Читать книгу Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9
Оглавление»Und hier hat Pascal mir den Heiratsantrag gemacht.« Marla Brandts Augen leuchteten, als sie die Fotos betrachtete, die vor ihr und ihren Kolleginnen auf einem Tisch des Cafés ›Schöne Aussichten‹ lag.
Tatjana und Marianne beugten sich über die Bilder.
»Er hat dir wirklich einen roten Teppich ausgerollt? Mitten im Wald?«, fragte Marianne, die seit ein paar Monaten mit Dr. Mario Cornelius liiert war.
»Da könnte sich Danny mal ein Beispiel daran nehmen«, murmelte Tatjana vor sich hin.
Sofort gehörte die Aufmerksamkeit ihr.
»Ich dachte, du willst nicht heiraten.« Marla sah ihre Chefin mit Forscherblick an.
»Na ja, wenn er sich sowas einfallen ließe, würde ich vielleicht, eventuell, möglicherweise zumindest mal drüber nachdenken«, lächelte Tatjana, und der Schalk saß ihr unverkennbar im Nacken.
»Das sind ziemlich viele Vielleichts und Eventuells, findest du nicht?«, lachte Marianne auf und konzentrierte sich wieder auf die Fotos.
Tatjana tat es ihr gleich.
»Als ich dich das erste Mal gesehen habe mit den blauen Haaren, den schwarzen Klamotten und dem Piercing in der Nase hätte ich ehrlich gesagt nicht daran gedacht, dass du mal so eine hübsche Braut werden würdest«, dachte sie laut an den Tag, an dem die Kunstschülerin zuerst Danny angepöbelt und sich dann bei Tatjana um die Stelle als Bäckerin beworben hatte.
»Tja, ich bin eben immer für eine Überraschung gut«, gab Marla zurück.
Auch das neu erworbene Selbstbewusstsein stand ihr gut. Mindestens ebenso gut wie die braunen Haare, denen das Blau hatte weichen müssen.
»Das kannst du laut sagen.« Tatjana lachte und nahm ein besonders schönes Foto zur Hand.
Darauf kniete Pascal vor seiner Braut, ihre Hände an seinen Lippen, den Blick auf ihr strahlendes Gesicht gerichtet.
Die Verlobung der Bäckerin und Malerin Marla mit dem Galeristen Pascal Lüders lag schon eine Weile zurück, und sowohl Tatjana als auch die Tortenkünstlerin hatten die Geschichte schon ein paar Mal gehört. Doch die Bilder sahen sie zum ersten Mal und konnten sich nicht daran sattsehen. »Also, wo hat er dir den Antrag gemacht?«, wiederholte Marianne ihre Frage.
»Auf einer Lichtung«, schwärmte Marla und sah aus, als hätte sie nicht Pascal, sondern ein echter Engel gefragt. »In dem Moment, als er mir den Antrag gemacht hat, hat ein Saxophonist für uns gespielt. So was Schönes hab ich noch nie zuvor erlebt.«
»Kunststück«, erwiderte Tatjana mit dem ihr eigenen Pragmatismus. »Du hast ja auch noch nie einen Heiratsantrag bekommen.«
»Du musst aber zugeben, dass er besonders schön war«, seufzte Marianne. Es war ihr anzusehen, dass sie so was auch gern einmal erleben wollte. »Von so was kann eine Frau nur träumen.«
Marla trank einen Schluck von ihrer heißen Schokolade und sah ihre Kollegin an.
»Aber du warst doch schon mal verheiratet. Wie hat denn dein Ex damals um deine Hand angehalten?«, stellte Tatjana eine berechtigte Frage.
Marianne verdrehte die Augen.
»Auf einer Party hat er einfach meine Hand genommen und vor versammelter Mannschaft erklärt, dass er mich heiraten wird. Das war’s.«
Diese Vorstellung überraschte Tatjana genauso wie Marla.
»Er hat dich vorher nicht gefragt?«, hakte die Malerin nach. »Du hattest keine Ahnung von seinen Absichten?«
»Nicht den Hauch einer Ahnung«, musste Marianne zugeben, auch wenn sie sich das heute nicht mehr vorstellen konnte.
»Und du hast ihn trotzdem geheiratet?«, staunte Tatjana nicht schlecht.
Sie hatte die Mutter eines fast erwachsenen Sohnes anders kennengelernt.
Marianne lachte selbst über ihre eigene Naivität von damals.
»Glaubt mir, mit dem Wissen von heute würde mir das im Traum nicht mehr einfallen«, gestand sie und löffelte den restlichen Milchschaum aus ihrer Tasse. »Heute weiß ich, dass ein anständiger Heiratsantrag sehr viel über den Bräutigam und die Ehe aussagt. Aber damals war ich jung und dumm und brauchte die Liebe«, wandelte sie das bekannte Sprichwort für ihre Zwecke ab. Gleich darauf warf sie einen Blick auf die Uhr. »Ich will ja nicht ungemütlich werden, aber allmählich sollten wir die Planung für die Hochzeitfeierlichkeiten in Angriff nehmen, bevor uns die Gäste die Bude einrennen«, gab sie zu bedenken.
Es war kurz nach Mittag, und im Augenblick war das kleine Café mit der angeschlossenen Bäckerei, das Danny Nordens Freundin Tatjana seit einer Weile betrieb, leer. Erfahrungsgemäß würden aber die ersten Kaffeegäste demnächst kommen und der Ruhe ein Ende bereiten.
»Gute Idee«, stimmte Marla diesem Vorschlag zu und warf einen Blick auf Tatjanas Rezeptideen. »In einer halben Stunde muss ich auch los. Ich hab einen Vorsorgetermin bei Danny.« Als sie die Bewegungen ihres Kindes spürte, legte sie intuitiv eine Hand auf den Bauch. Nach einer dramatischen Operation im Mutterleib wuchs und gedieh der kleine Fynn prächtig. Er war auch der Grund für dafür, dass die Hochzeit in wenigen Wochen über die Bühne gehen sollte, bevor sie zu dick für ein Brautkleid war. »Und danach gehe ich Brautkleid anprobieren. Kann einer von euch mitkommen?«
»Tut mir leid. Für so was bin ich eindeutig die Falsche«, lehnte Marianne ohne Zögern ab.
Und auch Tatjana schüttelte den Kopf.
»Ich komme ja wirklich sehr gut klar damit, dass ich weniger sehe als andere«, erklärte sie. »Aber um ein Kleid auszusuchen, ist es vielleicht doch ein bisschen zu wenig. An deiner Stelle wäre mir das Risiko zu groß.«
»Für so was ist doch eigentlich die Brautmutter zuständig«, erinnerte sich Marianne an ihre eigene Hochzeit, die viele Jahre zurücklag.
Marla erschrak und suchte schon nach einer Antwort, als Tatjana ihr diese Sorge abnahm.
»Schon traurig, dass wir beide keine Familie mehr haben, die uns bei solchen einschneidenden Ereignissen beistehen kann.«
»Du hast ja immerhin noch deinen Vater«, warf Marianne ein.
»Aber der lebt weit weg. Und Marla ist ja auch kein Waisenkind. Manchmal trennen sich die Wege eben. Blutsverwandtschaft ist noch lange kein Garant für Sympathie. Nicht wahr, Marla?«
Als die junge Bäckerin angesprochen wurde, zuckte sie zusammen. Sie wagte es nicht, ihrer Chefin in die Augen zu sehen.
»Ja, da ist schon was dran.«
Es war ihr deutlich anzumerken, dass etwas nicht stimmte. Doch dieses eine Mal ließ Tatjanas Gespür sie im Stich. Das lag auch daran, dass die Zeit knapp wurde.
»Wenn das geklärt ist, sollten wir uns an die Arbeit machen.« Sie zog die Listen mit ihren Rezepten zu sich. Die Feier sollte in kleinem Rahmen im Café ›Schöne Aussichten‹ stattfinden. Dazu plante die Chefin ein Buffet, das keine Wünsche offen ließ. Schon jetzt freute sie sich wie ein kleines Kind darauf, ihrer Leidenschaft fürs Zubereiten unwiderstehlicher Köstlichkeiten freien Lauf lassen zu können. Mit Stift und Papier bewaffnet machte sie sich an die Planung, eifrig unterstützt von ihrer Kollegin und der Braut.
*
Die Mittagspause neigte sich ihrem Ende entgegen. Trotzdem blieb noch genug Zeit für eine Tasse Kaffee, die Dr. Danny Norden am Tresen stehend bei seinen beiden Assistentinnen einnahm. Anders als sonst war die Stimmung nicht ausgelassen und heiter, sondern passte zum Regen, der an die Scheiben prasselte.
»… es war ein Lichtung im Wald«, raunte Janine Merck, die das Praxisteam verstärkte, seit Danny Norden Junior in die Praxis mit eingestiegen war. »Keine Menschenseele war zu sehen. Die Frau stand also am Rand der Lichtung, die sich kreisrund vor ihr öffnete. In der Mitte stand eine Bank.«
In diesem Moment flackerte die Flurlampe, Donner grollte. Wendy, die neben Janine an ihrem Schreibtisch saß und mit angehaltenem Atem zuhörte, stieß einen leisen Schrei aus.
Danny verzog das Gesicht zu einer Fratze.
»Huhu, es spukt …« Er hob die Hände, krümmte die Finger und streckte sie nach Wendy aus.
»Hör auf mit dem Unsinn!«, setzte sie sich empört zur Wehr.
»Apropos Spuk, erinnert ihr euch an den Poltergeist, der vor vielen Jahren in einer Zahnarztpraxis sein Unwesen getrieben haben soll«, war auch Dr. Daniel Norden senior weit davon entfernt, Janines Erzählung ernst zu nehmen.
»Jetzt wartete doch mal. Ich bin noch nicht fertig!«, schimpfte sie, und folgsam konzentrierten sich die Kollegen wieder auf ihre Geschichte. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. In dem Augenblick, in dem die Frau zur Bank hinübersah, öffnete sich der Himmel, und ein einziger Sonnenstrahl fiel auf die Lichtung und direkt auf die Bank. Er beschien die Gestalt eines Mannes, der dort saß. Ganz in Weiß gekleidet, lächelte er sie an. Das Blut gefror ihr in den Adern.«
»Damit ist er ein Fall für den Schockraum«, krächzte Danny und rollte mit den Augen wie ein Geist.
Diesmal ließ sich Janine nicht beirren.
