Читать книгу Dr. Laurin Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 7

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Dr. Leon Laurin war wieder einmal in Eile. Er hätte an drei verschiedenen Plätzen zu gleicher Zeit sein sollen.

»Bitte, sorgen Sie dafür, daß ich die Röntgenaufnahmen von Frau Kroll sofort bekomme, Mirja«, sagte er zu dem aparten Mädchen, das seit ein paar Wochen als Röntgenassistentin in der Prof.-Kayser-Klinik tätig war. »Sollten Sie zufällig Dr. Rasmus treffen, sagen Sie ihm, daß ich ihn noch sprechen möchte.«

Mirja Rickmann brauchte nicht auf den Zufall zu rechnen, sie wußte, wo sie Dr. Rasmus treffen konnte, denn er verabschiedete sich von den Stationsschwestern. Anstelle von Dr. Laurin sollte er zu einem Gynäkologenkongreß nach Hamburg fliegen.

»Kommen Sie bloß nicht unter die Räder«, warnte ihn nun Schwester Marie. »Sankt Pauli ist ein heißes Pflaster.«

»Sie müssen es ja wissen, Marie«, scherzte er.

Er verstummte, als Mirja das Schwesternzimmer betrat. Es war ganz eigenartig mit diesem Mädchen. Keiner von ihnen, ob Ärzte oder Schwestern, wagten ihr gegenüber diesen leichten Ton anzuschlagen, der im allgemeinen zwischen ihnen üblich war, und dies nicht etwa, weil Mirja ihnen unsympathisch gewesen wäre. Vielleicht war sie noch zu kurz in der Prof.-Kayser-Klinik, vielleicht aber war es auch dieses gewisse Etwas, das ihr eigen war und das man einfach nicht erklären konnte. Schwester Marie nannte sie heimlich ›Prinzessin‹, und so wirkte sie auch.

Der Kummer um den frühen Tod ihrer Mutter hatte das schöne Mädchen still gemacht.

»Der Chef hätte Sie gern noch gesprochen, Herr Doktor«, sagte sie zu Dr. Rasmus. »Vielleicht können Sie ihn zwischen seinen Terminen erreichen. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug, Herr Doktor«, sagte Mirja formell.

»Danke, Frau Rickmann.« Er hatte es eilig, denn dem Wunsch des Chefs wollte er schnell nachkommen.

Auch Mirja eilte weiter.

*

Nur ein paar Minuten hatte Dr. Laurin Zeit für seinen Assistenten Dr. Rasmus gehabt.

»Lassen Sie sich auf dem Kongreß nicht ein Gespräch mit Professor Lorenzen entgehen, Peter«, sagte er freundschaftlich. »Grüßen Sie ihn herzlich von mir, und informieren Sie sich genau über die Fünflingsgeburt, falls uns solches hier auch mal passieren sollte. Vielleicht weiß manch einer der großen Kollegen schon ein bißchen mehr als wir.«

Das bezweifelte Dr. Peter Rasmus, zumindest soweit es Dr. Laurin betraf. Für ihn war er der beste Arzt, und er hätte nicht im Traum daran gedacht, sich ein anderes Vorbild zu suchen.

Dr. Laurin war bereits wieder in seinem Sprechzimmer und untersuchte eine Patientin.

Bei Hanna Bluhme wartete indessen schon Mirja mit den Röntgenaufnahmen. Hanna Bluhme, manchmal liebevoll Blümchen genannt, sah es dem jungen Mädchen an, daß etwas sie bedrückte. Aber sie wollte keine Fragen stellen. Hanna hatte eine Aversion gegen Röntgenaufnahmen, die so manches Mal eine Todesdrohung enthielten.

Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, als Dr. Laurin mit Mirja hinter der Tür verschwand.

Dr. Laurin hängte die Aufnahme an den Lichtkasten.

»Eigentlich brauche ich Sie ja nur anzuschauen, Mirja«, sagte er nachdenklich.

»Sie sind erfahrener als ich«, bemerkte sie leise.

»Sie verstehen es ausgezeichnet, Röntgenbilder auszuwerten«, stellte er anerkennend fest.

Er war bald überzeugt gewesen, daß es ein ausgesprochener Glücksfall war, Mirja Rickmann zu engagieren, obgleich ihre aparte Erscheinung anfangs Bedenken in ihm aufkommen ließ. Attraktive Frauen brachten meistens Unruhe in eine Klinik. Aber Mirja war noch ein richtiges Mädchen, und um so verwunderlicher war es, daß sie schon soviel Berufserfahrung besaß. Aber er kannte ihre Lebensgeschichte und wußte, daß sie mit ungeheurem Fleiß und Ehrgeiz bemüht gewesen war, ihrer Mutter Freude zu bereiten.

»Nun, da werden wir schnellstens operieren müssen«, sagte er gedankenvoll.

»Wird es noch Sinn haben?« fragte Mirja leise.

»Das bleibt abzuwarten, aber man darf nie vorzeitig kapitulieren. Wunder gibt es immer wieder, Mirja. Ich habe es oft genug erfahren.«

Wenn es doch auch eines für Mama gegeben hätte, dachte Mirja traurig.

»Ich werde gleich nachher mit der Patientin sprechen. Sie machen heute mal pünktlich Schluß. Das ist eine Anordnung!«

»Aber…«

»Kein Aber, Mädchen. Haben Sie Lust, ins Konzert zu gehen? Ich habe eine Karte geschenkt bekommen.«

»Wenn Sie sonst keine Verwendung dafür haben«, meinte sie vorsichtig.

Er gab sie ihr mit einem aufmunternden Lächeln. »Lenken Sie sich mal ein bißchen ab, Mirja. Wenn Sie sich alles so zu Herzen nehmen, bekommen Sie Kummerfalten, und dazu sind Sie viel zu hübsch.«

Sie lächelte. Ein Kompliment aus Dr. Laurins Mund zählte für sie doppelt.

*

Mirja hatte die Dreizimmerwohnung behalten, die sie mit ihrer Mutter bewohnt hatte. Die Miete war erschwinglich. Zehn Minuten mußte sie mit der S-Bahn fahren und dann nochmals zehn Minuten zu Fuß gehen. Sie hatten damals Glück gehabt, diese Wohnung in dem Zweifamilienhaus zu bekommen. Anna Rickmann hatte die Hausmeisterstelle übernommen, und darum waren sie bevorzugt worden.

Vor ein paar Jahren war das alte Hausbesitzerehepaar gestorben, und die Erben vermieteten nun die Wohnung zu einem beträchtlichen Mietpreis, doch an ihrem konnten sie nichts ändern, weil es ausdrücklich im Testament festgelegt worden war. Dafür mußte Mirja aber auch weiterhin für Ordnung in dem Haus sorgen, was manchmal nicht so einfach war.

Als sie nun heimkam, stand die Haustür offen, und aus der Wohnung tönten streitende Stimmen.

Mirja seufzte in sich hinein. Daß die Hankes immer streiten mußten!

Sie eilte schnell die Treppe hinauf.

Das Obergeschoß war in zwei Wohnungen geteilt. Eine bewohnte Mirja, die andere war vor vier Wochen an einen Junggesellen vermietet worden.

Rolf Hilger lehnte jetzt an der Tür. Er grinste.

»Da kracht es ja mal wieder«, bemerkte er ironisch. »Da soll einem die Lust zum Heiraten nicht vergehen. Darin sind wir uns ja wohl einig, Mirja.«

Sie fand manches an ihm auszusetzen, aber in diesem Punkt herrschte Übereinstimmung bei ihnen, denn Mirja wies den Gedanken an eine Heirat weit von sich. Sie ließ sich nicht auf eine Unterhaltung mit Rolf Hilger ein, obgleich er es offensichtlich darauf anlegte.

Wenn sie rechtzeitig ins Konzert kommen wollte, mußte sie sich ohnehin beeilen.

Sie freute sich auf dieses Konzert. Beethoven und Mozart, einmal dem Alltag entfliehen!

Sie hörte Lilly Hankes erregte Stimme: »Ich bringe mich um, du wirst es sehen. Du bringst mich soweit.«

Fast fluchtartig verließ Mirja das Haus.

*

Mirja hatte gerade noch zur rechten Zeit den Konzertsaal erreicht.

Sie sah reizend aus in dem lindgrünen Kleid, das ihr schönes volles Haar so recht zur Geltung brachte. Der junge Mann rechts neben ihr nahm dies wohlwollend zur Kenntnis.

Die Musiker saßen schon auf ihren Plätzen, der Dirigent erschien. Begrüßungsapplaus rauschte auf, und dann ließ sich Mirja einfangen von der herrlichen Musik, die meisterhaft dargeboten wurde.

Ganz in sich versunken lauschte sie. Der letzte Ton erklang, wieder rauschte Beifall auf, lang anhaltend, stürmisch, dann kam die Pause.

Nur der junge Mann neben ihr blieb sitzen, wie sie auch.

Sie hatte die Hände ineinander verschlungen und wagte nicht aufzublicken. Sie spürte seinen Blick und fühlte, wie das Blut in ihre Wangen kroch.

»Sie sind bezaubernd«, sagte er leise. »Würden Sie mir erlauben, daß ich Sie nach dem Konzert heimbegleite?«

»Aber nein«, erwiderte sie erschrocken.

»Schade«, sagte er bedauernd. »Darf ich mich vorstellen und hoffen, daß Sie doch noch anderen Sinnes werden?«

So etwas hatte Mirja noch nie erlebt. Gewiß war ihr schon mancher Mann nachgegangen und hatte sie auch schon angesprochen, aber das hier war etwas anderes. Er war bei allem Interesse, das er zeigte, sehr höflich und zurückhaltend.

Er sagte seinen Namen. Benedikt Arnold. Er prägte sich ihr sofort ein.

Schon strömten die Menschen wieder in den Saal. Die Pause neigte sich dem Ende entgegen.

»Bitte, sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Vornamen«, bat er.

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Sie sah in zwei warme dunkle Augen, und unwillkürlich legte sich, ihr selbst unbewußt, ein Lächeln um ihren Mund.

»Mirja«, sagte sie.

»Mirja«, wiederholte er, und der zärtliche Klang seiner Stimme ließ ihr Herz schneller schlagen.

Dann, später, nachdem auch die Zugabe, die stürmisch gefordert worden war, verklang, gingen sie noch nebeneinander zur Garderobe, so als könnte es gar nicht anders sein.

Sie duldete es, daß er ihren Arm nahm und sie hinausführte in die klare, kühle Nacht.

»Ich muß nach Hause«, sagte sie stockend.

»Ich bringe Sie nach Hause, aber zuerst trinken wir noch ein Glas Wein.«

»Das geht nicht«, protestierte sie nun doch.

»Warum nicht?« fragte er mit umwerfender Selbstverständlichkeit. »Werden Sie erwartet?«

»Nein.«

Mirja wußte nicht, wie es geschehen konnte, aber ihr Leben hatte sich plötzlich verändert. Sie ging einfach mit einem fremden Mann, sie duldete es sogar, daß er seinen Arm um ihre Schultern legte.

Sie betraten ein Restaurant, das so vornehm war, daß sie Beklemmungen bekam.

»Wie üblich, nur zweimal«, sagte er zu dem Ober, der sich einen diskreten Blick auf Mirja gestattete.

»Sofort, Herr Arnold«, sagte der Ober zuvorkommend.

Wenig später stand schon eine Karaffe Wein auf dem Tisch. Benedikt Arnold füllte die Gläser und hob seines Mirja entgegen.

»Ich trinke auf das Wunder, das mir heute widerfahren ist«, sagte er leise. »Wie heißt der Engel, der Ihnen die Karte in die Hände spielte, Mirja?«

Sie wurde von einer ganz merkwürdigen Stimmung erfaßt.

»Dr. Laurin«, erwiderte sie mit einem Lächeln.

Eine Falte erschien auf seiner Stirn. »Welche Rolle spielt er in Ihrem Leben?« fragte er heiser.

»Eine beträchtliche. Er ist mein Chef.«

»Und sonst?«

»Nichts und sonst«, erwiderte sie lächelnd. »Er ist Chef der Prof.-Kayser-Klinik, glücklich verheiratet und Vater von drei Kindern.«

»Und was tun Sie dort?«

»Ich bin Röntgenassistentin.«

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen. Ein Servierwagen wurde herangerollt. Mirja gingen die Augen über im Anblick der Köstlichkeiten.

»Aber…«, flüsterte sie wieder, doch gleich unterbrach er sie.

»Nicht schon wieder aber. Etwas davon wird Ihnen schon schmecken.«

Das ist alles gar nicht Wirklichkeit, dachte sie. Ich träume nur. So etwas kann es nur im Traum geben.

Ihre Augen waren die eines staunenden Kindes, und der Mann betrachtete sie mit einem unergründlichen Lächeln.

»Du bist ein Wunder, Mirja«, sagte er.

Sie sah ihn an. Sein schmales dunkles Gesicht wies mehrere Narben auf. Sein volles dunkelbraunes Haar war schon von einzelnen silbernen Fäden durchgezogen.

So jung, wie er in dem gedämpften Licht des Konzertsaales gewirkt hatte, mochte er gar nicht mehr sein, oder sein Gesicht war früh von Erlebnissen geprägt worden.

»Jetzt schaust du mich wenigstens einmal richtig an«, sagte er mit nachdenklichem Ausdruck, und sie wunderte sich schon gar nicht mehr, daß er du zu ihr sagte.

Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen.

Es paßte alles zu diesem Traum, und Mirja wünschte, daß er ewig währen möge.

*

Natürlich paßte auch sein Wagen zu diesem Traum. Mirja sank benommen in das weiche schwarze Lederpolster.

»Warum stellst du eigentlich keine Fragen, Mirja?« meinte er auf der Heimfahrt.

»Was soll ich fragen?«

»Zum Beispiel, ob ich verheiratet bin und so weiter. Was Frauen eben so fragen.«

»Morgen ist alles wieder anders«, sagte sie leise.

»Meinst du?«

»Ich mache mir keine Illusionen. Wir leben in zwei verschiedenen Welten.«

Er lachte leise. »Wir leben in einer Welt. Die Unterschiede schaffen die Menschen selbst. Also gut, wenn du nicht fragst, werde ich dir einiges über mich sagen. Ich möchte, daß du es weißt. Du sollst dir keine Illusionen machen, Mirja. Worauf es im Leben ankommt, kann man nicht mit Geld erwerben. Erschrecken dich meine Worte?«

»Ja«, erwiderte sie beklommen.

»Es ist ja auch blödsinnig, daß ich so rede«, sagte er heiser. »Ich wollte dir doch etwas ganz anderes sagen. Am besten sage ich gar nichts mehr.«

Er bremste so scharf, daß ihr Kopf an seine Schulter flog, und im nächsten Augenblick fühlte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Es war ein betäubender Kuß, der auch den letzten winzigen Rest ihres Widerstandes erlöschen ließ.

Ganz plötzlich gab er sie frei, und sie fragte mit erstickter Stimme: »Bist du verheiratet?«

»Nein. Es ist viel schlimmer«, flüsterte er. »Ich möchte dich festhalten, aber…« Er unterbrach sich, und bis ins Innerste aufgewühlt sah sie, daß eine tiefe Resignation sein Gesicht veränderte. »Ich bringe dich jetzt nach Hause«, sagte er.

Viel zu schnell waren sie am Ziel. Mirja sah zu ihm hinüber, als wolle sie sich sein Gesicht noch einmal einprägen, und sie wußte doch schon, daß sie es niemals mehr vergessen könnte.

»Wohnst du allein?« fragte er.

»Ja. Meine Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben.«

»Du hast sonst niemanden?«

Ihre Hand legte sich an seine Wange, und gedankenverloren sagte sie: »Heute hatte ich dich, Benedikt.«

Mit einem leisen Stöhnen zog er sie an sich. »Laß mich bei dir bleiben, Mirja«, bat er. »Vielleicht kann ich dir dann alles sagen.«

Sie neigte nach einem kurzen Zögern zustimmend den Kopf und reichte ihm ihre Hand.

Seine Finger waren kühl, und sie erschrak, als sie auf diese schmale Hand blickte, die wachsbleich war.

»Bist du krank, Benedikt?« fragte sie verhalten.

Seine Finger lösten sich. »Wenn ich es wäre, schickst du mich dann fort?« fragte er tonlos.

»Nein, dann erst recht nicht.«

*

Die Haustür war nicht abgeschlossen, im Treppenhaus brannte Licht. Mirja, die noch nie einen Mann mit in ihre Wohnung genommen hatte, sah sich nach Benedikt um. Aber er blickte wie erstarrt auf die Wohnungstür der Hankes, die einen Spalt offenstand.

Mirja folgte seinem Blick und unterdrückte einen Aufschrei.

Sie klammerte sich angstvoll an Benedikt, der sie aber sanft zur Seite schob und behutsam versuchte, die Tür weiter zu öffnen. Es bereitete ihm große Mühe, denn der Körper von Lilly Hanke lag dicht davor.

Mirja kniete nieder und fühlte den Puls der jungen Frau.

»Sie lebt«, flüsterte sie. »Ich rufe die Prof.-Kayser-Klinik an.«

Sie lief die Treppe hoch zu ihrer Wohnung.

Sie wußte nicht, was sie in diesen Sekunden alles dachte. Ihre Finger bebten, als sie die Nummer der Prof.-Kayser-Klinik wählte. Die Nachtschwester meldete sich, begriff nicht gleich und holte auf Mirjas flehentliche Bitte Dr. Thiele an den Apparat.

»Ja, ich schicke sofort den Ambulanzwagen«, sagte er.

Die Minuten wurden zur Ewigkeit. Dann hielt der Wagen vor der Tür. Die Sirene hatte er nicht gebraucht auf der Fahrt durch stille Straßen.

Dr. Uhl von der Chirurgischen Station begleitete den Sanitäter. »Das wird aber höchste

Zeit«, stellte er nur wortkarg fest. »Kommen Sie mit, Frau Rickmann?«

»Wir kommen nach«, sagte sie rasch und sah Benedikt bittend an.

*

Sie fuhren hinter dem Sanitätsauto her. »Es tut mir leid, daß der Abend so endet«, sagte Mirja mit gepreßter Stimme.

»Es hätte noch schlimmer kommen können, aber noch ist er nicht zu Ende«, erwiderte er rätselhaft.

»Du brauchst nicht zu bleiben«, sagte sie, als sie vor der Prof.-Kayser-Klinik hielten.

»Du doch auch nicht. Ich bringe dich wieder nach Hause. Hoffentlich kann sie gerettet werden.«

Es sah nicht gut aus für Lilly Hanke, wie Mirja bald von Schwester Irma erfuhr, die Dr. Sternberg telefonisch herbeigerufen hatte.

Dr. Uhl hatte Lilly Hankes Magen bereits ausgepumpt, bis Dr. Sternberg eintraf, der Mirja irritiert musterte.

»Sie wohnt bei mir im Haus«, erklärte Mirja. »Wir haben sie gefunden.«

›Wir‹ hatte sie gesagt. Dr. Sternbergs Blicke wanderten zu Benedikt Arnold. Seine klugen Augen bekamen einen wachsamen Ausdruck.

»Und was fehlt Ihnen?« fragte er.

Mirja wandte sich zu Benedikt um.

Er lehnte schwer atmend an der Wand. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.

»Benedikt!« rief sie angstvoll aus.

*

»Alarm auf der Chirurgischen«, sagte die Nachtschwester zu Dr. Thiele. »Sie möchten bitte sofort kommen. Zwei schwere Fälle.«

»Gleich zwei? Na, hoffentlich geht hier alles glatt«, murmelte er und setzte sich eilends in Bewegung.

Bis er hinüberkam, lag Benedikt Arnold schon unter dem Sauerstoffzelt. Mirja hockte auf einem Stuhl daneben, das Gesicht in den Händen vergraben.

»Wußten Sie nicht, daß Ihr Freund schwer krank ist, Mirja?« fragte Dr. Sternberg behutsam.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn noch nicht lange«, flüsterte sie. »Jetzt verstehe ich manches.«

»Was verstehen Sie?«

»Er hat so seltsame Andeutungen gemacht. Was fehlt ihm?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich muß ihn gründlich untersuchen. Jedenfalls kann ihm der Umstand, daß er sich gerade hier

befand, das Leben gerettet haben.«

»Helfen Sie ihm. Bitte, helfen Sie ihm. Es hängt soviel für mich davon ab«, flüsterte Mirja.

