil sie nicht mehr fähig war, die Speisekarte anzuschauen, und bald konnte sie ihren Hunger stillen.
»Warum bestellen Sie sich nichts?« fragte sie, als es ihr wohler wurde.
»Weil ich schon gegessen habe«, erklärte er. »Außerdem lasse ich mich nicht gern von einer Dame einladen.«
Er meinte es ehrlich. Es wäre ihm zu fatal gewesen, das zu akzeptieren.
»Schöne Dame«, sagte sie sarkastisch. »Geht einfach mit einem wildfremden Mann in ein Lokal.«
»Verzeihung«, sagte er und holte seine Unterlassungssünde nach, um sich mit seinem richtigen Namen vorzustellen. Nein, das konnte der Chef nicht von ihm verlangen, daß er sich selbst verleugnete.
»Waren Sie auch auf dem Präsidium?« fragte sie gedankenvoll.
Das Blut schoß ihm in den Kopf, denn er fühlte sich durchschaut.
»Ich war nämlich dort«, sagte Irene müde. »Ja, schauen Sie mich nicht so verdattert an. Ich komme eben von einem Verhör.«
Sie wußte selbst nicht, warum sie das sagte. Ihr war alles so völlig gleichgültig. Sie wollte nur mit jemandem sprechen, ganz gleich, was er von ihr dachte.
»Sie haben meinen Bruder eingesperrt«, fuhr sie tiefsinnig fort. »Es wäre zum Lachen, wenn ich nicht weinen müßte.« Schon füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Hubert Minden legte seine Hand auf ihre. »Regen Sie sich doch nicht so auf«, sagte er bittend.
»Da soll man sich nicht aufregen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Meine Mutter hält mich für eine…« Nun stockte sie doch, und ihr Gesicht verschloß sich. »Ach was, ich kann doch nicht mit einem Fremden reden.«
Hubert Minden war augenblicklich nicht mehr Polizeiinspektor, sondern ein mitfühlender Mann.
»Mir mir können Sie über alles reden«, sagte er freundschaftlich, »aber hier ist wohl nicht der richtige Ort. Gehen wir noch ein Stück spazieren?«
Sie nickte mechanisch. »Ich muß zahlen«, sagte sie, aber als sie dann ihre Tasche aufmachte, wurde sie blaß. »Mein Gott, ich habe ja nur Schillinge«, stammelte sie. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Dann betrachten Sie sich eben als mein Gast«, lächelte er. Er spürte, wie erschöpft sie war.
Sie ließ sich von ihm führen, und als sie draußen standen, sagte sie: »Ich bin so schrecklich müde.«
»Dann bringe ich Sie nach Hause«, schlug er vor. »Mein Wagen steht ganz in der Nähe.«
»Sie sind furchtbar nett«, flüsterte sie.
Wenn sie das nur zu einem anderen Zeitpunkt auch noch sagen würde, dachte Hubert Minden und wurde sich jäh bewußt, daß ihm dies durchaus nicht gleichgültig war.
Sie hatte ihm ihre Adresse gesagt, aber dann nichts mehr. Sie war eingeschlafen.
Für ihn war es ein leichtes, zu dem Apartmenthaus zu finden, denn er war heute schon einmal hiergewesen. Er ließ den Wagen ausrollen. Sie wachte nicht auf.
»Wir sind am Ziel, Fräulein Geßner«, sagte er.
Sie blinzelte, begriff aber nicht, daß er sie mit ihrem Namen anredete, obgleich sie den gar nicht genannt hatte.
»Geben Sie mir Ihren Schlüssel. Ich bringe Sie hinauf«, sagte er nun.
»Ich muß Ihnen auch noch das Geld zurückgeben«, flüsterte sie.
Hoffentlich liegt keiner auf der Lauer, dachte Hubert Minden, als er sie fast zum Hause trug.
»Ich habe ja so lange nicht geschlafen. Entschuldigen Sie«, lallte Irene schlaftrunken.
Sie standen noch im Lift. Er hatte den Arm um sie gelegt und stützte sie.
»Was müssen Sie von mir denken? Bitte, verzeihen Sie. Ich schäme mich so.«
»Sie brauchen sich nicht zu schämen«, sagte der Privatmann Hubert Minden, der vergessen hatte, daß er einen Auftrag hatte. »Ich weiß, wie das ist, wenn man übermüdet ist.«
»Wissen Sie das wirklich?« fragte sie. »Was haben Sie für einen Beruf?«
Im Unterbewußtsein arbeitete ihr Verstand, ohne daß sie es begriff. »Ich bin Beamter«, erwiderte er.
»Beamter ist ein schöner, ein sicherer Beruf. Mein Vater war Bankdirektor.«
Als er ihre Wohnungstür aufschloß, hob er sie empor und trug sie in das Wohnzimmer, dessen Tür offenstand.
Jetzt kam er sich schäbig vor, als sie sagte: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
Er bettete sie auf die Couch und deckte sie zu.
»Ihr Geld, ich lasse mich doch nicht von Ihnen einladen«, flüsterte sie.
»Schlafen Sie, Irene«, sagte er.
Sie blinzelte. »Woher wissen Sie meinen Namen?«
»Sie haben ihn mir doch gesagt«, entgegnete er geistesgegenwärtig.
»Ich habe soviel gesagt, was müssen Sie nur von mir denken?«
»Ich denke gar nichts. Ich mag Sie«, erwiderte er leise, und seine Lippen streiften ihre Stirn.
Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, aber sie war schon eingeschlafen. Es war ein Schlaf tiefster Erschöpfung. Sie würde nicht einmal merken, daß er in der Wohnung blieb; und nun erinnerte er sich, daß er seinem Chef Bericht erstatten mußte.
Er wählte die Nummer.
Kommissar Thal meldete sich, und auch seine Stimme war müde.
»Ich bin in ihrer Wohnung«, sagte Hubert Minden.
»Sie sind ein Tausendsassa, Minden. Hat sie was gemerkt?«
»Sie schläft. Sie ist total erschöpft. Außerdem möchte ich sagen, daß sie ein anständiges Mädchen ist, Chef.«
»Bleiben Sie dennoch in ihrer Nähe. Es könnte etwas passieren. Ich habe so ein Gefühl.«
Diese warnenden Worte hätten Hubert Minden munter gehalten, wenn er auch zwei Nächte nicht geschlafen hätte. Aber glücklicherweise war er vollkommen okay. Er saß neben Irene und betrachtete ihr Gesicht, das sich langsam entspannte. Einmal warf sie sich noch herum.
»Du Lump«, flüsterte sie, aber er wußte, daß dies nicht ihm galt.
Liebkosend strich er über ihre Wange. Zart wie Seide war ihre Haut, und Hubert Minden fürchtete schon jetzt, daß er dem Auftrag seines Chefs nicht in der Weise gerecht werden konnte, wie Thal es erwartete.