»Ruhe! Jetzt kommt die beste Stelle«, befahl sie. »Die Frau sah sein Gesicht und erkannte den Mann, dessen Bild sie vor ein paar Tagen in der Zeitung gesehen hatte. Nach einem Streit mit seiner Frau war er mit dem Auto an einen Baum gefahren und gestorben.«
Wendy umklammerte ihre Stuhllehne mit beiden Händen. Das Grauen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ganz im Gegensatz zu ihrem Chef Daniel Norden.
»Offenbar war er doch noch nicht ganz hinüber«, stellte er sarkastisch fest und machte keinen Hehl daraus, dass er von diesem Hokuspokus nicht viel hielt.
Janine war beleidigt.
»Also echt!« Sie schlug mit der Hand auf die Tischplatte, und Wendy zuckte zusammen. »Das stand genau so in der Zeitung. Es macht wirklich keinen Spaß, euch was zu erzählen«, beschwerte sie sich und wirkte so enttäuscht, dass sie Danny fast leid tat.
»Ich entschuldige mich in aller Form für meinen grobschlächtigen Vater. Ich fürchte, das ist einfach nicht seine Welt. Er ist viel zu sehr Naturwissenschaftler, um an so was zu glauben. Wie ich im Übrigen auch«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Die ehemalige Krankenschwester zog eine Schnute.
»Aber das hat doch damit nichts zu tun«, verteidigte sie ihre Meinung. »Nur weil sich solche Phänomene wissenschaftlich nicht beweisen lassen, heißt das noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.«
»Also, in dem Fall des Zahnarzt-Poltergeistes handelte es sich um eine Zahnarzthelferin, die ein bisschen Aufmerksamkeit erregen wollte«, begründete Dr. Norden seine Haltung.
»Mag ja sein«, ließ sich Janine nicht beeindrucken. »Ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass man so lange nicht an Geister glaubt, bis sie vor einem stehen.
Daniel lachte.
»Dann reden wir einfach weiter, wenn mir mein erster Geist über den Weg gelaufen ist.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als erneut ein Blitz über den Himmel zuckte. Schlagartig wurde es dunkel in der Praxis, und ein Donnerschlag erschütterte den ganzen Raum. Als das Licht wieder anging, waren die vier Mitarbeiter der Praxis Dr. Norden nicht mehr allein. Eine in einen knielangen, hellen Umhang gewandete Gestalt stand in der Tür.
»Oh, Mann, die beste Pelerine taugt nichts gegen diesen Wolkenbruch. Man könnte meinen, der jüngste Tag ist gekommen.«
Obwohl Daniel versichert hatte, immun gegen jede Art von Aberglauben zu sein, war auch er im ersten Moment erschrocken. Als er aber die Besucherin erkannte, lachte er laut heraus.
»Ach, Marla, du bist es!«
»Wer denn sonst?« Überrascht betrachtete die junge Bäckerin die erleichterten Gesichter. »Was dachtet ihr denn? Der Heilige Geist?«
»So was in der Art«, gestand Danny und half ihr, aus der Pelerine zu schlüpfen. »Seit wann trägst du so schmeichelhafte Kleidungsstücke?« Mit dieser Bemerkung hatte er nicht ganz unrecht. Marla liebte es, ihre gute Figur mit entsprechender Kleidung zu betonen.
»Seit ich mit einem Schirm glatt wegfliegen würde.«
»Eins zu null für dich«, lachte Danny und leerte seine Kaffeetasse. »Dann wollen wir mal Fynn guten Tag sagen.« Er winkte Marla mit sich und ging voraus Richtung Sprechzimmer.
Janine, Wendy und Daniel sahen den beiden nach. Der Senior beschloss, sich ebenfalls an die Arbeit zu machen.
»Auch das schönste Grauen muss einmal ein Ende haben«, witzelte er und machte sich auf den Weg. Dr. Norden war noch nicht in seinem Zimmer angelangt, als das Telefon am Tresen klingelte.
Wendy meldete sich mit gewohnt freundlicher Stimme, und schon wollte Daniel die Tür hinter sich schließen, als ihn ein Rufen davon abhielt.
»Weit gefehlt, Chef!«, rief ihm die langjährige Assistentin durch die Praxis nach. »Tatjana ist dran, und sie klingt so, als ob das Grauen direkt weitergeht.«
Daniel überlegte nicht lange.
»Stellen Sie sie durch.« Wenn die Freundin seines ältesten Sohnes Beistand brauchte, musste es ernst sein.
Das Schicksal war nicht gerade zimperlich mit der jungen Bäckerin umgesprungen. Vor vielen Jahren war ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Tatjana hatte schwer verletzt überlebt, aber ihr Augenlicht verloren. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, hatte sie sich unter Aufbietung aller Kraft ins Leben zurückgekämpft. Sie gönnte sich kein Selbstmitleid und rang ihrer Behinderung so viel Positives wie möglich ab. Die unglaubliche Sensibilität, mit der ihre verbliebenen Sinne ihre Umwelt wahrnahmen und analysierten, blieb ihr auch nach einer Operation erhalten, durch die sie einen Teil ihrer Sehkraft zurückerhalten hatte. All das war der Grund dafür, dass sich Tatjana selten aufregte.
Deshalb nahm Daniel Wendys Ankündigung mehr als ernst und ging sofort an den Apparat.
»Tatjana, was ist passiert?«, fragte er und hörte zunächst nur ein Schluchzen. »Tatti, bitte beruhig dich. Was ist los?«, fragte er noch einmal. Statt sich zu setzen, blieb er am Schreibtisch stehen.
»Ein Autounfall … vor der Bäckerei … schnell … Hilfe …«, stammelte die Bäckerin zusammenhanglose Worte, auf die der Arzt sich einen Reim zu machen versuchte.
»Vor der Bäckerei gab es einen Verkehrsunfall?«, fragte er so besonnen wie möglich.
Tatjana schluchzte auf.
»Ja. Eine … eine Frau … Sie ist verletzt … Sie lag da wie meine Mutter …«
Allmählich verstand Dr. Norden, was mit Tatjana los war. Ganz offensichtlich hatten die Bilder Erinnerungen an den Schicksalsschlag geweckt und die Tragödie von einer Sekunde auf die andere wieder in ihre Erinnerung katapultiert.
»Ganz ruhig, mein Schatz. Bitte reg dich nicht auf. Hast du den Notarzt gerufen?«
»Ja … ja … Marianne … ich … ist Danny da? Kann er … kann er kommen?«, gelang es Tatjana endlich, die Frage zu stellen, dir ihr auf dem Herzen lag.
»Danny ist gerade in einer Untersuchung. Aber wenn du willst, kann ich in ein paar Minuten bei dir sein.«
»D… d… da… danke!«, schnatterte Tatjana.
Offenbar zitterte sie wie Espenlaub.
Daniel Norden versprach, sich sofort auf den Weg zu machen, und legte auf. Ein paar Augenblicke später stürzte er aus dem Zimmer.
»Ich bin in den ›Schönen Aussichten‹«, rief er seinen Assistentinnen zu, während er in aller Eile in seine Jacke schlüpfte.
Glücklicherweise hatte das Gewitter so schnell aufgehört, wie es gekommen war, und schon blitzten wieder Fetzen von blauem Himmel durch die Wolken.
»Schöne Aussichten hab ich mir irgendwie anders vorgestellt«, bemerkte Wendy lakonisch, während sie ihrem Chef nachsah.
Janine nickte vielsagend dazu.
*
»Hallo, können Sie mich hören?« Während Tatjana in der Bäckerei mit ihrem Schwiegervater in spe telefonierte, war Marianne Hasselt nicht untätig gewesen. Sie stand neben dem Auto, das sich mit dem Kühler in den Ampelmasten in der Nähe der Bäckerei gebohrt hatte, und starrte durch die geborstene Seitenscheibe auf die bewusstlose Frau. »Oh, Mann, da bin ich seit Monaten mit einem Arzt zusammen und habe keinen Schimmer mehr von Erster Hilfe«, tadelte sie sich selbst, als die Frau im Inneren des Wagens nicht antwortete. »Wenn das hier vorbei ist, melde ich mich sofort zu einem Kursus an«, versprach sie sich selbst, als sie fühlte, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legten und sie zur Seite schoben. Glücklicherweise lag die Bäckerei nicht sehr weit entfernt von der Praxis, und Dr. Norden hatte die Unfallstelle in weniger als zehn Minuten erreicht.
»Lass mich mal ran, Marianne.« Das ließ sich die Tortenkünstlerin nicht zwei Mal sagen und sah Daniel dabei zu, wie er die Wagentür öffnete und sich über die Verletzte beugte. Er wusste genau, was zu tun war, und erkannte innerhalb kürzester Zeit, dass der Zustand der Frau trotz der Bewusstlosigkeit nicht lebensbedrohlich war.
»Sieht schlimmer aus, als es ist«, teilte er Marianne mit, als das Martinshorn zu hören war.
Kurz darauf hielt der Rettungswagen hinter dem Unfallwagen, und die Sanitäter sprangen aus dem Wagen.
»Die Frau ist bewusstlos. Ich tippe mal auf ein Schleudertrauma. Außerdem konnte ich Prellungen und Schnittwunden feststellen, die genäht werden müssen. Innere Verletzungen sind nach bisheriger Erkenntnis auszuschließen«, teilte Daniel den Kollegen seine bisherigen Erkenntnisse mit.
»Saubere Arbeit«, lobte Dr. Heinze, der den Kollegen von früheren Einsätzen und seiner Arbeit in der Behnisch-Klinik kannte. »In Zukunft schicken wir Sie als Vorhut zu den Unfällen. Dann haben wir keine Arbeit mehr«, witzelte er, nachdem er den Kollegen Anweisungen zur Weiterversorgung der Patientin gegeben hatte.
»Das könnte Ihnen so passen«, ging Dr. Norden auf den scherzhaften Tonfall ein. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie wichtig es war, emotionalen Abstand zu den Schicksalen zu halten, mit denen die Ersthelfer tagtäglich konfrontiert wurden. »Als Entschädigung würde ich Sie jetzt liebend gern zu Kaffee und Torte einladen. Aber leider müssen Sie jetzt weiter.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh! Ich komme auf das Angebot zurück!«, warnte Dr. Heinze mit erhobenem Zeigefinger und verabschiedete sich.
Daniel sah dem Rettungswagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Polizeibeamte waren inzwischen am Unfallort angelangt und machten sich an die Spurensicherung, sodass der Arzt sich zunächst um Tatjana kümmern konnte.
Er fand seine Schwiegertochter in spe gemeinsam mit Marianne in der Backstube, wo sie immer noch zitternd an der Arbeitsplatte lehnte. Als sie den Vater ihres Freundes sah, gab es kein Halten mehr.
»Oh, Daniel, gut, dass du hier bist!« Sie stürzte auf ihn zu und umschlang ihn wie eine Ertrinkende.