»Er erholt sich schon etwas«, sagte Dr. Sternberg beruhigend.

Scharf zeichnete sich Benedikts Gesicht von dem weißen Kopfkissen ab. Sein Atem ging flach und unregelmäßig.

Mirja vermeinte seine Stimme zu hören: »Würdest du mich dann wegschicken?«

*

»Das schlimmste ist, daß sie schwanger ist«, sagte Dr. Uhl zu seinem Kollegen Thiele. Er meinte Frau Hanke.

»Im wievielten Monat?« fragte Dr. Jan Thiele.

»Das ist dein Gebiet«, sagte Dr. Uhl. »Sie wird das Kind kaum behalten.«

»Vielleicht wollte sie es nicht haben. Frauen machen die verrücktesten Dinge, wenn sie sich keinen Rat mehr wissen.«

Lilly Hanke konnte sich dazu noch nicht äußern. Ihr Leben hing wahrhaft an einem hauchdünnen Faden.

»Sie stritten dauernd«, sagte Mirja geistesabwesend. »Ich meine Frau Hanke und ihr Mann. Es war unüberhörbar… Wir waren im Konzert, und als wir heimkamen, haben wir sie gefunden.«

Als wir heimkamen – wie das klang! Aber es war ihr gleichgültig, was man jetzt dachte. Für ein paar Stunden hatte sie Benedikts Leben geteilt, und vielleicht mußte sie ihr weiteres Leben davon zehren. Sie fühlte sich ihm verbunden. Jetzt mehr als zuvor.

»Du bist ein Wunder, Mirja.« Wie zärtlich er es gesagt hatte. Festhalten wollte er sie, als ahne er, daß es nur für eine ganz kurze Spanne Zeit sein könne.

Nein, dachte sie verzweifelt, warum sollte ihm nicht zu helfen sein?

Dr. Sternberg setzte sich neben sie. »Welche Auskünfte können Sie mir über Ihren Freund geben, Mirja?« fragte er sanft.

»Er heißt Benedikt Arnold. Sonst weiß ich nichts«, erwiderte sie tonlos.

»Sind Sie fähig, ein paar Röntgenaufnahmen von ihm zu machen?«

Sie nahm alle Kraft zusammen. »Ja.«

*

Frau Hanke war zur Gynäkologischen Abteilung gebracht worden, Benedikt in den Röntgenraum. Mirja hatte ihren Kittel angezogen und kaltes Wasser über Gesicht und Hände laufen lassen. Es war schwer, alle Gedanken und Gefühle auszuschalten, wenn es um das Leben eines Menschen ging, der einem viel bedeutete. Benedikt war noch bewußtlos, aber er stöhnte leise, kaum vernehmbar.

Mirja beugte sich zu ihm hinab.

»Benedikt«, sagte sie leise, aber eindringlich.

Dr. Sternberg betrachtete sie forschend. Sie würden sich noch nicht lange kennen, hatte Mirja gesagt, und sie war ein Mädchen, das man bisher nie mit einem Mann gesehen hatte. Aber wie sie diesen Namen aussprach, fühlte er, daß Zärtlichkeit, Wehmut und Angst in ihrer Stimme waren. Wenn es einen Menschen gab, der die Tiefe eines Gefühls begriff, ohne lange rätseln zu müssen, dann war es Eckart Sternberg, dieser empfindsamste aller Chirurgen, wie Leon Laurin seinen Freund nannte.

»Herz und Lunge, Mirja«, sagte er, »und möglichst deutlich. Er muß vor noch nicht langer Zeit einen schweren Unfall gehabt haben. Vielleicht ist da etwas übersehen worden. Wir müßten halt soviel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen, so gern ich es auch möchte. Wir haben uns erst heute abend kennengelernt«, gestand sie zaghaft.

Also Liebe auf den ersten Blick. Es rührte ihn. Er streichelte flüchtig ihre Wange.

»Und dann gleich solcher Schrecken. Aber wir werden unser Bestes tun.«

Er sagte diesmal nicht ›unser Möglichstes‹, er sagte, was er empfand. Das Beste wollte er tun, das Allerbeste, damit diese traurigen Augen wieder lächeln konnten.

Als er kurze Zeit später die Röntgenbilder an den Lichtkasten hängte, sagte er: »Es ist die Aorta. Bitte, Mirja, schauen Sie es sich an. Hoffen Sie doch, Mädchen.«

»Es ist nichts, was inoperabel wäre?« fragte sie leise.

»Nein, es ist nicht gerade unkompliziert, aber er ist doch jung und widerstandsfähig, sonst hätte er schon diese Stunde nicht überstanden.«

»Mirja«, stöhnte Benedikt.

Sie beugte sich schon über ihn. »Ich bin da«, sagte sie.

Mühsam hoben sich seine Lider. Er sah seine Umgebung nicht. Er sah nur ihr Gesicht.

»Ich dachte nicht, daß es so schnell zu Ende sein würde«, flüsterte er. »Ich wünschte mir so sehr, daß ich dich…«

Sie legte ihre Lippen auf seinen Mund. Ganz leicht und unendlich innig.

»Es ist nichts zu Ende, Benedikt. Dr. Sternberg wird dich operieren. Du wirst wieder gesund werden«, sagte sie beschwörend.

»Du bist ein Wunder«, murmelte er, »das einzige Wunder, das ich erleben durfte.«

Da ging Dr. Sternberg leise hinaus. Das war nur für sie bestimmt, und ihn bewegte es tief, daß es auch solches noch gab, was man nur Liebe nennen konnte.

»Hast du ein bißchen Kraft?« fragte Mirja indessen. »Wir brauchen Angaben über dich. Wann hattest du den Unfall? Wer hat dich behandelt?«

»Im Auto sind Papiere«, erwiderte er erschöpft. »Nimm alles an dich, auch das Geld, Mirja. Es gehört dir, wenn ich sterbe. Ich kann so wenig für dich tun, und ich liebte dich doch gleich so sehr.«

Seine Kraft war verbraucht, seine Sinne schwanden wieder. Dr. Sternberg trat wieder ein. Mirja bemerkte erst jetzt, daß er hinausgegangen war.

»Er sagte, daß Papiere in seinem Wagen sind«, sagte sie. »Ich soll sie an mich nehmen. Vielleicht können sie uns nützlich sein. Bitte, belügen Sie mich nicht, Herr Doktor. Benedikt weiß, wie schlecht es um ihn steht.«

»Nicht so schlecht, daß ich lügen müßte«, sagte Dr. Sternberg aufmunternd. »Jetzt heißt es tapfer sein.«

Sie war tapfer und betete schon.

»Ich möchte bei ihm bleiben, bitte, gestatten Sie es mir.«

»Und morgen wartet ein Arbeitstag auf Sie, Mirja.«

»Ich werde schon durchhalten. Ich könnte jetzt doch nicht schlafen.«

Sie wußte, daß er den Wagen nicht abgeschlossen hatte, und sie fand den Zündschlüssel noch im Schloß. Die anderen Schlüssel hingen auch an dem Lederbund, das seine Initialen trug

Im Handschuhfach fand sie eine Brieftasche, auf dem Rücksitz einen Aktenkoffer. Es war ein beklemmendes Gefühl für sie, seine Sachen an sich zu nehmen, und nun erst wurde es ihr auch richtig bewußt, daß er ihr völlig vertraute.

*

Dr. Thiele saß neben Frau Hankes Bett. Er klopfte ihr immer wieder leicht die Wangen. Es war so wichtig, daß sie bald zu sich kam. Wichtig für sie und auch für das Kind.

Ein Ächzen kam über die blutleeren Lippen. Sie bäumte sich auf. Sanft drückte er sie zurück.

»Ruhig, ganz ruhig«, sagte er beschwörend, »denken Sie jetzt an Ihr Kind, Frau Hanke.«

Sie riß die Augen weit auf und sah ihn starr an. »Ich will es nicht haben, ich will es nicht haben!« schrie sie gellend. »Warum laßt ihr mich nicht sterben?«

Dr. Thiele wußte ganz gut, wie man mit solchen Frauen umzugehen hatte.

Er wartete geduldig, bis sie sich langsam beruhigte.

*

»Sie sollten sich jetzt ein paar Stunden aufs Ohr legen, Mirja«, mahnte Dr. Sternberg. »Die akute Gefahr ist gebannt. Herr Arnold wird jetzt schlafen.«

Eine volle Stunde war er mit ihr im Krankenzimmer gewesen. Gemeinsam hatten sie Benedikts Papiere studiert. Es war eine merkwürdige Situation, gemeinsam mit dem Arzt die wichtigsten Daten seines Lebens kennenzulernen.

Sein Paß, sein Führerschein, eine Anzahl Visitenkarten und

fünfzehn Hunderteuroscheine hatten sich in der Brieftasche befunden. Dr. jur. Benedikt Arnold, einunddreißig Jahre, 1,84 m groß, Haarfarbe dunkelblond, Augenfarbe braun, besondere Kennzeichen keine.

Das war vor seinem Unfall gewesen, der sich, wie aus einer Krankenhausrechnung, ausgestellt in Canberra, Australien, hervorging, vor neun Monaten ereignet hatte.

Mirja hatte erfahren, daß Benedikt Inhaber der Stahlwerke Arnold und Sohn war. Dr. Sternberg hatte dabei leise durch die Zähne gepfiffen.

Auf seiner Visitenkarte standen zwei Adressen, eine in Geiselgasteig, und eine in Lugano.

Aufschluß über Angehörige fand sie nicht, aber plötzlich erinnerte sie sich einer Adresse auf einer der Visitenkarten, die die gleiche Straße und Hausnummer aufwies wie jene von Benedikt in Geiselgasteig.

Sie sah die Karten noch einmal durch, und da hatte sie jene auch schon gefunden.

»Irene Arnold-Mattis.« Ihr Herz schlug dumpf. Das Arnold war ihr vorhin entgangen, und auch Dr. Sternberg hatte es wohl nicht beachtet. Oder hatte er es übersehen wollen, weil sie, Mirja, neben ihm saß?

»Ich bin nicht verheiratet, es ist viel schlimmer«, hatte er gesagt. Worauf bezog sich das? War er geschieden, oder hatte er nur seine Krankheit gemeint?

Aber was änderte das schon an ihren Gefühlen für ihn? Was änderte es daran, daß er krank hier lag und nur eine gewagte Operation Rettung für ihn bringen konnte?

Für den Rest dieser Nacht gehörte er ihr noch allein. Unverwandt betrachtete sie ihn. Sie dachte an seinen Kuß, diesen drängenden, leidenschaftlichen, heißen Kuß.

Zärtlich strich sie mit dem Zeigefinger die Linie seines Mundes entlang, dessen Lächeln sie so glücklich gemacht hatte. Er hatte lächeln können, er konnte plaudern, als würde nichts ihn beschweren. In ihr begehrte es auf dagegen, daß diese paar Stunden alles gewesen sein könnten, was ihr blieb.

*

Sie war dann doch in ihrem Stuhl eingeschlafen. Dr. Uhl kam gegen halb fünf Uhr und beförderte sie mit sanfter Gewalt in das Ärztezimmer, wo sie dann noch zwei Stunden schlief.

Um sieben Uhr kam Dr. Sternberg.

»Wir bereiten jetzt alles für die Operation vor«, sagte er.

Sie nickte geistesabwesend.

Noch einmal ging sie zu ihm, streichelte sein Gesicht und seine Hände. Dann ging sie nach Hause, duschte sich und kleidete sich um. Für sie begann ein neuer Arbeitstag.

Als sie die Treppe hinunterging, betrat Kurt Hanke das Haus. Er sah aus, als hätte er die Nacht durchzecht. Vielleicht war er auch bei einer anderen Frau gewesen. Bisher war Mirja solch ein Gedanken noch nie gekommen.

Ihm war diese Begegnung sichtlich peinlich. Er neigte nur kurz den Kopf und war schon vor der Wohnungstür.

»Wir haben Ihre Frau heute nacht in die Klinik gebracht, Herr Hanke«, sagte Mirja ohne Umschweife. »Sie hat einen Selbstmordversuch begangen.«

»Warten Sie«, stieß er hervor, als sie an ihm vorbeieilte.

»Ich habe keine Zeit«, entgegnete sie kühl.

»Das wird doch nicht publik werden?« ächzte er, aber sie nahm keine Notiz mehr davon.

Dr. Laurin war schon in der Klinik. Man hatte ihn angerufen. Er hatte auch schon mit Dr. Sternberg gesprochen.

Schwester Marie erklärte Mirja, daß Dr. Laurin sie zu sprechen wünsche.

»Wie geht es Frau Hanke?« fragte Mirja.

»Den Umständen entsprechend gut. Weiß ihr Mann Bescheid?«

»Ich habe es ihm gerade gesagt.«

Mirja beeilte sich, zu Dr. Laurin zu kommen. Er zwang sich zu einem leichten Ton, was ihm aber nicht gelingen wollte.

»Ich konnte nicht ahnen, daß der Konzertbesuch so dramatische Folgen haben würde«, sagte er. »Wie fühlen Sie sich, Mirja?«

»Es geht.«

»Es liegt heute nichts Besonderes vor. Sie können den Vormittag frei haben.«

»Danke, aber ich möchte gern hierbleiben«, erwiderte sie verhalten. »Das heißt, wenn ich vielleicht…« Sie unterbrach sich und schüttelte dann den Kopf.

»Dr. Sternberg hält uns auf dem laufenden«, sagte Dr. Laurin. »Sie können später gern hinübergehen, Mirja. Die Operation wird wohl ein paar Stunden dauern. Vielleicht betrachten Sie es einmal so, daß Sie sozusagen als Schutzengel zu Herrn Arnold geschickt wurden.«

Ihre Augen brannten von ungeweinten Tränen. Er umschloß ihre Hände mit festem, beruhigendem Griff.

Es klopfte, und Hanna Bluhme erschien. »Herr Hanke möchte Sie sprechen, Chef.«

*

Es war neun Uhr geworden. Die Visite begann. Mirja faßte einen Entschluß und fragte Dr. Laurin, ob er sie doch für etwa zwei Stunden beurlauben würde.

Nach Geiselgasteig war es ziemlich weit.

Der Taxifahrer glaubte wohl, sie unterhalten zu müssen. Er redete ununterbrochen, Mirja hörte gar nicht zu. Ihr Herzklopfen wurde immer stärker, je näher sie dem Ziel kamen. Das Taxi hielt vor einem luxuriösen Doppelbungalow. Eigentlich waren es zwei Häuser, verbunden durch einen Innenhof.

Eine weißgetünchte Mauer schirmte das Grundstück zur Straße ab. Eine kunstvoll geschmiedete Tür öffnete sich lautlos, als Mirja auf die Klingel drückte.

Eine ältere Frau in schwarzem Kleid und weißer Schürze öffnete die Haustür.

»Unsere Sprechanlage streikt«, sagte sie. »Was wünschen Sie, bitte?«

»Ich möchte Frau Arnold-Mattis sprechen.«

»Die Gnädigste ist noch nicht zu sprechen«, kam die abweisende Erwiderung.

»Es ist aber sehr dringend. Ich möchte Frau Arnold-Mattis eine Nachricht von Herrn Arnold bringen.«

»Da muß ich erst fragen, ob die gnädige Frau Sie empfangen will«, wurde ihr erwidert.

Mirja rechnete schon damit, daß ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen würde, aber mit einer Handbewegung forderte die Frau sie zum Eintreten auf.

Noch niemals hatte Mirja ein so phantastisches Haus von innen gesehen. Ihre Füße versanken in weichen Teppichen. Kostbare Stilmöbel gaben dieser Halle das Flair eines Wohnraumes. Ein riesiges Blumenfenster öffnete den Blick zu einem parkähnlichen Garten.

»Nun, was wünschen Sie?« tönte urplötzlich eine helle Stimme an ihr Ohr. Mirja fuhr herum. Eine sehr schlanke, exotisch wirkende Frau stand auf der Stufe, die den Übergang von der Halle zu den anderen Räumen bildete. Tiefschwarzes Haar umgab ein ovales blasses Gesicht, das von seegrünen, schräggestellten Augen beherrscht wurde.

Mirja suchte nach Worten. Ein ironisches Lächeln, das man fast frivol nennen konnte, legte sich um Irene Arnolds Mund.

»Sie sollten mir etwas von meinem Schwager ausrichten«, sagte sie.

Mirja kam wieder zu sich. Benedikt war ihr Schwager. Sie fühlte sich befreit.

»Mein Name ist Mirja Rickmann. Ich bin Röntgenassistentin in der Prof.-Kayser-Klinik«, erklärte sie monoton. »Herr Arnold befindet sich zur Zeit in der Prof.-Kayser-Klinik.«

Die sorgfältig gezupften Augenbrauen ruckten leicht empor. »Und um mir das zu sagen, kommen Sie persönlich?«

»Wir dachten, daß die Nachricht Sie erschrecken könnte«, sagte Mirja leise. »Wir wußten nicht, in welchem Verhältnis Sie zu Herrn Arnold stehen. Er ist sehr krank. Wir fanden Ihre Visitenkarte in seiner Brieftasche.«

Irenes Augen verengten sich. »Man hätte mich anrufen können, wenngleich es kaum von Interesse für mich ist«, sagte sie kalt. Dann aber veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Lauernd sah sie Mirja an. »Er ist sehr krank, sagten Sie? Besteht Lebensgefahr?«

»Er wird heute operiert.«

Mirja dachte daran, daß er jetzt schon auf dem Operationstisch lag.

Irene betrachtete sie mit einem eigentümlichen Ausdruck. Es konnte ihr nicht entgehen, wie erschöpft und niedergeschlagen Mirja aussah.

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Benedikt?« fragte sie anzüglich.

Ein Zittern durchlief Mirjas Körper. Konnte sie sich so wenig beherrschen, daß man ihr die Gefühle vom Gesicht ablesen konnte?

»Ich sagte Ihnen, warum ich gekommen bin«, flüsterte sie. »Ich muß jetzt wieder zurück zur Klinik.«

»Ich möchte, da Sie nun einmal hier sind, daß Sie meine Fragen beantworten«, erklärte Irene herrisch. »Seit wann ist mein Schwager in der Klinik?«

»Seit heute nacht. Dr. Sternberg wird Ihnen nähere Auskünfte geben.«

»Aber Sie kennen Benedikt schon länger.«

»Nein.«

Irene lachte schrill auf. »Dann betört er wohl noch als Halbtoter die kleinen Mädchen«, höhnte sie.

Das war zuviel für Mirja. Sie wandte sich um und lief wie gejagt aus dem Haus.

*

Abgehetzt, zitternd am ganzen Körper, war sie wieder in der Klinik angelangt. Schwester Marie nahm sie mitfühlend in den Arm. Plötzlich waren die Hemmnisse weg, die solche Vertraulichkeit verhindert hatten, ohne daß man sagen konnte, warum es so gewesen war.

Schwester Maries mütterliches Herz öffnete sich der Verzweiflung, die in den schönen Augen des Mädchens zu lesen war.

»So geht es doch nicht, Kindchen«, sagte sie herzlich. »Sie machen sich ja ganz kaputt.«

»Haben Sie schon etwas erfahren?« fragte sie ängstlich.

Schwester Marie schüttelte verneinend den Kopf.

Das Telefon läutete nun. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Ja, es ist gut. Ich sage es ihr.« Sie wandte sich wieder zu Mirja. »Sie möchten bitte zu Dr. Sternberg kommen, wenn Sie Zeit haben. Die Operation ist beendet.«

»Was ist? Hat er nichts gesagt?« stammelte Mirja.

»Die Operation ist beendet, der Patient lebt. Nun gehen Sie schon. Dr. Sternberg muß noch seine Visite machen.«

Mirja wußte nicht, wie sie den Weg zur Chirurgischen Station zurücklegte. Dr. Sternberg kam gerade erst aus dem Waschraum.

