Читать книгу Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12
Оглавление»Der arme Kerl schafft es kaum noch, die Knöpfe an seiner Hose zu schließen. Haare kämmen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit!« Als Felicitas Norden von den Beschwerden ihres jungen Patienten berichtete, wurde ihr das Herz schwer. »Es fällt Kevin schwer, sich an- und auszuziehen, und seine Hände und Beine fühlen sich taub an.«
Dr. Daniel Norden saß seiner Frau am Tisch des Cafés ›Schöne Aussichten‹ gegenüber, wo sie sich in ihrer Mittagspause getroffen hatten. Während des Essens – sie hatten sich Flammkuchen und Gemüsequiche schmecken lassen – hatten sie über dies und das geplaudert. Doch jetzt konnte Fee mit ihren Sorgen nicht länger hinter dem Berg halten.
»Wie lange ist der Junge jetzt schon bei euch in der Klinik?«, erkundigte sich Daniel und nippte an seinem Kaffee.
»Seit zwei Tagen. Er hat mit seiner Mutter Urlaub in Indien gemacht und sich dort laut Meinung eines Kollegen eine Typhus-Infektion eingefangen. Als sich sein Zustand nicht gebessert hat, hat er Kevin in die Klinik eingeliefert.«
»Der Junge war nicht geimpft?« Um seiner Missbilligung Ausdruck zu verleihen, zog Dr. Norden eine Augenbraue hoch.
»Nein. Und keine Sorge, ich halte das für ebenso verantwortungslos wie du. Aber leider können wir das jetzt nicht mehr ändern.«
»Zumal ich nicht dran glauben kann, dass es sich wirklich um Typhus handelt«, gab Daniel zu bedenken. »Wenn es Kevin trotz Antibiotika nicht besser geht, muss was anderes dahinter stecken.«
»Das versuche ich Lammers ja auch klarzumachen«, klagte Fee ihr Leid über den ungeliebten Kollegen. »Aber er lacht mich nur aus und meint, ich wäre zu ungeduldig und würde dem Jungen keine Chance zur Genesung geben. Eine typisch weibliche Eigenschaft.« Der Ärger trieb ihr das Blut in die Wangen. In diesem Moment sah sie so jung aus wie damals, als Daniel sich in sie verliebt hatte, und schlagartig war das Gefühl von damals wieder da.
»Hat er das gesagt?«, fragte Daniel, und ein Lächeln spielte um seinen Mund.
»Sag bloß, du findest das lustig?«
Unmöglich für Dr. Norden, seiner Frau in diesem Moment seine Liebe zu gestehen. Deshalb musste er sich wohl oder übel schnell eine Antwort einfallen lassen.
»Ich finde es lustig, dass du dich von solchen Bemerkungen irritieren lässt.«
»Tue ich gar nicht«, verteidigte Fee sich. »Aber weißt du, wie es sich anfühlt, wenn deine Arbeit ständig kritisiert wird? Wenn du dich ständig mit Widerspruch und Querulantentum herumschlagen musst, statt Unterstützung zu erfahren?«, machte sie ihrem Ärger über den Kollegen, der so eifrig an ihrem Stuhl sägte, Luft. »Ich möchte meine Kraft darauf verwenden, mich um meine Patienten zu kümmern, und nicht darauf, mich mit meinem Kollegen herumzustreiten und meine Diagnosen zu verteidigen.« Sie war so aufgebracht, dass sie ganz vergaß, ihren Kaffee zu trinken.
Als Tatjana Bohde, die Chefin der Bäckerei mit dem angeschlossenen Café und Freundin von Danny Norden, zum Kassieren kam, war er kalt.
»O je, hat Marla wieder mal ihre Herzinfarktmischung serviert oder warum hast du ihn nicht getrunken?«, erkundigte sich Tatjana bei ihrer Schwiegermutter in spe.
»Wie bitte? Was?« Felicitas war sichtlich verwirrt und wusste im ersten Moment nicht, wovon Tatjana sprach.
»Der Kaffee … was ist los mit dir? Du bist in letzter Zeit so zerstreut«, sagte sie Fee auf den Kopf zu, während sie das Wechselgeld abzählte.
»Der Kaffee war gut«, beeilte sich die stellvertretende Chefin der Pädiatrie zu versichern. »Aber mein Kollege ärgert mich mal wieder.«
»Passiert ein bisschen oft in letzter Zeit«, erinnerte sich Tatjana an Fees abendliche Erzählungen. »Warum hält Jenny so stoisch an ihm fest, wenn er nur Unruhe in die Klinik bringt?«, stellte sie eine berechtigte Frage, die so oder anders schon öfter gefallen war.
»Ganz einfach: Weil er diese Kommentare nur loswird, wenn wir allein sind«, hatte Felicitas eine einfache Erklärung. »Kaum sind ein paar Kollegen anwesend«, Fee schnippte mit den Fingern wie ein Zauberer, »und schwupps, ist er die Liebe in Person. Kein Mensch glaubt mir, dass er so gemein sein kann.« Fee seufzte. »Mal abgesehen davon, dass er fachlich wirklich sehr gut ist. Er führt Operationen erfolgreich durch, an die wagen andere noch nicht einmal zu denken.«
»Klingt ja irgendwie psychopathisch.« Tatjana dachte nicht daran, aus ihren Gedanken ein Geheimnis zu machen.
»Oder einfach nur sehr manipulativ«, gab Daniel zu bedenken und griff über den Tisch nach der Hand seiner Frau, um durch diese Geste seine Solidarität und Liebe zu bekunden.
»Schade, dass man den Leuten nicht hinter die Stirn schauen kann«, seufzte die Bäckerin und griff nach Fees Tasse. »Soll ich dir einen neuen bringen?«
»Nein, danke.« Die Ärztin sah auf die Uhr. »Es wird Zeit, dass ich wieder in die Klinik fahre. Zu lange will ich Lammers dort nicht unbeaufsichtigt lassen.«
»Was ist mit Mario?«, erkundigte sich Daniel nach seinem Schwager, der die Leitung der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik innehatte.
»Jenny ist heute früh auf eine Vortragsreise in die USA aufgebrochen.«
»Ach, richtig«, erinnerte sich Daniel und stand auf, um seiner Frau in die Jacke zu helfen. »Und Mario hat mal wieder das Vergnügen, sie zu vertreten.«
Fee nickte, dankbar dafür, zumindest kurz an etwas anderes denken zu können.
»Vergnügen trifft es ziemlich gut! Nach den Ereignissen vom letzten Mal ist er recht skeptisch«, erwiderte sie und musste an die Miene denken, die Mario nach der Besprechung mit der Klinikchefin zur Schau gestellt hatte.
»Wenn ihr auch absichtlich Blutkonserven vertauscht, um seine Belastbarkeit auf die Probe zu stellen…«, schmunzelte Daniel.
Inzwischen konnte auch seine Frau über diese Ereignisse lachen. Damals allerdings war es gar nicht lustig gewesen, und um ein Haar hätte Jenny Behnisch aus dem Urlaub zurückkommen müssen. Zum Glück war aber auch diese Geschichte gut ausgegangen, und inzwischen war Gras darüber gewachsen.
Die Erinnerung an den kleinen Leon stimmte Fee positiv, dass sie Volker Lammers weiterhin in Schach halten konnte. Irgendwann würde er aufgeben und sich zu einer Zusammenarbeit entschließen. Das war ihre heimliche Hoffnung, als sie sich von Tatjana verabschiedete und gemeinsam mit ihrem Mann vor das Café trat.