»Ruhig, mein Mädchen. Ganz ruhig«, redete Dr. Norden mit der Samtstimme auf sie ein, die er für solche Fälle reserviert hatte. »Alles ist gut.«
»Dann … dann ist sie nicht tot?«, stammelte Tatjana und hob den Kopf von seiner Schulter.
Mit dem Ärmel wischte sie sich über das Gesicht und sah den Vater ihres Freundes an.
»Natürlich nicht.« In ihren Augen konnte er lesen, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Zum Glück wiederholt sich nicht immer alles. Das Schicksal schreibt viele verschiedene Bücher«, versuchte er, sie zu beruhigen.
Tatjana biss sich auf die Unterlippe und nickte. Daniels Anwesenheit beruhigte sie sichtlich.
»Es tut mir leid. Du weißt ja, dass ich normalerweise nicht so ein Weichei und schon gar nicht hysterisch bin. Aber ich hatte einfach Angst. Als meine Mutter damals …«, sie stockte, unsicher, ob sie die Wahrheit aussprechen konnte, »als meine Mutter damals ums Leben gekommen ist, sah es genauso aus. Zumindest bilde ich mir das ein.« Sie hielt inne und dachte nach. »Seltsam. Ich habe diese Bilder im Kopf, obwohl ich selbst bei dem Unfall erblindet bin. Wie kann das sein?« Erst in diesem Augenblick wurde sie dieses Rätsel gewahr.
»Möglich, dass dein Gehirn Bilder abgespeichert hat, die du in Bruchteilen von Sekunden gesehen hast, bevor du selbst verletzt wurdest.« Das war die einzige Erklärung, die Dr. Norden zu diesem Phänomen hatte, und kurz musste er an Janine und ihre Gruselgeschichte denken. Vielleicht glaubte man wirklich erst dann an diese Erscheinungen, wenn man keine passende Erklärung mehr parat hatte.
»Kann sein«, räumte Tatjana ein und konnte schon wieder lächeln.
Allmählich ging es ihr besser, und sie bot ihrem Schwiegervater in spe eine Tasse Kaffee an. Daniel überlegte kurz, entschied sich dann aber dafür, das Angebot anzunehmen, bis er ganz sicher sein konnte, dass sich Tatjana wieder gefangen hatte.
»Wie ist der Unfall überhaupt passiert?«, erkundigte er sich. »Der Regenguss war doch schon vorbei und die Sicht wieder klar. Oder?«
Die Kaffeemaschine blubberte und zischte, und Tatjana nickte.
»Marianne stand zufällig am Fenster und hat rausgeschaut. Weit und breit war niemand zu sehen. Keine Menschenseele war auf der Straße.« Sie stellte den dampfenden Kaffee auf den Tresen.
»Kein Wunder! Bei dem Wetter.« Daniel löffelte Zucker in seine Tasse und rührte um.
»Auch kein anderes Auto. Die Frau ist schnurstracks gegen den Ampelmasten gefahren. Einfach so.« Sich selbst kochte Tatjana eine heiße, extra dicke Schokolade. Süßigkeiten waren immer noch das beste Mittel, um die Nerven zu beruhigen. Davon war sie nach wie vor felsenfest überzeugt und ließ sich auch nicht mit den besten Argumenten vom Gegenteil überzeugen.
»Das heißt, dass Marianne die einzige Zeugin ist?«, fragte Dr. Norden mit Blick auf die Beamten, die sich auf den Weg zur Bäckerei machten, um dort die Zeugin zu befragen.
»Ich denke schon.« Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens hatte Tatjana bemerkt, dass Daniels Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment abgelenkt worden war.
Als gleich darauf das Glöckchen über der Tür aufgeregt klingelte, ahnte sie sofort, wer sie besuchen kam.
»Aber vielleicht hat die Polizei ja andere Erkenntnisse gewonnen«, überraschte sie Daniel ein weiteres Mal mit ihrem fast unheimlichen Gespür.
»Du wirst es gleich erfahren.« Er leerte seine Tasse in einem letzten, großen Zug und stellte sie dann eigenhändig in die Spüle hinter dem Tresen. »Kann ich dich allein lassen oder soll ich bleiben? Ich würde gern in die Klinik fahren und herausfinden, wie es der Patientin geht.«
Das Lächeln, das auf Tatjanas Gesicht erschien, war dankbar.
»Danke, es geht schon wieder. Die Dosis Norden zeigt ihre Wirkung. Jetzt kann mir nichts mehr passieren!«, versprach sie und verabschiedete ihren Schwiegervater in spe mit einer Umarmung, die ihm beinahe die Luft abschnürte.
*
Unterdessen war die verunfallte Frau in der Klinik angekommen. Der Notfallarzt Dr. Weigand übernahm die Versorgung der Patientin.
»Wir bringen Sie in den Schockraum«, entschied er, nachdem er den Bericht des Rettungsarztes entgegen genommen hatte. »Ich brauche sofort Röntgen und Ultraschall. Kommt noch ein Unfallgegner?«, wandte er sich an Schwester Elena, die den Transport der Patientin in den Schockraum begleitete.
»Nein, der Sani hat gesagt, dass weit und breit nichts zu sehen war. Nur eine Frau hat den Unfall beobachtet. Offenbar ist die Patientin ohne Not einfach in die Ampel gefahren.«
»Seltsam.« Matthias Weigand kannte und schätzte die Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ »Dabei ist die Straße vor dem Café doch ziemlich belebt.«
»Bei dem Regenguss vorhin haben es wohl die meisten vorgezogen, daheim zu bleiben«, erwiderte Elena und wartete, bis sich die automatischen Türen des Schockraums öffneten.
»Regenguss?«, wunderte sich Dr. Weigand.
Kritisch zog Elena eine Augenbraue hoch.
»Wenn Sie das Gewitter nicht mitbekommen haben, sind Sie definitiv überarbeitet«, stellte sie fest, konzentrierte sich dann aber auf die Patientin. Auf Matthias’ Kommando hoben zwei Pfleger sie von der Rollliege auf den Behandlungstisch.
Die Patientin, eine Frau in den Fünfzigern, stöhnte leise.
»Sie wacht auf!«, bemerkte Schwester Elena, und der Arzt beugte sich über sie, als sich Dr. Daniel Norden zu ihnen gesellte.
Er grüßte mit einem Lächeln in die Runde.
»Ich hab die Erstversorgung übernommen und wollte mal nach ihr sehen«, erklärte er sein Auftauchen, und Matthias nickte, ehe er sich wieder der Patientin zuwandte.
»Können Sie mich hören? Mein Name ist Dr. Weigand. Sie hatten einen Autounfall und sind jetzt in der Behnisch-Klinik.« Er sprach langsam und deutlich, um sicherzugehen, dass seine Worte auch ankamen.
Die Frau blinzelte und sah sich um, so gut es mit der Halskrause möglich war. Es war offensichtlich, dass sie Angst hatte.
»Wo sind sie? Die Männer … sie wollten mich umbringen.« Ihr Atem ging schnell, und es war klar, dass ihre Panik echt war.
Dr. Weigand, Schwester Elena und Daniel Norden tauschten vielsagende Blicke.
»Wer wollte Sie umbringen?«, erkundigte sich Daniel und trat auf die andere Seite des Tisches.
Die Augen der Frau folgten ihm.
»Die Männer. Sie haben mich verfolgt und waren direkt hinter mir.« Es war ihr anzusehen, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. »Deshalb war ich unaufmerksam und bin gegen die Ampel gefahren.«
»Beruhigen Sie sich. Sie stehen unter Schock.« Daniel legte eine Hand auf den Arm der Patientin. In ihrem Zustand konnte jede Aufregung schaden. »Wollen Sie uns zuerst mal Ihren Namen sagen?«
»Moebius. Heike Moebius«, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.
»Gut, Frau Moebius, wir werden Sie jetzt untersuchen, bevor wir die Schnittwunden nähen. Mit Sicherheit werden Sie ein paar Tage hier in der Klinik verbringen«, übernahm Dr. Weigand das Wort. »Gibt es jemanden, den wir informieren sollen?«
Zuerst hatten die Ärzte den Eindruck, Frau Moebius hätte sie nicht verstanden. Fragend blickte sie von einem zum anderen, gab aber schließlich doch eine Antwort.
»Nein … niemanden. Ich … ich komme nicht aus München.«
Daniel schüttelte den Kopf.
»Das macht doch nichts. Sagen Sie einfach, wen wir verständigen sollen.«
Wieder stiegen Tränen in Heikes Augen.
»Ich habe niemanden mehr.« Sie fixierte Dr. Norden. Offenbar gehörte ihm ihr Vertrauen. »Wurden die Männer verhaftet? Ich meine die, die mich verfolgt haben?«
»Soweit ich weiß, noch nicht«, antwortete er. »Die Polizei wird sicher bald mit Ihnen sprechen wollen. Aber zuerst versorgen wir jetzt mal Ihre Wunden und machen die nötigen Untersuchungen.«
Schwester Elena bemerkte, wie der Atem der Patientin schon wieder schneller ging.
»Keine Angst«, wollte sie Heike Moebius beruhigen. »Die bekommen ihre gerechte Strafe«« Ihre Worte zeigten Wirkung.
Heikes Atem beruhigte sich wieder, sodass Dr. Weigand mit den Untersuchungen beginnen konnte.
*
Während Heike Moebius beim Röntgen war, warteten Schwester Elena und Daniel Norden im Aufenthaltsraum auf Neuigkeiten.
»Seltsame Geschichte«, murmelte der Arzt vor sich hin, während sich Elena an den Computer setzte, um das Krankenblatt anzulegen. »Sie hatte einen Autounfall und behauptet, jemand hätte sie verfolgt. Dabei war weit und breit niemand zu sehen.« In Gedanken versunken nippte er an einem Glas Wasser.
»Das ist wirklich abenteuerlich«, gab Elena ihm recht und blickte auf das Formular auf dem Bildschirm. »Hatten Sie vorhin, bei der Frage nach den Angehörigen, nicht auch den Eindruck, dass sie einer Antwort ausweicht?«
»Dafür kann auch der Schock verantwortlich sein«, erwiderte Daniel und wippte mit dem Stuhl vor und zurück.
Der Tadel in Elenas Blick war nicht zu übersehen.
»Wer schaukelt, steht!«, ermahnte sie ihn.
»Wie bitte?«
Die Schwester lachte.
»Das bekommen meine Kinder in der Schule immer zu hören. Wer mit dem Stuhl schaukelt, muss aufstehen.«
»Oh, das will ich auf keinen Fall riskieren«, erwiderte Daniel sichtlich belustigt, und Elena wandte sich wieder dem Formular zu.