»Es war nicht mal so schlimm, wie ich dachte«, sagte er beruhigend.

»Wird er leben?« fragte sie tonlos.

»Der Arzt sagt ja«, erwiderte er. »Er muß auch ja sagen zum Leben, aber dazu können Sie das Ihre beitragen, Mirja. Alle Aufregungen müssen von ihm ferngehalten werden.«

Sie dachte jetzt wieder an Irene und nahm allen Mut zusammen, um Dr. Sternberg von ihrem Besuch zu berichten, auch auf die Gefahr hin, daß er etwas daran auszusetzen fand.

»Vielleicht war es falsch von mir, aber ich dachte, daß es seine Mutter sein könnte«, sagte sie leise.

»Auf jeden Fall ist es gut, daß Sie es mir erzählt haben. Ich werde mich entsprechend verhalten.«

»Darf ich ihn sehen?« fragte sie flehend.

»Einen Augenblick, damit Sie sich überzeugen können, daß er atmet«, erwiderte er nachsichtig. »Kommen Sie am Abend wieder, Mirja.«

Das Bett stand noch im Vorraum des Operationssaales. Dr. Uhl trat hinzu.

»Es hat doch alles bestens geklappt«, sagte er aufmunternd. »Herr Arnold wird sich sehr bei Ihnen bedanken müssen, daß Sie ihn Dr. Sternberg in die Hände gespielt haben.«

Alles war Zufall gewesen. Daß Dr. Laurin ihr die Konzertkarte schenkte, daß sie Benedikt kennenlernte, daß sie dann Frau Hanke fanden und nur darum im die Prof.-Kayser-Klinik kamen. Was wäre mit ihm geschehen, wenn ihm das unterwegs passiert wäre?

Dr. Sternberg hatte ihr noch etwas zu sagen. »Bitte, nehmen Sie doch den Aktenkoffer an sich, Mirja. Herr Arnold hat Ihnen die Sachen anvertraut. Wir wollen ausschließen, daß etwas verschwinden könnte.«

Sie nahm den Koffer mit und bat Schwester Marie, ihn in ihrem Schreibtisch einschließen zu dürfen, was ihr selbstverständlich gestattet wurde.

»Ach ja, Frau Hanke hätte Sie gern gesprochen«, sagte Marie beiläufig und in einem Ton, der besagte, daß sie es nur ungern ausrichtete.

*

Lilly Hanke hatte schon wieder ein bißchen Farbe bekommen. Allzu viel konnte sie von dem Schlafmittel nicht geschluckt haben. Auch Dr. Laurin hatte schon vorher den Gedanken gehegt.

Das aber wußte Mirja nicht.

»Nett, daß Sie kommen«, sagte Lilly Hanke. »Wenn Sie nicht gewesen wären…« Sie schluchzte leicht auf.

»Es war ja nur ein Versehen«, sagte sie jetzt. »In meiner Aufregung habe ich zweimal zwei Schlaftabletten genommen. Ich habe es erst gemerkt, als es mir übel wurde, und da muß ich an der Tür zusammengebrochen sein. Es war so. Sie werden doch nichts anderes sagen, Frau Rickmann?« fragte sie ängstlich.

»Warum sollte ich dazu etwas sagen? Sie haben Glück gehabt, daß ich Sie gefunden habe.«

Lilly Hankes Gesicht färbte sich noch dunkler. »Sie haben ja des öfteren gehört, wie mein Mann sich aufgeführt hat«, fuhr sie fort.

Guter Gott, sollte sie da auch noch weiter hineingezogen werden? Mirja sah die junge Frau befremdet an. Sie hatte jetzt wahrhaftig andere Sorgen.

»Ich werde mich natürlich scheiden lassen. Da wäre nur noch etwas, was ich gern mit Ihnen erörtern würde, Frau Rickmann.

Es ist wegen des Kindes«, begann Lilly Hanke stockend. »Sie kennen Dr. Laurin doch schon länger, würden Sie es ihm nicht sagen können, daß er etwas tut, damit ich das Kind nicht bekomme?«

»Nein, Frau Hanke, das sollten Sie mit Dr. Laurin lieber selbst besprechen«, erklärte sie abweisend. »Aber wie ich ihn kenne, wird er wenig Verständnis für ein solches Anliegen haben, das möchte ich dazu sagen.«

Schwester Marie lächelte flüchtig, als sie zurückkam. »Na, hat sie Ihnen auch das Märchen mit dem Versehen auftischen wollen?« fragte sie ironisch. »Ach, ich möchte nicht wissen, wie viele Frauen sich auf diese Weise umbringen, ohne es eigentlich zu wollen.«

»Hätte sie denn sterben können, wenn wir sie nicht gefunden hätten?« fragte Mirja.

»Kaum, aber dem Kind hätte es schon sehr geschadet.«

Es hatte ihm auch so geschadet. Lilly Hanke erlitt noch am gleichen Tag eine Fehlgeburt.

*

Dr. Rasmus hatte den ersten Tag des Kongresses hinter sich gebracht, ohne zu ahnen, was sich in der Prof.-Kayser-Klinik zugetragen hatte.

Er hatte Professor Lorenzen getroffen, und der hatte sich herzlich über Dr. Laurins Grüße gefreut. Aber wie immer war er von allen Seiten belagert worden.

»Ich hoffe, daß wir uns heute abend etwas länger unterhalten können«, sagte er zu Dr. Rasmus. »Sie kommen doch zu dem Empfang?«

Was blieb ihm da anderes übrig? Aber der Chef hatte ihm ja gesagt, daß er nicht drumherum kommen würde.

Er war recht froh, schon ein paar frühere Studienkollegen getroffen zu haben, die ebenfalls erscheinen würden. Gesellschaften, gleich welcher Art, waren Peter Rasmus ein Greuel.

So verloren sich Peter Rasmus augenblicklich auch noch zwischen den vielen Gästen vorkam, sollte er an diesem Abend doch eine riesige Überraschung erleben.

Sie stand plötzlich ganz in seiner Nähe, gekleidet in ein zauberhaftes Abendkleid, angeregt plaudernd mit ein paar Herren, angestarrt von anderen, alten und jungen gleichermaßen.

»Mirja!« rief er verblüfft aus.

Die junge attraktive Frau wandte den Kopf und sah ihn ebenso verblüfft an. »Kennen wir uns?« fragte sie irritiert.

Peter Rasmus war schrecklich verlegen. »Ich wußte nicht, daß Dr. Laurin Sie auch nach Hamburg schickt«, stammelte er.

»Dr. Laurin?« fragte sie noch verwirrter. »Wer sind Sie?«

In Peters Kopf ging alles durcheinander. Das gab es doch nicht! Das war doch Mirja Rickmann!

»Dr. Peter Rasmus, Oberarzt in der Prof.-Kayser-Klinik«, stotterte er, der Situation in keiner Weise gewachsen.

Sie lachte belustigt auf. »Dann müssen wir uns in einem früheren Leben begegnet sein«, sagte sie. »Lars«, sie meinte damit den hochgewachsenen Mann, der neben ihr stand, »würdest du mich Dr. Rasmus bitte vorstellen?«

Der so Angesprochene machte eine düstere Miene. »Mein Name ist Lundgren«, sagte er, »und das ist meine Verlobte, Mirja von Korten.«

»Verzeihen Sie, aber diese Ähnlichkeit ist unwahrscheinlich«, sagte Dr. Rasmus stockend.

»Es gibt kein zweites Wesen wie meine Braut«, erklärte Lars Lundgren aggressiv.

»Ich möchte aber gern wissen, wer mir so ähnlich sieht, und dazu auch noch Mirja heißt«, warf Mirja von Korten ein. »Schauen Sie mich doch mal genau an, Herr Dr. Rasmus. So war doch Ihr Name?«

Er war völlig durcheinandergebracht.

»Mirja Rickmann ist unsere Röntgenassistentin an der Prof.-Kayser-Klinik«, sagte er. »Sie macht auch die Laboruntersuchungen. Ich bedaure sehr, wenn ich Anstoß erregt habe, aber die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Ich kann es nicht anders sagen.«

»Haben Sie kein Bild von ihr?« fragte Lars Lundgren, während Mirja von Korten den jungen Arzt nachdenklich musterte und wohl überlegte, ob er auf diese Weise nicht mit ihr hatte bekannt werden wollen. Ähnliches war ihr schon öfters passiert.

»Ein Bild? Nein. Wir kennen uns nur beruflich. Ich bin verheiratet, glücklich verheiratet«, erwiderte Peter zu seiner Rechtfertigung. »Es tut mir wirklich leid.«

»Jetzt möchte ich aber mehr von Ihnen erfahren«, sagte Mirja von Korten. »So etwas muß mich doch interessieren, Lars. Da gibt es eine Doppelgängerin von mir, die dazu auch noch den gleichen Vornamen hat. Vielleicht begegnest du ihr mal und verwechselst mich auch mit ihr.«

Sie wollte es von der humorvollen Seite nehmen, da sie die Eifersucht ihres Verlobten spürte. Sie winkte einem älteren, noch sehr gut aussehenden Herrn.

»Papa, komm doch mal her. Ich möchte dich mit jemand bekannt machen«, rief sie heiter.

Er kam näher.

»Dr. Rasmus von der Prof.-Kayser-Klinik«, sagte Mirja. »Wo befindet die sich?«

»In einem Vorort von München«, erwiderte Peter Rasmus, der einen sehr unglücklichen Eindruck machte.

»Das ist mein Vater, Johannes von Korten«, sagte Mirja betont. »Stell dir vor, Papa, an der Prof.-Kayser-Klinik gibt es eine Assistentin, die mir wie aus dem Gesicht geschnitten sein soll. Sie heißt zudem auch noch Mirja.«

»Das kann ich nicht glauben«, sagte auch Johannes von Korten abweisend.

»Es tut mir wirklich leid, daß ich solchen Wirbel verursache, aber es ist so«, sagte Peter Rasmus.

»Wie alt ist sie?« fragte Mirja von Korten.

»Einundzwanzig«, erwiderte er.

»Wie ich!« staunte Mirja.

»Es mag fatal sein, aber sie hat die gleiche Haarfarbe und die

gleiche Augenfarbe wie Sie, und sie könnte fast Ihr Spiegelbild sein.«

»Ich finde das lustig«, sagte Mirja. »Du nicht auch, Papa? Lars möchte mich natürlich als Einzelstück haben.«

»Ich finde es auch nicht lustig«, sagte Johannes von Korten. »Wie heißt die junge Dame?«

»Mirja Rickmann.«

»Rickmann«, wiederholte Johannes von Korten gedankenvoll.

Dann trank er sein Glas leer, das merklich in seiner Hand zu zittern begann.

»Es mag ja Ähnlichkeiten geben«, sagte er rauh, »aber es ist wohl eine Laune der Natur.«

Mirja sah ihren Vater befremdet an.

»Es gefällt meinen Männern nicht, daß es noch eine zweite Ausgabe von mir gibt«, sagte sie leichthin. »Eigentlich müßte ich mir die andere Mirja einmal anschauen. Was meinst du, Lars? Du wolltest doch nächsten Monat nach München fahren. Vielleicht erlaubt Papa, daß ich mit dir fahre.«

Lars Lundgren warf Peter Rasmus einen vernichtenden Blick zu. »Ich glaube eher, daß dieser Herr deine Bekanntschaft machen wollte und eine sehr unglaubhafte Ausrede erfunden hat, als er merkte, daß du bereits vergeben bist«, sagte er in seinem harten Deutsch.

Peter Rasmus hatte auch seinen Stolz. Er richtete sich auf. »Sie können sich ja überzeugen«, erklärte er. »Wenn Sie in München sind, besuchen Sie die Prof.-Kayser-Klinik doch. Ich nehme an, daß Sie ein Kollege sind.«

»Gynäkologe«, sagte Mirja von Korten vermittelnd.

»Ich auch«, erklärte Peter Rasmus. »Darf ich mich jetzt verabschieden?«

Da hatte er sich in eine schöne Situation gebracht! Fataler ging es gar nicht mehr! Als er das Haus verlassen wollte, kam auch noch der Hausherr daher.

»Sie wollen schon gehen, Herr Rasmus? Wir wollten uns doch noch unterhalten. Tut mir leid, daß ich noch keine Zeit hatte.«

»Ich habe mich unbeliebt gemacht«, sagte Peter Rasmus.

»Wieso denn unbeliebt? In meinem Haus kann man doch seine Meinung sagen. Um was ging es denn?«

Dr. Rasmus erzählte es. »Eigentlich dürfte es solche Ähnlichkeit nur bei Zwillingen geben, bei eineiigen Zwillingen«, sagte er abschließend. »Ich bin doch nicht blind.«

»Das klingt wirklich erstaunlich. Ich habe Frau von Korten erst heute abend kennengelernt. Auch ihren Vater. Dr. Lundgren ist mein Famulus. Schicken Sie mir mal ein Bild von dieser anderen Mirja. So etwas interessiert mich auch.«

»Dr. Laurin wird nicht gerade erfreut sein, wenn ich ihm erzähle, wie ich mich in die Nesseln gesetzt habe.«

Professor Lorenzen lachte. »Was können Sie denn dafür, wenn Ihre Mirja eine Doppelgängerin hat?«

»Es ist durchaus nicht meine Mirja«, rechtfertigte sich Dr. Rasmus. »Sie kann auch nichts dafür, daß sie eine Doppelgängerin hat.«

Aber als er dann im Hotel ankam, konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er rief in der Prof.-Kayser-Klinik an.

*

Dr. Laurin wurde wieder einmal bis nach Mitternacht festgehalten. Aus diesem Grunde konnte Dr. Rasmus mit dem Chef höchstpersönlich sprechen.

Dr. Laurin schüttelte den Kopf, als dieses Gespräch beendet war. Aber nun wollte er endlich nach Hause.

Seine bezaubernde Frau Antonia empfing ihn liebevoll. »Mein Armer«, bedauerte sie ihn, »das war mal wieder ein endloser Tag.«

»Unserem lieben Peter scheint der Luftwechsel nicht zu bekommen«, machte er seinem Herzen Luft.

»Wieso denn nicht?«

»Er hat Mirja in Hamburg gesehen.«

»Mach keine Witze, Leon«, sagte Antonia.

»Ich mache keine. Er behauptet doch steif und fest, daß da ein Mädchen ist, das Mirja zum Verwechseln ähnlich sieht. Er wollte sich überzeugen, ob unsere Mirja tatsächlich noch in unserer Klinik weilt.«

»Jetzt sei mal ernst, Leon«, mahnte Antonia.

»Todernst bin ich, ist mir«, knurrte er. »Du hast ja keine Ahnung, was wieder los ist.«

»Wenn du mir nichts sagst«, erwiderte sie schlagfertig.

»Ich muß erstmal zu mir kommen. Also, es gibt zwei Mirjas. Eine bei uns, eine in Hamburg, oder Peter ist total durchgedreht, weil er sich mal von seiner Ulla trennen mußte.«

»Peter dreht nicht durch«, stellte Antonia fest. »Er ist der vernünftigste Mann, den ich kenne.«

»Mich ausgenommen«, meinte Leon.

»Dich ausgenommen«, sagte sie nachgiebig.

»Also gibt es zwei vernünftige Männer auf dieser Welt und zwei Mädchen, die sich aufs I-Tüpfelchen gleichen. Eine davon ist unsere Mirja, und sie hat sich unsterblich in einen Mann verliebt, der beinahe ein Todeskandidat war.«

»Jetzt ist es aber genug«, sagte Antonia streng. »Du bist übermüdet. Du phantasierst.«

»Ich bin bei klarem Verstand, so wahr mir Gott helfe, und wenn der Tag auch noch so verrückt war. Warum kann der Herrgott nur nicht alles schön gleichmäßig über dreihundertfünfundsechzig Tage verteilen? Warum muß er immer alles auf einmal auf mich herabschicken?«

»Damit wir auch mal ein paar Tage ohne Aufregungen haben«, erklärte Antonia. »Also, jetzt erzähle, in wen Mirja sich verliebt hat.«

»Ich Blödian mußte ihr ja die Konzertkarte schenken«, brummelte er. »Sonst wäre alles nicht passiert.«

»Schätzchen, ich hole dir jetzt ein schönes, kühles Bier, und dann erzählst du mir in Ruhe alles der Reihe nach«, sagte sie ganz fürsorglich.

»Ja, mein Liebling. Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich bestimmt schon in der Klapsmühle gelandet«, seufzte Leon.

*

Es wurde eine lange Nacht, nicht nur für das Ehepaar Laurin, für Mirja Rickmann und Dr. Rasmus, der einfach nicht einschlafen konnte, sondern auch für Johannes von Korten.

Er war einfach, ohne sich zu verabschieden, von dem Empfang verschwunden und auf seinen wunderschönen Besitz am Rande der Heide zurückgekehrt.

Rickmann – dieser Name spukte in seinem Hirn und ließ ihn nicht los. Erst an seinem Schreibtisch, das Bild seiner früh verstorbenen Frau Mirja vor sich, kamen ihm die Erinnerungen wieder voll ins Bewußtsein.

Rickmann hatte das Verwalterehepaar geheißen, das damals bei ihnen war.

Anna Rickmann war eine hübsche junge Frau gewesen und sehr tüchtig. Mirja hatte viel von ihr gehalten. Mirja, seine Frau, nach der das einzige Kind, bei dessen Geburt sie gestorben war, den Namen bekommen hatte. Gern erinnerte sich Johannes von Korten nicht an jene Tage, die so viel Leid in sein Leben gebracht hatten.

Wie sehr hatte er Mirja geliebt. Niemals hatte er sie vergessen. Bis zum heutigen Tag nicht. Er war allein geblieben mit seiner geliebten Tochter, die er maßlos verwöhnt hatte, die für ihn das schönste Mädchen der Welt war.

Und nun sagte dieser Fremde, dieser Dr. Rasmus, daß es ein Mädchen gäbe, das ihr zum Verwechseln ähnlich sehe. Dieses Mädchen hieß Rickmann, ausgerechnet Rickmann!

Er stützte den Kopf in die Hände. Er wußte nicht, wie lange er so saß. Er hörte auch nicht, daß die Tür leise geöffnet wurde.

»Papa, fehlt dir etwas?« fragte Mirjas Stimme weich und zärtlich.

Wie sehr er sie liebte, so sehr, wie er ihre Mutter geliebt hatte! Es war einfach unvorstellbar, daß es noch ein Geschöpf geben könnte, das so war wie sie.

»Du kränkst dich doch nicht etwa, weil ich eine Doppelgängerin habe?« fragte Mirja.

Mirja Rickmann, dröhnte es in seinen Ohren.

»Ach, dieser Mann wollte nur etwas von dir!« stieß er hervor.

»Das glaube ich nicht, Papa. Lars sagte es auch, aber er macht einen sehr seriösen Eindruck, und er ist glücklich verheiratet, das hat er selber gesagt. Armer Papa, du bist genauso verstört wie Lars. Aber so schlimm ist das doch nicht.«

»Nein, so schlimm ist es nicht«, sagte er und dachte, daß sie eine Anna Rickmann auf dem Gut gehabt hatten. Aber ihm selbst gab dieses Wissen auch keine Erleuchtung.

*

Mirja Rickmann, die andere Mirja, die nichts von ihrer Doppelgängerin wußte, blieb bis gegen zwei Uhr an Benedikt Arnolds Bett sitzen.

Am liebsten hätte sie ihm ihren Atem eingehaucht. Sie wäre für ihn gestorben, wenn sie das selbst hätte bestimmen können.

»Du mußt leben, Benedikt«, flüsterte sie.

»Mirja.«

Wie ein Hauch kam es über seine Lippen. Sie konnte es nicht glauben, daß er selbst es gesagt hatte.

»Ja, Liebster?« Sie beugte sich ganz dicht über ihn. Ihre Lippen berührten seine Wange. »Der Koffer… Du mußt den Koffer gut aufbewahren.«

Wußte er, was er sagte, oder träumte er?

»Ich bewahre ihn für dich auf«, erwiderte sie.

»Irene – nimm dich in acht.« Seine Lippen preßten sich wieder aufeinander.