»Bis heute Abend, Feelein.« Daniel küsste seine Frau vor der Tür und strich ihr eine Strähne ihres weizenblonden Haares aus dem Gesicht. »Lass dich nicht unterkriegen. Und denk dran: Ich liebe dich.«
»Ehrlich gesagt wüsste ich gar nicht, ob ich diesen Unsinn ohne dich überhaupt durchstehen würde.«
»Das siehst du falsch«, korrigierte er sie. »Ohne mich wärst du gar nicht dort, würdest ein herrlich ruhiges Leben an der Seite eines langweiligen Mannes führen und die Welt der Halbgötter in Weiß nur aus dem Fernsehen kennen.«
Über diese Vorstellung konnte Felicitas nur lachen.
»Da ist mir die Wirklichkeit doch tausend Mal lieber!«« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Mann zu küssen. »Übrigens liebe ich dich auch, Halbgott in Weiß«, raunte sie ihm noch zu, ehe sie sich endgültig abwendete und leichtfüßig davonging.
Auf dem Weg zum Wagen klingelte das Handy in ihrer Handtasche, und sie nestelte es heraus. Daniel sah noch, wie sie das Haar in den Nacken warf und das Telefon ans Ohr hielt. Dann bog sie um die Ecke und war seinem Blick entschwunden.
*
An diesem Tag begann die Tortenkünstlerin Marianne Hasselt ihre Arbeit in der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ erst am frühen Nachmittag. Ihr Freund Mario Cornelius hatte Spätschicht, und so nutzte sie die Gelegenheit, ihn in die Klinik zu fahren. Da sich das Paar wie so oft nicht trennen konnte, parkte sie den Wagen vor der Klinik und brachte Mario bis zum Eingang.
»Diesmal musst du dich gleich durchsetzen und den Leuten zeigen, wo es langgeht, damit es nicht wieder zu solchen Situationen wie beim letzten Mal kommt«, erklärte sie ihm im Plauderton, und hängte sich bei ihm ein.
»Kannst du bitte endlich damit aufhören.« Mario verdrehte die Augen. Es war nicht zu überhören, dass er der Mahnungen allmählich überdrüssig war.
»Komm schon, das ist doch nicht so schlimm. Jeder von uns braucht hin und wieder einen Schubs in die richtige Richtung«, versuchte Marianne, ihren Freund zu beschwichtigen. »Und wenn du gleich klare Ansagen machst, versucht erst gar keiner, dir auf der Nase rumzutanzen.«
»Bitte Marie, hör auf damit, ja?« Mario war der Verzweiflung nahe. »Nur weil ich Jenny vertrete, bin ich noch lange nicht Chef.«
»Hallo, Chef!«, ertönte in diesem Augenblick eine Stimme von hinten.
Marianne wollte sich ausschütten vor Lachen, während sich Mario zu Jennys Assistentin Andrea Sander umdrehte. Sie waren vor dem Eingang der Klinik angekommen. Andrea blieb vor dem Kinderarzt und seiner Freundin stehen und sah ihn erwartungsvoll an.
»Wenn ihr alle schon ein Machtwort von mir hören wollt, will ich euch nicht enttäuschen«, kündigte er an. »Meine erste Amtshandlung wird sein, dass jeder, der mich Chef nennt, zehn Euro in die Kaffeekasse zahlen muss«, verkündete Mario mit großer Geste.
Sowohl Andrea als auch Marianne hatten mit einer schwerwiegenden Ankündigung gerechnet und mussten sich zurückhalten, um nicht laut loszulachen.
»So ist es recht! Sie müssen sich gleich Autorität verschaffen«, scherzte Andrea Sander und zwinkerte Mario zu.
»Jawohl! Zeig den Leuten, wo der Hammer hängt!«, feuerte Marianne mit nicht zu überhörender Ironie an.
»Nehmt mich nur auf den Arm!«, schimpfte Mario. »Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.« Glücklicherweise hatte er seine Schwester Fee entdeckt, die nach ihrer Mittagspause auf die Klinik zueilte, und winkte ihr zu.
»Hey, Fee, komm und rette mich vor diesen niederträchtigen Weibsbildern!«, rief er theatralisch.
»Aber als Chef wirst du dich doch hoffentlich selbst deiner Haut wehren können«, bemerkte Fee, als sie sich zu den dreien gesellte.
Marianne und Andrea lachten, ehe sich die Tortenkünstlerin verabschiedete. Es wurde Zeit, in die Bäckerei zu fahren, und auch Andrea Sander machte sich auf den Weg in ihr Büro. Mario und Fee blieben zurück, und er sah seine Schwester aus schmalen Augen an. »Ich bekomme zehn Euro von dir«, erklärte er ihr auf dem Weg in die Klinik.
Felicitas wunderte sich.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du mir Geld geliehen hättest.«
»Jeder, der mich Chef nennt, muss zehn Euro in die Kaffeekasse zahlen«, erklärte er ihr, und auch um Fees Mundwinkel begann es verdächtig zu zucken.
»Das sind ja drakonische Maßnahmen. Da kann sich Jenny eine Scheibe von dir abschneiden.«
»Lach du nur auch über mich!«, beschwerte sich ihr Bruder, und fast sofort wurde sie ernst.
»Ehrlich gesagt ist mir gar nicht zum Lachen zumute«, gestand Fee und grüßte eine Schwester, die ihnen entgegen kam.
»Was ist passiert?«, fragte Mario, als Schwester Anita an ihnen vorbei gehuscht war. »Ist dir Lammers schon wieder in die Parade gefahren?«
»Noch nicht. Aber er will nicht wahrhaben, dass Kevin Trostmann keinen Typhus hat. Es muss was anderes hinter dieser seltsamen Schwäche stecken. Aber ich werde ihn schon noch davon überzeugen, dass er mich unterstützt. Oder mich wenigstens meine Arbeit tun lässt, ohne mich ständig zu kritisieren.« Felicitas wunderte sich selbst über ihren neu erwachten Kampfgeist. Mit Sicherheit war dafür Daniel verantwortlich, und sie dankte ihm im Stillen für seine aufmunternden Worte.
»Was ist es dann, was dich bedrückt?«, erkundigte sich Mario, blieb vor einer Glastür stehen und ließ seiner Schwester den Vortritt, nachdem sie sich vor ihnen geöffnet hatten.
»Bedrückt ist das falsche Wort«, rückte Fee zögernd mit der Wahrheit heraus. »Ich habe vorhin einen Anruf bekommen, der mich nachdenklich macht.«
»Bitte, Schwesterherz, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Sonst ist meine Schicht vorbei, bis du zu Ende erzählt hast«, drohte Mario und bat sie in sein Büro. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und warf einen Blick auf seinen Terminkalender, während Fee vor ihm stehen blieb.
»Erinnerst du dich an Carla Hansen?«, fragte sie.
Mario hob den Kopf und sah sie sinnend an.
»Carla Hansen, Carla Hansen…«, wiederholte er, ehe er den Kopf schüttelte. »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Wer soll denn das sein?«
»Unsere Cousine fünften Grades oder so. Jedenfalls ist sie weitverzweigt mit uns verwandt. Sie lebt in der Nähe von Hamburg und hat einen Sohn in München. Leider ist es für Urs nicht gut gelaufen. Offenbar ist er auf die schiefe Bahn geraten, hat Drogen genommen und einen Raubüberfall verübt. Dafür und für ein paar andere Delikte ist er ins Gefängnis gewandert. Jetzt soll er wegen guter Führung Freigänger werden, und seine Mutter hat gefragt, ob ich nicht ein Auge auf ihn haben könnte«, berichtete sie von dem Anruf, den sie auf dem Weg zum Wagen erhalten hatte.
Schweigend hatte Mario den Ausführungen seiner Schwester gelauscht. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn.
»Und? Was hast du gesagt?«
»Dass ich darüber nachdenken muss. Auch wenn Urs irgendwie zur Familie gehört … er ist ein Verbrecher. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich damit etwas zu tun haben will.«
»Verständlich, schon wegen der Kinder«, bemerkte Mario, ganz fürsorglicher Onkel.