»Dann wollen wir mal sehen«, murmelte sie vor sich hin. »Der Name ist Heike Moebius.« Sie tippte die Buchstaben in den Computer ein. »Damit hört es aber schon wieder auf«, seufzte sie. »Sie wissen wahrscheinlich auch nicht mehr über die Patientin, oder? Geburtsdatum? Wohnort? Krankenversicherung?«
»Leider nein. Aber warum werfen Sie nicht einen Blick in Ihre Handtasche?«, machte der Arzt einen praktischen Vorschlag. »Das ist doch die von Frau Moebius.« Er deutete auf die Tasche, die Schwester Elena von der Liege mitgenommen und im Aufenthaltsraum auf den Tisch gelegt hatte, um sie der Eigentümerin später zurückzugeben.
»Ach, die hab ich ja ganz vergessen.« Elena lächelte und stand auf. »Sie sind mein Zeuge, dass ich nur den Ausweis suche.«
»Ich bin die Aufmerksamkeit in Person! Und unbestechlich«, versprach Daniel und sah Elena bei ihrer Suche zu.
»Hmmm, hier ist ein Portemonnaie. Da könnte der Ausweis drin sein.« Sie zog das schwarze Lederetui heraus und drehte es nach links und rechts. »Zumindest trifft es keine Arme. Diese Börse ist ein Designerstück«, lobte sie anerkennend. »Genau wie die Handtasche.«
»Die Dame scheint einen guten Geschmack zu haben«, lobte auch Dr. Norden. »Leider hat der sie nicht vor ihrem Unfall bewahrt.«
Schwester Elena verstand diesen Hinweis und wurde rot.
»Sie haben natürlich recht. Trotzdem machen schöne Dinge das Leben manchmal angenehmer. Wer weiß, auf was sie im Gegenzug verzichten muss, das sie gern gegen jeden Reichtum der Welt eintauschen würde.« Sie musste daran denken, dass es niemanden auf der Welt gab, den Heike Moebius über ihren Unfall informieren wollte. Ein trauriges Schicksal. »Hoppla!« Während sich Elena mit dem Arzt unterhielt, hatte sie ihre Suche nach dem Personalausweis fortgesetzt und war schließlich fündig geworden. Als sie die Plastikkarte herauszog, fiel ein kleines Foto aus dem Portemonnaie und flatterte zu Boden und direkt vor die Füße von Dr. Norden.
Daniel bückte sich danach. Er wollte es Elena zurückgeben, als sein Blick darauf fiel.
»Ich fresse einen Besen. Wenn das nicht Marla ist!« Zweifelsfrei erkannte er Tatjanas Mitarbeiterin, die auf dem älteren Foto abgebildet war. »Da ist sie zwar erst fünfzehn oder sechzehn. Aber es ist eindeutig Marla.« Er setzte sich aufrecht auf den Stuhl und drehte das Bild um. Eine Telefonnummer war darauf notiert. »Na, das kann ich ja gleich mal ausprobieren«, bemerkte er und war sofort auf den Beinen. Unter Elenas verwunderten Blicken wählte er die Nummer, die in schwungvoller Schrift vermerkt war. Gespannt warteten beide auf eine Antwort.
*
»Dieses Kleid sieht einfach zauberhaft an Ihnen aus!« Die Verkäuferin des Brautmodengeschäfts musterte ihre Kundin wohlwollend. »Wenn wir hier am Rücken noch einen Abnäher machen und es um ein paar Zentimeter kürzen, sitzt es wie angegossen.«
Marla stand vor dem Spiegel und musterte sich. Sie war nicht halb so überzeugt wie ihre Beraterin.
»Ich weiß nicht. Sieht das nicht aus wie Omas Tischdecke?« In ihrer Stimme schwang Unsicherheit, während ihre Hände über die Spitzeneinsätze streichelten.
»Also, ich finde, du siehst toll aus!« Ohne dass Marla es bemerkt hatte, war ein Mann wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht. Es war niemand anderer als ihr Verlobter Pascal, der die Hände um ihre Hüften legte und sie über ihre Schulter hinweg im Spiegel anlachte. »Selbst aus Omas Tischdecke machst du ein Kunstwerk.«
Die Verkäuferin warf ihm einen beleidigten Blick zu, und Marla drehte sich zu ihm um. Ihre Augen funkelten vor unterdrücktem Lachen. Doch ihre Stimme war streng, als sie fragte: »Was machst du denn hier? Weißt du nicht, dass es Unglück bringt, wenn der Bräutigam die Braut vor der Hochzeit sieht?«
Pascal senkte den Kopf und schützte Verlegenheit vor.
»Es tut mir leid.« Verlegenheit vorschützend zupfte er an einer von Marlas Burgundersträhnen. »Ich war in der Bäckerei und wollte mich erkundigen, wie es unserem kleinen Helden geht. Da hat Tatjana mir erzählt, dass du Hochzeitskleid aussuchen und ganz traurig bist, weil du allein gehen musst. Diesen Gedanken habe ich nicht ertragen.«
»Oh, Mann!«, schimpfte Marla nicht ganz ernst. »Normalerweise ist Tatjana verschwiegen wie ein Grab.« Sie musterte ihren zukünftigen Mann, als ihr ein Gedanke kam. »Oder hast du sie etwa erpresst?«
»Na ja, vielleicht hab ich sie ein bisschen genervt mit meinen Fragen«, grinste er. »Sie war nervös heute und offenbar froh, mich wieder los zu sein.«
Diese Nachricht verwunderte Marla.
»Seltsam.« Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Blick ging durch Pascal hindurch, während sie nachdachte. »Bevor ich heute zu Danny gegangen bin, war sie völlig entspannt. Hoffentlich ist nichts passiert.«
»Keine Ahnung.« Der Galerist zuckte mit den Schultern und beugte sich zu seiner zukünftigen Frau. »Aber ich fürchte, hier passiert gleich was, wenn du nicht schnell ein anderes Kleid anprobierst«, machte er Marla auf die ungeduldige Verkäuferin aufmerksam.
»Na und? Ich bin hier die Kundin«, schnaubte sie. »Ich ziehe nur für dich noch andere Kleider an.«
»Nichts anderes wollte ich hören, Prinzessin.« Pascal schickte ihr eine Kusshand, und Marla verschwand hinter dem Vorhang in der Umkleide, wo noch eine ansehnliche Auswahl auf sie wartete. Während sie noch mit dem Reißverschluss kämpfte, klingelte ihr Handy.
»Ausgerechnet jetzt!« Marla suchte in ihrer Jeansjacke nach dem Mobiltelefon und warf einen Blick darauf. »Hmmm, die Nummer kenne ich nicht.« Sie widerstand dem ersten Impuls und drückte das Gespräch nicht weg. »Hallo!«, meldete sie sich zurückhaltend, wie immer, wenn sie den Anrufer nicht kannte.
»Marla, bist du das? Hier spricht Daniel Norden«, meldete sich eine bekannte Stimme.
Erleichtert atmete die Bäckerin auf. Aber nur kurz. Sofort dachte sie wieder an Pascals Bericht und daran, wie nervös Tatjana gewesen war.
»Daniel, stimmt was nicht? Ist was mit Tatjana?«, platzte sie heraus.
»Mit Tatti ist meines Wissens alles in Ordnung. Vielleicht ist sie noch ein bisschen verwirrt wegen des Unfalls«, erwiderte Dr. Norden. »Das ist auch der Grund, warum ich dich sprechen möchte. Es geht um deine Mutter. Sie hatte einen Unfall in der Nähe der Bäckerei und liegt jetzt in der Behnisch-Klinik.«
In diesem Augenblick erstarrten Marlas Gesichtszüge, und sie spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Schnell warf sie einen Blick durch den Spalt des Vorhangs vor der Umkleide. Pascal war in ein Gespräch mit der Verkäuferin vertieft und ließ seinen Charme spielen, wie sie an ihrem Lächeln erkennen konnte. Wenigstens von dieser Seite drohte keine Gefahr, und Marla konnte sich wieder auf das Gespräch konzentrieren.
»Meine Mutter? Ich habe keine Mutter mehr.« So leise ihre Stimme war, so schrill war sie. »Für mich ist sie gestorben. Sprich mich nie wieder auf sie an.« Ehe Daniel Norden etwas antworten konnte, drückte sie auf einen Knopf und beendete das Gespräch. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Reißverschluss des Kleides erst recht nicht mehr öffnen konnte.
»Kann ich dir helfen, Prinzessin?« Pascals Stimme ließ sie zusammenzucken, und sie sah ihn an wie ein aufgeschrecktes Kaninchen, als er seinen Kopf durch den Vorhang steckte.
»Der Reißverschluss … Ich bekomm ihn nicht auf.«
»Aber das ist doch noch lange kein Grund, panisch zu werden«, verstand der Galerist die Aufregung nicht.
Mit einem Handgriff löste er das Problem seiner Braut.
»Danke«, hauchte Marla.
Pascal legte den Kopf schief und sah sie an.
»Stimmt was nicht, Prinzessin?«
»Alles in Ordnung. Ich glaube, ich habe heute doch keine Lust mehr, Kleider zu probieren. Fynn ist müde«, gebrauchte sie eine Ausrede, die Pascal ohne Widerrede gelten ließ.
»Dann bringe ich dich nach Hause in unser Nest«, erklärte er, und Marla war dankbar dafür, dass er ihre List nicht durchschaute. »Aber ich muss dich warnen. Ich muss später wieder in die Galerie. Es kommt noch ein Interessent vorbei, der ein Bild der Künstlerin Marla Brandt kaufen will, falls dir der Name was sagt.«
Marla war dankbar für den Plauderton, den Pascal anschlug, und ging auf das Thema ein, während sie sich zum Wagen führen ließ. Das machte es ihr leichter zu vergessen, dass es diesen Anruf gegeben hatte, und sie verbannte ihn so schnell wie möglich ins Reich der Fantasie. Als Künstlerin fiel ihr das nicht schwer, und als Pascal sie bald darauf allein in der Wohnung zurücklassen musste, machte er sich keine Sorgen.
*
Nachdem Daniel Norden die Mitteilung bekommen hatte, dass Heike Moebius außer einem Schleudertrauma und den Schnittwunden keine weiteren Verletzungen erlitten hatte, machte er sich auf den Rückweg in die Praxis.
»Ach, gut, dass Sie wieder da sind, Chef«, wurde er schon ungeduldig von Wendy begrüßt.
Eine Unterschriftenmappe lag auf dem Tresen, und auch ohne Worte wusste er, was von ihm erwartet wurde.