Galt diese Warnung nun Irene oder ihr? Wenn sie doch nur wüßte, welche Rolle diese Frau in Benedikts Leben spielte. Sie war seine Schwägerin. Also logischerweise die Frau seines Bruders.

Benedikt atmete jetzt gleichmäßig. Schwester Sophie kam.

»Sie müssen jetzt aber wirklich schlafen, Frau Rickmann«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte Mirja müde. Und dann erinnerte sie sich plötzlich daran, daß man Schwester Sophie nachsagte, daß sie alles über den gesellschaftlichen Klatsch wüßte.

»Schwester Sophie, eine Frage! Sie lesen doch ausführlich die Zeitungen. Haben Sie eigentlich auch mal etwas über Benedikt Arnolds Bruder gelesen?«

Mirja wunderte sich selbst, daß sie den Mut zu dieser Frage aufgebracht hatte.

»Freilich«, erwiderte Schwester Sophie unbefangen. »Lang und breit haben sie doch darüber geschrieben, daß er bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen ist. In Australien war es. Die beiden Brüder saßen in der Privatmaschine, und so ein Ingenieur von einem Bergwerk. Das weiß ich nicht mehr genau. Aber Jürgen – ja, Jürgen Arnold hieß er –, der ist ums Leben gekommen, sein Bruder war schwer verletzt und der andere nur leicht. Das müßten Sie doch eigentlich besser wissen als ich, Frau Rickmann«, sagte Schwester Sophie naiv.

»Nein, ich weiß gar nichts«, erwiderte Mirja ehrlich und dankbar, etwas erfahren zu haben. »Ich kenne Herrn Arnold nur flüchtig.«

Schwester Sophie lächelte verständnisinnig. »Aber Sie mögen ihn«, sagte sie.

»Ja, ich mag ihn.«

»Er muß ja auch ein sehr netter Mensch sein. Wissen Sie denn nicht, daß seine Schwägerin einen Prozeß gegen ihn führt, weil sie ihm die Schuld an dem Unglück zuschieben will?«

Mirja erschrak. »Ich lese so selten Zeitungen«, erwiderte sie gepreßt.

»Bei den reichen Leuten geht alles unterlängs über die Bühne. Und glauben soll man auch nicht alles. Aber wie ich ein Bild gesehen habe von dieser Irene Arnold, da habe ich mir gleich gedacht, daß man sich vor der in acht nehmen muß. Wie eine Katze sieht sie aus.«

Das war Schwester Sophies Ansicht, aber sie war sehr aufschlußreich.

»Und dieser Ingenieur, der beschuldigt Benedikt Arnold auch«, sagte Schwester Sophie. »Ich muß die Illustrierte noch irgendwo haben. Soll ich mal nachschauen, ob ich sie noch finde, Frau Rickmann?«

»Ja, dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Mirja. »Sie schauen doch immer nach Herrn Arnold, Schwester Sophie?«

»Dazu bin ich doch hier«, erwiderte die Ältere mit einem Lächeln. »Ruhen Sie sich nur aus. Ganz schmal sind Sie schon geworden.«

Sie war mitteilsam, aber auch voller Gemüt. Mirja legte ihre Hand an ihre Wange.

»Sie sind sehr nett, Schwester Sophie«, sagte sie weich. »Bitte, behalten Sie für sich, worüber wir eben gesprochen haben.«

»Darauf können Sie sich verlassen, Frau Rickmann.« Und man wollte es ihr glauben!

*

Die Natur forderte ihr Recht. In ihrer Wohnung angekommen, sank Mirja bald in einen tiefen Schlaf, der erst gegen Morgen von Träumen bewegt wurde, die sie in der Erinnerung behielt.

Und seltsamerweise träumte sie nicht von Benedikt, sondern von ihrer Mutter.

Als sie erwachte, waren ihr diese Träume noch nicht gegenwärtig. Sie wurden ihr erst bewußt, als sie Benedikts Aktenkoffer gewahrte, den sie auf einen Stuhl gestellt hatte und sicher verschließen wollte, bevor sie das Haus verließ.

Das Zimmer ihrer Mutter war unverändert geblieben seit deren Tod. In ihm stand ein schwerer Eichenschrank, der schon antiquarischen Wert hatte. Er war handgeschnitzt, und das Schlüsselloch war von einem verschiebbaren Blatt verdeckt. Man konnte es nicht finden, wenn man nicht ungefähr die Stelle wußte.

Mirja kannte sie. Ihre Mutter hatte sie ihr gezeigt, aber sie hatte nie Gebrauch davon gemacht. Doch jetzt erschien ihr dies als der geeignete Platz, um Benedikts Koffer sicher zu wissen.

Leicht drehte sich der Schlüssel im Schloß, den sie sorgfältig in einer kleinen Schmuckkassette aufbewahrt hatte.

Mirja öffnete die Tür und stellte den Koffer in ein Fach, und wie von ungefähr fiel ihr Blick auf einen dicken vergilbten Umschlag, den sie nie gesehen hatte.

›Nach meinem Tod zu öffnen!‹ stand darauf, in der akkuraten, wenn auch etwas ungelenken Schrift ihrer Mutter.

Der Traum war deutlich. Ihre Mutter hatte sie zu diesem Schrank geführt.

Mirja war nicht fähig, diesen Umschlag herauszunehmen. Sie sah ihn an, aber er war für sie nicht existent. Nur der Traum war in ihrer Erinnerung. Und Benedikts Koffer war Wirklichkeit.

*

Dr. Laurin war an diesem Morgen recht schweigsam, wie Antonia feststellen mußte. Er scherzte auch nicht wie sonst mit den Zwillingen Konstantin und Kaja. Die wenigen Stunden, die ihm für die Familie blieben, reichten ihm im allgemeinen, um sich von den Gedanken an die Arbeit zu befreien, doch heute stand ihm eine schwierige Operation bevor.

»Meinst du, daß ich mich mal um Mirja kümmern sollte, Leon?« fragte Antonia, da sie meinte, dies beschäftige ihn.

»Ihre Zeit wird voll ausgelastet sein«, erwiderte er. »Hopp, hopp, Kinder, Papi muß in die Klinik.«

»Jetzt schon?« maulte Konstantin. »Ist doch noch so früh.«

»Mußte operieren?« fragte Kaja eifrig.

»Ja.«

Das ist es also, dachte Antonia. Es ist eine Operation, die ihn beschäftigt.

Sie sah ihn fragend an.

»Kommst du wieder spät nach Hause?« wollte Konstantin wissen.

»Papi dableiben!« brüllte Kevin aus dem Kinderzimmer. »Kevin will auch Papi haben.«

Antonia ging schnell zu ihm, denn in seiner Hast war er schon ein paarmal aus dem Bett gefallen.

Karin, der gute Geist des Hauses Laurin, reichte dem Hausherrn noch eine Tasse Kaffee. Er trank nur einen kleinen Schluck, nahm den Jüngsten auf den Arm und küßte ihm die Tränchen weg, die ihm über die Wangen kullerten. Es war wie jeden Morgen, ein Abschied, als würde er eine Weltreise antreten.

»Meine Gedanken sind bei dir, Leon«, sagte Antonia leise, denn sie ahnte, wie es ihm zumute war. Er war mit dem Herzen und auch mit der Seele dabei, wenn er eine schwierige Operation ausführen mußte.

»Er hat wohl wieder einen schweren Tag vor sich?« fragte Karin.

Antonia nickte.

»Man sieht es ihm an«, brummte Karin in sich hinein.

*

»Wie war die Nacht?« fragte Mirja Dr. Uhl.

»Ein bißchen unruhig. Herr Arnold hat mehrmals nach Ihnen gerufen.«

»Ich hätte dableiben sollen«, sagte sie.

»Damit Sie auch noch zusammenklappen? Richtig da ist er doch noch nicht, aber er hat eine erstaunliche Konstitution.«

»Sonst hätte er wohl auch kaum einen Flugzeugabsturz überstanden«, sagte Mirja gedankenvoll. »Ich weiß es erst sei heute nacht«, fuhr sie schnell fort, als er sie fragend anblickte. »Meine Informationen habe ich übrigens von Schwester Sophie.«

Er lächelte flüchtig. »Die gute Sophie, sie weiß alles. Übrigens hat eben jemand im Auftrag von Frau Arnold-Mattis angerufen und sich erkundigt, wie es Herrn Arnold geht.«

»Jemand?« fragte Mirja.

»Ich habe diesem jemand gesagt, daß wir telefonisch keine Auskünfte geben. Er war sehr sauer.« Dr. Uhl lachte leise.

Mirja war nicht zum Lachen zumute. Irene Arnold bemühte sich nicht selbst, aber sie wollte anscheinend doch wissen, wie es Benedikt ging.

Sie ging zu Benedikt. Er lag ganz ruhig.

Er wohnte nicht mehr in Geiselgasteig, dachte sie. Aber irgendwo mußte er doch wohnen, oder hatte er sich erst an diesem Tag entschlossen, dieses herrliche Haus zu verlassen?

Hatte er darum bei ihr bleiben wollen? Nein – vorher hatte er doch gesagt, daß er sie am liebsten mitnehmen möchte.

Ein leises Ächzen schreckte sie auf. Sie beugte sich zu ihm hinab. »Benedikt«, sagte sie, »ich bin da.«

»Durst«, seufzte er.

Sie tupfte mit einem Wattestäbchen, das sie in den Tee getaucht hatte, der neben seinem Bett stand, die Lippen ab. Sie waren trocken und rissig. Sie öffneten sich leicht, als sie ihn küßte.

Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. »Mirja«, flüsterte er. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, Benedikt«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, so sehr war sie erschüttert, daß er nur an sie dachte.

Langsam hoben sich seine Lider. Sein Blick, noch abwesend, wurde lebendig.

»Es war doch kein Traum«, sagte er. »Was haben sie mit mir gemacht?«

»Deinem Herzen den Weg zu einem neuen Leben geöffnet«, erwiderte sie so, wie sie es fühlte.

»Ein neues Leben! Ich dachte, es wäre zu Ende.«

»Nein, es beginnt«, sagte sie innig.

»Sehr gut fühle ich mich noch nicht«, murmelte er.

»Das wäre auch ein bißchen zuviel verlangt. Du mußt viel schlafen und wenig denken.«

»Ich denke nur an dich, nur an dich«, flüsterte er und schloß seine Augen wieder. Sein Gesicht war entspannt. Ein Lächeln lag um seinen Mund, und sie konnte mit dem Gefühl an die Arbeit gehen, daß er der Genesung entgegenschlief.

*

Schwester Otti flitzte von einem Krankenzimmer ins andere. »Warum ist die Visite heute so spät?« wurde sie gefragt.

»Dr. Laurin operiert«, erwiderte sie.

Mehrmals mußte sie diese Antwort geben.

Frau Hanke wartete darauf, abgeholt zu werden. Schwester Otti konnte diesen Augenblick schon gar nicht mehr erwarten. Lilly Hanke benahm sich nach ihrer Fehlgeburt wie eine Diva.

»Ich möchte Frau Rickmann noch einmal sprechen und mich von ihr verabschieden«, sagte Lilly Hanke nun.

»Ich werde es ihr ausrichten.«

Höflich mußte sie sein, wenn ihr auch fast der Kragen platzte.

»Mitten aus der Arbeit kann ich sie nicht reißen«, erklärte Schwester Otti nun doch ungehalten, als Frau Hanke mürrisch dreinblickte.

Sie sagte es Mirja dann aber doch, bevor sie es vergaß. »Was will sie denn jetzt noch?« entfuhr es Mirja.

»Sich verabschieden. Ihre Eltern holen sie ab.«

»Das war ja Gott sei Dank nur ein kurzes Gastspiel«, sagte Mirja.

»Ja, Gott sei Dank«, seufzte Schwester Otti.

So bemitleidenswert, wie Mirja immer geglaubt hatte, schien Lilly Hanke doch nicht zu sein. Man mußte alles immer von zwei Seiten sehen. Nun, verabschieden konnte sie sich ja von ihr.

»Ich werde ja jetzt zu meinen Eltern ziehen«, sagte Lilly Hanke. »Meine Sachen lasse ich abholen. Vielleicht können Sie mal ein Auge darauf haben, wen mein Mann mitbringt, Frau Rickmann. Ich würde mich dafür erkenntlich zeigen.«

Das war vielleicht eine Zumutung! Mirja schluckte schwer daran.

»Sie wissen ja, wie selten ich zu Hause bin«, sagte sie kühl. »Und jetzt wird es Ihnen doch wohl egal sein, Frau Hanke.«

Dann kamen ihre Eltern, und Mirja verschwand schnell. Kurze Zeit später verließ Lilly Hanke die Prof.-Kayser-Klinik.

»Hoffentlich auf Nimmerwiedersehen«, sagte Schwester Otti grimmig.

*

Während Dr. Laurin operierte, machte Dr. Sternberg Visite, als Schwester Irma mit der Nachricht überraschte, daß Frau Arnold-Mattis ihn zu sprechen wünsche.

»Soll warten«, sagte er. Er dachte gar nicht daran, wegen Frau Arnold-Mattis die Visite zu unterbrechen, für die er sich immer Zeit ließ, wenn es nur irgend möglich war, denn wie auch Dr. Laurin vertrat er den Standpunkt, daß die Patienten Worte des Zuspruchs oft nötiger brauchten als Medikamente.

Als er dann sein Zimmer betrat, war er froh, daß Mirja ihn auf diese Frau vorbereitet hatte. Sie sah aus wie die leibhaftige Verführung, doch Eckart Sternberg war davon nicht zu beeindrucken.

Um so mehr beeindruckt war Irene Arnold-Mattis von diesem interessanten Mann. Seine Persönlichkeit überraschte sie derart, daß ihr frivoles Lächeln erlosch und ihre Augen ganz weit wurden. Es waren die Augen einer Raubkatze, die einen Leckerbissen wittert. Sie wußte allerdings nicht, daß Dr. Sternberg eine Frau hatte, der sie nicht das Wasser reichen konnte, wenn sie auch all ihre Raffinesse zum Einsatz brachte. Irene Arnold-Mattis hielt sich für unwiderstehlich.

Nur ein Mann hatte ihr bisher die kalte Schulter gezeigt, und um diesen ging es bei dem Besuch. Allerdings mußte sie es bald schmerzhaft spüren, daß Dr. Sternberg der zweite war.

»Ich möchte mich über den Zustand meines Schwagers informieren«, begann sie. »Eine Angestellte dieser Klinik suchte mich auf und sagte mir, daß er hier eingeliefert worden wäre und operiert werden solle.«

»Das ist gestern geschehen«, erwiderte Dr. Sternberg.

»Sie halten mich jetzt wohl für herzlos?« fragte sie mit einem gekonnten Augenaufschlag, der Dr. Sternberg aber nicht verwirren konnte. »Sie werden anders über mich denken, wenn Sie mehr von meinem Verhältnis zu meinem Schwager wissen, wenn es sich so überhaupt bezeichnen läßt. Ich kann bei allem Bedauern für seine Situation keine Sympathie heucheln. Schließlich hat er den Tod meines Mannes verschuldet. Aber damit nicht genug, dachte er auch noch, daß er Jürgens Nachfolger bei mir werden könnte. Sie werden verstehen, daß solche Tatsachen nicht dazu angetan sein können, Mitgefühl in mir zu wecken.«

»Dann erübrigt sich Ihr Besuch doch eigentlich«, stellte Dr. Sternberg reserviert fest.

»Immerhin steht einiges auf dem Spiel«, fuhr sie rasch fort. »Ich meine die Firma. Wir brauchen da einige Vollmachten. Schließlich hängt das Wohl von ein paar tausend Angestellten davon ab«, erklärte sie hochtrabend.

»Sind Sie Teilhaberin?« fragte Dr. Sternberg sehr direkt.

Ihre Augen verengten sich. »Ich bin die Witwe eines Teilhabers. Schließlich muß ich meine Rechte wahren. Benedikt hat mich in unverantwortlicher Weise übergangen.«

»Bestehende Rechte kann Ihnen doch niemand streitig machen«, erklärte Dr. Sternberg kühl. »Es ist auch nicht meine Angelegenheit, mich um die Geschäfte meines Patienten zu kümmern. Mir obliegt es, seine Gesundheit wiederherzustellen.«

»Besteht denn dafür Aussicht?« fragte sie hintergründig.

»Berechtigte«, erwiderte er lakonisch.

Sie preßte die Lippen aufeinander. »Man bezeichnete seinen Zustand als aussichtslos«, sagte sie mit einem aggressiven Unterton.

»Das mag der Fall gewesen sein. Jedenfalls ist die Operation geglückt, und seine Aussichten sind ausgezeichnet.«

»Dann kann ich mit ihm sprechen?« fragte sie.

»Bedaure, das ist für die nächsten Tage nicht möglich.«

»Aber ich sagte Ihnen doch, daß es für die Firma wichtig ist. Benedikt muß Unterlagen bei sich gehabt haben, die wir unbedingt brauchen. Einen Aktenkoffer.«

»Davon weiß ich nichts.« Es war schon die zweite Lüge, die er gebrauchte, aber er verzieh sie sich selbst. Zwar wußte er nicht, worum es Irene Arnold-Mattis ging, aber Mirja mochte recht haben, wenn sie diese Frau als gefährlich bezeichnete.

»Vielleicht könnten wir uns in einer etwas gemütlicheren Atmosphäre etwas weniger sachlich unterhalten, Herr Dr. Sternberg«, sagte Irene nun. »Darf ich Sie zu einem Abendessen im kleinen Kreis einladen? Morgen vielleicht? Ich habe ein paar Gäste.«

Donner und Doria, die geht aber ran, dachte Eckart Sternberg und konnte sich kaum ein sarkastisches Lächeln verkneifen.

»Dazu ist meine Freizeit zu knapp bemessen«, erwiderte er. »Sie gehört meiner Familie.«

Das war eine kalte Dusche für Irene, die er damit noch verstärkte, daß er das Bild seiner Frau Corinna und seiner kleinen Tochter Christine in ihr Blickfeld rückte.

»Selbstverständlich wäre mir auch Ihre Frau willkommen«, sagte Irene rasch, um ihr Gesicht zu wahren.

»Ärzte sind so unzuverlässige Privatmenschen, daß wir immer um Nachsicht bitten müssen«, sagte er ruhig. »Sie entschuldigen mich bitte. Die Pflicht ruft.«

Der Zufall wollte es, daß Irene mit Dr. Laurin und Mirja zusammentraf, als sie grollend die Klinik verließ.

Mirja bemerkte sie zuerst gar nicht, denn Dr. Laurin war es, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Noch so ein attraktiver Arzt! Der stellte sogar Dr. Sternberg in den Schatten.

Sie verharrte einen Augenblick und versuchte kokett, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber Dr. Laurin hätte keine Notiz von ihr genommen, wäre Mirja nicht zusammengezuckt und blaß geworden.

»Frau Arnold«, flüsterte sie.

Dr. Laurin, der keine Ahnung hatte, daß es auch eine Frau Arnold gab, denn mit ihm hatte Mirja darüber noch nicht gesprochen, war verblüfft, und unwillkürlich drehte er sich um.

Da bemerkte Irene auch Mirja. Mit einem gekünstelten Lächeln kam sie angerauscht.

»Nett, Sie zu sehen«, sagte sie. »Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Rickmann«, sagte Mirja gepreßt.

»Ach ja, Frau Rickmann. Ich habe mich neulich wohl recht merkwürdig benommen, aber Sie müssen verstehen, daß es sehr überraschend für mich kam.«

Dr. Laurin wurde wieder mit einem herausfordernden Blick bedacht. »Behandeln Sie meinen Schwager auch?« fragte sie.

»Dafür ist Dr. Sternberg zuständig«, erwiderte er spöttisch.

»Sind Sie Dr. Kayser?«

»Nein, Dr. Laurin.«

»Würden Sie gestatten, daß ich mich mit Frau Rickmann unterhalte?« fragte Irene mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln, das harmlose Seelen so täuschen konnte.

Dr. Laurin fing einen flehenden Blick von Mirja auf, den er auch glücklicherweise richtig deutete.