Doch Fee war noch nicht fertig.
»Andererseits kann ich mich gut an Urs erinnern. Vor vielen Jahren hat er mal seine Ferien auf der Insel der Hoffnung verbracht. Ich war damals auch dort und habe mich ziemlich viel mit ihm beschäftigt. Als er abreisen musste, hat er sogar geweint. Am liebsten wäre er bei mir geblieben.« Jahrelang hatte Felicitas nicht an diesen Urlaub gedacht. Sie wunderte sich, woher diese Erinnerung auf einmal kam, noch dazu so klar und deutlich, als läge sie erst ein paar Wochen zurück.
Mario, der ihre Gedanken nicht lesen konnte, hatte inzwischen weitergedacht.
»Wie hat sich Carla dieses ›ein Auge auf ihn haben‹ denn vorgestellt?«
Felicitas zuckte mit den Schultern.
»Das habe ich nicht gefragt. Ehrlich gesagt war ich zu verwirrt, um überhaupt klar denken zu können. Ich werde mit Dan darüber sprechen, was er davon hält, und sie morgen zurückrufen.«
»Gute Idee«, nickte Mario, als das Telefon vor ihm auf dem Schreibtisch klingelte. Er schickte seiner Schwester einen entschuldigenden Blick und hob ab. »Cornelius am Apparat.«
»Chef, wo stecken Sie denn?« Selbst aus dieser Entfernung konnte Fee hören, dass Andrea Sander am anderen Ende der Leitung war. »Sie werden zur Besprechung erwartet.«
Mario war so überrascht, dass er die zehn Euro Strafe vergaß.
»Warum? Wo sollte ich denn sein?«, fragte er und sah noch einmal auf den Terminkalender. »Hier steht nichts von einer Besprechung.«
»Sie sitzen ja auch am falschen Schreibtisch«, machte ihn die Assistentin der Klinikleitung auf sein Versehen aufmerksam. »Wenn Sie dann bitte so schnell wie möglich ins Büro des Klinikchefs kommen wollen…« Grußlos legte sie auf.
Einen Moment lang saß Mario wie versteinert am Tisch. Dann erhob er sich.
»Die wahre Chefin der Privatklinik Dr. Behnisch hat ein Machtwort gesprochen«, erklärte er nicht ganz ernst in Fees Richtung und ließ seine Schwester notgedrungen mit ihrem Problem allein.
*
»Wow, wir haben einen Knastbruder in der Familie. Ist ja cool!« Nachdem Felicitas am Abend vor versammelter Mannschaft ihre Geschichte zum Besten gegeben hatte, erntete sie nicht nur skeptische Zurückhaltung. Im Gegensatz zum Rest seiner Familie war Janni Norden sichtlich angetan von der Vorstellung, mit einem Kriminellen verwandt zu sein. »Den will ich unbedingt kennenlernen. Dann kann er mal erzählen, ob’s da wirklich so abgeht wie im Fernsehen.«
Felix hatte dem Monolog seines jüngsten Bruders gelauscht. Mit hochgezogener Augenbraue wandte er sich an seine Eltern.
»Mum, Dad, ich will eure Erziehung ja nicht kritisieren. Aber ist es möglich, dass Janni zu viel fernsehen darf?«
Diesen Vorwurf wollte Daniel nicht auf sich sitzen lassen.
»Ich bitte dich! Janni ist inzwischen alt genug, um selbst verantwortungsbewusst mit diesem Medium umzugehen.«
»Das war aber bei mir noch anders«, beschwerte sich Felix, und in seinen Augen blitzte es verdächtig. »Bei mir wart ihr noch total streng. Aber je mehr wir geworden sind, umso lockerer scheint eure Einstellung zu werden.«
»Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, dein jüngerer Bruder zu sein«, platzte Janni heraus, und der Rest der Familie brach in Gelächter aus.
Sogar Felix stimmte mit ein.
»Diesen Witz und diese Schlagfertigkeit musst du von mir haben.« Er zwinkerte Janni zu, was Felicitas mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm. Nicht immer gingen die Verbalattacken zwischen den Brüdern so glimpflich ab, und sie nutzte die Gelegenheit, um wieder zu dem ernsten Thema zurückzukehren.
»Die Frage ist, ob wir Carlas Bitte nachkommen oder einfach ablehnen sollen.« Diese schwierige Entscheidung raubte ihr den Appetit, und sie stocherte in ihrem Salat mit geschmolzenem Ziegenkäse und Pistazien herum.
»Ich denke, das kommt ganz darauf an, wie sich der junge Mann inzwischen entwickelt hat«, gab Daniel zu bedenken und biss in eine Scheibe des Olivenbrots, das er nach der Sprechstunde noch schnell in der Bäckerei geholt hatte. Selbst ohne Familie in Deutschland, hatte Tatjana die Nordens kurzerhand adoptiert. Ihre Zuneigung stieß auf Gegenliebe, und Danny und sie waren gern gesehene Gäste beim Abendbrot. Diesmal trafen sie sich aber mit Freunden in einem Restaurant, und so musste der Rest der Familie mit Tatjanas Brot vorlieb nehmen. »Ob Urs einsieht, dass das, was er getan hat, Unrecht war. Und ob er wirklich vorhat, ein neues Leben zu beginnen.«
»Offenbar sieht er die Zeit im Gefängnis als positive Erfahrung«, berichtete Felicitas von dem, was die entfernte Verwandte erzählt hatte. »Er hat eingesehen, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist und etwas ändern muss.«
»Es wäre ja schön, wenn das wirklich so wäre«, gab Daniel zurück, und seine Frau sah ihn fragend an.
»Du glaubst nicht daran?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand er. »Schließlich kann man den Leuten nur vor die Stirn und leider nicht dahinter sehen. Aber wie denkst du denn darüber?« Anders als Fee hatte der Arzt einen guten Appetit und nahm sich noch einmal von Lennis leckerem Salat, den die Haushälterin der Familie wie jedes Gericht mit viel Liebe zubereitet hatte.
Fee pickte ein Stück Tomate auf die Gabel und sah es fragend an, als ob sie eine Antwort von ihm erwartete. Im nächsten Moment steckte sie es in den Mund und kaute nachdenklich.
»Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient«, sagte sie endlich. »Mal abgesehen davon bricht es mir das Herz, wenn ich an den kleinen Kerl denke, der er mal war. Er war so süß und witzig damals. Schwer vorstellbar, dass er unter die Räder gekommen ist.«
»Das klingt so, als ob du deine Entscheidung längst getroffen hast.« Nach einer weiteren Scheibe Brot war Daniel endlich satt und lehnte sich zurück. Er trank einen Schluck Wasser und sah seine Frau über den Rand des Glases an.
Sie knabberte sichtlich an seinem Kommentar.
»Weißt du, dass du mir manchmal unheimlich bist?«, fragte sie nach einer Weile.
»Nein, warum?«
»Weil du offenbar meine Gedanken lesen kannst. Du scheinst mir tatsächlich hinter die Stirn sehen zu können.«
Daniel lächelte wie ein Schuljunge. »Aber keine Sorge. Bei dir ist das überhaupt nicht furchteinflößend«, beruhigte er seine Frau und legte seine Hand auf die ihre. »Da gibt es andere Kandidaten, bei denen ich lieber nicht wissen will, was in ihren Köpfen vor sich geht.«
»Zum Beispiel bei diesem Lammers«, warf Felix ein.
»Zum Beispiel«, stimmte Felicitas ihrem Zweitältesten zu. Doch diesmal zuckte ein Lächeln um ihre Lippen. »Hab ich eigentlich schon erzählt, dass ich einen Teilsieg gegen ihn errungen habe?«
»Nein, wie hast du das denn angestellt?« Plötzlich dachte niemand mehr an Urs Hansen, und die geballte Aufmerksamkeit richtete sich auf Fee, die nur zu gern davon berichtete, wie sie Volker Lammers den Laborbefund unter die Nase gehalten hatte, der eindeutig bewies, dass Kevin Trostmann doch nicht an Typhus litt.