*
Die Stille hatte auch seine Gedanken zum Schweigen gebracht. Die Nacht kroch auch in dieses
halberleuchtete Zimmer. Ein Geräusch ließ ihn emporfahren.
Sanft löste er Irenes Finger aus seiner Hand. Er konnte sicher sein, daß niemand ungehindert diese Wohnung betreten würde, denn er hatte den Schlüssel von innen ins Schloß gesteckt.
Auf leisen Sohlen schlich er in das Schlafzimmer und wartete. Es läutete. Er hatte sein Ohr an die Tür gepreßt, aber er konnte nicht hören, daß Irene reagierte.
Es läutete wieder, anhaltender. Er vernahm ein leises Scharren. Dann läutete es zum dritten Mal, und nun vernahm er einen schweren Seufzer.
Sein Herz klopfte bis zum Halse, als er ein Knarren, dann einen Fluch vernahm. Aber er verriet ihm, daß Irene erwacht war. Sein Gefühl befahl ihm, in Erscheinung zu treten, aber sein Verstand arbeitete trotz der Müdigkeit. Schließlich war er in erster Linie in beruflicher Eigenschaft hier, erst in zweiter privat.
»Zum Teufel, warum schließt du dich ein?« sagte eine rauhe Männerstimme, die er deutlich hören konnte. »Soll ich das ganze Haus aufwecken?«
»Ich war so müde«, hörte er Irene sagen. »Ich weiß gar nicht mehr, daß ich zugeschlossen habe. Was willst du noch? Wir sind doch fertig miteinander.«
»Sei nicht so albern, Irene. Wir vertreten verschiedene Standpunkte, das ist alles, aber kein Grund, daß wir uns nicht einigen könnten.«
»Ich will mich nicht einigen. Ich durchschaue dich jetzt, Dieter.« Ihre Stimme klang fest.
Hubert Minden konnte sich nicht genug wundern.
Ihr schienen die paar Stunden Schlaf genügt zu haben, um wieder ganz klar zu sein.
»Ich durchschaue dich«, wiederholte sie, nachdem ein unverständliches Murmeln an sein Ohr gedrungen war. »Du hast Horst bewußt hineingeritten, um dich selbst zu schützen. Das Geld, das du mir gegeben hast für Emilia, stammte aus dem Bankraub. Du hast es mir nur gegeben, um Horst noch verdächtiger zu machen, du Menschenfreund.«
»Spiel nicht verrückt, Irene. Jetzt höre mir mal gut zu…«
»Ich höre dir nicht mehr zu. Verschwinde. Horst hat sich gestellt, und ich war heute bei der Polizei. Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Ich habe gesagt, daß ich das Geld für Emilia von dir bekommen habe. Sie haben die Nummern von den Banknoten gehabt und sind darauf gekommen, als Emilia ihren Klinikaufenthalt damit bezahlt hat. Natürlich dachten sie, daß das Geld von Horst stammt, aber ich habe ihnen die Wahrheit gesagt. Ich werde nicht dulden, daß mein Bruder noch länger gehetzt wird.«
»Dieser Narr, dieser Versager, der zu nichts fähig ist! Willst du denn auch ein solches Leben führen?«
Hubert Minden stand schon auf dem Sprung, die Tür aufzustoßen, als Dieter Lück Irene anfauchte: »Du blöde Gans, dann werde ich eben meine Koffer nehmen und verschwinden.«
Tödliches Schweigen folgte, dann sagte Irene laut: »Es sind also deine Koffer, die Mutter gefunden und der Polizei übergeben hat.«
»Der Polizei? Ihr wahnsinnigen Weiber!«
Doch da stürzte Hubert Minden in das Wohnzimmer und auf den völlig überraschten Dieter Lück, der zu Boden fiel und schmerzhaft unter dem Karategriff des Inspektors stöhnte.
»Rufen Sie den Chef an, Irene«, sagte Hubert, auf dem anderen kniend.
Sie lief sofort zum Telefon, während er ihr die Nummer nachrief.
Erst als sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, wurde ihr bewußt, daß er da war und sie schützte.
*
Der Spuk war vorbei. Kommissar Thal war mit seiner Mannschaft gekommen. Er grinste, als er seinen Inspektor ansah, der Dieter Lück noch immer in seinem schmerzhaften Griff hielt. Nun konnte sich Hubert Minden wieder erheben. Er schwankte ein bißchen, und diesmal stützte ihn Irene.
»Sie ist unschuldig, Chef«, sagte Hubert Minden heiser. »Ich habe alles mit angehört.«
»Na, dann klären Sie die junge Dame auch noch auf. Ihr Dienst ist zu Ende, Hub. Sie haben Ihre Sache gut gemacht.«
Mit hängenden Armen stand Irene danach im Zimmer, allein mit Hubert Minden.
»Sie sind also von der Polizei«, sagte sie beklommen. »Ich bin doch ein gutgläubiges Schaf, genau wie Horst.«
»Nicht böse sein, Irene. Es war doch gut so. Was hätten Sie denn ohne Hilfe gemacht?«
»Da haben Sie auch wieder recht«, stellte sie fest.
»Darüber können wir uns jetzt ja noch unterhalten. Haben Sie wenigstens einen Kaffee?«
»Das könnte sein«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Ja, ich habe einen«, rief sie dann aus der Küche. »Machen Sie es sich bequem.«
Jetzt war er müde, aber er wußte genau, daß er nicht einschlafen würde, bis sie ihm alles erzählt hatte.
*
»Und mit so einem Mann war ich verlobt«, schloß Irene Geßner ihren sehr genauen Bericht. »Ich könnte jetzt sagen, daß Mutter auch mit zu dieser Verlobung beigetragen hat, weil Dieter für sie eben ein Erfolgsmensch war, wie Horst es nie sein wird, aber ich habe mich eben doch von Äußerlichkeiten bestechen lassen. Er war nichts als ein… Wie nennt man eigentlich solche Leute, Herr Kriminalinspektor Minden?«
»Ich heiße Hubert«, erwiderte er müde. »Man nennt mich Hub, und ich glaube, daß wir uns sehr gut verstehen werden, Irene. Aber jetzt kann ich nicht mehr denken, trotz des Kaffees. Ich hoffe, du wirst noch Wert auf Polizeischutz legen.« Er sagte du zu ihr, als wären sie schon alte Freunde, und der flüchtige Gedanke, daß er sich auf Befehl an sie herangemacht hatte, war schon zerstreut. Was wäre wohl geschehen, wenn er nicht dagewesen wäre?
»Ich habe bis heute nicht gewußt, daß er die Bank ausgeraubt hat«, flüsterte sie.
»Bis gestern«, bemerkte Hubert.
Richtig, ein neuer Tag hatte ja schon begonnen. Würde er nun auch Horst die Freiheit bringen? In ihrem Kopf ging alles durcheinander, und es würde wohl einige Zeit dauern, bis sie alles begriff.
»Hub, würdest du morgen mit zu meiner Mutter gehen und ihr alles erklären?« fragte sie.