»Das ist augenblicklich leider nicht möglich, Frau Arnold. Frau Rickmann muß ein paar dringende Röntgenaufnahmen machen.«

Aber so schnell gab Irene nicht auf.

»Wann hätten Sie Zeit für mich, Frau Rickmann?« fragte sie. »Vielleicht morgen?«

»Nein, Sie können nicht mit mir rechnen«, erwiderte Mirja kühl.

*

»Wir sollten uns darüber unterhalten, Mirja«, sagte Dr. Laurin nachdenklich. »Wenn Blicke töten könnten, wären Sie jetzt umgefallen.«

Sie hatten gerade über Frau Kroll gesprochen. Noch bestand für Dr. Laurin kein Anlaß zum Optimismus, aber eine winzige Hoffnung verblieb ihm nach der Operation, sofern sich nicht schon Metastasen angesiedelt hatten, die man nur mit einer komplizierten Untersuchungsmethode feststellen konnte. Dazu aber mußte Frau Dr. Kroll erst wieder bei Kräften sein.

»Aber sie lebt«, hatte Mirja gesagt.

»Auch wir haben den Ehrgeiz, unsere Patientinnen nicht unter dem Messer sterben zu lassen«, bemerkte Dr. Laurin darauf mit einem Anflug von Bitterkeit.

»Sie haben jedenfalls alles gewagt.«

Dr. Laurin hatte jetzt keine Zeit, und auch sie mußte wieder an die Arbeit.

Mittags kam Schwester Sophie und fragte, ob Mirja mit ihr zum Essen gehen wolle.

»Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht«, sagte sie.

Es wurde Zeit, daß sie mal wieder eine richtige Mahlzeit zu sich nahm. Schwester Otti redete ihr zu, aber dessen bedurfte es gar nicht. Mirja war sehr gespannt auf weitere Informationen über die Familie Arnold.

»Diese Schlange war vorhin bei Dr. Sternberg«, erzählte Schwester Sophie auf dem Weg zur Kantine, die im Untergeschoß der Klinik lag. »Aber er muß ihr eine ganz schöne Abfuhr erteilt haben. Der würde ich meilenweit aus dem Weg gehen.«

Sie hatte einen ganzen Packen Zeitungsausschnitte mitgebracht.

»Damit Sie nicht erst lange herumsuchen müssen, Mirja«, sagte sie beinahe mütterlich. »Da haben Sie aber allerhand Lektüre, und wenn manches auch übertrieben sein mag, etwas kann man doch rauslesen. Mich lachen sie ja immer alle aus als Klatschtante vom Dienst, aber man sieht ja, daß es manchmal gut ist, wenn man sich solche Sachen merkt.«

»Ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür.«

Schwester Sophie lächelte, als Mirja ihr warm die Hand drückte.

*

Dr. Rasmus hatte sich die Frauenklinik von Professor Lorenzen genau angesehen. Es gab eigentlich nichts, was sie nicht auch in der Prof.-Kayser-Klinik hatten. Hier war nur alles viel größer und auch viel unpersönlicher.

Wieder einmal empfand es Peter Rasmus mit einem Glücksgefühl, daß er an der Prof.-Kayser-Klinik tätig sein durfte, in einem kleinen Team, mit einem Chef wie Dr. Laurin.

Auf dem Kongreß konnte er auch kaum neue Erkenntnisse gewinnen. Was interessant gewesen war, war schon am ersten Tag zur Sprache gekommen.

Als Dr. Rasmus mittags ins Hotel zurückkam, wurde er erwartet. Er war doch leicht erstaunt, als sich Mirja von Korten aus einem Sessel in der Halle erhob und auf ihn zutrat. Sie war allein gekommen.

»Ich habe mir gedacht, daß wir uns einmal allein unterhalten sollten, Herr Dr. Rasmus«, begann sie verlegen. »Sie haben mich ganz hübsch neugierig gemacht.«

»Das tut mir leid, Frau von Korten. Ich war so überrascht, daß ich mir gar nicht dachte, welche Folgen es haben könnte. Ich hoffe sehr, daß Ihr Verlobter mir nicht mehr grollt.«

»Das wäre doch kindisch, aber eifersüchtige Männer sind unberechenbar«, sagte sie lächelnd. »Deswegen habe ich ihm auch nichts davon erzählt, daß ich Sie aufsuche.«

Peter Rasmus hatte Hunger, und er wollte sich auch nicht noch tiefer in diese rätselhafte Angelegenheit verstricken.

»Darf ich Sie zum Essen einladen?« fragte er. »Ich muß gestehen, daß ich sehr hungrig bin.«

»Ich auch«, lächelte Mirja.

Unversehens gerieten sie ins Erzählen, und Mirja von Korten hörte aufmerksam zu.

»Lars würde es bestimmt interessieren, sich eine so moderne Privatklinik wie die Prof.-Kayser-Klinik einmal anschauen zu können«, sagte sie. »Er will auch eine Klinik gründen. Er ist in der glücklichen Lage, sich das leisten zu können, wenn er genügend Erfahrungen gesammelt hat. Aber jetzt möchte ich doch etwas von dieser anderen Mirja erfahren. Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich so neugierig bin.«

Sie hatten nicht bemerkt, daß Dr. Lundgren in der Tür erschienen war, und da er sich schnell zurückzog, blieben sie ganz unbefangen. Sie konnten ja nicht ahnen, was Lars Lundgren sich jetzt dachte.

»Eigentlich weiß ich gar nichts von Mirja Rickmann«, sagte Dr. Rasmus. »Sie ist ein sehr zurückhaltendes Mädchen, unsere Oberschwester nennt sie immer ›Prinzessin‹, aber das soll nicht heißen, daß sie eingebildet ist. Sie ist eben nur sehr apart.«

»Das wäre ja auch ein hübsches Kompliment für mich«, lächelte Mirja von Korten. »Ich möchte dieses Mädchen kennenlernen. Ich werde meinen Vater bitten, mit mir nach München zu fahren. Ich habe meine Mutter sehr früh verloren. Genau gesagt, lernte ich sie gar nicht kennen, denn sie starb bei meiner Geburt. Ich war eine Frühgeburt, müssen Sie wissen. Meine Mutter stürzte eine Treppe hinunter, und so geschah es. Pa ist nie darüber hinweggekommen. Sie verstehen mich doch, Herr Dr. Rasmus? Wenn Ihnen jemand sagen würde, daß Sie einen Doppelgänger haben, würde Sie es doch wohl auch interessieren, diesen kennenzulernen.«

»Es würde mich freuen, wenn Sie sich einmal selbst überzeugen würden, daß ich nicht übertrieben habe«, sagte er. »Aber Mirja Rickmann werde ich erst vorbereiten müssen.«

»Nein, bitte nicht, das soll dann eine Überraschung sein.« Sie lächelte wie ein Kobold. So hatte er Mirja Rickmann allerdings noch nie lächeln sehen.

Er begleitete Mirja von Korten bis zur Tür, und sie schieden wie Freunde, aber Dr. Peter Rasmus sah nicht mehr, daß draußen ein hochgewachsener blonder Mann auf sie wartete, der ihr den Weg vertrat, als sie zu ihrem Wagen gehen wollte.

*

»So ist das also! Es beruht auf Gegenseitigkeit!« stieß Lars Lundgren hervor.

»Mach dich doch nicht lächerlich, Lars«, erwiderte sie, nachdem sie den Schrecken überwunden hatte. »Ich wollte mehr über meine Doppelgängerin erfahren, nichts weiter. Ich konnte nicht wissen, daß du mir nachspionierst«, sagte Mirja von Korten aufgebracht. »Wenn du mir so wenig vertraust, zieh bitte die Konsequenzen.«

»Soweit hat er es also schon gebracht!« brauste er auf. »Das ist doch alles Theater. Er will sich interessant machen.«

»Mein lieber Lars«, sagte Mirja ruhig, »dieser Mann ist glücklich verheiratet und heilfroh, wenn er wieder nach Hause fahren kann. Wir haben zusammen gegessen, weil wir beide Hunger hatten. Jetzt wäre mir der Appetit ohnehin verdorben. Du benimmst dich kindisch. Es gibt eine Doppelgängerin von mir. Du kannst dich ja überzeugen, wenn du so mißtrauisch bist.«

»Das werde ich auch, und zwar sofort«, stieß er hervor.

Vier Stunden später war Dr. Lars Lundgren auf dem Weg nach München. Er hatte Glück gehabt, noch einen Platz in der Nachmittagsmaschine zu bekommen.

Mirja wartete indessen auf ihren Vater, den sie zu ihrem Erstaunen gar nicht daheim angetroffen hatte. Er kam erst gegen Abend, und er machte einen erschöpften, ziemlich niedergeschlagenen Eindruck.

»Pa, ich habe eine Bitte«, sagte Mirja. »Laß uns nach München fahren. Ich möchte dieses Mädchen kennenlernen, das mir so ähnlich sehen soll.«

»Ich auch«, erwiderte Johannes von Korten zu Mirjas Verblüffung. »Wir fahren morgen früh mit dem ICE.«

»Können wir nicht fliegen?«

»Nein, ich habe etwas gegen diese Vögel.«

Sie wagte keinen Widerspruch. Der Gedanke, daß sie nach München kommen würde, stimmte sie versöhnlich.

*

Erst gegen halb sechs Uhr war Mirja Rickmann mit ihrem Arbeitspensum fertig. Zweimal hatte sie mit Schwester Sophie telefoniert und sich nach Benedikts Befinden erkundigt. Zeit, um die Zeitungsausschnitte zu lesen, hatte sie noch nicht gefunden.

Jetzt war Benedikt wichtiger als die Vergangenheit. Sie beeilte sich, zu ihm zu kommen. Er schlief.

»Sie sind doch telefonisch zu erreichen«, meinte Dr. Sternberg. »Wir werden Sie anrufen, wenn er aufwacht.«

Dr. Sternberg rief Dr. Liepmann heran, als er Mirja zur Treppe begleitete. »Wir sind übereingekommen, daß Frau Rickmann benachrichtigt wird, wenn Herr Arnold aufwacht, Herr Liepmann«, sagte Eckart Sternberg.

»Ganz gleich, wieviel Uhr es ist«, warf Mirja rasch ein. »Ich schreibe Ihnen noch schnell meine Telefonnummer auf.«

Es wurde nun doch fast sieben Uhr, bis sie heimkam. Unterwegs hatte sie noch ein paar Besorgungen gemacht.

Schwer bepackt stieg sie die Treppe zu ihrer Wohnung empor. Rolf Hilgers Tür ging prompt auf, als hätte er auf sie gewartet.

»Muß doch mal hören, was sich so bei uns im Haus tut«, sagte er grinsend. »Haben sich die Hankes endgültig verkracht?«

»Es scheint so«, sagte sie, weiteren Fragen vorbeugend.

»Na, dann brauchen wir ja keine Rücksicht mehr zu nehmen«, erklärte er.

»Wie meinen Sie das?« fragte Mirja abweisend.

»Ich meine, daß wir unsere Abende nicht mehr einsam zu verbringen brauchen. So ein nettes Mädchen wie Sie braucht doch auch mal ein bißchen Ansprache. Darf ich Sie zum Abendessen einladen?«

»Nein«, erwiderte Mirja zornig und knallte die Tür hinter sich ins Schloß.

Das fehlte ihr gerade noch!

Ihre Gedanken waren bei Benedikt und wanderten dann zu Irene Arnold-Mattis. Sie dachte nun wieder an die Zeitungsausschnitte, die Schwester Sophie ihr gegeben hatte, und nahm sie aus der Tasche.

Reißerisch waren die Artikel aufgemacht.

Der Jüngere mußte sterben! las sie und sah ein Bild, das ein Flugzeugwrack darstellte. Weiter unten ein kleineres, auf dem ein Mann und eine Frau zu sehen waren. Die Frau war Irene. Das Gesicht des Mannes war verschwommen.

Jürgen Arnold und seine Frau Irene! stand darunter.

Auf einem anderen Ausschnitt war ein größeres Bild von ihm.

Immer stand er im Schatten seines älteren Stiefbruders, der auch das Unglücksflugzeug steuerte. Der Jüngere mußte sterben. Seine schöne Frau blieb gebrochen zurück.

Wie theatralisch das klang!

Heute jedenfalls machte Irene keinen gebrochenen Eindruck mehr. Seltsame Gedanken kamen Mirja. Sie brannte darauf, mehr von Irene und Jürgen Arnold zu lesen.

Als letztes kam ihr der Bericht in die Hände, in dem zu lesen stand, daß Irene Arnold-Mattis ein Verfahren gegen ihren Schwager wegen fahrlässiger Tötung ihres Mannes eingeleitet hätte.

Das also schrieben die Zeitungen über Benedikt, und nach Mirjas Meinung waren sie dazu von Irene inspiriert worden. Aber so schnell durfte sie wohl doch nicht mit ihrem Urteil sein.

Soweit – so gut, aber wußte sie nicht auch von Benedikt viel zuwenig, um ihn blindlings und gegen jeden zu verteidigen?

Doch ihn liebte sie, und damit entschuldigte sich alles. Sie war entschlossen, Irene als seine Feindin zu betrachten.

*

Dr. Thiele starrte den blonden hochgewachsenen Mann, der ihn aufgeregt ansprach, als er die Klinik betreten wollte, betroffen an.

»Freilich gibt es einen Dr. Rasmus bei uns«, sagte er. »Er ist zur Zeit zu einem Kongreß in Hamburg.«

»Und eine Frau Rickmann?« fragte Lars Lundgren drängend.

Die Kombination Dr. Rasmus – Mirja Rickmann zwang Dr. Thiele ein Lächeln ab.

»Frau Rickmann ist Röntgenassistentin. Aber darf ich fragen…«

Er kam nicht weiter, denn der Fremde fiel ihm schon wieder ins Wort.

»Ist Frau Rickmann noch zu sprechen? Es ist sehr dringend. Eine Familienangelegenheit.«

»Es ist jetzt fast acht Uhr«, erwiderte Dr. Thiele. »Frau Rickmann ist sicher nicht mehr im Haus.«

»Könnten Sie mir dann ihre Privatadresse nennen? Es ist wirklich sehr wichtig.«

Der Fremde machte einen guten Eindruck. Daß er sich nicht vorgestellt hatte, rechnete Dr. Thiele seiner offensichtlichen Erregung zugute.

»Handelt es sich etwa um Herrn Arnold?« fragte er impulsiv.

»Arnold? Nein. Es ist eine Familienangelegenheit, wie ich schon sagte. Übrigens, mein Name ist Lundgren, Dr. Lundgren, ich bin ein Kollege.«

»Abwerbung gibt es aber nicht«, scherzte Dr. Thiele. »Aber warten Sie, vielleicht ist Frau Rickmann noch auf der Chirurgischen.«

Er ging zum Telefon am Empfang und rief hinüber, erfuhr aber, daß Mirja heimgegangen sei. Das sagte er dem anderen, aber als dieser so eilig davonstürmte, kamen Dr. Thiele doch Bedenken, und er rief Mirja an. Einen Dr. Lundgren kenne sie nicht, erwiderte sie, und sie wüßte auch nicht, wieso er sie in Familienangelegenheiten zu sprechen wünsche.

Doch als sie den Hörer aufgelegt hatte, kam ihr wie von ungefähr der Gedanke an jenen Briefumschlag, den sie gestern im Schrank ihrer Mutter entdeckt hatte.

Sie fragte sich, ob es nicht doch noch jemanden gäbe, mit dem sie verwandtschaftliche Bande verknüpften.

Sie schloß den Schrank auf und nahm den Umschlag heraus. Dann wieder wanderte ihr Blick zu dem Koffer, und sie fragte sich, ob sein Inhalt ihr mehr Aufschluß über Benedikt geben könne als diese Zeitungsartikel. Aber hatte er wirklich gewollt, daß sie diesen Koffer öffnete? Hatte er das nicht halb geistesabwesend gesagt?

Sie stand unschlüssig da. Plötzlich läutete es. Kam jetzt dieser Dr. Lundgren, von dem Dr. Thiele gesprochen hatte?

Sie ging langsam, von widersprüchlichen Empfindungen bewegt, zur Tür und öffnete sie, um dann zurückzuweichen, denn vor ihr stand Irene Arnold-Mattis.

»Heute komme ich zu Ihnen«, sagte sie mit falscher Freundlichkeit. »Ich denke, daß wir uns einmal unterhalten sollten, Frau Rickmann.«

Ehe Mirja es sich versah, drängte sie sich schon an ihr vorbei und ging in das Wohnzimmer, wo auf dem Tisch noch die Zeitungsausschnitte lagen.

Irene hatte dies mit einem Blick erfaßt, und in ihren Augen glomm eine gefährliche Flamme.

»Sie interessieren sich also für die Sensationspresse«, sagte sie zynisch. »Nun, dann können wir ja frei heraus reden. Ich kann Ihnen noch einige Details aus erster Quelle übermitteln.«

»Ich bin nicht daran interessiert«, sagte Mirja entschlossen.

»Woran sind Sie denn interessiert? Am Vermögen der Arnolds? Glauben Sie etwa, daß Benedikt es ernst meint, wenn er einem Mädchen den Hof macht?

Sie haben am Dienstag abend mit Benedikt bei Charles gegessen. Der Ober hat Sie mir sehr genau beschrieben. Es ist sein Stammlokal. Man kann ihn nicht verwechseln. Ich habe früher dort auch oft mit ihm und meinem Mann gegessen und später auch mit ihm allein«, sagte sie höhnisch. »Muß ich noch mehr sagen?«

»Ich wiederhole, daß ich nicht interessiert daran bin«, erwiderte Mirja eisig.

»Wie schade. Sie könnten manches über Benedikt erfahren. Aber Sie werden es ohnehin erfahren. Ich habe mich nicht von ihm einwickeln lassen. Ich werde ihm den Prozeß machen. Mal sehen, was ihm dann noch bleibt.«

Sie schrie es im höchsten Diskant, völlig hysterisch. Und da läutete es wieder.

Mirja stürzte förmlich zur Tür, und diesmal stand ein Mann davor.

»Mirja!« rief der staunend.

Irene Arnold-Mattis ging mit einem frivolen Lächeln an ihnen vorbei.

»Ach so, es gibt doch noch andere Männer«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang Triumph.

Mirja war froh, von ihr befreit zu sein, aber nun sah sie den Mann bestürzt an.

»Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht. Wieso nennen Sie mich bei meinem Vornamen?«

»Ich habe es nicht geglaubt. Es ist auch nicht zu glauben. Sie sind Mirja, und sind es nicht.«

»Wenn Sie mir das bitte erklären würden«, sagte Mirja müde. »Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und muß noch einmal in die Klinik.«

Er fuhr sich über die Augen, wohl, um sich zu überzeugen, daß sie tatsächlich vor ihm stand und dieses Bild nicht wegzuwischen war.

»Dann hat dieser Dr. Rasmus doch die Wahrheit gesagt«, murmelte er. »Mein Name ist Lundgren. Verzeihen Sie diesen Überfall.«

»Eigentlich kamen Sie mir recht willkommen«, erklärte Mirja. »Bitte, nehmen Sie Platz, und erzählen Sie, in welchen Familienangelegenheiten Sie zu mir kommen.«

»Man hat Sie schon informiert?« fragte er verlegen.

Sie nickte, und dann begann Lars Lundgren stockend zu erzählen.

*

Irene hielt verärgert Ausschau nach einem ganz bestimmten Wagen, nachdem sie das Haus verlassen hatte.

Zum Teufel mit Fred, dachte sie, bestimmt ist er wieder in einer Bar gelandet. Aber er hatte wohl nicht damit gerechnet, daß sie so schnell diesen Besuch beenden würde, besser gesagt, daß er abrupt und ergebnislos abgebrochen wurde.

Nein, nicht ergebnislos. Sie wußte jetzt zumindest, daß es da noch einen Mann gab. Einen sehr gut aussehenden Mann sogar, der nicht den Eindruck machte, als wolle er sich beiseite schieben lassen.