*
Daniel Norden behielt recht mit seiner Einschätzung. Seine Frau hatte ihre Entscheidung getroffen und meldete sich wie versprochen am nächsten Tag bei Carla Hansen, um die Kontaktdaten von Urs zu erfragen. Das Gespräch verlief angenehm und kreiste nicht nur um das schwarze Schaf der Familie. Hin und wieder machte Carla eine Bemerkung, die Fee zum Lachen brachte.
Dr. Lammers, der vor ihrem Büro auf und ab ging, wurde allmählich ungeduldig. Er hatte etwas mit der stellvertretenden Chefin zu besprechen und als er Fee lachen hörte, ballte er eine Hand zur Faust.
»Können Sie Ihr Kaffeekränzchen eigentlich nicht zu Hause abhalten, wie es jede anständige Hausfrau tut?«, fragte er, als er endlich vor Fee Nordens Schreibtisch stand.
Angesichts dieser Frechheit wäre sie um ein Haar wieder aus der Fassung geraten. Doch das gute Gespräch hallte nach, und so gelang Felicitas ein freundliches Lächeln.
»Nur kein Neid. Nur weil meine hausfraulichen Fähigkeiten besser sind als Ihre fachliche Kompetenz im Fall Kevin Trostmann, sollten Sie nicht ausfallend werden.«
Leider hatten ihre Worte nicht die erhoffte Wirkung. Im ersten Moment wurde Lammes zwar blass, er hatte sich aber schnell wieder im Griff und legte ihr mit einer großspurigen Geste ein Blatt Papier auf den Tisch.
»Während Sie Kochrezepte austauschen, habe ich den jungen Mann noch einmal untersucht«, triumphierte er und deutete auf die Ergebnisse.
Felicitas beugte sich vor und nahm das Papier an sich.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«, erinnerte sie sich an ihre guten Manieren, während sie den Text überflog.
»Nein, danke. Ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. So angenehm ist Ihre Gesellschaft nun auch wieder nicht.«
»Ihre Entscheidung. Ich fühle mich ganz wohl mit mir«, erwiderte Fee ohne aufzublicken. »Wie ich sehe, haben Sie festgestellt, was ich längst wusste. Der Patient leidet unter einem deutlich messbaren Kraftverlust in den Gliedmaßen.«
»Sie wussten aber noch nicht, dass die Muskeln am Daumen und in der Handinnenfläche schon verkürzt sind.«
Mit dieser Behauptung hatte Lammers recht. Doch Fee hatte keine Gelegenheit, sich darüber zu ärgern. Ihr Blick war auf einen Begriff gefallen, der sie in Alarmbereitschaft versetzte.
»Sie haben das Babinski-Zeichen festgestellt? Haben Sie einen Neurologen zu Rate gezogen?« Das Fehlen des Reflexes, der für das Anheben der Großzehe verantwortlich war, deutete auf eine Störung der Nervenbahnen im zentralen Nervensystem – also im Gehirn oder Rückenmark – hin.
»Ich brauche keinen Babysitter«, schnaubte Dr. Lammers. »So was kann ich gerade noch selbst diagnostizieren.«
»Schön.« Fee war Profi genug, um ihren Schrecken vor dem Kollegen zu verbergen und sofort weiterzudenken. »Aufgrund der beidseitigen Muskelschwäche und Taubheit empfehle ich eine Kernspintomographie«, traf sie eine Entscheidung über die weitere Vorgehensweise und sah ihren Kollegen an.
Doch diesmal war Volker Lammers ihr eine Nasenlänge voraus.
»Die habe ich längst angeordnet«, konterte er, und es war ihm anzusehen, wie zufrieden er mit diesem, wenn auch kleinen, Sieg war. »Ich sagte Ihnen doch: Ich brauche keinen Babysitter.«
»Richtig, ich erinnere mich«, lächelte Fee. »Dann rufen Sie mich bitte, wenn die Bilder da sind.« Sie wunderte sich selbst über ihre Ruhe, als sie Lammers den Bericht zurückgab.
Das lag auch daran, dass sie Kevin Trostberg unabhängig von ihren Sympathien für Dr. Lammers in guten Händen wusste und in Gedanken schon bei ihrem nächsten Vorhaben war.
Der Kinderarzt hatte eine andere Reaktion erwartet und zog sich sichtlich enttäuscht mit dem Versprechen zurück, Fee rufen zu lassen.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, griff sie nach dem Zettel, der auf ihrem Tisch lag, und wählte die Nummer, die Carla Hansen ihr gegeben hatte.
*
»Guten Morgen, Lieblingskollegin. Wie geht’s dir?«, fragte Wendy, als sie an diesem Vormittag später als sonst in die Praxis kam.
An ihren Armen baumelten Einkaufstaschen, die von ihrem erfolgreichen Beutezug zeugten.
»Mein Körper besteht zu 60 Prozent aus Müdigkeit«, gab Janine zu und warf einen hoffnungsvollen Blick auf die Tüte mit der Aufschrift ›Schöne Aussichten‹ »Und der Rest hat Hunger.«
Wendy lachte.
»Das trifft sich gut. Zufällig liegt mein Lieblings-Kleidergeschäft direkt neben Tatjanas Bäckerei. Nachdem ich gestern Abend keine Zeit zum Kochen hatte, hab ich uns eine Kleinigkeit zum Mittagessen mitgebracht«, plauderte sie munter drauflos. »Tatjana hat neue Mini-Calzones erfunden. Denen konnte ich einfach nicht wiederstehen.«
Mit wachsender Verwunderung hatte Janine den Ausführungen ihrer Freundin und Kollegin gelauscht.
»Was ist denn mit dir los? Du klingst ja so aufgekratzt«, sagte sie ihr auf den Kopf zu. »Außerdem Kleidergeschäft? Und beim Friseur warst du auch«, machte sie eine Entdeckung nach der anderen. »Raus mit der Sprache! Was hast du mir verschwiegen?«
Wendy antwortete nicht sofort. Sie ging zur Garderobe und tauschte ihre Jacke gegen einen weißen Kittel. Die Taschen und Tüten verstaute sie im Schrank, ehe sie sich mit einer Tasse Kaffee an ihren Schreibtisch setzte.
»Na jaaaa, ich hab da einen Mann kennengelernt … Das heißt, eigentlich kenne ich ihn gar nicht.« Zögernd kamen die Worte aus ihrem Mund. »Wir schreiben uns seit einer Weile Briefe.«
»Seit einer Weile?«, hakte Janine nach und vergaß sowohl Hunger als auch Müdigkeit. »Ich dachte, du willst nichts mehr von Männern wissen.«
»Das mit Manfred ist ja auch was anderes«, versuchte Wendy, sich herauszureden, und beugte sich geschäftig über den Terminkalender. »Morgen Nachmittag kommt übrigens Dési zur Kontrolle. Ist es nicht unglaublich, dass sie sich wieder ganz von ihrer Krankheit erholt hat? Wenn ich dran denke, welche Angst ich um sie hatte, als sie plötzlich nicht mehr sprechen konnte«, versuchte sie, von ihrer Person abzulenken.
Vergeblich.
»Netter Versuch!«, schmunzelte Janine. Gleichzeitig lächelte sie Danny zu, der eine Patientin zur Tür begleitet hatte und sich zu den beiden Assistentinnen an den Tresen gesellte. »Wendy hat eine Männerbekanntschaft geschlossen und uns nichts davon gesagt«, teilte sie ihrem jungen Chef augenzwinkernd mit.