»Natürlich werden wir ihr alles erklären, Irene«, erwiderte er mit einem flüchtigen Lächeln.
»Danke«, sagte sie und drückte ihm einen Kuß auf die Wange.
Er legte seine Hand auf ihren Nacken und zog ihren Kopf zu sich herab. »Du hast mir gleich gefallen«, sagte er und küßte sie auf den Mund.
*
Dr. Leon Laurin war früh auf den Beinen. Er wollte nur noch einmal kurz in die Klinik fahren und nach dem Rechten sehen, und dann ging es auf ins Wochenende zu seiner Familie.
»Sind Sie startbereit, Karin?« fragte er. Sie sollte diesmal auch mitfahren.
»Ich kann es noch nicht glauben«, seufzte sie.
»Was?«
»Daß wir fahren können.«
»Und wenn die Erde bebt«, bemerkte er. »Herrje, was nehmen Sie denn alles mit?«
»Kuchen«, erwiderte sie lakonisch, »und das Geschenk für den Professor.«
»Himmel, das Schachspiel! Beinahe hätte ich es vergessen.«
»Ich nicht. Scherereien haben Sie dadurch ja wieder genug gehabt.«
»Aber kein Wort darüber im Landhaus!«
»Ich werde mich hüten!«
In der Klinik war alles in Ordnung. Dr. Rasmus und Dr. Thiele versicherten ihm, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche und sie ihn selbstverständlich unterrichten würden, wenn was Ungewöhnliches passieren würde.
»Es braucht ja nicht zu sein«, sagte Leon. »Ich meine, daß etwas passiert.«
Er beeilte sich. Er wollte schon möglichst weit sein, bevor der Wochenendverkehr einsetzte.
Er stellte das Autoradio an. Karin verzog das Gesicht. »Dieses Gedudel«, bemerkte sie abfällig.
»Nur die Nachrichten will ich hören«, beruhigte er sie.
»Ist doch auch bloß Gerede.«
Er lächelte nachsichtig.
So kritisierte sie auch gleich die erste Meldung, und zu jeder anderen hatte sie auch einen abfälligen Kommentar. Aber dann sagte der Sprecher etwas, was auch sie zum Schweigen brachte, und Leon verlangsamte unwillkürlich das Tempo.
»Heute nacht gelang der Kriminalpolizei ein großer Fang. Der Bankräuber, dem vor fünf Monaten in Berlin vierhundertzwanzigtausend Euro in die Hände gefallen waren, wurde verhaftet. Es handelt sich um den ehemaligen Angestellten der Bank!«
Unwillkürlich hielt Leon den Atem an und trat auf die Bremse, doch der Sprecher fuhr fort: »Dieter L., der sich als Anlageberater bezeichnet. Die Beute konnte bis auf zwanzigtausend Euro sichergestellt werden.«
»Da wird sich die kleine Emilia aber freuen«, sagte Leon nachdenklich.
»Na, dann würde ich an Ihrer Stelle doch mal wieder aufs Gaspedal treten«, schmunzelte Karin.
*
Auch in der Klinik hatte man die Nachrichten gehört. Wie ein Lauffeuer ging es von Mund zu Mund. In den Krankenzimmern, in denen Radio gehört wurde, diskutierte man darüber, warum der Horst Geßner dann wohl geflohen war, wenn er nichts mit dem Bankraub zu tun hatte.
Dort hatte ja niemand eine Ahnung, wie eng verknüpft die Klinik mit diesem Fall war.
Ausnahmsweise hatte heute Inge Büren das Radio auch mal angestellt.
Emilia war im Waschraum, als die Meldung kam.
Inge Bürens freudiger Aufschrei drang sogar durch die Tür. »Emilia, schnell, hören Sie! Man hat den Bankräuber geschnappt!«
Doch gar so sehr, wie sie erwartet hatte, freute sich Emilia gar nicht, als sie den Namen hörte.
»Es wird Mutter und Irene sehr treffen«, sagte sie leise. »Wie kann ein Mensch nur so gemein sein?«
»Ich bin froh, daß sie ihn geschnappt haben«, sagte Inge Büren.
»Es wird auch für Horst ein schwerer Schlag sein«, flüsterte sie. »Aber vielleicht hat er es geahnt. Er nimmt alles so schwer, Inge. Er hat Dieter doch als seinen Freund betrachtet. Wird jetzt nicht immer der Schatten des Verdachtes auf ihm lasten, daß er Mitwisser oder gar Helfer gewesen ist?«
»Setzen Sie auch ein bißchen Vertrauen in unsere Polizei. Jetzt wird sich alles aufklären.«
*
Charlotte Geßner hatte die Nachrichten noch nicht gehört, als Irene und Hubert Minden kamen.
Sie war heute nicht mehr aggressiv, sondern resigniert.
»Dich haben Sie also wieder laufenlassen«, sagte sie bitter.
»Hör uns doch erst an, Mutti«, sagte Irene bittend. »Herr Minden ist Kriminalinspektor.«
»Ach so«, sagte Frau Geßner.
»Ich bin aber als Privatmann hier, Frau Geßner«, warf Hubert ein. »Irene und ich sind Freunde geworden.«
Unwillen und Mißtrauen zeichneten sich auf Charlotte Geßners Gesichtszügen, aber dann mußte sie doch zuhören, und langsam hellte sich ihre Miene auf.
»Wie kann nur ein Mann in solcher Position, mit soviel Geld so etwas tun?« fragte sie verwirrt.
»Es war alles nur Schein, Mutti«, sagte Irene. »Ich war schon dahintergekommen und habe unsere Verlobung gelöst. Daß er allerdings auch den Bankraub auf dem Gewissen hatte, wußte ich nicht. Als er mir das Geld für Emilia gab, glaubte ich noch an seine Freundschaft zu Horst.«
»Und warum warst du so lange fort?«
»Ich habe Horst gesucht. Ich wollte ihn noch mal wegen der Nacht in Berlin fragen. Aber er ist dann doch hierhergekommen. Nun wird er bald frei sein. Willst du deine verlorenen Kinder nicht doch wieder aufnehmen?«
»Tragt ihr es mir nicht nach, daß ich euch verdächtigt habe?«
»Du warst genauso durcheinander wie wir, das ist doch verständlich. Aber ein Gutes hat doch alles, du hast dich mit Emilia versöhnt.«
»Ich habe meine Fehler eingesehen.«
»Ich auch, Mutti«, sagte Irene verhalten. »Hoffentlich wird Emilia mir verzeihen, daß ich sie ungewollt in diese Situation gebracht habe. So gescheit, wie du immer dachtest, bin ich halt auch nicht.«
»Aber süß«, raunte ihr Hubert ins Ohr, und Charlotte Geßners Gesicht hellte sich noch mehr auf, als sie sah, wir Irene mit leuchtenden Augen zu ihm emporblickte. Sie hatte keinen Ehrgeiz mehr, ihre Kinder in gesellschaftlichem Glanz zu sehen. Sie wollte nur noch, daß sie glücklich wurden, und anscheinend war auch Irene bereits auf dem Wege dazu, wenn dies auch sehr plötzlich kam.