Sie ging auf der Straße auf und ab und behielt das Haus im Auge. Vielleicht lohnte es sich. Allerdings wäre es ihr angenehmer gewesen, im warmen Wagen zu warten. Wo Fred nur stecken mochte? Ob man sich wirklich auf ihn verlassen konnte? Er trank sehr viel in letzter Zeit, zuviel, wie Irene meinte.

Sie brauchte Fred Haldegg, wenngleich er ihr jetzt auch manchmal lästig wurde.

Sie brauchte ihn, um sich an Benedikt zu rächen.

Sie behielt das Haus im Auge, in dem Mirja wohnte, gleichzeitig aber lauschte sie auf Motorengeräusch. Etwa zehn Minuten mochte sie schon warten, als sich die Haustür auftat und ein Mann herauskam. Er ging langsam an Irene vorbei und musterte sie mit einem abschätzenden Blick.

Blitzschnell kam ihr ein Gedanke.

»Eine Frage bitte«, sagte sie. »Wohnen Sie in diesem Haus?«

Rolf Hilger hatte nie etwas dagegen einzuwenden, mit einer hübschen Frau anzubändeln, und diese war verdammt hübsch.

»Ja«, erwiderte er. »Hilger ist mein Name.«

Diesen Namen hatte sie vorhin an der Tür gelesen. Er wohnte neben Mirja. Diese Gelegenheit mußte sie beim Schopfe packen.

»Dann kennen Sie ja Frau Rickmann«, sagte sie. »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«

Er hatte es noch nicht verschmerzt, von Mirja eine Abfuhr bekommen zu haben, und er war auch neugierig. In letzter Zeit tat sich allerlei in diesem Haus.

»Es ist kalt«, stellte Irene fröstelnd fest. »Gibt es hier irgendwo ein Lokal, wo man was Heißes trinken kann?«

»Gibt es«, nickte Rolf Hilger. »Es ist sogar ein nettes Lokal.«

Irene war frei von jeglichen Hemmungen. Sie machte sich keinerlei Gedanken darüber, wie er sie einschätzen könnte. Mit Männern seiner Art wurde sie spielend fertig. Da genügte wirklich nur ein Augenaufschlag, ein vielsagendes Lächeln. Sie hatte sich auch schon blitzschnell eine Taktik zurechtgelegt.

»Bekommt Frau Rickmann oft Herrenbesuch?« fragte sie beiläufig.

»Nicht, daß ich wüßte.«

Diese Frage verblüffte ihn so, daß er bei der Wahrheit blieb.

»Ich werde es Ihnen erklären, warum es mich interessiert«, sagte Irene diplomatisch. »Mein Schwager hat ein Auge auf Frau Rickmann geworfen. Er ist zur Zeit sehr krank, aber er ist auch ein sehr vermögender Mann. Sie verstehen, daß wir uns verpflichtet fühlen, etwas mehr über dieses uns unbekannte junge Mädchen zu erfahren. Ich wollte sie aufsuchen und mich mit ihr unterhalten, aber sie bekam Herrenbesuch und war sehr wenig freundlich zu mir.«

Sie hoffte, daß er das schluckte. Ablesen konnte man es von seinem Gesicht nicht, wie er es aufnahm.

Sie hatten nun das Lokal betreten.

Rolf Hilger, der ziemlich verblüfft über ihre Erklärung gewesen war, fühlte sich geschmeichelt, sein Stammlokal mit einer so attraktiven Frau besuchen zu können, die ein solches Aufsehen erregte, daß sich alle Blicke ihr zuwandten.

Daß der besagte Schwager ein reicher Mann sein mußte, glaubte er ihr aufs Wort, er wunderte sich nur, wie ausgerechnet die schüchterne Mirja an einen solchen geraten war.

Irene war nicht geneigt, einen langen Abend mit diesem netten, aber unbedeutenden jungen Mann zu verbringen. Außerdem machte sie sich Gedanken, wo Fred versumpft sein könnte. Sie steuerte schnell auf ihr Ziel los.

»Also, da kam ein Mann zu Frau Rickmann«, knüpfte sie da an, wo sie aufgehört hatte. »Ein großer blonder, gutaussehender Mann. So ein nordischer Typ. Kennen Sie ihn?«

»Nie gesehen«, erwiderte er, sie fasziniert anstarrend. Wie ein Filmstar sah sie aus, und ihm war das Glück beschieden, mit ihr zusammen sein zu können!

Er war wie benebelt.

»Sie scheint eine recht raffinierte Person zu sein«, fuhr Irene fort. »Es würde mir für meinen Schwager sehr leid tun, wenn er enttäuscht würde, aber immerhin wäre es besser, er erführe die Wahrheit, bevor es zu einer festen Bindung kommt.«

»Ich glaube wirklich nicht, daß Frau Rickmann Herrenbekanntschaften hat«, erklärte Rolf arglos. »Ich wohne schon ein paar Monate mit ihr Tür an Tür. Ihre Mutter ist erst vor einem halben Jahr gestorben. Sie hat eigentlich nie Besuch.«

»Aber heute hat sie welchen«, stellte Irene ungehalten fest. Merkte er denn nicht, worauf sie hinauswollte?

Da richtete sich ihr Blick auf die Tür und wurde starr. Ein breitschultriger Mann trat schwankend ein, ging zur Bar und verlangte einen Whisky.

»Ich muß jetzt gehen«, stieß Irene hervor. »Hier ist meine Karte. Besuchen Sie mich morgen, aber rufen Sie vorher an. Bitte, folgen Sie mir jetzt nicht.«

Bevor er sich versah, huschte sie, weit von der Bar entfernt, an den Tischen vorbei zum Ausgang. Er blickte ihr nach und dann auf die Karte, die sie auf den Tisch gelegt hatte.

»Irene Arnold-Mattis«, las er. Und das war ein Name, der ihm bekannt war. Die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf, aber noch war er nicht fähig, sie zu ordnen. Zusammenhänge zu finden und vor allem eine Erklärung für ihr schnelles Verschwinden, das einer Flucht glich.

Irene hatte ihren Wagen rasch entdeckt.

Es war gut, daß sie die zweiten Wagenschlüssel hatte.

Zu ihrer Erleichterung brauchte sie nicht lange zu warten. Schwankend kam Fred Haldegg heraus und auf den Wagen zu.

Als er sich mühte, die Tür aufzuschließen, herrschte sie ihn an: »Wir werden uns unterhalten, wenn du wieder nüchtern bist, du Trottel!«

»Ich habe auf dich gewartet«, lallte er.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie scharf.

»Ich habe vor dem Haus gewartet. War nur mal ein Bier trinken«, verteidigte er sich. »Hast du was erreicht?«

»Ich werde dir überhaupt nichts mehr auf die Nase binden. Du bringst mich noch ins Unglück mit deiner Trinkerei.«

Sie gab Gas, und der Wagen schoß davon. Sie hatte nicht bemerkt, daß Rolf Hilger fast unmittelbar danebengestanden hatte und auch den Mann erkannte, der neben ihr saß.

So manche Gedanken gingen Rolf Hilger durch den Sinn. Mochte er auch seine Schwächen haben, aber im Grunde war er harmlos, jedoch nicht skrupellos.

Er wußte jetzt, warum Irene Arnold-Mattis das Lokal so rasch verlassen hatte. Er hatte den Mann an der Bar gesehen und gleich nach ihm das Lokal verlassen. Nun fuhr er mit dieser Frau, die ein so merkwürdiges Interesse für Mirja an den Tag gelegt hatte, davon.

So einfältig war er denn doch nicht, daß ihm nicht bewußt wurde, daß sie ihn für ihre Zwecke einspannen wollte. Aber gar so gescheit, wie sie selbst wohl meinte, schien Irene doch nicht zu sein, denn sonst hätte sie ihn wohl nicht gleich zu sich eingeladen. Der Name Arnold war schließlich nicht unbekannt, und ganz zufällig war Rolf Hilger ein Angestellter dieser Firma. Das allerdings hatte Irene nicht wissen können.

Ihm ging noch mehr durch den Sinn. Mirja sollte Beziehungen zu Benedikt Arnold haben?

Rolf Hilger hatte seinen Chef bisher nur flüchtig zu Gesicht bekommen. Man sprach darüber, daß er sich von dem Unfall nie richtig erholt hatte. Man sprach über vieles, aber Rolf Hilger war erst ein paar Monate Angestellter der Arnold-Werke und mehr an seiner beruflichen Karriere interessiert als am Klatsch.

Aber wenn er sich auf die richtige Seite schlug – ganz selbstlos dachte er jetzt doch nicht –, dann war vielleicht einiges für ihn drin, womit er gar nicht gerechnet hatte.

Er jedenfalls war entschlossen, Augen und Ohren offenzuhalten und sich auf die richtige Seite zu schlagen und sich nicht wegen einer attraktiven, aber undurchschaubaren Frau in die Nesseln zu setzen.

*

Was Mirja von Lars Lundgren erfahren hatte, beschäftigte sie bei weitem nicht so sehr wie alle anderen Beteiligten. Sie hatte andere Sorgen, und es belustigte sie sehr, daß Dr. Lundgren sich über diese Ähnlichkeit so aufregte.

Ihm war es sichtlich peinlich, nachdem sie sich darüber unterhalten hatten und Mirja ihm versicherte, daß Dr. Rasmus überaus glücklich verheiratet sei und ganz bestimmt nicht der Mann, der mit anderen Frauen anbandelte.

Sie hatte mit ihm gemeinsam die Wohnung verlassen, nachdem Dr. Liepmann sie anrief und ihr sagte, daß Benedikt bei Bewußtsein sei. Sie hatte es eilig, in die Klinik zu kommen.

»Dr. Laurin wird es freuen, wenn Sie die Klinik besichtigen wollen«, sagte sie zu Lars Lundgren, »und morgen wird ja auch Dr. Rasmus zurückkommen. Dann können Sie sich mit ihm aussprechen.«

»Entschuldigen möchte ich mich wenigstens bei ihm«, gestand er verlegen.

Ganz im Innern gestand er sich noch ein, daß diese Mirja manches hatte, was seiner Mirja eigentlich fehlte. Etwas, das die Geliebte auch zur Kameradin machte. Aber Mirja Rickmann war ja unter ganz anderen Umständen aufgewachsen als Mirja von Korten. Sie hatte ihm erzählt, wie entbehrungsreich das Leben mit ihrer Mutter gewesen war, aber sie hatte auch gesagt, daß sie sich keine bessere Mutter vorstellen könnte.

Nun war er wieder allein und seinen Gedanken ausgeliefert. Ja, ausgeliefert, denn unentwegt umkreisten sie einen Punkt: diese verblüffende Ähnlichkeit und die gleichen Vornamen. Es war wirklich ein bißchen viel, und ihm erging es ähnlich wie Dr. Rasmus. Er wußte, daß es zwei Mirjas gab und konnte es doch nicht glauben.

*

Benedikt wußte nicht, daß es später Abend war, als er erwachte. Mattes Licht erhellte das Zimmer und gaukelte ihm den erwachenden Tag vor.

Aber langsam konnte er wieder klar denken, und auch diese beklemmenden Schmerzen hatten nachgelassen.

Er fühlte sich zwar matt, aber entspannt und erwartungsvoll.

»Mirja?« hatte er gefragt.

»Ich werde sie anrufen«, hatte der Arzt erwidert. »Wie fühlen Sie sich, Herr Arnold?«

»Gut, eigentlich gut. Wie spät ist es?«

»Einundzwanzig Uhr«, sagte Dr. Liepmann.

»Wie lange bin ich schon hier?«

»Den vierten Tag. Besser: die vierte Nacht.«

»Die vierte Nacht«, wiederholte Benedikt.

»Ich rufe jetzt Frau Rickmann an«, sagte Dr. Liepmann.

Mirja, dachte Benedikt und fühlte sich in den Konzertsaal versetzt.

Es war ganz seltsam gewesen, als sie sich an ihm vorbei zu ihrem Sitz schob. So etwas passierte einem nur einmal im Leben.

Er hatte diese elenden Schmerzen vergessen, die Todesgedanken, die ihn so oft bewegten. Er war glücklich gewesen wie nie zuvor in seinem Leben, als er neben ihr gehen durfte und sie ihm nicht davonlief, wie er nach ihrer ersten Absage fürchten mußte.

Ich will leben, dachte er, leben mit Mirja, für Mirja, und das Leben wird voller Glück sein. Aber würde sie das jetzt noch wollen?

Da stand sie schon in der Tür. Sein Wunder, das ihm nun auch noch die Hoffnung auf eine Genesung gebracht hatte.

Sie lächelte zärtlich, als sie seine Hand nahm, und er fühlte, wie sein Herz kraftvoller zu schlagen begann.

»Mein geliebtes Mädchen«, flüsterte er, und sie vergaß alles, was an diesem Abend geschehen war, als sie ihn küßte und spürte, wie sehnsüchtig er diesen Kuß erwiderte.

*

»Wir werden über vieles sprechen müssen, Mirja«, begann er später, nachdem die Nachtschwester noch einmal ihre Runde gemacht hatte.

»Es hat Zeit. Du mußt erst gesund werden, Benedikt.«

»Es hat keine Zeit. Es gibt ein paar Menschen, die mir schaden wollen, und die auch vor dir nicht halt machen, wenn sie von deiner Existenz erfahren.«

War es nicht zu früh, ihm zu erklären, daß dies schon der Fall war? Mirja überlegte.

»Ich weiß schon eine ganze Menge über dich, Benedikt«, sagte sie vorsichtig. »Du bist ja ein bekannter Mann. Mir wäre es lieber, wenn es nicht so wäre.«

»Mir auch.« Er konnte jetzt sogar schon wieder lächeln, und dieses Lächeln erwärmte ihr Herz. »Geld macht nicht glücklich, Mirja. Es kann sogar zu einer Last werden, und für manche ist es eine teuflische Verführung.«

»Du darfst noch nicht soviel sprechen, Benedikt. Ich werde mir Dr. Sternbergs Zorn zuziehen, wenn es dir morgen wieder schlechtergeht.«

»Es tut mir so leid, daß ich dich in Angst und Schrecken versetzt habe. Als ich dich sah, hatte ich plötzlich alles vergessen. Es war wie ein wunderschöner Traum.«

Sie küßte ihn leicht auf die Augen. »Träum weiter, Liebster«, sagte sie weich. »Wir werden noch viel Zeit haben, um über alles sprechen zu können.«

»Hast du den Koffer an dich genommen, Mirja?« fragte er. »Er ist sehr wichtig. Er enthält Dinge, die für mich unersetzlich sind.«

»Er ist in meiner Wohnung, Benedikt«, sagte sie mit belegter Stimme.

»Das ist gut. Dich kennt niemand.«

Sie war froh, daß sie noch nichts von Irene gesagt hatte, aber sie war jetzt unruhig, und das spürte er.

»Verzeih, Liebes, ich vergesse, daß du deine Nachtruhe brauchst. Es ist lieb, daß du trotzdem gekommen bist. Bitte – darf ich dich darum bitten, daß du mit dem Koffer zu meinem Anwalt gehst? Er wird schon sehr unruhig sein, daß ich nicht komme.«

»Kannst du ihm vertrauen, Benedikt?« fragte sie gedankenvoll. »Kannst du ihm ganz vertrauen?«

Er sah sie bestürzt an. »Ich denke doch«, erwiderte er zögernd. »Was weißt du, Mirja?«

»Zu wenig, als daß ich mich einmischen dürfte, aber ich habe Angst um dich, Benedikt. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich denke, daß du dich auf keinen Menschen verlassen sollst, der mit Vergangenem zu tun hat. Ein Verwandter und Freund von Dr. Laurin ist Anwalt. Ich wäre ruhiger, wenn er sich um deine Angelegenheiten kümmert. Bitte, sei mir nicht böse, wenn ich das sage. Ich habe deine Schwägerin kennengelernt.«

Sie wich seinem Blick, der sekundenlang forschend auf ihr ruhte, nicht aus.

»Weiß sie, daß wir uns kennen?« fragte er sinnend.

»Ja, der Ober in dem Lokal hat mich ziemlich genau beschrieben, und ich habe den Fehler gemacht, zu ihr zu gehen, um ihr zu sagen, daß du in der Prof.-Kayser-Klinik liegst.«

»Warum hast du das getan, Mirja?« fragte er tonlos.

»Ich dachte, daß sie dir etwas bedeuten könnte, daß sie deine Frau wäre oder deine Mutter. Es tut mir leid.« Sie war den Tränen nahe.

»Sie hätte es auch so herausbekommen, Liebes«, sagte er tröstend. »Aber du hast recht. Ich muß noch mißtrauischer sein. Sprich du mit dem Anwalt. Wie heißt er?«

»Dr. Friedrich Brink.«

»Den Namen habe ich schon gehört. Ein bekannter Anwalt. Aber es sind sehr heikle Dinge, Mirja.«

»Ich weiß, daß deine Schwägerin dich wegen fahrlässiger Tötung angezeigt hat«, gab Mirja zu.

Er schloß die Augen. »Jürgen war ein guter Junge. Diese Frau hat ihn zermürbt. Er wollte nicht mehr leben. Er wußte nicht, daß ich mit der Maschine fliegen würde. Er wollte es verhindern. Er wollte nur Fred mitnehmen.«

Er hatte schon zuviel geredet und war noch viel zu schwach. Die letzten Worte waren nur noch ein unverständliches Murmeln. Er schlief wieder ein. Mirja läutete.

Dr. Liepmann kam.

»Es war wohl gleich ein bißchen zuviel für ihn«, flüsterte sie.

»Nur keine Panik, er schläft ja ganz ruhig. Sie können wirklich ganz beruhigt sein, Mirja«, sagte er kameradschaftlich.

»Ich muß unbedingt etwas erledigen«, murmelte sie. »Ich rufe nachher noch einmal an.«

*

Sie hetzte durch die nächtlichen Straßen. Völlig außer Atem kam sie daheim an. Rolf Hilgers Tür tat sich auf, als sie ihre aufschließen wollte. Erschrocken fuhr sie zurück.

»Einen Augenblick bitte, Frau Rickmann«, sagte er höflich. »Ich müßte Ihnen etwas sehr Wichtiges mitteilen.«

»Hat das nicht bis morgen Zeit?« fragte sie.

»Es handelt sich aber um Herrn Arnold«, erklärte er stockend.

Ihre Augen weiteten sich. Wußte denn jetzt schon alle Welt von ihr und Benedikt?

»Ich habe heute abend Frau Arnold-Mattis kennengelernt«, begann er erneut. »Das heißt, sie sprach mich an. Ich dachte, daß ich es Ihnen erzählen müßte. Ich möchte Sie warnen«, sagte er eindringlich.

Ihr Herz schlug immer noch bis zum Hals, und seine Worte trugen nicht dazu bei, sie zu beruhigen.

»Bitte, kommen Sie doch einen Augenblick herein!« forderte sie ihn auf.

Vielleicht war es gewagt, aber wer nicht wagt, gewinnt nicht. Das hatte Dr. Laurin erst vor ein paar Tagen gesagt. Seltsam, daß ihr jetzt solche Vergleiche in den Sinn kamen.

Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und ließ ihn eintreten. Die Zeitungsausschnitte lagen noch immer auf dem Tisch.

»Einen Augenblick, bitte«, sagte sie, um dann in das Zimmer ihrer Mutter zu gehen. Die Schranktür stand offen, der Koffer und auch der dicke Briefumschlag lagen darin. Sie atmete auf und schloß die Tür ab.

Ruhiger geworden, setzte sie sich zu Rolf Hilger, und nun erfuhr sie, was er heute abend erlebt hatte.

»Dies alles kam mir so merkwürdig vor, daß ich mich verpflichtet fühlte, Sie davon in Kenntnis zu setzen, Frau Rickmann«, sagte er sehr höflich und zurückhaltend. »Als Angestellter der Arnold-Werke, das konnte Frau Arnold-Mattis natürlich nicht wissen, fühlte ich mich doppelt verpflichtet.«

»Das wußte ich auch nicht«, sagte Mirja geistesabwesend, »aber ich denke, daß Herr Arnold sich Ihnen erkenntlich zeigen wird für Ihre Loyalität, Herr Hilger. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Wir sind ja Nachbarn«, sagte er verlegen, »und bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte. Es war nicht böse gemeint. Ich dachte wirklich nur daran, daß Sie abends auch immer allein sind.«

Mirjas Gedanken waren schon weitergewandert. »Sie sagten, daß Frau Arnold-Mattis Sie eingeladen hat?« fragte sie. »Nein, ich will keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen, aber eventuell könnten Sie Herrn Arnold einen Dienst erweisen, wenn Sie diese Einladung annehmen würden. Ich muß mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen und mit ihm darüber sprechen. Aber das ist nur eine Idee.«

»Warum sollte ich den Spieß nicht umdrehen?« meinte er.