»Schon gut, ich hab schon verstanden«, erwiderte er, machte aber keine Anstalten, die Mappe an sich zu nehmen. »Ist Danny da?«, erkundigte er sich stattdessen.
»Sie haben Glück. Er hat gerade eine Pause. Eine Patientin hat für ihren Sohn abgesagt.«
»Hat sie einen Grund genannt?«
»Nach intensiverem Nachfragen haben sich seine vermeintlichen Magenschmerzen als Mathe-Ex entpuppt, der er entgehen wollte«, versuchte Wendy, ihren offenbar schlecht gelaunten Chef aufzumuntern.
Doch der Versuch misslang. Ganz offensichtlich hatte Daniel noch nicht mal zugehört, denn ohne den Hauch eines Lächelns auf den Lippen nickte der Arzt und machte sich auf den Weg ins Sprechzimmer seines Sohnes.
Danny saß am Schreibtisch und blickte auf, als er hereinkam.
»Oh, Dad. Da bist du ja wieder. Ich dachte schon, du hast Tatjanas Angebot angenommen und als Servicekraft in den ›Schönen Aussichten‹ angeheuert.«
»Manchmal denke ich tatsächlich drüber nach«, murmelte Daniel und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. »Sag mal, hast du eine Ahnung, warum Marla behauptet, dass ihre Mutter für sie gestorben ist?«
Diese Frage überraschte Danny. Zwar hatte er inzwischen mit Tatjana telefoniert und von dem Unfall erfahren. Er wusste auch, dass die Frau mit leichteren Blessuren in die Klinik gebracht worden war. Mehr aber auch nicht.
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte er. Als er aber den Blick seines Vaters bemerkte, machte er sich wenigstens die Mühe, darüber nachzudenken. »Meines Wissens stammt Marla aus gutem Hause. Beide Eltern sind erfolgreiche Anwälte in Stuttgart und nicht gut auf ihre Tochter zu sprechen, weil sie die Schule abgebrochen hat, um sich auf ihre Malerei zu konzentrieren. Sie stellten daraufhin die finanzielle Unterstützung ein. Also ist Marla weggegangen und hat in einer Bäckerei irgendwo in München angefangen. Dieser Job hat sich zeitlich ganz gut mit der Kunstschule kombinieren lassen.«
»Klingt aber eher so, als hätten die Eltern mit ihrer Tochter gebrochen und nicht umgekehrt«, dachte Dr. Norden laut nach und sah seinen Sohn fragend an.
»Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Aber warum fragst du?«
»Die Frau, die heute Mittag vor der Bäckerei verunglückt ist, ist offenbar Marlas Mutter.« Dr. Norden gab seinem Sohn einen kurzen Überblick über das Geschehene. »Als ich Marla daraufhin anrief und sie auf ihre Mutter ansprach, hätte sie mich am liebsten aufgefressen.«
»Es gibt verlockendere Alternativen zum Kaffee«, entfuhr es Danny, der im Gegensatz zu Daniel immer noch gut gelaunt war. Als sein Vater aber auch auf diesen Scherz nicht einging, konzentrierte er sich wieder auf das Thema.
»Vielleicht ist zwischen den beiden etwas Schwerwiegendes passiert«, gab er zu bedenken. »Das sollten wir akzeptieren.«
Diese Ansicht teilte der Arzt, der reich an Lebenserfahrung war, nicht.
»Man kann sich überwerfen und auch jahrelang keinen Kontakt haben, keine Frage«, räumte der Senior ein. »Aber Heike ist Marlas Mutter! Es gibt nur wenig, was so ein Verhalten rechtfertigt. Vor allen Dingen in Anbetracht der Tatsache, dass Frau Moebius nach dem Unfall verletzt in der Klinik liegt. Marla hat noch nicht mal nach ihren Verletzungen gefragt.« Je länger Dr. Norden darüber nachdachte, umso weniger verstand er. Er sah seinen Sohn an. »Versetz dich doch mal in Marlas Lage. Was müsste passieren, damit du den Kontakt zu deiner Mutter abbrichst?«
Diese Vorstellung war so absurd, dass Danny nicht anders konnte. Ein prustendes Lachen war seine Antwort.
»Das fragst du jetzt nicht im Ernst, oder?«, erwiderte er schließlich. »Es gibt nichts, was unsere Familie je auseinanderbringen könnte. Das weißt du selbst am besten.« Um seine Worte zu bekräftigen, stand er auf und legte die Hand auf den Arm seines Vaters.
Die Blicke, die die beiden tauschten, sprachen von ihrer unerschütterlichen Verbundenheit. Natürlich hatten auch Vater und Sohn immer wieder Meinungsverschiedenheiten. Doch die Diskussionen waren geprägt von Respekt und gegenseitiger Achtung und gingen jedes Mal mit dem Gefühl zu Ende, dass es in diesem Team nur Gewinner gab.
*
Von so einem Verhältnis zu ihrem Kollegen konnte Fee Norden nur träumen. Obwohl sie alles versucht hatte, sich mit dem fachlich brillanten Volker Lammers gut zu stellen, war sie inzwischen am Ende ihres Lateins angelangt. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, schmiedete der missgünstige Kinderarzt seine Intrigen gegen sie und den Chef der Pädiatrie und ließ kein gutes Haar an beiden. Er hatte es nur seiner herausragenden fachlichen Kompetenz zu verdanken, dass die Klinikchefin Jenny Behnisch nach wie vor an ihm festhielt und Fee immer wieder gut zusprach, sämtliche persönlichen Ressentiments aus der beruflichen Zusammenarbeit herauszuhalten.
*
»Sorgen bereitet mir, dass der junge Mann seine Arme und Beine nicht mehr so wie früher bewegen kann«, sprach Fee an diesem frühen Abend ein Schlusswort und stand auf zum Zeichen, dass die Besprechung mit Dr. Lammers für diesen Tag beendet war.
Im Gegensatz zu seiner Chefin blieb der Kinderarzt aber auf seinem Stuhl sitzen und sah ihr in aller Seelenruhe dabei zu, wie sie ihren Computer herunterfuhr, die Papiere auf dem Schreibtisch zusammenräumte und zur Garderobe im hinteren Teil ihres Büros ging, um die Jacke anzuziehen.
»Und weil Sie sich so große Sorgen machen, gehen Sie jetzt nach Hause? Oder verstehe ich da was falsch?«, fragte er. Seine Stimme troff vor Sarkasmus.
Wie so oft bedauerte Felicitas, dass er solche Kommentare nur loswurde, wenn sie allein waren. In Jennys Beisein war Lammers meist die Freundlichkeit in Person.
»Ich gehe nach Hause, um dort zu recherchieren, warum sich Manuels Zustand nicht bessert, obwohl er Antibiotika bekommt.«
»Das könnten Sie hier genauso tun. Die Computer funktionieren ganz hervorragend.«
»Aber ich funktioniere besser, wenn Sie nicht in der Nähe sind«, konnte sich Fee einen entsprechenden Kommentar nicht verkneifen und löschte das Licht. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie jetzt einschließe?«
Nur ein schmaler Lichtschein fiel vom Flur ins Zimmer, und notgedrungen erhob sich Volker Lammers.
Seine Miene war grimmig, als er an seiner Vorgesetzten vorbei aus dem Büro stapfte.
»Das wird Ihnen noch leid tun«, knurrte er, und Fee schnitt in seinem Rücken eine Grimasse, ehe sie in die andere Richtung davonging.
Weit kam sie allerdings nicht. Fast sofort wurde sie auf eine Frau aufmerksam, die im Morgenmantel über den Klinikflur irrte. Sie war sichtlich aufgeregt und sah sich immer wieder um. Als sie Felicitas erblickte, hellte sich ihre Miene auf.
»Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht schlafen. Die Männer … sie sind hinter mir her.« Während sie sprach, hob und senkte sich ihre Brust schnell unter dem türkisfarbenen Morgenmantel.
Fee bemerkte sofort, dass die Patientin panisch war, und reagierte entsprechend.
»Bitte regen Sie sich nicht auf.« Sie fasste die Frau am Arm und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. »Hier sind Sie in Sicherheit. Es kann Ihnen nichts passieren.« In ihrer Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte sie gelernt, wie man mit panischen Menschen umging. Obwohl sie die Ausbildung zugunsten der Stelle der stellvertretenden Chefin der Pädiatrie abgebrochen hatte, profitierte sie immer wieder von dem Wissen. Auch diesmal hatte sie Erfolg, und die Patientin beruhigte sich schnell.
»Vielen Dank.« Als sie sah, dass tatsächlich niemand über den Flur kam, atmete sie auf. »Sie sind mein rettender Engel.«
»Schön wär’s«, lächelte Fee. »Und auch auf die Gefahr hin, dass ich Sie enttäuschen muss: Ich bin nur Ärztin auf der Kinderstation.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung und wandte den Kopf um. Niemand anderer als Dr. Lammers trieb sich immer noch in ihrer Nähe herum. Obwohl er vorgab, sich ganz und gar auf den Kaffeeautomaten auf dem Flur zu konzentrieren, wusste Felicitas, dass es die Neugier war, die ihn dort festhielt. Doch im Augenblick hatte sie Wichtigeres zu tun, als sich darüber aufzuregen, und sie wandte sich wieder ihrer Patientin zu. »Auf welcher Station liegen Sie denn?«
Diese Frage konnte die Frau nicht beantworten.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie nach kurzer Bedenkzeit. »Ich hab irgendein Schlafmittel bekommen, bevor die Schwester gegangen ist. Zuerst wurde ich auch müde. Aber dann sind die Männer wieder gekommen.« Wieder huschten die Augen der Frau umher.
Fee beschloss, pragmatisch vorzugehen.
»Wenn Sie mir Ihren Namen verraten, kann ich herausfinden, auf welcher Station Sie liegen.«
»Heike Moebius«, teilte ihr die Frau bereitwillig, mit und nach einem Telefonat mit der Zentrale wusste Felicitas Norden Bescheid.
»Kein Wunder, dass Sie sich verlaufen haben«, erklärte sie Heike, als sie sich mit ihr auf den Weg machte. »Sie wurden ja erst heute eingeliefert. Ich bringe Sie zurück auf Ihre Station.
Sehr zu Dr. Lammers Bedauern schlossen sich die Glastüren hinter den beiden Frauen, sodass er das Geschehen nicht weiter mitverfolgen konnte.
»Sie sind sehr nett. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände bereite«, entschuldigte sich Heike Moebius unterwegs. »Jetzt müssen Ihre Patienten auf Sie warten.«
»Ich habe Feierabend. Heute wartet nur noch meine Familie auf mich. Und die ist es gewohnt, dass es später werden kann«, winkte Fee guter Dinge ab.