»Müssen wir uns jetzt nicht um Horst kümmern?« fragte sie dann.
»Das tut Hubert. Wir fahren jetzt zu Emilia«, sagte Irene.
*
Wieder saß Horst Geßner Kommissar Thal gegenüber. Diesmal als freier Mann.
»Ich habe geahnt, daß Dieter dahintersteckt«, sagte er noch einmal. »Aber weil er mir doch diese Stellung besorgt hatte, fürchtete ich, daß ich auf jeden Fall hineingezogen würde, und ich ahnte auch, daß Dieter die Schuld auf mich abwälzen wollte. Er war viel raffinierter als ich.«
»Sie hätten sich und Ihrer Familie viel ersparen können, wenn Sie die Karten sofort auf den Tisch gelegt hätten. Aber Sie hatten wohl kein Vertrauen zu uns geplagten Kriminalbeamten.«
»Ich war in Panik geraten. Emilia hatte immer soviel Vertrauen zu mir, und nun hatte sich auch noch das Kind angemeldet. Sie hätte einen anderen Mann verdient.«
»Sie will aber keinen anderen«, lächelte Kommissar Thal aufmunternd. »Nur Mut, Herr Geßner. Die Zukunft liegt noch vor Ihnen.«
»Aber wird mich jetzt noch jemand nehmen wollen? Wird es mir nicht immer angelastet werden, daß ich geflohen bin?«
»Na, da kann ich Sie beruhigen. Wer Horst Geßner ist, werden in wenigen Tagen nur noch ein paar Menschen wissen, nämlich die, die Sie gut kennen. Nun lassen Sie Ihre Frau nicht länger warten, Herr Geßner«, meinte Kommissar Thal abschließend.
Er wollte wenigstens noch ein paar Stunden schlafen, denn auch für ihn gab es an diesem Tag noch ein Privatleben, auf das er sich freute.
*
»Papi, Papi, Papi, Leon!« Vielstimmig wurde Dr. Laurin von seiner Familie begrüßt. Er wußte nicht, wen er zuerst küssen sollte, aber glücklicherweise trat nun auch Karin in Erscheinung und wurde jubelnd von den Kindern umringt.
Leon konnte endlich seine Antonia innig küssen.
»Du hast ja keine Ahnung, wie ihr mir gefehlt habt«, sagte er zärtlich.
»Und du scheinst nicht zu wissen, wie sehr wir dich vermißt haben!«
»Was kriegt Opi nun zum Geburtstag?« schrie Konstantin.
»Ihr werdet es doch erwarten können?«
»Haben auf dich wartet mit Bescherung«, meldete sich Kevin zu Wort.
»Opi hat schon dolle, viele Geschenke«, sagte Kaja. »Und alle anderen sind schon da.«
Das Schachspiel begeisterte Professor Kayser sehr, doch die Kinder waren enttäuscht.
»Was soll man denn damit spielen?« fragte Konstantin unwillig.
»Die Figuren gucken blöd«, meinte auch Kaja.
»Sie sind herrlich«, schwärmte Professor Kayser. »Meisterlich! Kinder, ihr sollt nicht soviel Geld ausgeben für einen alten Mann.«
»Die kosten auch noch viel Geld!« sagte Konstantin zu Kaja mit heller Empörung.
Karins Kuchen fand ungeteilte Begeisterung. Wie die Wilden stürzten sich die Kinder darauf.
Karin strahlte, und Antonia sagte: »Da können wir uns ja das Mittagessen sparen.«
»Das könnte euch so passen«, sagten Leon und sein Schwager Andreas wie aus einem Munde. Die geplagten Väter freuten sich darauf, endlich einmal wieder ungestört genießen zu können.
Daß am Nachmittag auch noch die anderen Kaysers kamen, Bert, Monika und die Kinder Flori und Pam, versteht sich von selbst. Selten genug hatten sie einmal alle Zeit, und das mußte doppelt gefeiert werden.
»Wir hatten eigentlich früher mit euch gerechnet«, sagte Antonia, die ihren geliebten Onkel Bert besonders liebevoll begrüßte.
»Der Buchhalter mußte in die Klinik«, erklärte er. »Schlimme Sache. Hoffentlich bekomme ich bald Ersatz. Entschuldige, Kindchen, aber man hat so seine Sorgen.«
»Ich wüßte vielleicht jemanden«, sagte Leon.
Antonia warf ihm einen schrägen Blick zu. »Na, da bin ich aber gespannt. Es sollte mich doch sehr wundern, wenn es in der Prof.-Kayser-Klinik nicht doch wieder Probleme gegeben hat.«
Leon legte den Arm um sie. »Deine Antenne funktioniert doch immer. Wie kommt das bloß?«
»Ich brauche dich nur anzuschauen«, lächelte sie.
Bert Kayser schmunzelte. »Wenn ihr schmusen wollt, laßt euch nicht stören. Aber vergiß nicht, mir den Buchhalter zu schicken, Leon.«
Damit war das Thema für diesen Tag jedoch endgültig erledigt. Er gehörte nur noch der Familie.
*
»Hoffentlich ist Hanna nicht sauer«, sagte Laura zu ihrem Mann.
»Hoffentlich ist Michel nicht so müde, daß er einschläft«, bemerkte Günter Stoll. »Er hat anstrengende Tage hinter sich.«
»Wann habt ihr das nicht?« meinte Laura seufzend.
»Kommt Blümchen bald, Papi?« fragte Tabea. »Blümchen ist lieb«, wisperte sie.
»Das finden andere auch«, murmelte Günter. »Riskant ist so was schon, Laura.«
»Ach was.« Sie deckte den Tisch besonders festlich, was ihn zu der Bemerkung veranlaßte, daß sie ja nicht gleich Verlobung feiern wollten.
Ahnungslos, welche Überraschung ihrer harrte, fuhr Hanna Bluhme in der bequemen S-Bahn ihrem Ziel entgegen.
Vielerlei Gedanken bewegten sie. Hanna wußte es aus den Nachrichten, daß alles ein gutes Ende gefunden hatte, und Schwester Otti hatte sie auch noch angerufen. Alle freuten sich, und der Kommissar Thal hatte seinen Teil dazu beigetragen.
Eigentlich hätte ich nicht so ekelhaft zu ihm sein brauchen, dachte Hanna. Er tut doch auch nur seine Pflicht, so wie wir. Lauras Mann war schließlich auch ein Beweis, daß Kriminalbeamte auch Menschen waren.
Sie war überhaupt in einer Stimmung, von jedem nur die beste Meinung zu haben, nachdem alles so glimpflich verlaufen war.
Beinahe hätte sie vergessen, an der richtigen Station auszusteigen, so sehr war sie in ihren Gedanken versunken.