»Nana, das ist ja nicht gerade ein Vertrauensbeweis«, ging Danny auf den scherzhaften Ton ein und spähte in die Tüte, die immer noch auf dem Tresen lag. »Aber wenn Sie als Wiedergutmachung Tatjanas Mini-Pizzen mitgebracht haben, kann ich nochmal Gnade vor Recht ergehen lassen.«
»Finger weg!« Mit einem Ruck zog Wendy die Tüte weg und brachte sie in die Küche. »Die sind für mittags.«
Der Juniorchef sah auf die Uhr.
»Aber das dauert ja noch fast zwei Stunden. Bis dahin bin ich verhungert.«
»Lenkt nicht alle vom Thema ab«, beschwerte sich Janine, die ihren Hunger fürs Erste vergessen hatte. Ihre Augen hingen an ihrer Kollegin. »Und jetzt raus mit der Sprache. Wer ist Manfred?«
Wendy seufzte tief und verdammte Janines Hartnäckigkeit.
»Ein Häftling«, ließ sie die Katze endlich aus dem Sack. »Nachdem ich im wirklichen Leben nichts mehr mit Männern zu tun haben will, dachte ich mir, ich schreibe mit einem.«
Danny und Janine sahen die Kollegin mit großen Augen an.
»Du schreibst mit einem Verbrecher? Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«
Mit dieser Frage hatte die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden gerechnet. Trotzdem schoss ihr das Blut in die Wangen.
»In der Wochenendausgabe sind doch immer Bekanntschaftsanzeigen. Da bin ich vor ein paar Wochen über Manfreds Annonce gestolpert. Er ist wirklich ein sehr netter Mann…«
»Und sitzt wahrscheinlich völlig zu Unrecht hinter Gittern«, mutmaßte Danny und nahm die nächste Patientenkarte von seinem Stapel. Es wurde Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Doch Wendys Antwort wartete er noch ab.
»Nein.« Ihre Stimme klang danach, als wollte sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. »Er hat es bereut, Steuern hinterzogen zu haben, und zum Ausgleich einen ansehnlichen Betrag als Spende an einen gemeinnützigen Verein überwiesen«, erwiderte sie mit deutlichem Triumph in der Stimme. »Außerdem findet er die Erfahrung gar nicht schlecht. Er erzählte davon, dass er im Gefängnis von seinem hohen Ross heruntergekommen ist.«
»Interessant! Unser Urs Hansen hat genau dasselbe behauptet«, mischte sich Dr. Norden in das Gespräch ein. Er kam von einem Hausbesuch und hatte eben die Praxis betreten. »Wenn man diesen Beteuerungen Glauben schenken dürfte, dann würde nie mehr ein einziger Häftling rückfällig werden.«
Wendy blickte von ihrem Computer auf und sah ihren Chef an.
»Haben Sie einschlägige Erfahrungen?«, erkundigte sie sich, und Daniel erzählte von dem schwarzen Schaf, das in Fees Familie aufgetaucht war.
»Drogen und Raub sind natürlich ein anderes Kaliber als Steuerhinterziehung«, räumte Janine ein.
»Trotzdem bin ich derselben Meinung wie Ihre Frau. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Vor allen Dingen, wenn er so jung ist wie Urs Hansen.« Es war Wendy anzuhören, dass ihr diese Worte aus tiefstem Herzen kamen.
Janine legte den Kopf schief und musterte ihre Kollegin.
»Und wann gehst du ihn im Gefängnis besuchen?«, stellte sie die Frage, die sich quasi aufdrängte.
»Woher weißt du das?« Wenn möglich, wurden Wendys Wangen noch dunkler.
Janine lachte.
»Ganz einfach: neue Frisur, ein neues Kleid … Diesen Schluss hätten sogar unsere beiden Männer gezogen.«
Dem Seniorchef brannte die Zeit unter den Nägeln, und er musste endlich an seinen Schreibtisch. Da er aber kein Spielverderber sein wollte, schickte er seinem Sohn einen Blick aus schmalen Augen.
»Ich glaube nicht, dass wir uns das gefallen lassen müssen«, scherzte er. »Lass uns arbeiten gehen.«
»Einverstanden.« Doch Danny zögerte. »Aber nur, wenn ich als Wiedergutmachung heute Mittag eine Mini-Calzone bekomme.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, das er parat hatte, und Wendy und Janine lachten.
»Seltsam. Woher wusste ich, dass es so kommen würde, und habe deshalb gleich mehr gekauft?«
»Sie sind eben eine kluge Frau!«, lobte Daniel und machte sich endlich auf den Weg in sein Sprechzimmer, um mit der Behandlung seiner Patienten zu beginnen.
*
Als Felicitas Norden an diesem Spätnachmittag das Café ›Schöne Aussichten‹ betrat, hatte sie kaum Augen für Tatjana hinter dem Tresen. Auch die schwangere Mitarbeiterin Marla begrüßte sie geistesabwesend, während sie sich umsah.
»So oft, wie du in letzter Zeit hier bist, bekommst du demnächst einen eigenen Stammtisch«, witzelte Tatjana, die herbeigekommen war, um die Mutter ihres Freundes zu umarmen.
»Hmm, das wäre eine schöne Idee!« Felicitas schien ihr gar nicht richtig zugehört zu haben.
Noch immer sondierten ihre Augen jeden Tisch in dem kleinen Café, als sie an einer Person hängen blieben. Der junge Mann saß in der hintersten Ecke und versteckte sich hinter der Speisekarte, die aber zu klein war für sein Gesicht. Obwohl es Jahre her war, erkannte Fee in den erwachsenen Zügen den kleinen Urs, mit dem sie damals im Sanatorium ihrer Eltern gespielt hatte.
»Suchst du jemanden?«, fragte Tatjana, der Fees Konzentration nicht entgangen war.
»Ich glaube, ich hab ihn gerade gefunden.«
Tatjanas Blick folgte dem von Fee. Trotz ihrer Sehbehinderung wusste sie sofort, wer dort saß. Sie hatte den jungen Mann hereinkommen sehen und gleich gemerkt, wie unsicher sein Schritt, wie misstrauisch seine ganze Ausstrahlung war.
»Kennst du den jungen Mann?«, fragte sie die Ärztin.
»Kennen ist übertrieben«, erwiderte Fee, ohne den Blick von Urs wenden zu können. »Es ist viele Jahre her. Aber wegen ihm bin ich hier. Bringst du mir bitte zwei Milchkaffee?« Ohne eine weitere Erklärung machte sich Fee auf den Weg in den hinteren Teil des Cafés, vorbei an den unterschiedlichen Stühlen und Tischen, die Tatjana auf Flohmärkten gekauft und zum Teil eigenhändig restauriert hatte. Dazu passte der dunkle Holzboden, der im Kontrast stand zu der ungewöhnlichen, silberfarbenen Decke. Kissen mit kostbaren Bezügen aus Indien und die Glasvasen mit Blumen komplettierten die heimelige Einrichtung. Wirklich zu Hause fühlten sich die Gäste aber auch durch Marlas Bilder, die neben den Werken anderer Künstler die Wände schmückten.
Doch auf all diese liebevollen Kleinigkeiten achtete Felicitas diesmal nicht. An diesem Nachmittag gehörte ihre Aufmerksamkeit allein Urs Hausen.
»Du bist doch Urs, nicht wahr?«, fragte sie, als sie zu ihm an den Tisch trat.
Als bemerke er sie erst jetzt, ließ der junge Mann die Karte sinken und sah die Ärztin an. Im nächsten Moment erkannte er sie. Seine Miene entspannte sich, und ein Lächeln huschte über seine Lippen.
»Tante Fee!« Obwohl Urs längst erwachsen war, hatte seine Stimme etwas Kindliches, und auch seine Augen leuchteten wie die eines Kindes an Weihnachten, als er sie zur Begrüßung umarmte. Hinter ihrem Rücken hustete er.