»Ja, warum sollten wir das eigentlich nicht?« Mirja wurde lebhaft. Alles war ihr noch einmal durch den Kopf gegangen. Rolf Hilger hatte keinerlei Veranlassung, ihr das alles zu erzählen, wenn er es nicht ehrlich meinte.

Auch ihr kam der Gedanke, daß er sich einen beruflichen Vorteil davon versprach. Aber den konnte er nur von Benedikt erhoffen, nicht von Irene.

Guter Gott, nun spann auch sie schon Intrigen. Aber sie rechtfertigte sich mit dem Gedanken, daß sie nur Benedikt helfen wollte.

*

Nachdem Rolf Hilger gegangen war, bereitete sie sich einen Glühwein und aß ein Stück Fladenbrot dazu. Vor ihr auf dem Tisch lag der Umschlag mit der Aufschrift:

Nach meinem Tode zu öffnen.

Zwischen ihr und Mutter war doch immer alles klar gewesen. Niemals hatten sie Geheimnisse voreinander gehabt.

Was zögerte sie eigentlich noch? Sie sah das schmale gütige Gesicht ihrer Mutter vor sich. Wie sie gelebt hatte, so war sie gestorben, still, bescheiden, nie etwas für sich fordernd.

»Du wirst deinen Weg gehen, mein Kind. Es macht mich froh«, hatte sie nicht nur einmal gesagt. »Du warst mein ganzes Glück«, waren ihre letzten Worte gewesen.

Nun griff Mirjas Hand nach diesem Umschlag und zögerte nicht.

Ein paar Fotografien fielen ihr als erstes ins Auge. Ein herrliches Haus stellte die eine dar, eine andere junge, bildschöne Frau. Mirja entdeckte eine Ähnlichkeit mit sich selbst, aber sich selbst so schön zu finden, hätte sie nie gewagt.

Dann breitete sie fast automatisch die dichtbeschriebenen Seiten vor sich aus.

Sie konnte nicht glauben, was sie da las. Es klang wie ein Roman, niedergeschrieben von der Hand ihrer Mutter, aber doch mit solcher Ausdruckskraft, daß sie sich in dieses Geschehen hineinversetzt fühlte. Es war so, als würde sie es erleben, und damals hatte ihr Leben gerade erst begonnen. Vor einundzwanzig Jahren war dies geschehen.

Die junge Frau des Gutsbesitzers Johannes von Korten sah der Geburt ihres Kindes entgegen, rührend betreut von Anna Rickmann, der Verwaltersfrau. Freundinnen waren sie, wenngleich darüber kein Wort laut wurde.

Johannes von Korten, der seine Frau eifersüchtig liebte, hätte es nicht geduldet, daß seine Frau Mirja sich so ausnehmend gut mit der Angestellten Anna Rickmann verstand, die er jedoch wegen ihrer Zuverlässigkeit schätzte. Anna Rickmann war zehn Jahre älter als Mirja von Korten und hatte gerade vor zwei Wochen eine Fehlgeburt gehabt. Sie war aller Hoffnung auf ein Kind beraubt worden und tiefunglücklich darüber. Doch gerade deshalb war sie nun doppelt besorgt um ihre junge Chefin.

Noch hatte der Gutsherr schwere Geschäftsjahre nicht ganz überwunden. Es gedieh nach mühsamer Arbeit auf den Feldern wieder das Korn, und er konnte wieder daran denken, Pferde zu züchten, wie es Generationen vor ihm getan hatten. Er war auf der Pferdeauktion, als das Unglück geschah.

Mirja von Korten war es schwindelig geworden, als sie nach einem Mittagsschlaf die Treppe hinunterging. Sie konnte sich nicht mehr festhalten und stürzte die letzten Stufen hinab. Auf ihren Schrei hin eilte Anna Rickmann voller Entsetzen herbei und sah die junge Frau am Boden liegen. Sie alarmierte sofort den Arzt, aber der war über Land gefahren. In ihrer Angst benachrichtigte sie die Hebamme, doch bis diese eintraf, war die Geburt schon im Gange.

Anna Rickmann tat, was sie konnte, um der jungen Frau zu helfen, und das war sehr gut. Sie hielt ein kleines Mädchen in ihren Händen, das kein Lebenszeichen von sich gab. Aber wenig später kam ein zweites, und das schrie sich ins Leben, so kräftig, daß Anna Rickmann wie erstarrt war.

Mirja von Korten hatte Zwillinge geboren, aber Anna Rickmann dachte in diesem Augenblick nur an das leblos scheinende kleine Wesen, und sie dachte, wie grausam es für die junge Mutter sein müsse, eines der Zwillinge verloren zu haben.

Von der Angst gepeitscht, ihr dieses zu ersparen, trug sie das Kind in ihr Zimmer, und da war es ihr, als gäbe es einen Laut von sich.

Aber drunten läutete es Sturm, und sie rannte wieder zurück.

So hatte es Anna Rickmann dann aufgezeichnet:

Ich weiß nicht, was in mir vor sich ging. Ich wollte meiner geliebten Freundin Mirja den Schmerz ersparen und dachte nichts anderes. Die Hebamme war gekommen und tat nun alles Weitere. Sie scheuchte mich hinaus, und dann kam auch der Arzt. Ich lief in mein Zimmer, weil niemand mich brauchte. Man sah mich an, als hätte ich das Unglück verursacht. Ich war verzweifelt. Da hörte ich das Kind wimmern, das ich tot geglaubt hatte und das in meinem Bett lag. Ich dachte voller Entsetzen, daß es hätte ersticken können unter der Decke und wollte es nun hinuntertragen. Doch dann dachte ich an die feindseligen Blicke und fürchtete mich. Ich wollte doch nichts Unrechtes tun. Ich wollte nur meiner jungen Chefin, die so gut zu mir gewesen war, noch mehr Leid ersparen.

Dann geschah das Fürchterlichste, Stunden später. Herr von Korten war zurückgekommen, aber seine Frau Mirja starb in seinen Armen.

Er ließ mich rufen und sah mich auch so feindselig an, als wäre ich schuld an allem, und vielleicht war ich schuld, weil ich nicht bei ihr war, als sie die Treppe hinabging.

Er tat mir so entsetzlich leid, denn ich wußte, wie sehr er seine Frau geliebt hatte, aber ich konnte nichts sagen. Meine Lippen waren verschlossen, und in mir war nur Angst und Schmerz.

Wir mußten noch am gleichen Tag den Hof verlassen. Franz begriff es nicht. Er wollte aufbegehren und mich in Schutz nehmen, aber wie konnte er das, da er doch Herrn von Korten begleitet hatte.

Wir gingen, und um nicht alles noch schlimmer zu machen, nahm ich das winzige Wesen mit, dem ich keine Überlebenschance gab. Aber was sollte ich tun? Seine Mutter war tot. Niemand würde mir glauben, daß ich nichts Böses wollte, und wenn das Baby nun starb, würde man mir auch daran die Schuld geben.

Franz war außer sich, als ich ihm alles sagte, aber er hielt zu mir, und ich tat alles, um dieses kleine Leben zu erhalten.

Wir hatten uns etwas erspart. Wir fuhren gleich in die nächste Klinik mit dem Kind und sagten, daß ich das Kind nach einem Unfall zu früh zur Welt gebracht hätte. Sie haben es untersucht, und ich konnte nicht begreifen, daß alles vorüberging, ohne daß jemand mißtrauisch wurde. Das Kind blieb am Leben. Ich wollte, daß es den Namen seiner Mutter bekam. Nun aber war es mein Kind.

Verzeih mir, Mirja, mein geliebtes Kind. Ich konnte Dich nicht mehr hergeben. Wenn mein Gewissen mich fast erdrückte, sagte ich mir immer wieder, daß ihm, Johannes von Korten, ein Kind geblieben sei. Ich konnte nicht viel für Dich tun, aber ich habe Dich geliebt wie eine Mutter.

Es war seltsam, aber Mirja konnte jetzt nichts anderes denken als dies: Daher also die Ähnlichkeit!

Dann weinte sie. Sie weinte um die Frau, die auch jetzt noch für sie ihre Mutter war. Sie weinte, weil sie wußte, wie sehr sie gelitten hatte.

Sie legte den Umschlag in den Schrank zurück und verschloß ihn wieder. Sie war entschlossen, die Wahrheit von sich aus nicht an den Tag zu bringen. Sie wollte Mirja Rickmann bleiben und die Dankbarkeit und Liebe, die sie auch jetzt noch für diese Frau empfand, von niemandem zerstören lassen.

Der Gedanke, daß sie eine Schwester hatte, eine Zwillingsschwester, wurde von den anderen Gedanken verscheucht und von der Müdigkeit, die sie übermannte.

*

Als Mirja Rickmann an diesem Morgen den Wecker läuten hörte, bestiegen Johannes von Korten und seine Tochter Mirja den ICE ›Blauer Enzian‹ nach München.

Eine recht eigentümliche Stimmung herrschte zwischen Vater und Tochter. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, seit sie gegen sechs Uhr den Johannes-Hof verlassen hatten.

Er dachte an eine Frau namens Anna Rickmann, die er am Abend eines schwülen Sommertages vom Johannes-Hof gewiesen hatte.

Er dachte auch jetzt mit tiefem Groll an sie. Mit noch tieferem als zwanzig Jahre zuvor.

Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Er hatte sich alles, jede Kleinigkeit, in die Erinnerung zurückgerufen.

Er hatte vor nun mehr als einundzwanzig Jahren darauf bestanden, daß seine junge Frau sich im vierten Monat der Schwangerschaft auch von einem renommierten Arzt in Hamburg untersuchen ließ, weil er nichts versäumt wissen wollte.

Dieser hatte ihm gesagt, daß es eventuell eine Zwillingsgeburt werden könnte. Der gute alte

Landarzt, der inzwischen längst verstorben war, hatte es augenzwinkernd hingenommen, als er ihm dies unter die Nase rieb.

»Warten wir es doch ab«, hatte er gesagt.

An all dies hatte Johannes von Korten sich in dieser Nacht erinnert. Damals, als er seine tote Frau in den Armen gehalten hatte und vor Kummer fast wahnsinnig war, hatte er daran nicht mehr gedacht. In den Jahren danach, als Mirja, der er auch den Namen der geliebten Frau gegeben hatte, heranwuchs, hatte er alle Gedanken verdrängt, die das Glück, das das Kind ihm gab, trüben konnten.

Doch nun gab es dieses Mädchen, das Mirja Rickmann hieß, und diese Ähnlichkeit kam nicht von ungefähr. Es gab zwei Mädchen, die seiner Frau wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Er fühlte sich um sein zweites Kind betrogen, wie Mirja um ihre Zwillingsschwester betrogen worden war.

Mirja dagegen dachte an Lars. Sie zweifelte nicht daran, daß er nach München geflogen und schon dort war. Sie traute ihm auch zu, daß er ihre Doppelgängerin längst kennengelernt hatte.

Sie versuchte zu scherzen, obgleich ihr nicht danach zumute war. »Du machst ein Gesicht, Pa, als würde man dich aufs Schafott führen.«

»So ist mir auch zumute«, erwiderte er.

»Nur weil es ein Mädchen gibt, das mir ähnlich sieht?«

»Wenn nun dieses Mädchen deine Zwillingsschwester wäre, Mirja?« Er hatte es nicht mehr für sich behalten können.

»Mach doch keine Witze, Papa«, erwiderte sie erschrocken.

»Dann werde ich dir die Geschichte deiner Geburt erzählen«, murmelte er.

Und nun erfuhr Mirja von Korten diese Geschichte aus seiner Sicht.

*

Mit brennenden Augen betrachtete Mirja Rickmann die einzige Fotografie, die sie von ihrer Mutter besaß, bevor sie die Wohnung an diesem Morgen verließ.

»Liebe Mutti«, sagte sie weich, »niemand wird dir deinen Platz in meinem Herzen streitig machen. Vielleicht werde ich später einmal Benedikt alles erzählen, aber sonst erfährt es niemand.«

Wie konnte sie ahnen, daß die Vorsehung es ganz anders bestimmt hatte?

Rolf Hilger hatte den Augenblick abgepaßt, als sie die Tür hinter sich zuschlug. Er eilte ihr nach.

»Frau Rickmann, ich habe mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, sagte er überstürzt. »Ich werde heute Frau Arnold-Mattis aufsuchen. Ich werde Ihnen dann Bericht erstatten… Sie machen sich wohl große Sorgen?« fuhr er dann fort, besorgt ihr blasses Gesicht betrachtend.

»Sieht man es mir schon an?« fragte sie verhalten.

»Sie sind sehr blaß«, stellte er fest.

»Dann werde ich mich mal in Bewegung setzen«, erklärte sie betont heiter. »Bitte, verplappern Sie sich nicht, Herr Hilger.«

»So blöd, wie ich aussehe, bin ich gar nicht«, gab er lächelnd zurück, und das nahm sie ihm jetzt ab.

Sie machte einen Dauerlauf bis zur Klinik und erreichte damit, daß Farbe in ihr Gesicht kam. Aber den wachsamen Augen von Schwester Marie entging es doch nicht, daß Mirjas Augenlider geschwollen waren.

»Sie sind ja ganz schön aus der Puste«, sagte sie. »Verschlafen?«

Mirja nickte, obgleich das nicht der Fall war.

»Dann haben Sie auch noch nicht gefrühstückt?«

Das stimmte allerdings. Dazu hatte sie sich keine Zeit genommen.

Schwester Marie schenkte ihr Kaffee ein. »Ein Brötchen kriegen Sie auch gleich«, sagte sie, doch dann fiel ihr Blick auf den Aktenkoffer, den Mirja krampfhaft in der Hand hielt. »Soll ich den wieder in Ihrem Schreibtisch einschließen?« fragte sie.

Mirja nickte verlegen.

Schwester Marie stellte niemals Fragen, die einen anderen in Verlegenheit bringen konnten. Wortlos wurde der Aktenkoffer verschlossen.

»An den kann niemand heran«, sagte sie. »Aber nun wird gegessen, Mädchen.«

Das hatte ihre Mutter auch immer gesagt. Tränen stürzten aus Mirjas Augen.

Mütterlich legte Schwester Marie den Arm um ihre Schultern. »Es war ein bißchen viel«, sagte sie gutmütig. »Aber denken Sie an den Wahlspruch unseres Chefs: Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her…«

»Ich habe meine Mutter noch nie so sehr vermißt wie jetzt«, schluchzte Mirja. »Mit ihr konnte ich über alles sprechen. Sie hatte immer Zeit für mich. Sie war so gut, Schwester Marie, so unendlich gut.«

»Ja, Mirja, ich verstehe das. Eine Mutter ist unersetzlich. Ich habe meine auch zu früh verloren.«

Welche Worte des Trostes konnte sie da noch sagen? Sie wußte ja nicht, was Mirja so sehr bewegte.

*

An diesem Vormittag erschien Irene Arnold-Mattis wieder in der Klinik. Diesmal gab sie sich ganz dezent. Sie war betont schlicht gekleidet, und ihre Augen waren umschattet.

»Kann ich meinen Schwager heute besuchen?« fragte sie bescheiden an.

Dr. Sternberg konnte nur staunen.

»Bitte, verstehen Sie mich recht, Herr Doktor«, fuhr Irene fort, »ich bin in der Zwischenzeit zu der Überzeugung gekommen, daß ich Benedikt unrecht getan habe. Ich würde die Fronten gern klären, wie man so schön sagt.«

Dr. Sternberg traute ihr nicht, obgleich sie es sehr überzeugend hervorbrachte.

»Es tut mir leid, aber ich kann noch keine Besuche gestatten«, sagte er.

»Aber es würde bestimmt zu seiner schnelleren Genesung beitragen«, sagte sie drängend. »Benedikt hat sehr unter meiner Ungerechtigkeit gelitten. Ich weiß das.«

»Das mag ja sein«, meinte Dr. Sternberg ausweichend, »aber bisher ist er noch nicht ansprechbar.«

»Aber Mirja darf doch zu ihm?« fragte sie ins Blaue hinein.

»Nur in beruflicher Eigenschaft«, erwiderte er vorsichtig, denn er wußte nicht, wie weit sie bereits informiert war.

Dr. Sternberg saß wie auf Kohlen. Zum Donnerwetter, konnte ihn denn nicht jemand mal von dieser Frau befreien?

Sein Stoßseufzer wurde erhört. Er wurde dringend zu einem Patienten gerufen, und wieder einmal sah Irene sich schnell verabschiedet. Doch diesmal räumte sie das Feld nicht so rasch. Sie blickte sich auf dem Gang um. Kein Arzt war zu sehen. Eine junge Schwester kam aus einem Zimmer. Auf die ging sie zu.

»Ich bin Frau Arnold«, sagte sie freundlich. »Ich wollte schnell einmal zu meinem Schwager hineinschauen, aber jetzt kann ich das Zimmer nicht finden.«

»Hat der Chefarzt es denn erlaubt?« fragte die junge Schwester.

»Natürlich. Ich habe eben mit ihm gesprochen«, erwiderte Irene.

»Den Seitengang rechts, erste Tür links«, sagte die Schwester schnell und eilte weiter. Auch Irene hatte es sehr eilig, aber ihr Impuls, alles auf eine Karte setzen zu wollen, sollte sich als ein Schlag ins Wasser erweisen. Mirja war kurz zuvor zu Benedikt gekommen, der heute schon in einem verblüffend guten Zustand war.

Er sah Irene früher eintreten als Mirja, die der Tür den Rücken zukehrte und mit einem solchen Besuch wahrhaftig nicht rechnete.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde war Benedikt verblüfft, dann sagte er sehr bestimmt: »Verschwinde! Ich werde dir nicht den Gefallen tun, das Zeitliche zu segnen. Du wirst mit mir rechnen müssen.«

»Willst du mich nicht erst anhören, Benedikt?« fragte Irene erregt.

»Nein.« Und schon drückte er auf die Klingel.

Die junge Schwester, die Irene eben die Auskunft gegeben hatte, kam herbeigeeilt und mußte nun einen Vorwurf einstecken.

»Aber die Dame sagte doch, daß Dr. Sternberg den Besuch gestattet hätte.«

»Sie ist eine notorische Lügnerin«, erklärte er grimmig.

Deutlicher konnte er nicht sein, und zum ersten Mal spürte Mirja, daß ein gesunder Benedikt Arnold sehr energisch sein konnte.

»Habe ich dich erschreckt, Liebes?« fragte er, nun wieder mit weicher Stimme. »Sie versteht keine andere Sprache.«

»Bitte, reg dich nicht auf, Benedikt«, sagte Mirja fürsorglich.

»Ich rege mich nicht auf. Wenn du bei mir bist, kann mich nichts erschüttern. Ich kann den Tag kaum noch erwarten, an dem ich dich ganz und für immer haben werde. Wir werden nach Lugano gehen und ganz allein sein. Willst du?«

»Ich will alles, was du willst«, sagte sie voller Zärtlichkeit.

*

Leon Laurin fiel ein, daß er Mirja ausrichten mußte, daß der Bruder seines Schwagers, Dr. Friedrich Brink, sie um zwei Uhr erwartete.

»Kann ich denn schon wieder weg?« fragte Mirja.

Er lächelte. »Sie haben so viele Überstunden gut. Da wollen wir mal nicht kleinlich sein.«

Nach ihrer Unterredung mit Dr. Brink wußte Mirja noch einiges mehr über Benedikt.