*
Wie schön für Laura, daß sie es so gut getroffen hat, dachte Hanna, als sie das schöne Haus betrat. Tabea hing gleich an Hanna und nahm strahlend den niedlichen Teddy in Empfang, den sie als Mitbringsel bekam. Laura freute sich sehr über die Kuchenzange und den Sahnelöffel.
»Wie Sie es nur erraten, Blümchen. Gerade das fehlt mir noch«, sagte sie.
Es war gleich urgemütlich, und da sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten, merkte Hanna noch nicht, daß der Tisch für vier gedeckt war. In der Unterhaltung verging die Zeit schnell, doch manchmal warf Laura nun doch einen sorgenvollen Blick auf die Uhr.
»Dann werden wir uns doch mal an den Kaffeetisch setzen«, sagte sie. »Eigentlich wollte ja noch ein Kollege von Günter kommen, aber er scheint doch wieder unabkömmlich zu sein.«
Doch im gleichen Augenblick läutete es, und nun stand der große Augenblick bevor.
»Michael ist ein netter Mensch«, sagte Laura harmlos. »Er ist auch so ein Einzelgänger, um den man sich ein bißchen kümmern muß.«
Da stand er schon in der Tür neben Günter Stoll, der Kommissar Michael Thal, schlicht Michel genannt, und Hanna fühlte, wie ihr die Glut in die Wangen stieg. Sie warf erst Laura einen raschen Blick zu, aber die hatte sich gut in der Gewalt und tat völlig unwissend.
Von einem erfahrenen Kriminalkommissar mußte man schon voraussetzen, daß er sich beherrschen konnte, aber so ganz gelang es Michael Thal nicht.
»Welch ein Zufall!« sagte er stockend. »Wir haben uns schon kennengelernt, Frau Bluhme.«
»Gibt’s denn das?« meinte Günter unschuldsvoll.
»Sie haben ja gar nichts davon gesagt, Blümchen«, warf auch Laura ein.
»Ich wußte ja nicht, daß Kommissar Thal Michel heißt«, bemerkte Hanna hintergründig, denn sie ahnte schon, daß dies nicht nur ein Zufall war.
»Den Kommissar lassen wir jetzt aber weg«, sagte Michael Thal. »Entschuldigt bitte die Verspätung, aber ich mußte ein paar Stunden schlafen.«
*
Für Emilia Geßner war der Tag ereignisreich. Zuerst der Abschied von Inge und bald darauf kamen ihre Schwiegermutter und Irene, und auch da gab es wieder Tränen, diesmal jedoch bei Irene, und sie flossen reichlich.
»Mach dir doch keine Vorwürfe mehr, Irene, es sollte alles so sein. Irene verdient keinen Vorwurf, Mutter«, sagte Emilia. »Sie hat sich immer um mich gekümmert.«
»Was man von mir nicht sagen kann«, klagte sich Charlotte Geßner an.
»Davon reden wir doch nicht mehr«, meinte Emilia. »Es muß ein großer Schock für dich gewesen sein, Irene, ich meine, wegen Dieter.«
»Davon reden wir jetzt auch nicht mehr«, fiel Irene ihr ins Wort. »Es geschieht mir ganz recht, aber ich habe ja mehr Glück als Verstand.«
»Wie meinst du das?«
»Das wirst du schon noch erfahren«, sagte Irene. »Erlaubst du mir, daß ich mir jetzt meinen Neffen anschaue?«
»Schwester Otti wird ihn bald bringen.«
»Das ist eine tolle Klinik«, stellte Irene fest.
»Ich konnte es jedenfalls nicht besser treffen«, sagte Emilia. »Alle sind einfach rührend, die Ärzte, die Schwestern, und auch meine Bettnachbarin war reizend. Sie wurde heute entlassen.«
Wie leicht es ihr von den Lippen kam. Frau Geßner nahm ihre Hand und drückte sie leicht. »Ich freue mich so darauf, Emilia. Irene hat schon recht, ein Gutes hat es. Deine engstirnige Schwiegermutter hat eine Lehre bekommen.«
»Aber du warst da, als ich dich am nötigsten brauchte, Mutter«, sagte Emilia weich. »Dafür bin ich dankbar.«
Schwester Otti schob das Bettchen herein, in dem der kleine Tobias selig schlummerte. Ganz verzückt wurde er von drei Augenpaaren betrachtet, aber am seligsten war jetzt Irene, die ihn zum ersten Mal sah.
»Gott, ist der süß«, sagte sie begeistert, »direkt neidisch könnte man werden. Darf ich, trotz allem, Patentante bei ihm werden, Emilia?«
»Das stand doch von Anfang an fest. Es hat sich nichts geändert, Irene.«
»Eigentlich müßten sie so langsam kommen«, meinte Irene sinnend.
»Sie?« fragte Emilia überrascht.
»Dein Mann und der Polizeiinspektor«, scherzte Irene.
»Steht er denn noch immer unter Aufsicht?« fragte Emilia bestürzt.
»Unter ganz strenger, du Angsthase. Aber in erster Linie ich.«
»Hast du noch Schwierigkeiten?« erkundigte sich Emilia ängstlich.
»Jage Emilia doch nicht solchen Schrecken ein«, sagte Charlotte Geßner vorwurfsvoll. »Irene hat nämlich den Inspektor becirct.«
»Er hat mich becirct«, widersprach Irene lächelnd. »Er ist jedenfalls der netteste Polizist, der mir je begegnet ist.«
»Inspektor«, korrigierte ihre Mutter. »Jedenfalls ist er ein sehr achtbarer junger Mann.«
Darauf warf Irene ihrer Schwägerin einen verschmitzten Blick zu.
»Mit Garantiekarte«, scherzte sie.
So recht konnte Emilia noch nicht folgen, und auch als jetzt Horst und Hubert eintraten, war sie noch verwirrt. Es war nicht zu übersehen, daß der Kriminalinspektor Hubert Minden und Irene sich weitgehend einig waren. Sogar schon in bezug des Nachwuchses, denn sie genossen den Anblick des kleinen Tobias augenblicklich mehr, als Horst und Emilia, die sich stumm umschlungen hielten und sich endlich frei von allen Sorgen küssen konnten.
*
Laura Stoll konnte indessen den Kaffeetisch abräumen. Sie seufzte hörbar erleichtert auf, als sie das Tablett auf den Küchentisch stellte. Hanna, die ihr mit den Kuchenplatten gefolgt war, konnte dieser Seufzer nicht entgehen, aber Laura, die mit ihrem Erscheinen nicht gerechnet hatte, schrak zusammen, als Hanna sagte: »Sie haben wohl doch Angst gekriegt, Laura?«
»Wovor denn?« fragte Laura errötend.
»Daß ich fragen könnte, wieso Herr Thal heute auch eingeladen ist«, bemerkte Hanna gleichmütig.