»Sag bitte nur Fee. Wenn du mich Tante nennst, fühl ich mich so alt«, lächelte Felicitas.
Sie zog die Jacke aus, hängte sie über den Stuhl und setzte sich zu ihm, als Marla auch schon die Getränke servierte. Dabei stieß sie mit dem Tablett an den Tisch, und der Milchkaffee schwappte über.
»Kannst du nicht aufpassen?« Urs Stimme knallte wie ein Peitschenhieb, und sowohl Marla als auch Fee erschraken.
Als Urs die Wirkung bemerkte, sank er sofort in sich zusammen.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und schickte Marla ein Bubenlächeln, das nicht so recht zu dem Männergesicht passen wollte. »Ich bin ein bisschen nervös. Man trifft ja nicht alle Tage seine Kinderliebe.« Er sah Fee an, hielt die Hand vor den Mund und hustete.
»Schon gut. Danke, Marla.« Felicitas war gerührt. Sie nickte der jungen Bäckerin zu, die sichtlich erleichtert den Rückzug antrat. »Hast du dich erkältet?«, wandte sie sich dann an ihr Gegenüber. Die Sorge in ihren Augen war offensichtlich.
»Keine Ahnung. Diesen Husten hab ich mir irgendwann im Knast … ähm, im Gefängnis eingefangen«, korrigierte sich Urs schnell. »Bitte entschuldige meine Ausdrucksweise. Aber das ist so ungefähr das erste, was man im Gefängnis lernt. Und wehe, man passt sich nicht an.«
»Hat sich das der Arzt nicht angeschaut?« Fee ging gar nicht auf seine Bemerkung ein. Sie war nervös, wusste nicht recht, was sie bei diesem Treffen erwartete. »Es gibt doch auch in diesen Anstalten so was wie Arztpraxen, nicht wahr?«
»Klar.« Urs schaufelte den Milchschaum von seinem Kaffee und steckte den Löffel in den Mund. »Aber der Typ da hat mir nur irgendeinen Sirup verschrieben, der nicht geholfen hat.«
Während er sprach, fiel Fee eine Zeitungsmeldung ein, die vor einigen Monaten die Runde gemacht hatte. Eine ganze Reihe Gefängnisinsassen hatten sich mit TBC infiziert.
»Hat das mal jemand auf Tuberkulose untersucht?«, erkundigte sie sich.
Urs schüttelte den Kopf.
»So viel Mühe geben die sich da drin nicht mit uns.«
Diese Worte wagte Fee zu bezweifeln, drang aber nicht weiter in ihn. Sie würde Daniel bitten, ihn im Rahmen seiner Sprechstunde zu untersuchen. Als dieser Entschluss gefasst war, konnte sie sich auf die Fragen konzentrieren, die sie sich zurecht gelegt hatte. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und sah Urs an.
»Ich habe gestern mit deiner Mutter telefoniert. Sie hat mir erzählt, was passiert ist.«
»Ich weiß.« Urs lächelte. Er schien sich wesentlich wohler zu fühlen als seine Verwandte. »Ich hab sie ja schließlich gefragt, ob sie Kontakt zu dir aufnehmen kann.«
Diese Mitteilung überraschte Fee.
»Tatsächlich? Warum?«, entfuhr es ihr.
Urs zuckte mit den Schultern.
»Ach, weißt du, im Knast hat man viel Zeit nachzudenken. Das ist eigentlich ganz gut.« Wie um seine Worte zu bestätigen, nickte er. »Da hab ich mich auch an die Ferien auf der Roseninsel erinnert und daran, wie lieb du damals zu mir warst. Ich war richtig traurig, als ich heimfahren musste.«
»Ich weiß. Daran musste ich gestern auch denken.« Fee schluckte die Rührung herunter. Auf keinen Fall wollte sie sich zu viel Blöße geben. »Trotzdem habe ich gezögert, der Bitte deiner Mutter nachzukommen.«
»Kann ich ja verstehen.« Urs’ Einsicht war erstaunlich. »Immerhin hab ich Drogen genommen und ein paar krumme Dinger gedreht. Aber die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei, ich schwör’s!« Die linke Hand auf dem Herzen, hob er die rechte Hand hoch und reckte Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Luft zum Zeichen, dass es ihm ernst war.
»Und woher soll ich das wissen?« Die Ärztin machte keinen Hehl aus ihrem Misstrauen.
Urs lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Dabei ließ er Fee nicht aus den Augen.
»Hätte ich sonst Freigang und einen Job bekommen?«, stellte er eine berechtigte Frage, wartete aber nicht auf eine Antwort. »Am Anfang hab ich noch gedacht, ich bin der Größte. Dass alle anderen Versager sind. Aber dann hab ich kapiert, dass das ja gar nicht stimmt. Von dem Tag an ist alles anders geworden. Ich hab mit den Drogen aufgehört und mich vorbildlich benommen. Du kannst meine Wärter fragen.« Wieder hustete er, und Fee runzelte die Stirn.
»Was macht man so den ganzen Tag im Gefängnis?«, erkundigte sie sich.
Urs räusperte sich.
»Ich habe in der Schlosserei gearbeitet. Hat voll viel Spaß gemacht, und deshalb hab ich auch den Job draußen bekommen. Den Rest der Zeit war ich im Fitnessraum beim Sport. Irgendwie muss man sich ja bewegen, sonst wird man verrückt.«
Das, was Urs von sich gab, klang sehr vernünftig in Fee Nordens Ohren. Und doch war da ein kleiner Rest Misstrauen. Seine aggressive Reaktion, als Marla das Missgeschick passiert war, lag ihr im Magen.
»Ich hätte es ja besser gefunden, wenn du in die Schule gegangen und deinen Abschluss nachgeholt hättest«, versuchte Fee absichtlich, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. »Aber wenigstens hast du was getan und nicht nur Däumchen gedreht.«
Wider Erwarten blieb Urs ruhig. Er trank von seinem Milchkaffee und lächelte.
»Ehrlich gesagt liegt mir Schule und Lernen und so’n Kram nicht so. Da geh ich lieber arbeiten.«
»Das ist ja kein Fehler«, beeilte Fee sich zu versichern, als Urs einen regelrechten Hustenanfall bekam, der so schauerlich klang, dass sie sich wirklich Sorgen machte.
»Du musst unbedingt zu Daniel in die Praxis gehen«, sagte sie zu ihm, als er sich erholt hatte. »Er wird dich untersuchen.«
Tränen der Anstrengung liefen ihm über die Wangen, und Fee suchte in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern.
»Kann ich nicht zu dir in die Klinik kommen?«, krächzte er, als Fee ihm die Packung über den Tisch reichte.
»Tut mir leid. Aber ich arbeite auf der Kinderstation. Dafür bist du ein bisschen zu alt«, lächelte sie, und Urs beschloss, es für den Moment darauf beruhen zu lassen.
»Wär super, wenn ich zu deinem Mann gehen könnte.«
»Natürlich. Ich spreche heute Abend mit ihm und schicke dir dann eine Nachricht.«
»Das ist echt nett von dir.« Ganz offensichtlich war Urs so gerührt von ihrer Hilfsbereitschaft, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er streckte die Hand aus und tätschelte Fees Arm. »Wenn du mich damals nicht heimgeschickt hättest, wäre vielleicht alles anders geworden.« Seine Stimme war rau, und angesichts dieser Worte zog sich Fees Herz zusammen. Sie wusste um Urs’ Geschichte, von der nichtverarbeiteten Trennung seiner Eltern, von dem Ärger, den er seiner Mutter gemacht hatte. Carla hatte auch von den falschen Freunden beim Eishockey erzählt und davon, dass ein paar von ihnen ihn dazu verleitet hatten, Drogen zu nehmen. Der Rest der Geschichte war schnell erzählt gewesen.