»Sie haben es gut«, seufzte Heike, als sie durch eine weitere Glastür traten. »Auf mich wartet niemand.«
Schon von Weitem hatte Fee die Schwestern entdeckt, die aufgeregt über die Flure huschten.
»Das würde ich so nicht sagen«, erklärte sie und winkte Schwester Elena, der bei Heike Moebius’ Anblick ein Stein vom Herzen fiel.
»Da sind Sie ja, Frau Moebius!«, begrüßte sie die verloren geglaubte Patientin. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
»Dann sollten Sie mal lieber nicht sämtliches Pack hier in die Klinik lassen«, konterte Heike erbarmungslos. »Um ein Haar hätten mich diese Typen geschnappt.«
Elena schickte Fee einen fragenden Blick. Da aber auch die Ärztin nur mit den Schultern zucken konnte, fasste die Schwester ihre Patientin am Arm.
»Ich bringe Sie jetzt zurück auf Ihr Zimmer. Bei der Gelegenheit können wir nachsehen, ob da jemand ist«, machte sie einen Vorschlag, der Heike Moebius’ Anklang fand.
Doch sie hatte eine Bedingung.
»Die Frau Doktor soll mitkommen«, verlangte sie und deutete auf Felicitas, die dem Wunsch sofort Rechnung trug. Schwester Elenas Vermutung bestätigte sich. Das Zimmer war leer, und nachdem Heike Moebius nach einer weiteren Schlaftablette endlich entschlummerte, verließ sie gemeinsam mit Dr. Felicitas Norden das Zimmer.
»Dafür, dass Frau Moebius heute Nachmittag eine ordentliche Portion Schmerzmittel und vorhin noch eine Schlaftablette bekommen hat, war sie ganz schön munter.« Zwischen Elenas Augen war eine Falte aufgetaucht.
»Vielleicht steht sie noch unter Schock und ist aufgewühlt von dem Unfall«, stellte Felicitas Vermutungen an. »Da kann es schon mal vorkommen, dass die Patienten nicht wie gewohnt auf Medikamente ansprechen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, seufzte Schwester Elena, die schon oft mit der Ärztin zusammen gearbeitet hatte. »Es war übrigens dein Mann, der sie heute eingeliefert hat.«
»Daniel?« Fee konnte es nicht glauben. »Der hat wohl immer seine Finger im Spiel.«
Elena lachte, und die beiden Frauen unterhielten sich kurz.
Nach ein paar Minuten schaute Fee noch einmal nach Heike und stellte fest, dass sie friedlich in ihrem Bett schlief. Endlich konnte sich auch die Ärztin auf den Nachhauseweg machen. Im Gepäck hatte sie das Rätsel um Heike Moebius’ Immunität gegen Sedativa und hoffte, es mit Hilfe ihres Mannes lösen zu können.
*
»Ich habe Gerichte für Menschen mit Laktoseintoleranz eingeplant und welche für Vegetarier. Nussallergiker kommen genauso auf ihre Kosten wie Diabetiker.« Tatjana Bohde stand in der Backstube und starrte auf die große Pinwand, die sie über einer der Arbeitsflächen befestigt hatte. Normalerweise hingen dort immer die Kundenbestellungen. Die hatten aber den Plänen fürs Buffet weichen müssen, das Tatjana für Marlas Hochzeit plante. Sie waren in extragroßer Schrift geschrieben, damit auch sie sie lesen konnte. »Nur für Veganer habe ich nichts.«
Marianne, die an ihrem Arbeitsplatz saß und die Oberfläche einer Torte kunstvoll mit dem Konterfei eines Jubilars verzierte, sah von ihrer Arbeit auf. Ihre Augen waren gerötet von der Konzentration, und sie musste ein paar Mal blinzeln, ehe sie auch auf die Ferne wieder klar sehen konnte.
»Entspann dich!«, riet sie ihrer Chefin. »Du kannst nicht alle glücklich machen. Schließlich bist du kein Glas Nuss-Nougat-Creme.«
»Dafür hab ich ein Herz aus Schokolade«, grinste Tatjana und beschloss, Feierabend zu machen. Café und Bäckerei waren längst geschlossen, und so sah sie Marianne fragend an. »Brauchst du noch lange?«
Die Tortenkünstlerin hatte sich wieder ihrer Arbeit zugewendet. Es war faszinierend zu sehen, wie sie mit ein paar an den richtigen Stellen gesetzten Strichen dem Konterfei Charakter verlieh und es fast zum Leben erweckte.
»Wenn die hier fertig ist, hab ich noch eine Torte für morgen zu machen«, erwiderte sie, ohne den Kopf zu heben. »Eine Kundin wünscht sich für ihre amerikanische Tante Schloss Neuschwanstein. Und bitteschön so naturgetreu wie möglich.«
»Hui, da hast du dir ja was vorgenommen.« Tatjana stieß einen Pfiff durch die Zähne. »Was sagt Mario dazu?«
»Der hat heute eh Nachtschicht und ist froh, wenn ich weg bin von der Straße.« Marianne hielt in ihrer Arbeit inne und betrachtete kritisch ihr fast fertiges Werk. Hier und da fehlte noch etwas, und sie ergänzte das essbare Kunstwerk so lange, bis sie zufrieden war. »Mein Job passt quasi perfekt zu seinem.«
Tatsächlich waren die Beziehungen des leidenschaftlichen Arztes Dr. Mario Cornelius bisher immer an seinen unmöglichen Arbeitszeiten gescheitert. Höchstens alle paar Wochen eine freies Wochenende, wechselnde Arbeitszeiten und 24-Stunden-Dienste hatten ihm wie so vielen anderen Ärzten auch einen Strich durch die Rechnung gemacht. So nahm es nicht wunder, dass er eine wahre Beziehungsodyssee hinter sich hatte, ehe er die um acht Jahre ältere Marianne Hasselt kennengelernt hatte. Ihr Sohn Tobias war sein Patient gewesen, und über seiner Behandlung und Mariannes anschließendem Krankenhausaufenthalt waren die beiden sich näher gekommen. Seit Monaten führten sie eine harmonische Beziehung, und das trotz seiner Arbeitszeiten und ständigen Abrufbarkeit. Marianne führte ein eigenständiges, erfülltes Leben, hatte Verständnis und verhielt sich entsprechend.
»Und Tobias?«, erkundigte sich Tatjana.
Marianne lachte.
»Der ist froh, wenn er sturmfrei hat und ich ihn nicht ständig an die Wollmäuse in seinem Zimmer erinnere.«
»Na, dann kann ich ja beruhigt heimgehen und mich erkundigen, wie es der Frau inzwischen geht, die die Standhaftigkeit der Ampelanlage testen wollte.« Sie winkte ihrer Mitarbeiterin und machte sich auf den Weg nach draußen, wo Danny schon im Wagen auf sie wartete.
»Da bist du ja endlich!«, begrüßte er sie und hielt ihr die Tür auf. »Wenn wir uns nicht beeilen, fällt das verfressene Volk ohne uns über Lennis Lachslasagne her und wir bekommen nur noch die kläglichen Reste.«
»Lachslasagne!« Entgeistert starrte Tatjana ihren Freund an. »Warum sagst du das nicht gleich. Dafür töte ich.«
»Eben deshalb hab ich vorher nichts gesagt«, grinste der junge Arzt und startete den Wagen. »Ich wollte nichts riskieren.«
Doch als sich das Paar zu den übrigen Familienmitgliedern an den Tisch gesellte, erlebte es ein Wunder. Das Essen war noch nicht serviert. Stattdessen waren Daniel, Fee und Felix in eine angeregte Diskussion vertieft.
»Also ich tippe auf Alkohol oder Drogen«, tat der zweitälteste Sohn der Familie seine Meinung über Heike Moebius kund, als sich Tatjana und Danny an den Tisch setzten.
Nachdem er die beiden Nachzügler begrüßt hatte, ließ sich Daniel die Vermutung seines Zweitältesten durch den Kopf gehen.
»Das könnte sein. Aber letztlich kommt alles in Frage, was den Stoffwechsel durcheinander bringt.«
Danny schenkte seiner Freundin ein Glas Wasser ein, während er das Gespräch verfolgte.
»Um was geht’s denn eigentlich?«, nutzte er eine Sprechpause.
»Ach, das weißt du nicht?« Felix wandte sich seinem Bruder zu und betrachtete ihn in gespieltem Entsetzen. »Dabei bist du doch schon immer so klug.«
»Deshalb wollte ich dir auch mal einen Informationsvorsprung lassen, wenn’s mit deiner Karriere als Ergotherapeut nicht so klappt«, ließ sich Danny nicht beeindrucken.
»Das war gemein«, beschwerte sich Felix. »Was kann ich dafür, dass mich diese Schnepfe von Riemerschmidt pausenlos schikaniert?«
»Riemerschmidt und Lammers, das wäre doch das Traumpaar schlechthin«, warf Fee ein, ehe der geschwisterliche Zwist in einen richtigen Streit ausarten konnte, selbst wenn das nicht Felix’ Absicht war.
»Das ist in der Tat eine großartige Vorstellung«, lachte Daniel und beugte sich hinüber zu seiner Frau, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Wer weiß, vielleicht würde das Liebesglück beide in erträgliche Zeitgenossen verwandeln.«
»Wir werden es leider nie erfahren«, seufzte Felicitas und sah hinüber zu Lenni, die ins Esszimmer kam. In den behandschuhten Händen trug sie eine dampfende, duftende Schale. »Glücklicherweise werden wir anständig entschädigt. Für Lennis Lachslasagne würde ich noch auf ganz andere Dinge verzichten.« Ihre Augen glänzten.
Tatjana rieb sich erwartungsvoll die Hände.
»Das ist so lieb von dir, dass du extra mit dem Essen auf uns gewartet hast«, lobte sie die Haushälterin der Familie Norden, die über die Jahre zu einem unverzichtbaren Familienmitglied avanciert war. Und das lag bei Weitem nicht nur daran, dass sie so gut kochen konnte.
Statt einer Antwort stellte Lenni die Schale auf den Tisch und begann, die Lasagne in großzügige Stücke zu teilen. Ihre Wangen leuchteten in schönstem Rot und sie murmelte Unverständliches vor sich hin.