»Er ist oft bei uns«, sagte Laura verlegen. »Er ist ein feiner Mensch.«
»Das will ich nicht bezweifeln, aber Sie wußten doch sicher, daß er in amtlicher Eigenschaft in der Prof.-Kayser-Klinik zu tun hatte.«
»Na ja«, gab Laura zu, »er sagte, daß ich eine sehr nette Nachfolgerin bekommen hätte, und er war auch ein bißchen unglücklich, weil er fürchtete, bei Ihnen ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Sind Sie böse, daß wir ihn auch eingeladen haben?«
»Das wäre ja albern«, lächelte Hanna. »Ich habe die beste Meinung von unserer Polizei, seit Sie mit Ihrem Günter verheiratet sind.«
»Ich habe aber auch sehr viel Glück gehabt«, sagte Laura.
»Sie haben es sich verdient«, sagte Hanna herzlich. »Sehr hübsch haben Sie es hier. Und Tabea hat einen sehr liebevollen Papi.«
»Das kann man wohl sagen. Aber jetzt gehen wir wieder hinein, sonst denken die Männer, wir wollen nichts von ihnen wissen.«
Sie schauten auch schon ein bißchen skeptisch, aber Tabea überbrückte mit ihrem kindlichen Geplapper die kurze Spannung, und schon waren sie wieder in der angeregtesten Unterhaltung, die sich dann auch über das Abendessen ausdehnte.
»Jetzt wird’s aber langsam Zeit für mich«, sagte Hanna, als sie auf ihre Armbanduhr geblickt hatte. »Nach zehn Uhr fahren die Züge nur noch alle vierzig Minuten.«
»Sie können doch mit Michael fahren«, sagte Laura mutig, da sie merkte, daß dem sonst so geistesgegenwärtigen Kommissar augenblicklich die Worte fehlten. »Er wohnt doch beinahe um die Ecke.«
»Tatsächlich?« fragte Hanna anzüglich.
»Sozusagen«, murmelte er. »Wenn Sie sich unter meinen Schutz stellen wollen, Hanna.«
Stockend brachte er es über die Lippen, aber es klang richtig lieb.
»Aber spät genug ist es trotzdem«, stellte sie fest. »Besonders für Sie nach diesen anstrengenden Tagen.«
»Michael kann ja morgen ausschlafen«, sagte Laura.
»Wenn es gewiß ist«, meinte Michael Thal.
»Du könntest einfach mal unerreichbar sein, wenn du nicht so mit deiner Arbeit verheiratet wärest«, sagte Günter neckend. »Aber er wartet ja buchstäblich in seinen vier Wänden, daß man ihn holt, und das nützen unsere Kollegen weidlich aus.«
»Also, morgen schlafe ich wirklich aus«, erklärte Michael.
»Und jetzt fahren wir nach Haus«, schloß Hanna sich an. »Das reimt sich sogar. Es war sehr nett, sehr nett bei euch, Laura.«
*
Der Wagen glitt durch die nachtdunklen Straßen. Jeder schien zu warten, daß der andere das erste Wort sagte.
»Sie sind mir also doch böse«, begann schließlich Michael.
»Wieso denn und weswegen?«
»Weil Sie schweigen und weil ich mich hinter Laura gesteckt habe. Es ergab sich ganz zufällig. Ich habe sie nur gefragt, ob Sie sich noch treffen.«
Hanna lachte leise. »Worauf Laura dann prompt bei mir auch aufkreuzte und mich einlud. Sie besucht uns öfter, und ich sollte sie schon lange mal besuchen.«
»Ich mag die beiden sehr gern«, fuhr er fort, froh, nun einen Faden gefunden zu haben. »Früher, als Günter noch Junggeselle war, haben wir oft zusammen gesessen und uns gegenseitig aufgemuntert, und jetzt spiele ich halt ein bißchen Opa bei der Kleinen.«
»Schöner Opa«, meinte Hanna neckend. »Machen Sie sich doch nicht älter, als Sie sind, Michel.«
»Wie nett, daß Sie mich Michel nennen.« In seiner Stimme schwang Freude. »Ich fühle mich gleich jünger.«
»Sie nennen mich ja auch Hanna«, gab sie zurück. »In der Klinik nennen mich alle beim Vornamen.«
»Und dort sind Sie wohl unentbehrlich?«
»So vermessen bin ich nun wieder nicht. Kein Mensch ist unersetzlich, aber ich bin froh, daß ich mich doch nützlich machen kann. Damals, nachdem mein Mann gestorben war, mußte ich mir eine Beschäftigung suchen, aus finanziellen Gründen. Dr. Laurin erschien als rettender Engel, und in der Klinik wurde mir dann bewußt, wieviel Leid es gibt, aber auch wieviel Freude. Mein Leben ist ausgefüllt.«
Sein Lächeln erlosch. »Sie wollen mir zu verstehen geben, daß Sie keine Zeit haben werden, einem einsamen Junggesellen ab und zu mal ein paar Stunden zu widmen«, sagte er leise.
»Der einsame Junggeselle hat diesbezüglich noch keine Anfrage an mich gerichtet«, meinte sie nachsichtig.
»Er möchte es aber gern tun. Ich weiß nicht mehr, wie man das am besten anfängt, Hanna. Dort drüben wohne ich übrigens.« Er fuhr langsamer und deutete auf ein hübsches, ziemlich großes Haus.
»Allein?« fragte sie verblüfft.
»Männer in Ihrem Alter genießen meistens eine zweite Jugend«, bemerkte Hanna hintergründig.
»Das ist doch albern. Ich bin fünfzig und fühle mich auch so.«
»Ich bin fünfundvierzig und denke nicht an die Jahre. Wenn Sie wirklich nichts Besonderes vorhaben, dann können wir ja mal ins Theater gehen oder ins Konzert oder auch einen Ausflug machen, wenn Sie nicht wieder von Bankräubern und ähnlichen Individuen in Atem gehalten werden. Und da wohne ich.«
»Ich weiß.«
»Der vorsichtige Herr Kommissar hat sich wohl erst eingehend über mich erkundigt«, meinte sie belustigt. »Ich glaube gar, er hat mich ernsthaft in Verdacht gehabt, an dem Bankraub beteiligt zu sein.«
»Wissen Sie, Hanna, das ist eben das verflixte an meinem Beruf. Man darf nie nach dem Gefühl gehen, aber wenn Sie es schon genau wissen wollen, ich alter Esel habe mich in Sie verliebt.«
»Na, da hätten Sie sich auch was Jüngeres und Hübscheres aussuchen können«, sagte sie verlegen.
»Nein«, erwiderte er sehr bestimmt. »Man könnte meinen, zwischen der Prof.-Kayser-Klinik und der Kripo bestünde eine magische Anziehungskraft.«
»Wir wären allesamt froh, wenn das das letzte Mal der Fall gewesen wäre«, versuchte sie zu scherzen.
»Aber nicht, daß wir uns das letzte Mal gesehen haben. Morgen ist Sonntag. Haben Sie etwas vor?« Er fragte es überstürzt, bevor ihn wieder der Mut verließ.