»Damals waren erst meine beiden Ältesten auf der Welt. Felix war noch ein Baby«, erinnerte sie sich. »Ich hätte dich nicht aufnehmen können. Mal abgesehen davon, dass das deine Mutter gar nicht zugelassen hätte.«
»Carlchen?« Urs lachte auf, und ganz kurz hatte Fee den Eindruck, es mit einem ganz anderen Menschen zu tun zu haben. Doch als er aufstand, war dieser Moment schnell vergessen. »Die hatte doch nie Zeit für mich und war viel zu sehr mit sich beschäftigt.« Der junge Mann nahm die Jacke von der Lehne und schlüpfte hinein. Dabei blickte er auf Felicitas hinab. »Bitte, Tante … ich meine, Fee, du musst mir glauben, dass nicht alles wahr ist, was Carla über mich erzählt. Es wäre einfach voll schön gewesen, wenn ich bei dir, bei euch hätte bleiben können. Dann hätte ich heute eine Familie, viele Geschwister, ein intaktes Zuhause…« Wieder glitzerten Tränen in seinen Augen und er beugte sich zu Fee herab, um sie in den Arm zu nehmen. Doch die Umarmung dauerte nicht lange, und er richtete sich abrupt auf.
»Du meldest dich wegen dem Termin bei deinem Mann?«, fragte Urs.
Felicitas nickte.
»Heute Abend noch.«
»Danke.« Urs küsste linkisch ihre Hand, ehe er sich umdrehte.
Sie sah ihm nach, wie er durch das Café ging und es grußlos verließ. Keine zwei Minuten später stand Tatjana vor Dannys Mutter.
»Ist das der Mann, dem du unter die Arme greifen sollst?«, fragte sie und setzte sich ungefragt neben Fee auf den Stuhl.
Aus ihren Gedanken gerissen, fuhr die Ärztin herum.
»Die Buschtrommeln funktionieren ja prächtig. Woher weißt du das denn schon wieder?« Ihre Stimme klang schroffer als beabsichtigt, doch Tatjana nahm es ihr nicht übel.
»Von Danny. Und der weiß es von Dan. Du hast also gar nicht so unrecht mit der Buschtrommel.« Sie saß auf der äußersten Stuhlkante und hielt das Tablett auf den Knien. »Also, was hat er gesagt? Wie findest du ihn?«, konnte sie mit ihrer Neugier nicht hinter dem Berg halten.
Über diese Frage dachte Felicitas kurz nach.
»Eigentlich ist er ein fast normaler, netter, junger Mann, der einsieht, dass er ziemlich viel falsch gemacht hat«, fasste sie ihre Eindrücke zusammen. »Er meinte, er hätte viel Zeit zum Nachdenken gehabt und eingesehen, dass er auf dem Holzweg ist.«
»Wozu so ein Gefängnis gut sein kann!«, konnte sich Tatjana einen ironischen Kommentar nicht verkneifen. Ehe Fee ihre Entrüstung Ausdruck verleihen konnte, fuhr sie auch schon fort. »Und du glaubst nicht, dass er dir was vormacht?«
Fee schüttelte den Kopf, dass ihr blondes Haar hin und her flog.
»Urs ist genauso wie früher. Sogar seine Stimme klingt manchmal noch wie die eines Jungen. Aber wie kommst du drauf, dass er mich belügen könnte? Das hat er doch gar nicht nötig.«
»Ich weiß nicht…« Tatjana zuckte mit den Schultern. »Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin. Sie hat mit jeder Menge solcher Jungs gearbeitet, und mindestens die Hälfte von ihnen hat ihr was vorgespielt. Je mehr sie auf dem Kerbholz hatten, umso schlimmer waren sie.«
Doch davon wollte Fee nichts wissen.
»Ich kann Verallgemeinerungen nicht leiden«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Meinung. »Welchen Grund sollte er haben, mir Märchen zu erzählen?«, wiederholte sie ihre Frage, trank ihren Kaffee aus und sammelte ihre Siebensachen zusammen.
Tatjana sah ihr dabei zu.
»Immerhin bist du ein guter Kontakt. Hast eine ganze Horde angesehener Menschen im Rücken und bist selbst in einer exponierten Position. So was ist immer von Vorteil«, gab sie zu bedenken.
»Unsinn.« Mit einem Ruck erhob sich Fee vom Stuhl. Es wurde Zeit, in die Klinik zurückzukehren, ehe der Kollege Lammers wieder einen Grund zum Meckern fand. »Ich habe die Tränen in seinen Augen gesehen, als er von früher gesprochen hat. So was kann man nicht spielen«, behauptete sie und küsste Tatjana, die ebenfalls aufgestanden war, links und rechts auf die Wange. Hintereinander gingen die beiden Frauen durch das Café, Fee voraus, Tatjana folgte ihr. Am Tresen angelangt drehte sich die Ärztin noch einmal um und winkte Marla und Tatjana zu.
»Lass dich nicht von ihm einwickeln!«, gab Tatjana ihr noch mit auf den Weg.
Doch das hörte Fee schon nicht mehr, denn das Glöckchen über der Tür klingelte eifrig, als sie nach draußen in die Dämmerung trat.
*
Felicitas Nordens Plan ging nicht auf. Das Gespräch mit Urs hatte länger gedauert als gedacht, und Volker Lammers war nicht mehr in der Klinik. Aber er hatte einen Zettel mit einerBotschaft auf ihrem Schreibtisch hinterlassen.
»Falls Sie nicht zu erschöpft vom Kaffeetrinken sind, können Sie ja noch einen Blick auf die Bilder werfen. Gruß Lammers.«
Einen Moment überlegte Fee, ob sie das Stück Papier als Beweismaterial aufheben sollte, verzichtete dann aber darauf. Sie zerknüllte es, zielte und traf den Abfalleimer.
»Ausgezeichneter Wurf!« Niemand anderer als ihr Mann Daniel stand in der Tür und applaudierte ihr.
»Dan, was machst denn du hier?« Fee freute sich, ihn zu sehen, und umarmte ihn stürmisch.
»Nanu, so viel Leidenschaft nach einem anstrengenden Tag?«, fragte er und legte seine Hände auf ihre Hüften. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen.
»Dann besonders. Irgendwo muss ich die verloren gegangene Energie ja wieder herholen«, lächelte sie und streichelte seinen Nacken.
»Ein Energievampir also!«, seufzte Daniel versuchte, bekümmert zu wirken. »Dachte ich es mir doch.«
Doch Fee war nicht nach Scherzen zumute.
»Der Energievampir hier ist Lammers!« Nach einem weiteren Kuss löste sie sich aus der Umarmung und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. »Er hat mir mal wieder eine freundliche Bemerkung verpasst. Und ich ärgere mich darüber, dass er fast jedes Mal sein Ziel erreicht und mich mit seinen Gemeinheiten auf die Palme bringt.«
»Nach einem anstrengenden Tag ist das kein Wunder«, versuchte Daniel, seine Frau zu beruhigen. »Mal abgesehen davon, dass er dich zu sportlichen Höchstleistungen animiert.« Sein bewundernder Blick galt dem Abfalleimer. »Ich nehme an, der Zettel war von ihm?«
Felicitas lachte kurz.
»Stimmt. Mein Treffen mit Urs hat länger gedauert als gedacht, und schon…«
»Du hast den jungen Mann getroffen?«, unterbrach Daniel seine Frau.