»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Ganz so war es nicht«, konnte sich Felix nicht beherrschen, die Wahrheit zu erzählten. Die Geschichte war zu schön, um sie nicht zum Besten zu geben. »Lenni hat heute nämlich schon an Gespenster geglaubt. Der Lachs, den sie nämlich zum Auftauen auf die Fensterbank gelegt hat, ist spurlos verschwunden. Nur die Tüte war noch übrig.«
»Was kann ich denn dafür, wenn in der Nachbarschaft eine neue Katze rumstreicht und ihr Unwesen treibt«, verteidigte sich Lenni mit all der Leidenschaft, derer sie fähig war. »Schließlich haben Katzen nicht die Eigenschaft, an der Haustür zu klingen und sich als neue Nachbarn vorzustellen.«
Dieses Bild war zu schön und brachte alle zum Lachen. »Aber jetzt solltet ihr essen, bevor es kalt wird«, wies die Haushälterin ihre Familie hin- und verschwand wieder in der Küche, um dafür zu sorgen, dass nicht auch noch die Nachspeise auf wundersame Art und Weise verschwand.
Das ließen sich die hungrigen Mäuler nicht zwei Mal sagen und machten sich über die Mahlzeit her.
»Was für ein Tag!«, seufzte Daniel Norden, als er sich nach dem Essen zurücklehnte. »Zuerst Janines Spukgeschichte, dann der Spuk in der Klinik mit der verunfallten Frau. Das Telefonat mit Marla, die nichts von ihrer Mutter wissen will und jetzt auch noch Gespenster in Katzenform, die unseren Fisch klauten.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Tatjana ihre großen, dunkelblauen Augen auf ihn richtete.
»Das ist Marlas Mutter in der Klinik?«, hatte sie blitzschnell die richtigen Schlüsse gezogen.
»Ach, stimmt, das hab ich völlig vergessen, dir zu erzählen«, gestand Danny. »Dad hat es zufällig rausgefunden und Marla angerufen, um sie darüber zu informieren, dass ihre Mutter hier in der Klinik liegt. Doch die wollte nichts davon wissen. Sie hat behauptet, keine Mutter mehr zu haben«, berichtete er in Kurzform von dem, was geschehen war.
»Das ist ja wirklich merkwürdig«, musste auch Tatjana eingestehen. »Ich weiß zwar, dass sie keinen Kontakt zu ihren Eltern hat. Aber dass sie sich noch nicht mal dafür interessiert, wenn ihre Mutter in der Klinik liegt, ist schon mehr als bedenklich. So gefühlskalt ist sie doch gar nicht.«
»Wirklich nicht.« Entschieden schüttelte Danny den Kopf. »Meiner Ansicht nach muss zwischen den beiden mehr passiert sein als nur ein Streit wegen Schule und Malerei. Aber ich hab schon zu Dad gesagt, dass es nicht unsere Sache ist, uns da einzumischen. Schon gar nicht nach den Problemen mit dem Baby. Marla sollte sich auf keinen Fall aufregen.« In diesem Moment war er ganz Arzt, der sich für das Wohlergehen seiner Patientin und ihres ungeborenen Babys einsetzte.
Eine Haltung, die Daniel Norden mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Trotzdem war er nicht ganz einverstanden mit seinem Sohn.
»Auf der einen Seite hast du natürlich recht«, gestand er Danny einen Teilsieg zu. »Aber wenn sich herausstellt, dass Frau Moebius Alkohol- oder gar Drogenprobleme hat, dann müssen wir Marla informieren. Das ist unsere Pflicht. Sie ist die nächste und einzige Angehörige, von der wir wissen.«
Während Tatjana der Diskussion um ihre Mitarbeiterin gelauscht hatte, hatte sie den Durchgang zur Küche nicht aus den Augen gelassen. So war sie die Erste, die Lenni bemerkte, die im Begriff war, die Nachspeise zu servieren.
»Ihr könnte euch ruhig weiter die Köpfe um Marla und ihre Mutter heiß diskutieren.« Wie immer, wenn es um Süßigkeiten und Naschwerk ging, vergaß die Bäckerin die Welt um sich herum. Wie ein Engel lächelte sie die Haushälterin an. »Inzwischen übernehme ich Pflicht, mich um diese leckere Quarkcreme zu kümmern. Völlig freiwillig und uneigennützig. Du kannst die Schüssel ruhig hier an meinen Platz stellen«, erklärte sie mit all dem Charme, zu dem sie fähig war, in Lennis Richtung.
Doch sie hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Auch die übrige Familie hatte eingesehen, dass es an diesem Abend keine Lösung mehr für das Problem gab. So ertönte lautstarker Protest, und schließlich landete die Schüssel dort, wo sie hingehörte: In der Mitte des Tisches, um den sich die Familie versammelt hatte, um die schönsten Stunden des Tages gemeinsam zu zelebrieren und damit das Glück zu feiern, dass sie einander hatten.
*
Von diesem Glück konnte Marla noch nicht einmal mehr träumen. Nur sie allein wusste, warum sie ihre Mutter verstoßen hatte;,warum Pascal auf keinen Fall die Wahrheit erfahren durfte. Genau wie zuvor ihre Mitarbeiterinnen hatte Marla ihren zukünftige Mann mit der üblichen Geschichte abgespeist. Damit hatte sich der Galerist zufrieden gegeben und seither nicht mehr nachgefragt.
Dass ihre Mutter Heike ausgerechnet so kurz vor der Hochzeit auftauchen musste, war ein großes Pech und raubte Marla ihren Seelenfrieden. Trotzdem machte sie gute Miene zum bösen Spiel, als sie an diesem Abend am Tisch des Restaurants saß, in das Pascal sie eingeladen hatte.
»Wenn das Essen bei unserer Hochzeit nur halb so gut ist, wird es ein voller Erfolg!«, seufzte er, als er sich satt und zufrieden zurücklehnte. »Der Fisch in Salzkruste war ein Gedicht.«
»Meine Nudeln waren auch ausgezeichnet«, lobte Marla ihr Gericht und griff nach ihrem Glas Wasser. »Aber du kannst sicher sein, dass Tatjana alle Register ihrer Kochkunst ziehen wird.«
»Sie ist wohl ziemlich ehrgeizig?«
»Ehrgeiz ist ihr zweiter Vorname«, lächelte Marla und dachte voller Dankbarkeit an ihre Chefin, die ihr in der schwersten Zeit ihres Lebens beigestanden und ihr sogar völlig uneigennützig ein Dach über dem Kopf gewährt hatte. »Dabei ist sie überhaupt nicht verbissen, sondern im Gegenteil der lustigste Mensch, den ich kenne.«
»Und das, obwohl sie so ein schweres Schicksal hat«, teilte Pascal ihre Bewunderung und dankte gleich darauf dem Kellner, der die Teller abräumte. »Möchtest du noch ein Dessert?«
Marla schüttelte den Kopf.
»Ein Bissen mehr und ich platze«, warnte sie.
»Das darf ich auf keinen Fall riskieren«, lächelte Pascal. Er bestellte zwei Kaffee und zog ein paar Blätter aus seinem Sakko, die er auf dem Tisch ausbreitete. »Ich hab mich heute Nachmittag mal an einer Sitzordnung versucht.«
»Aber es haben doch noch gar nicht alle Gäste geantwortet«, gab Marla zu bedenken und beugte sich über den Plan vom Café. Statt einer langen Tafel hatte Tatjana vorgeschlagen, die Tische so zu lassen, wie sie waren. Das würde es den Gästen leichter machen, sich nach dem Essen ganz nach Geschmack umzusetzen und miteinander ins Gespräch zu kommen. »Bisher haben wir ungefähr zwanzig Zusagen.«
»Und wir erwarten fünfundzwanzig Gäste!«, lachte Pascal seine Braut aus und beugte sich über den Sitzplan. »Hast du was dagegen, wenn meine Eltern bei uns am Tisch sitzen?«, fragte er sie um ihre Meinung.
Unwillkürlich musste Marla wieder an ihre Mutter denken, und es fiel ihr schwer, das Lächeln auf ihrem Gesicht festzuhalten.
»Natürlich nicht. Das gehört sich doch so.«
»Schon.« Pascal schickte ihr einen Blick, der voller Mitgefühl war, und legte seine Hand auf die ihre. »Aber ich möchte nicht, dass es dich traurig macht, dass deine Eltern nicht an deinem großen Tag dabei sein können.«
»Das ist meine eigene Entscheidung.« Marlas Ton war schärfer als beabsichtigt. Als sie Pascals Blick bemerkte, riss sie sich am Riemen. »Meine Eltern haben nicht zu mir gehalten und mir durch ihre Sturheit jede Menge Probleme beschert«, rechtfertigte sie sich mit der üblichen Halbwahrheit.
»Die Geschichte mit Paul, ich weiß«, murmelte Pascal. »Zum Glück bist du an Tatjana und Danny geraten. Dafür werde ich den beiden ewig dankbar sein.« Ohne Marla aus den Augen zu lassen, zog er ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. Eine Idee war ihm gekommen, und er zögerte nur kurz, bevor er sie aussprach. »Sag mal, wäre unsere Hochzeit nicht eine tolle Gelegenheit, dich mit deinen Eltern zu versöhnen?«
Marla entriss ihm ihre Hand so abrupt, dass sie dabei das Wasserglas umstieß. Doch sie achtete gar nicht auf das Malheur.
»Spreche ich eigentlich chinesisch? Ich will meine Eltern nie wiedersehen. Und damit basta!«, rief sie so laut, dass sich die übrigen Gäste im Restaurant nach dem Grund für den Lärm umsahen. Erschrocken über die Vorwürfe in den Blicken sprang Marla auf und stürzte aus dem Restaurant.
Pascal war so schockiert über die Reaktion seiner Braut, dass er seine Umgebung gar nicht beachtete. Seine einzige Sorge galt Marla, und so folgte er ihr hinaus auf die Straße. Sichtlich erregt wanderte sie auf und ab, die Strickjacke eng um sich geschlungen.
Er trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter. Marla wehrte sich nicht.
»Prinzessin, beruhig dich doch!«, bat er sie. »Es tut mir so leid. Ich wollte dir nicht wehtun.« Im Licht der Straßenlaterne sah er, dass ihre Augen feucht schimmerten. »Ganz im Gegenteil.«
»Nein, nein, mir tut es leid«, nahm sie alle Schuld auf sich. »Ich führe mich auf wie ein Kindergartenkind. Das liegt daran, dass ich so aufgeregt bin. Immerhin hab ich noch nie geheiratet.« Sie sah zu ihm auf, ein Flehen in den immer noch feuchten Augen.
Gerührt legte Pascal die Arme um sie.
»Was soll ich denn da sagen?«, lachte er leise und beugte sich über sie, um sie mit einem Kuss davon zu überzeugen, dass sie im selben Boot saßen und die Wogen gemeinsam durchschiffen würden, ohne dass einem von ihnen auch nur ein Härchen gekrümmt wurde.