»Nein, ich habe nichts vor«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen.
»Dann darf ich Sie abholen? Wir könnten irgendwo gemütlich essen und ein bißchen spazierengehen.«
»Gern, Michel«, sagte sie und reichte ihm die Hand, die er ganz behutsam an seine Lippen zog.
»Ich freue mich sehr, Hanna. Gute Nacht und tausend Dank.«
»Gute Nacht, Michel«, erwiderte sie mit einem verhaltenen Lächeln.
*
Nun kam ein Wochenanfang, wie es verheißungsvoller nicht sein konnte. Ein klarer, kalter Wintermorgen, der einen schönen Tag ahnen ließ.
Die Familie Laurin war wieder daheim vereint. Karin wirtschaftete in ihrer Küche.
Die Kinder schliefen nach den turbulenten Tagen wie die Murmeltiere, und auch Leon fand sich nicht leicht aus den Federn.
Antonia legte ihre weichen Lippen an sein Ohr.
»Leon, Liebster, Schatzilein«, flüsterte sie zärtlich. »Zeit zum Aufstehen ist!«
So hatte er es gern. Wie sehr hatte er es vermißt während dieser Woche! Er genoß es noch, sie in den Armen zu halten, ihre glatte, seidige Haut unter seinen Fingern zu spüren.
»Jetzt müßte noch mal Sonntag sein«, meinte er seufzend. »Ich weiß nicht, warum die Zeit so schnell vergeht, wenn wir zusammen sind.«
Er ließ sich heute auch mit dem Frühstück Zeit, aber dann kam ihm doch plötzlich ein Gedanke.
»Irgend etwas wollte ich doch nicht vergessen«, überlegte er. »Himmel, was war das bloß?«
»Vielleicht den Buchhalter?« fragte sie.
»Richtig! Du bist ein Schatz, Antonia. Wenn ich dich nicht hätte.«
»An wen denkst du denn dabei?«
»Es war nur so eine Idee. Ich weiß nicht mal, ob er das kann«, erwiderte er ausweichend, aber Antonia ließ jetzt nicht mehr locker.
»Ob wer was kann?« fragte sie.
»Geßner.«
»Du hast mir noch gar nichts erzählt«, meinte sie vorwurfsvoll.
»Es war ja keine Gelegenheit dazu. Wir hatten schließlich Wichtigeres zu tun«, meinte er augenzwinkernd. »Aber das kann dir Karin erzählen, Liebes. Ich muß mich auf die Beine machen.«
Er kam mit einer viertelstündigen Verspätung in der Klinik an, was man von ihm gar nicht gewöhnt war. Hanna saß längst auf ihrem Platz.
Leon sah sie irritiert an. »Sie kommen mir so anders vor«, stellte er fest.
»Das kommt nur, weil Sie mich zwei Tage nicht gesehen haben. Ihnen ist das Wochenende auch gut bekommen, Chef.«
»Ich habe es genossen.«
»Was hat der Professor zu dem Schachspiel gesagt?« Auch in ihrem Leben spielte dies nun eine gewichtige Rolle, hatte sie dadurch doch Michael Thal kennengelernt.
»Er war begeistert. Natürlich hat er keine Ahnung, was wir uns damit eingehandelt hatten. Ist Geßner nun eigentlich frei?«
»Aber freilich. Es hat sich alles aufgeklärt.«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Na, dann wird der Kommissar Ihnen ja nicht mehr auf den Wecker fallen«, bemerkte er.
»Bestimmt nicht«, erwiderte sie mit einem Unterton, der ihn aufhorchen ließ.
»Ich fand ihn sehr sympathisch«, sagte er.
Sie lächelte verschmitzt. »Man muß die guten Beziehungen zur Polizei pflegen«, bemerkte sie hintergründig.
»Das ist eine gute Idee. Man kann ja nie wissen.
Er erfuhr, daß es in der Klinik ein Wochenende ohne besondere Ereignisse gewesen war, wollte man davon absehen, daß nun auch die Familie Geßner in schönster Eintracht vereint war.
Er fand eine gelöste, fröhliche Emilia vor. »Wenn Ihr Mann kommt, hätte ich ihn gern gesprochen«, sagte er. »Versteht er eigentlich etwas von der Buchhaltung?«
Verwirrt sah sie ihn an. »Das muß er doch in seinem Beruf.« Sie war schon wieder ein bißchen ängstlich geworden.
»Deswegen frage ich auch nicht«, beruhigte er sie. »Vielleicht hätte ich eine Stellung für ihn. Aber das möchte ich selbst mit ihm besprechen.«
Sie konnte es nicht fassen. »Wie soll ich Ihnen bloß danken?«
Aber da winkte er ab und erinnerte sie noch einmal daran, daß sie ihren Mann gleich zu ihm schicken solle.
*
Blendend gelaunt erschien auch Kommissar Thal in seinem Büro, und er fand einen nicht weniger gut gelaunten Inspektor Minden vor.
»Wochenende gut verbracht?« fragte er.
Hubert Minden grinste. »Ich bin Irene Geßner nicht von der Seite gewichen, Chef.«
»Sind Sie von Sinnen? Das hat sich doch alles geklärt. Sie haben doch selbst dafür gesorgt, daß sie von jedem Verdacht befreit ist.«
»Aber Sie haben gesagt, daß ich die junge Dame aufklären soll, falls Sie sich erinnern.«
»Haben Sie sie aufgeklärt? fragte Kommissar Thal anzüglich.
»Ausführlich.«
»Und sehr privat, nehme ich an.«
»Ich befasse mich mit dem Gedanken, Irene zu heiraten«, gestand Hubert Minden.
»Aber nicht im Dienst«, grinste Michael Thal.
»In der Kirche«, erwiderte Hubert schlagfertig.
»Werden Sie bloß nicht keck. Ich meine natürlich, daß Sie sich im Dienst nicht mit solchen Gedanken befassen sollen, Herr Inspektor. Hoffentlich ist sich die junge Dame im klaren, was sie sich mit einem Polizisten einhandelt.«
»Erst werde ich mir den Lück noch mal vornehmen«, sagte Kommissar Thal. »Ich möchte, daß diese Angelegenheit so schnell wie möglich abgeschlossen wird, damit nicht erst in Monaten alles noch mal aufgerührt wird. Die zehn Prozent Belohnung, die die Bank ausgesetzt hat, würden eigentlich Frau Geßner zustehen, da sie uns die Koffer übergeben hat.«
»Sie wird es bestimmt nicht annehmen, damit die Summe, die Lück verbraucht hat, ausgeglichen wird. Sie hat noch ganz strenge Ehrbegriffe, deswegen ist sie manchmal wohl ein bißchen ungerecht gewesen.«
Kommissar Thal blinzelte ihm zu. »Man erspart sich viele Schwierigkeiten, wenn man sich mit der Schwiegermutter gutsteht.«
»Keine Bedenken, Chef«, sagte Hubert, um sich dann seinen dienstlichen Obliegenheiten zuzuwenden.