»Habe ich dir das nicht heute Mittag am Telefon erzählt?«, fragte sie zurück und schob sich eine Strähne hinters Ohr. Sie stand am Schreibtisch, bückte sich und schob eine CD ins Laufwerk des Computers. »Ich könnte meine rechte Hand verwetten, dass ich es getan habe.«
»Tu’s lieber nicht.« Daniel war neben seine Frau getreten, nahm ihre Hand und küsste sie. »Es wäre schade um das schöne Stück. Wo es doch so geschickt ist…«
»Sprichst du aus Erfahrung?« Sie blinzelte ihm zu, und Daniel grinste, als die Bilder auf dem Bildschirm erschienen und seine Frau sich ein Stück vorbeugte. Vergessen war das anzügliche Gespräch, und ihre ganze Aufmerksamkeit richtet auf die Bilder.
»Das hier sind die Aufnahmen von Kevins Rückenmark«, erklärte sie ihrem Mann. »Du weißt schon, der Junge mit der unerklärlichen Schwäche in den Extremitäten.«
»Diesmal erinnere ich mich. Du hast gestern Abend von ihm erzählt.« Auch Dr. Norden beugte sich vor und studierte die Aufnahmen. »Siehst du das hier?« Mit dem Finger deutete er auf weiße Flecken im Rückenmark.
»Die müssten doch eigentlich dunkelgrau aussehen«, wusste Fee sofort, worauf ihr Mann anspielte. »Mal abgesehen davon, dass das Rückenmark leicht angeschwollen erscheint.«
»Das könnte an einer Flüssigkeitsansammlung liegen«, vermutete Daniel Norden. »Diese Veränderungen könnten eine Erklärung dafür sein, warum Kevin unter einer Störung des Nervensystems leidet«, zog er einen Schluss aus dem, was er sah, und klickte sich weiter durch die Bilder.
Fee hatte sich einen Stuhl an den Schreibtisch gezogen und verfolgte den Wechsel der Aufnahmen, während sie über diese Erkenntnisse nachdachte.
»Aber was könnte diese Entzündung ausgelöst haben?«, murmelte sie und stütze den Kopf in beide Hände. »Vielleicht eine Multiple Sklerose. Oder aber ein Tumor«, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst. Beide Möglichkeiten waren nicht das, was man ermutigend nannte.
»Möglich«, räumte Dr. Norden ein. Doch er hatte noch eine andere Idee. »Wo waren Kevin und seine Mutter im Urlaub?«
»Irgendwo in Indien«, erinnerte sich Felicitas. »Woran denkst du jetzt?«, Sie wusste sofort, dass Daniel diese Frage nicht umsonst stellte.
»An Tuberkulose. Wenn ich mich recht erinnere, ist Indien das Land mit den meisten Tuberkulose-Fällen weltweit. Ich habe mich neulich erst mit einem Kollegen vom Robert-Koch-Institut über diese erschreckenden Zahlen unterhalten.«
An diese Möglichkeit hatte Fee noch gar nicht gedacht.
»Das könnte natürlich auch sein. Diese Alternative wäre mir bedeutend lieber. Tuberkulose hat eine bessere Prognose als die anderen beiden.«
Daniel hatte genug gesehen. Sein Magen knurrte, als er sich aufrichtete und seiner Frau dabei zusah, wie sie den Computer herunterfuhr und ausschaltete.
»Endgültige Gewissheit bekommt ihr erst, wenn ihr das Nervenwasser des jungen Mannes unter die Lupe nehmt«, erklärte er.
»Ich werde diese Untersuchung gleich morgen früh anordnen«, erwiderte Fee und schob den Stuhl an den Schreibtisch. Mit einem letzten Blick vergewisserte sie sich, dass alles in Ordnung war. »Und jetzt werde ich mit dir nach Hause fahren, um dich vor dem sicheren Hungertod zu bewahren.«
Sie ahnte nicht, dass sie mit dieser Ankündigung die Pläne ihres Mannes durchkreuzte.
»Nach Hause? Das überlebe ich nicht. Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Daniel und setzte eine Unschuldsmiene auf, die Fee sofort durchschaute.
»Moment mal. Hat nicht hier in der Nähe ein spanisches Lokal eröffnet?«, erinnerte sie sich an eine seiner Bemerkungen neulich.
»Wirklich?«, spielte Daniel den Ahnungslosen. Doch das Funkeln in seinen Augen verriet ihn. »Das hatte ich ja ganz vergessen.«
Felicitas stand an der Tür und wartete auf ihn.
»Gib dir keine Mühe. Du bist ein schlechter Lügner!«
»Wirklich?« Daniel legte den Arm um ihre Schultern und wartete, bis sie die Tür von außen geschlossen und abgesperrt hatte. »Du bist aber die einzige, die mich durchschaut.«
»Wer weiß, vielleicht kannst ja nicht nur du meine, sondern ich auch deine Gedanken lesen«, lächelte sie ihn an. »Und ich glaube, ich weiß, was du nach dem Essen mit mir vorhast.«
Seite an Seite waren sie auf die Straße hinausgetreten. Die Dämmerung war der Dunkelheit gewichen, und die Straßenlaternen wiesen ihnen den Weg zum Wagen.
»Dann weißt du mehr als ich«, erwiderte Daniel. Doch auch auf diese neuerliche Lüge fiel Felicitas nicht herein.
»Du weißt, dass auf Lügen schwere Strafen stehen«, erinnerte sie ihren Mann, während sie darauf wartete, dass er ihr die Beifahrertür aufhielt.
»Ich kann’s kaum erwarten.« Daniels Lachen war rau, und er schlug die Wagentür zu, ehe seiner Frau ein passender Kommentar eingefallen war.
*
Auch an diesem Abend fiel die Tür der Zelle wieder hinter Urs Hansen ins Schloss. Doch diesmal sorgte dieses Geräusch nicht für Beklemmungen und Panikattacken. Endlich hatte er einen Plan, ein Ziel vor Augen.
Sein Mithäftling Lothar lag auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah Urs dabei zu, wie er die Straßenkleidung gegen einen Trainingsanzug tauschte. Als er begann, Liegestütze zu machen, wurde Lothar ungeduldig.
»Mann, jetzt sag schon! Wie ist es gelaufen?«
Urs drückte sich hoch und sank wieder hinunter, auf und ab, ohne Pause, bis sein Atem schneller ging und feine Schweißperlen auf seine Stirn traten. Lothar machte Anstalten, sich auf seinem Bett aufzusetzen.
»Alles im Lot. Sie hat es gefressen«, verkündete Urs, kurz bevor sein Mitbewohner die Geduld verlor, und Lothar sank auf die Matratze zurück.
»Scheint, als hättest du eine Glückssträhne, was? Zuerst der Job als Schlosser draußen, damit du Freigänger werden kannst. Und jetzt auch noch freundschaftliche Kontakte zu einem Arzt.«
Doch Urs wollte sich nicht zu früh freuen.
»Noch hab ich kein Rezept in der Tasche. Ich muss den Alten erstmal überreden, mir das zu geben.«
»Ach, das wird schon«, winkte Lothar ab. »Den Husten nimmt dir jeder ab. Der Doc kann gar nicht anders, als dir das Zeug zu verschreiben. Sonst kannst du nicht arbeiten gehen.«
Urs rappelte sich vom Boden auf, griff nach dem Handtuch, das über der Stuhllehne hing, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte er und ging zur Tür, um zu horchen. Als kein Geräusch an sein Ohr drang, ging er zu seinem Bett. Er schob es ein Stück zur Seite und kniete nieder. An einer Stelle löste er die Fußbodenleiste, und ein kleines Loch kam zum Vorschein, in dem Urs ein Päckchen versteckt hatte. Seine Finger zitterten, als er eine der Pillen aus der Alufolie schälte und in den Mund steckte. In Windeseile verstaute er das Päckchen wieder an seinem Platz und schob das Bett zurück an die Wand. »Wenn die Wärter mich nicht jeden Morgen beim Ausgang durchsuchen würden, wär’s einfacher.« Der junge Mann tat es seinem Mitbewohner gleich und legte sich auch auf’s Bett.