Das Flugzeug, mit dem das Unglück heraufbeschworen wurde, gehörte einem Geschäftspartner von Benedikt. Jürgen, der seinen Stiefbruder nach Australien begleitet hatte, lieh es sich aus, und es war nicht verabredet gewesen, daß Benedikt mit nach Adelaide fliegen sollte. Jürgen und der Chefingenieur der Arnold-Werke, Fred Haldegg, wollten allein fliegen, doch im letzten Augenblick hatte es sich Benedikt überlegt, weil er die Nachricht bekommen hatte, daß die geplante Fusion sich äußerst kompliziert gestaltete. Zudem hatte er auch zufällig einen nicht vollendeten Brief von Jürgen befunden, der an Irene gerichtet war und in dem er schrieb, daß er nun wüßte, daß sie ein Verhältnis mit Haldegg hätte.

Mirja mußte über manches nachdenken, als sie Benedikt nun noch einmal schnell besuchte.

»Warum bist du doch mitgeflogen, Benedikt?« fragte sie ihn.

»Jürgen war in Weltuntergangsstimmung. Ich wollte ihn davor bewahren, etwas Unüberlegtes zu tun, denn daß er etwas vorhatte, merkte ich daran, daß er mich anflehte, in Canberra zu bleiben. Ich hatte doch keine Ahnung, daß er an der Maschine herummanipuliert hatte. Daß zwischen Haldegg und Irene etwas war, vermutete ich schon länger, aber darüber machte ich mir keine allzu großen Gedanken. Er war nicht ihr einziger Liebhaber. Jürgen war blind. Er war viel zu jung und harmlos. Ich habe ihn gern gehabt, Mirja. Jürgen wollte mich nicht vernichten. Er wollte sich, aber gleichzeitig auch Haldegg umbringen, das ist mir klar. Haldegg weiß das wohl sehr genau.«

»Aber Irene auch«, sagte Mirja leise, und dann erzählte sie ihm von Rolf Hilgers Beobachtungen.

Benedikt überlegte nur kurz. »Dein Nachbar scheint ja ein recht cleverer junger Mann zu sein«, bemerkte er, »aber wenn er sich zutraut, Irene auf die Schliche zu kommen, soll er es doch versuchen. Ich werde ihn mir dann mal anschauen, ob er im Beruf auch so tüchtig ist. Jetzt lohnt es sich für mich zu kämpfen. Weil es dich gibt«, fügte er zärtlich hinzu.

*

Gegen drei Uhr waren Johannes von Korten und seine Tochter in München eingetroffen. Beide waren sie in einer eigentümlichen Stimmung. Mirja überdachte alles, was ihr Vater ihr erzählt hatte. Es war eine Geschichte, die ein junges, verwöhntes Mädchen wie sie schon erschrecken konnte. Es war gar nicht so einfach, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, plötzlich eine Zwillingsschwester zu haben, und ihr Vater schien zudem fest entschlossen zu sein, ohne Rücksicht auf Anna Rickmann, den Kampf um diese zweite Tochter aufzunehmen. Er wußte ja nicht, daß Anna Rickmann nicht mehr lebte.

Er gönnte sich nicht einmal eine kurze Ruhepause. »Du wirst im Hotel auf mich warten«, sagte er zu Mirja und verschwand, bevor sie widersprechen konnte.

Aber sie hatte keine Neigung, hier zu sitzen und zu grübeln. Aus einem Telefonbuch suchte sie sich die Adresse der Prof.-Kayser-Klinik heraus, ging zum Taxistand und gab die Adresse an. Es war jetzt kurz vor vier Uhr nachmittags.

Die andere Mirja ging währenddessen wieder ihrer Arbeit nach, gewissenhaft, wie sie es gewohnt war. Sie dachte weder an Dr. Lundgren noch an etwas anderes, und so fiel sie aus allen Wolken, als plötzlich Schwester Otti angestürzt kam und sie anstarrte, als wäre sie ein Geist.

»Was ist denn?« fragte Mirja erschrocken, denn unwillkürlich mußte sie an Benedikt denken.

»Da ist jemand. Eine junge Frau«, stammelte Schwester Otti verwirrt. »Sie sieht genauso aus wie Sie, Mirja. Sie spricht mit Dr. Laurin, und der ist auch ganz schön verblüfft.«

Gestern noch hätte Mirja diese Nachricht mit Humor aufgenommen, heute war das anders. Sie fühlte, daß ihr Leben an einem Wendepunkt stand und daß ihre Gefühle für ihre Mutter einer Bewährungsprobe ausgesetzt wurden. Sie hatte Angst.

*

Alles, was Mirja von Korten gedacht und empfunden hatte, bevor sie der anderen Mirja Auge in Auge gegenüberstand, war ausgelöscht, als diese eintrat. Sie sah nicht nur ihr Ebenbild, sie sah ihr zweites Ich, und sie dachte in diesem Augenblick, daß sie willkürlich von einer fremden Frau um Jahre ihres Lebens mit ihrer Schwester betrogen worden war. Aus egoistischen Motiven, wie auch ihr Vater meinte.

Mirja Rickmanns Empfindungen waren ganz anderer Natur. Natürlich war es auch für sie ein einschneidendes Erlebnis, aber sie wußte ja, wie es dazu gekommen war, daß sie unter ganz anderen Bedingungen aufwuchs, und bei ihr herrschte die Angst vor, daß das Andenken ihrer Mutter in den Staub getreten würde.

Dr. Laurin ging zur Tür. Für ihn war der Augenblick da, sich überflüssig zu fühlen.

Mirja von Korten verlor die Fassung, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Mit tränenblinden Augen taumelte sie auf Mirja Rickmann zu.

»Du bist meine Zwillingsschwester«, stammelte sie.

»Ja, ich weiß es seit gestern«, erwiderte die andere Mirja tonlos. Aber sie konnte sich der innigen Umarmung nicht entziehen.

»Es ist so ungerecht«, schluchzte Mirja von Korten auf.

»Bitte, sage nichts gegen meine Mutter«, flüsterte Mirja Rickmann. »Kein Wort – ich könnte es nicht ertragen. Du mußt alles wissen, bevor du von Ungerechtigkeiten sprichst.«

»Aber Vater ist auch hier, und ich glaube, daß er jetzt schon zu Frau Rickmann gefahren ist.«

»Er wird sie nicht finden. Kein Vorwurf kann sie mehr erreichen und kränken. Sie ist vor einem halben Jahr gestorben.«

»Davon hat Dr. Rasmus mir nichts erzählt. Durch wen hast du die Wahrheit erfahren?«

»Durch ihre Aufzeichnungen. Dies alles ist sehr seltsam. Wir gleichen uns sehr, aber doch trennen uns Welten, empfindest du das nicht?«

»Nein, ich will es nicht. Es ist nur so verwirrend, daß wir beide den gleichen Vornamen haben. Das wenigstens hätte uns erspart bleiben sollen.«

»Ich betrachte es so, daß er uns von Menschen gegeben wurde, die unsere gemeinsame Mutter sehr lieb hatten«, sagte Mirja Rickmann leise. »Du hast einen Vater gehabt, der dich liebte, und ich eine Mutter, die ich über den Tod hinaus liebe. Sie war ein guter Mensch. Was vor mehr als zwanzig Jahren geschah, das soll vergeben und vergessen sein. Ihr Herz war voller Güte.«

»Das sagst du, obgleich sie dich um eine sorglose Jugend gebracht hat? Pa wird ihr das nie verzeihen.«

Ein nachdenklicher Blick traf sie. »Du hast sie nicht gekannt, und wir haben unsere gemeinsame Mutter nicht kennengelernt. Dein Vater soll erst Mutters Aufzeichnungen lesen, bevor er urteilt.«

»Es ist unser Vater, Mirja.«

»Nein, es ist dein Vater, und für mich ist er noch ein Mann, der eine Frau, die nur einer anderen nicht noch mehr Schmerz zufügen wollte, aus dem Hause gejagt hat. Vielleicht sehe ich es einseitig, aber ich habe Anna Rickmanns Leben zwanzig Jahre geteilt, und sie hat sich nichts gegönnt, damit ich nichts entbehren sollte. Niemand kann es verstehen. Ich glaube nicht, daß ich Vater das bedeuten könnte, was du ihm bedeutest. Aber in deinem wie in meinem Leben gibt es einen anderen Mann, der künftig unser Leben bestimmen wird. Unsere Wege würden sich jetzt auch trennen, wenn wir gemeinsam aufgewachsen wären.«

»Lars hat schon mit dir gesprochen?«

»Ja, aber er weiß die Wahrheit noch nicht. Er liebt dich. Wärest du dennoch bei deinem Vater geblieben?«

»Wenn man heiraten will, muß man eine Entscheidung treffen«, sagte Mirja von Korten verhalten. »Aber wie kannst du so sprechen? Wir sind Zwillinge, wir müssen uns doch auch sonst ähnlich sein in allem.«

Mirja Rickmann überlegte einen Augenblick. »Schau, Mirja, wir haben einundzwanzig Jahre nichts voneinander gewußt. Es schließt nicht aus, daß ich dich nun trotzdem sehr lieb haben werde«, schloß sie leise. »Ich habe auch gleich eine Bitte an dich. Sprichst du mit Vater? Bittest du ihn, erst zu urteilen, wenn er die ganze Wahrheit weiß? Ich werde dir Mutters Aufzeichnungen geben. Ich habe sie hier. Weiß der Himmel, warum ich sie mitgenommen habe, aber augenblicklich habe ich noch mehr Sorgen.«

»Kann ich dir helfen?« fragte Mirja von Korten.

»Nein.« Sie lächelte flüchtig. »Selbst Zwillinge müssen eines Tages ihre Entscheidungen allein treffen. Übrigens finde ich, daß du viel hübscher bist als ich.«

»Nein, du bist hübscher«, kam sofort ein Protest. »Und bestimmt bist du auch viel gescheiter.«

»Pst«, machte Mirja Rickmann, »wir werden doch nicht gleich Meinungsverschiedenheiten haben.«

»Wer von uns beiden ist eigentlich zuerst zur Welt gekommen?« fragte Mirja von Korten.

»Ich«, erwiderte Mirja Rickmann verhalten.

»Dann nenne ich dich Mia und ich bin Jana.«

Darauf gaben sie sich einen ersten schwesterlichen Kuß.

*

Johannes von Korten hielt schon Ausschau nach seiner Tochter. »Ich habe nichts erreicht«, sagte er niedergeschlagen. »Es war niemand im Haus.«

Mirja nahm sich zusammen. »Anna Rickmann ist vor einem halben Jahr gestorben. Ich habe mit Mia gesprochen.«

»Mia?« fragte er gedankenvoll.

»Da wir nun mal beide Mirja heißen, habe ich beschlossen, daß ich Mia zu ihr sage und sie Jana zu mir. Bevor du etwas gegen Anna Rickmann sagst, lies das hier bitte. Mia hat es mir gegeben. Sie kennt die Zusammenhänge auch erst seit gestern. Lars war übrigens schon bei ihr.«

»Ich brauche mich also nur noch mit den Tatsachen abzufinden?« fragte er gepreßt.

»Du wirst es müssen, denn Mia hat einundzwanzig Jahre eine Mutter gehabt, die es anscheinend wert war, geliebt zu werden. Ich lasse dich jetzt allein, Pa. Es hat keinen Sinn, wenn du dich weiterhin deinem Groll hingibst.«

Sie wirkte plötzlich reifer und erwachsener. Johannes von Korten warf ihr einen staunenden Blick zu.

»Hast du Lars getroffen?« fragte er.

»Nein, aber er wird schon erfahren, wo wir wohnen. Er wollte gegen fünf Uhr in der Prof.-Kayser-Klinik sein.«

»Warum hast du nicht auf ihn gewartet?«

»Weil ich dachte, daß es jetzt wichtiger für dich ist, wenn du erfährst, wie sich alles zugetragen hat.«

»Will Mirja – ich meine Mia, mich nicht sehen?«

»Die Entscheidung liegt bei dir. Sie wird nicht dulden, daß ein Wort des Vorwurfs gegen ihre Mutter gesagt wird.«

Sie schloß schnell die Tür hinter sich, bevor er noch etwas sagen konnte.

*

Um die gleiche Zeit stand Rolf Hilger vor dem prachtvollen Anwesen, an dessen Tür der Name Arnold stand. Mit gemischten Gefühlen ging er den Weg zum Haus.

Er hatte Irene zuvor angerufen, und sie hatte darauf nahezu euphorisch reagiert.

Allerdings wirkte sie nun, da sie ihn empfing, merkwürdig unruhig, wenngleich sie eine hektische Betriebsamkeit entfaltete und so tat, als wäre er ihr bester Freund.

Er hatte kaum ein paar Worte gesprochen und ließ sich eben in einem der riesigen Sessel nieder, als Fred Haldegg eintrat.

Er war auch diesmal nicht nüchtern. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er Rolf Hilger an, und dieser sah sich schon durchschaut, denn er war Haldegg kein Unbekannter.

»Du machst schon wieder einen Fehler, Irene«, sagte Fred Haldegg mit schwerer Stimme, »und du wirst immer mehr Fehler machen, wenn nicht endlich Schluß ist mit diesem Theater. Dieser Mann ist als Ingenieur in den Arnold-Werken beschäftigt. Jetzt ist endgültig Schluß. Ich spiele nicht mehr mit.«

Irenes Reaktion war ein hysterischer Ausbruch. Er war fürchterlich, und Rolf Hilger war schon aufgesprungen, bevor sie wie eine Raubkatze mit erhobenen Händen auf ihn zuschoß.

Fred Haldegg hielt sie fest, bevor sie sich auf ihn stürzen konnte.

»Verschwinden Sie«, zischte Fred Haldegg, »und vergessen Sie, daß Sie ihr begegnet sind. Ich wollte, ich könnte es auch vergessen.«

*

Eine Stunde später läutete es an Mirja Rickmanns Tür. Sie war gerade nach Hause gekommen.

»Ach, Herr Hilger«, sagte sie verlegen. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, daß es ihn auch noch gab, nachdem Lars Lundgren in der Klinik erschienen war.

»Ich wollte Ihnen doch Bericht erstatten«, sagte Rolf Hilger, der trotz Herumlaufens das Erlebte noch nicht ganz bewältigt hatte.

»Sie waren bei Frau Arnold-Mattis?« überbrückte Mirja das Schweigen.

Er nickte und schilderte ihr stockend, was sich dort zugetragen hatte, aber bevor er noch zu Ende kam, schrillte die Türglocke.

»Es kommt Besuch für mich«, flüsterte Mirja. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Hilger. Wenn es Herrn Arnold bessergeht, wird er noch mit Ihnen darüber sprechen.«

Sie drückte auf den Türöffner. Schritte wurden vernehmbar. Mit einer höflichen Verbeugung zog sich Rolf Hilger zurück, ohne einen Blick zur Treppe zu werfen, auf der nun Johannes von Korten emporstieg. Auf dem letzten Treppenabsatz verhielt er den Schritt und umfaßte Mirja mit einem langen Blick. Tiefste Erschütterung drückte sich in seinem Mienenspiel aus, als er langsam auf sie zutrat. Mit hängenden Armen stand Mirja da, und auch sie sah ihn unverwandt an.

»Mein Kind«, sagte er mit erstickter Stimme. Er ergriff ihre Hände und zog sie an sich. Ganz behutsam legten sich seine Arme um sie.

Tränen rannen über ihr Gesicht und vermischten sich mit seinen, als sich Wange an Wange preßte.

»Vater«, flüsterte Mirja.

*

Obgleich Dr. Peter Rasmus gewaltige Sehnsucht nach Frau und Kind hatte, fuhr er vom Flugplatz doch zuerst zur Prof.-Kayser-Klinik. Er traf Dr. Laurin gerade noch an und wurde mit einem erheiterten Lächeln begrüßt.

»Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen«, lachte Dr. Laurin, als Peter Rasmus verlegen nach Worten suchte.

»Es tut mir leid, wenn es einen Wirbel gegeben hat«, sagte Dr. Rasmus. »Ich hätte es besser für mich behalten sollen.«

»Was?«

»Die Geschichte mit der zweiten Mirja. Sie denken wahrscheinlich auch, daß ich spinne.«

»Ganz im Gegenteil. Wenn dieser Kongreß für sonst nichts gut war, die Zwillinge sind auf diese Weise endlich vereint worden, lieber Peter.«

Peter Rasmus hatte den Stein ins Rollen gebracht, doch nun erntete er Dank dafür von glücklichen Menschen.

Auch Benedikt hatte sich damit abgefunden, daß es noch eine zweite Mirja gab. Für ihn gab es keinen Zweifel, welche die richtige für ihn war. Er brauchte nur in ihre Augen zu sehen. Für ihn wurde die Welt von Tag zu Tag schöner. Er ging der Genesung entgegen, einem Leben zu zweit, das ohne Schatten sein sollte.

Irene hatte die Waffen gestreckt und war auf Reisen gegangen. Zurückkehren an die Stätte ihrer Niederlage würde sie nicht mehr, aber sie hatte alles so raffiniert eingefädelt, daß ihr die Hintertür zum Rückzug offengeblieben war. Niemand hätte ihr beweisen können, daß sie aus Habgier gehandelt hatte. Fred Haldegg hütete sich, solches zuzugeben, um sich selbst noch einen einigermaßen guten Abgang zu verschaffen.

Benedikt war nicht daran interessiert, diese böse Affäre aufzubauschen. Er war dankbar, daß ihm das Leben noch einmal geschenkt worden war. Das Wunder war durch seine Mirja geschehen. Mit ihr und für sie wollte er leben.

Daß auch Dr. Laurin Dank gebührte, vergaß er nicht. Schließlich war er der Engel gewesen, der Mirja die Konzertkarte in die Hand spielte, mit der alles begann.

*

Sechs Wochen später wurde auf dem Johannes-Hof Doppelhochzeit gefeiert. Diese Bitte hatte Benedikt seinem Schwiegervater nicht abschlagen können. Kurz war das Glück für ihn gewesen, seine beiden Töchter vereint zu sehen. Nun folgten sie den Männern, denen ihre Herzen gehörten, aber auch für ihn würde ein Platz in ihren Herzen bleiben, und so oft es nur möglich war, wollten sie sich hier treffen.

Welche von ihnen die schönere Braut war, konnte man wirklich nicht sagen. Für Benedikt war es natürlich Mia, für Lars war es

Jana.

Im engsten Kreise wurde dieser große Tag gefeiert. Sie hatten es so gewollt, in der Erinnerung an die Mutter, die ihnen das Leben gab und ihres dafür lassen mußte, und in der Erinnerung an jene Frau, die in der Verwirrung der Stunde eine Entscheidung traf, die Johannes von Korten ihr nun verziehen hatte.

»Dreimal Mirja«, sagte Johannes von Korten gedankenvoll, als sie vor dem Gemälde standen, das die schöne junge Frau darstellte, der die beiden Mädchen so ähnlich waren.

Sie wollten daran nichts ändern. Einundzwanzig Jahre trugen sie nun schon beide diesen Namen, jetzt würde die eine Arnold heißen und die andere Lundgren.

»Und du, Pa, suchst dir jetzt eine Frau, damit der Name Korten vielleicht doch noch weiter besteht«, sagte Jana. »Mit sechsundvierzig Jahren bist du dazu wahrhaftig nicht zu alt.«

»Jetzt, wo ich bald Großvater werde?« meinte er lächelnd.

»Es hätte ja auch schon früher sein können«, bemerkte Jana, während Mia sich der Stimme lieber enthielt.

»Nun höre sich das einer an«, brummelte er. »Aber es kommt alles so, wie es bestimmt ist. Vielleicht wird es mir jetzt wirklich zu einsam.«

Doch die leise Wehmut schwand schnell aus seinen Augen, als er von seinen schönen Töchtern umarmt wurde.

»Und wenn wir nun beide auch Zwillinge bekommen?« fragte Jana plötzlich, während Benedikt und Mia noch immer in ihrer Umarmung verharrten.

»Dann nur in der Prof.-Kayser-Klinik«, meinte Benedikt.

»Und wenn bis dahin meine Klinik eröffnet ist?« fragte Lars.

»Dann mußt du aber bald mit dem Bau beginnen«, erwiderte Benedikt schlagfertig.

Dr. Laurin Staffel 3 – Arztroman

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