*
Charlotte Geßner zeigte, daß sie genauso gütig sein konnte, wie sie bisher eigensinnig gewesen war, und nicht nur ihr Enkel sollte davon profitieren, vor allem auch Emilia, die von ihr umsorgt und umhegt wurde.
Horst Geßner hatte mit Dr. Laurin gesprochen, konnte aber noch nicht daran glauben, daß Bert Kayser ihn auch wirklich einstellen wollte. Deswegen sagte er Emilia nichts davon, als er sich in den Kayser-Werken vorstellte.
Ein wenig skeptisch war Bert Kayser allerdings auch, nachdem Leon ihm angedeutet hatte, wen er ihm da offerierte. Aber Bert war auch ein guter Psychologe, worauf auch seine großen Erfolge zurückzuführen waren. Er war vor allem kein Mensch mit unüberwindlichen Vorurteilen. Er sah immer hinter die Fassade, ob nun einer forsch oder schüchtern auftrat. Bei Horst Geßner war das letztere der Fall.
Bert Kaysers nette Sekretärin Hannelore Mohr sagte allerdings etwas, was von vornherein den Bann brach.
»Der sieht ja schon aus wie ein richtiger, korrekter Buchhalter«, raunte sie ihrem Chef zu.
Verkaufen kann er sich bestimmt nicht, dachte Bert Kayser. Aber der erfahrene Industrielle hatte gerade mit diesem Typ Mensch die besten Erfahrungen gemacht, und so verstand er es auch recht schnell, Horst Geßner von seinen Hemmungen zu befreien.
»Sie sind bilanzsicher?« fragte er nach einer kurzen Einleitung.
»Ja, gewiß – aber ich muß Ihnen doch wohl erst eine Erklärung geben. Mein Name stand lange Zeit in den Fahndungsbüchern der Polizei«, sagte Horst leise.
»Ich weiß. Die Sache hat sich ja erledigt. Dr. Laurin hat Sie mir empfohlen. Das genügt mir. Wie sind Ihre Gehaltsforderungen?«
»Gar nicht… Ich meine, ich kann doch nichts fordern. Ich muß froh sein, wenn Sie mich beschäftigen.«
»Nun mal nicht gar zu bescheiden. Sie haben doch eine Familie zu ernähren. Schön, fangen wir mit dem Tarif an, bis Sie sich eingearbeitet haben, dann sehen wir weiter. Sie haben vier Wochen Probezeit. Wenn Sie meinen Vorstellungen entsprechen, kann ich Ihnen auch eine betriebseigene Wohnung zur Verfügung stellen.«
Er gehört zu denen, die man fordern muß, dachte Bert Kayser. Nicht alle sind zum Manager geboren. Doch leider fühlten sich viele, die das Zeug dazu gar nicht hatten, dazu berufen. Ihm waren die anderen schon lieber, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten blieben.
»Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht«, sagte Horst Geßner leise, und auch das paßte zu ihm.
Das hätte Charlotte Geßner nun doch nicht gedacht, daß ihr Sohn schon sobald eine neue Stellung bekommen würde. Schon morgen konnte er anfangen.
»Begeistert scheinst du ja nicht zu sein, Mutter«, sagte Horst. »Traust du mir denn gar nichts zu?«
»Ich hatte mich doch so darauf gefreut, Emilia und den Kleinen bei mir zu haben«, erwiderte sie betrübt.
»Bis wir eine Wohnung haben, komme ich mit Tobias zu dir«, versprach Emilia. »Damit bist du doch einverstanden, Horst?«
Es gab ihm einen Stich, aber gleichzeitig war es ihm ein ungeheurer Ansporn. Er wollte auch sagen, daß seine Mutter später, wenn sie dann eine Wohnung hatten, auch zu ihnen kommen könnte, aber damit hielt er sich noch zurück. Er hatte eine ganze Menge gelernt.
*
Antonia Kayser stellte fest, daß ihr Mann schon lange nicht mehr
so pünktlich heimgekommen war und wie gut gelaunt er auch heute war.
»Es riecht ja sehr verführerisch«, stellte er schnuppernd fest.
»Es gibt Hasenrücken«, kündigte sie an.
»Warum kann es nicht immer so sein?« meinte Antonia seufzend. »Es ist himmlisch, wenn das Telefon nicht läutet.«
»Beschrei es nicht, Liebling.« Er hatte es kaum ausgesprochen, da läutete es.
»Na, was habe ich gesagt?« Stöhnend erhob er sich, aber Antonia war schneller.
»Ach, du bist es, Bert«, rief sie erfreut aus. »Ja, Leon ist daheim. Wir sind gerade so schön im Faulenzen und Genießen. – Doch, für dich ist er zu sprechen.«
Leon ahnte schon, daß es um Horst Geßner ging, aber seine Besorgnis erwies sich als überflüssig. Bert wußte nur Lobendes über ihn zu sagen.
»Das wäre also auch geschafft«, sagte er zu Antonia. »Geßner macht sich. Bert ist sehr zufrieden mit ihm. Ende gut, alles gut. Übrigens hat sich Blümchen mit Kommissar Thal angefreundet.«
»Was du nicht sagst!« staunte Antonia.
»Aber ich wollte noch etwas anderes mit dir besprechen. Berts Anruf hat mich wieder aus dem Konzept gebracht. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste.«
»Du Armer«, neckte sie ihn, »die Jahre machen sich halt bemerkbar. Aber wahrscheinlich wolltest du wegen der technischen Assistentin mit mir sprechen.«
Er lachte leise auf. »Ich sage es ja immer, wenn ich dich nicht hätte. Ja, es sind ein paar Bewerbungen eingegangen. Wo habe ich bloß die Unterlagen gelassen?«
»Wahrscheinlich im Wagen. Bleib nur sitzen, ich hole sie schon.«
»Du bist ein Goldschatz«, sagte er zärtlich.
Als sie wieder hereinkam, hatte er eine Flasche Sekt aus dem Keller geholt.
»Nanu, was feiern wir denn?« fragte sie staunend.
»Die zauberhafteste, nachsichtigste und liebevollste Ehefrau, die ein Mann sich wünschen kann. Immer mal muß ich es dir doch sagen, Liebstes.«
Die Bewerbungen lagen unbeachtet auf dem Tisch. Zwei glückliche Menschen umarmten und küßten sich innig.
*
Es vergingen nur ein paar Monate, bis Emilia sich wieder in
der Prof.-Kayser-Klinik anmeldete, diesmal mit strahlender Miene; und lächelnd verkündete ihr Hanna, daß sie möglicherweise wieder mit Inge Büren in einem Zimmer liegen würde. Vielleicht aber auch mit Irene, die ihr süßes Geheimnis noch ein paar Wochen nur mit ihrem Mann teilen wollte.
Aber bis es soweit sein würde, erlebte die Prof.-Kayser-Klinik noch so manches an aufregenden Schicksalen.