*
»Oh, Dan, was ist los?«, erkundigt sich Fee Norden und tastete mit der Hand nach dem Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Mit einem Auge schielte sie auf die Zahlen und stellte ihn dann wieder zurück. Dabei stöhnte sie. »Es ist halb fünf.«
»Tut mir leid, Feelein.« Daniel beugte sich über seine Frau und küsste ihre Wange, die nach Schlaf duftete. »Aber ich kann nicht mehr schlafen.«
»Lass mich raten. Frau Moebius ist schuld?«, murmelte Felicitas, ohne die Augen zu öffnen.
»Du kannst hellsehen.« Es war Daniels Stimme anzuhören, dass er lächelte.
»Das nicht. Aber ich bin eine Frau und weiß, wenn mein Mann an eine andere denkt.« Trotz der frühen Stunde konnte sie schon scherzen, und wenn möglich liebte Daniel sie in diesem Moment noch ein bisschen mehr.
»Kannst du wieder einschlafen, wenn ich dir sage, dass es keine Konkurrenz für dich gibt?« Während draußen der Morgen graute, spielte er mit einer Strähne ihres Weizenhaares.
»Sobald ich wach bin, werde ich darüber nachdenken«, versprach Felicitas, schickte ihm einen Luftkuss und drehte ihm den Rücken zu, um es sich auf der anderen Seite gemütlich zu machen.
Dr. Norden hingegen zog die Konsequenzen aus seiner Schlaflosigkeit und stand auf. Er wollte die Zeit vor Beginn der Sprechstunde dazu nutzen, um in die Klinik zu fahren und sich nach Heike Moebius’ Gesundheitszustand zu erkundigen.
»Nanu, hat dich deine Frau rausgeworfen oder warum bist du schon hier?«, erkundigte sich Jenny Behnisch, als sie ihrem langjährigen Freund und Kollegen um diese Uhrzeit auf dem Flur begegnete.
»Sollte ich eine passende Gegenfrage stellen?«, konterte Daniel und schmunzelte.
»Eins zu null für dich. So schlagfertig bin ich heute noch nicht«, räumte Jenny ihre Niederlage ein. »Ich habe die Nacht heute in der Klinik verbracht. Roman liegt wahrscheinlich noch im Bett und träumt von seiner ersten Tasse Kaffee. Apropos Kaffee, darf ich dich einladen? So weit bin ich nämlich heute noch nicht gekommen.«
»Später gern. Aber jetzt möchte ich schnell nach einer Patientin sehen, die ich gestern nach einem Autounfall eingeliefert habe.«
Jenny runzelte die Stirn.
»Sieh mal einer an. Fährst du heimlich auch noch Rettungswagen?«
»Die können sich eine Scheibe von mir abschneiden. Ich war schneller«, schmunzelte Daniel.
»Hast du den Polizeifunk geknackt?«
Daniel Norden schüttelte den Kopf.
»Tatjana hatte mich angerufen. Der Unfall ist direkt vor der Bäckerei passiert.«
»Wenn du deine Spione überall sitzen hast, nimmt es ja nicht wunder, dass du schneller bist als meine besten Fahrer«, erwiderte die Klinikchefin. »Hoffentlich ist der Dame nicht zu viel passiert.«
»Ein Schleudertrauma und ein paar Schnittwunden. Sie hatte Glück im Unglück.« Mehr verriet Dr. Norden noch nicht. Zuerst wollte er sich selbst ein Bild vom Zustand der Patientin machen, bevor er die Pferde scheu machte. »Ich komme später zu dir und erstatte dir Bericht«, versprach er und machte sich auf den Weg.
Jenny Behnisch ging in die andere Richtung davon.
Er hatte eben erst die Glastür passiert, als ihm eine Schwester entgegen eilte. Beim Anblick von Dr. Norden atmete sie erleichtert auf.
»Ein Glück, dass Sie hier sind. Ich hab eben Dr. Weigand angerufen, konnte ihn aber nicht erreichen.«
»Was ist passiert?«
»Die neue Patientin … Sie kam eben völlig aufgelöst aus dem Zimmer gelaufen«, berichtete Schwester Anita und war mit Sicherheit ähnlich aufgeregt wie Heike Moebius selbst. Ihr Atem ging schnell. »Sie hat gesagt, dass sie bedroht wird.«
»Schon wieder?« Daniel runzelte die Stirn, während er Seite an Seite mit Anita den Flur hinunter eilte. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir die Missetäter diesmal finden.«
Sichtlich überrascht drehte sich die Schwester zu ihm um.
»Wieso diesmal?«
»Dasselbe Theater gab es gestern Abend schon einmal«, erwiderte Dr. Norden. »Da ist Heike Moebius meiner Frau in die Arme gelaufen.« Er machte vor dem Krankenzimmer Halt und lauschte. Kein Laut drang hinaus auf den Flur. Nur Schwester Anitas Atem war zu hören. Daniel klopfte an. Als er keine Antwort bekam, drückte er die Klinke herunter und betrat das Zimmer. Das, was er zu sehen bekam, überraschte ihn.
»Frau Moebius schläft«, raunte er der Schwester zu, die ihm auf den Fersen folgte.
»Aber das ist unmöglich. Vor fünf Minuten war sie noch hellwach. Das müssen Sie mir glauben«, beteuerte Anita.
Dr. Norden überlegte nicht lange und trat ans Bett der Patientin. Er beugte sich über Heike Moebius.
»Guten Morgen, Frau Moebius. Können Sie mich hören?«, fragte er.
Es dauerte einen Moment, bis Heike reagierte. Zuerst blinzelte sie durch einen Spalt ihrer Augen. Dann lächelte sie.
»Herr Dr. Norden. Sind Sie jetzt immer da, wenn ich aufwache?«
Sichtlich verwundert drehte sich Daniel zu Schwester Anita um. Die zuckte mit den Schultern und wusste sich auch keinen Rat mehr.
»Das kann ich nicht versprechen«, wandte sich der Arzt wieder an seine Patientin. »Wie geht es Ihnen?«
»Viel besser als gestern.« Heike setzte sich im Bett auf und fuhr sich durchs Haar. »Hoffentlich sehe ich nicht allzu schlimm aus. Ich will Sie ja nicht erschrecken.«
»Im Gegensatz zu gestern verleihe ich Ihnen heute den Titel ›Schönste Patientin des Tages‹«, erklärte Dr. Norden großzügig.
Heike Moebius lachte, und ihre Wangen röteten sich vor Freude und Verlegenheit. Dabei wirkte sie völlig normal. Keine Spur von Panik oder Verwirrung war ihr anzumerken, und insgeheim konnte sich Daniel nur wundern. Hätte Fee nicht Ähnliches vom vergangenen Abend berichtet, hätte er Schwester Anita schlichtweg nicht geglaubt. Er dachte kurz nach, wie er jetzt verfahren sollte. »Hatten Sie heute eigentlich schon Besuch?«
Heike Moebius sah zuerst ihn und dann ihre Armbanduhr an.
»Um diese Uhrzeit? Sie machen Witze.«
»Das stimmt. Patienten zum Lachen zu bringen, macht mir viel Spaß«, lächelte Daniel Norden und verabschiedete sich gleich darauf von Marlas Mutter.
Er war in Gedanken versunken, als er, gefolgt von Schwester Agnes, das Zimmer verließ. Draußen auf dem Flur kam ihnen Dr. Weigand entgegen.
»Ach, Schwester Anita, da sind Sie ja! Sie hatten mich angerufen?«, fragte der Kollege, ehe er sich an Daniel wandte. »Was machst du denn schon hier? Hast du kein Zuhause oder warum treibst du dich um diese Uhrzeit in der Klinik herum.«
»Komisch, diese Frage habe ich heute schon mal so ähnlich gehört«, schmunzelte Daniel.
»Schade!«, seufzte Matthias Weigand. »Und ich dachte, ich bin besonders kreativ.« Er schnitt eine Grimasse, ehe er sich an Schwester Anita wandte. »Also, was kann ich für Sie tun, schönes Kind?«
»Erstens bin ich kein schönes Kind.« Im Gegensatz zu den Ärzten war die Laune der Schwester ausgesprochen schlecht. »Und zweitens hat Frau Moebius behauptet, dass sie verfolgt wird. Zum Glück war Dr. Norden da. Er hat mich zu der Patientin begleitet.« In ihrer Stimme schwang ein deutlicher Vorwurf.
»Und?« Der Internist sah von einem zum anderen.
»Nichts!«, erwiderte Daniel und zuckte mit den Schultern. »Als ich reinkam, hat sie geschlafen wie ein Engel. Überhaupt wirkte sie sehr aufgeräumt und munter«, musste er wohl oder übel seinen Eindruck schildern.
Matthias schüttelte den Kopf.
»Nana, da ist mal wieder die Fantasie mit Ihnen durchgegangen, was?«, sagte er der Schwester auf den Kopf zu.
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche. Aber morgens um sechs habe ich was anderes zu tun, als mir Märchen auszudenken«, schnappte sie so zornig zurück, dass Matthias Weigand abwehrend die Hände hob.
»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte er die Kollegin, deren Augen vor Ärger Pfeile in seine Richtung schossen. »Könnte es dann sein, dass Sie was falsch verstanden haben? Immerhin hatte Frau Moebius einen schweren Autounfall und ist bestimmt noch ein bisschen durcheinander.«
In diesem Moment beschloss Daniel, der Schwester zu Hilfe zu kommen.
»Ich glaube Schwester Anita«, verkündete er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Heike Moebius hat sich gestern Abend in der Klinik verlaufen. Meine Frau hat sie auf der Kinderstation eingesammelt. Da hat sie auch behauptet, verfolgt zu werden. Als Fee aber in ihrem Zimmer nachgesehen hat, war es leer.«
Schweigend hatte Matthias Weigand den Ausführungen seines Kollegen zugehört.
»Und was willst du mir jetzt damit sagen? Dass Frau Moebius unter Wahnvorstellungen leidet?«
»Ich denke eher an den Einfluss von Alkohol oder Drogen«, sprach Daniel seinen Verdacht laut aus.
Matthias runzelte die Stirn.
»Lass mich nachdenken. Das könnte durchaus zu all den merkwürdigen Vorkommnissen passen. Mit der Menge an Medikamenten, die die Patientin bekommen hat, hätte sie problemlos bis heute früh durchschlafen können. Trotzdem hat sie die Wirkung kaum gespürt. Dann die Stimmungsschwankungen, der kaum vorhandene Appetit«
»Die Wahnvorstellungen nicht zu vergessen. Drogen können solche Psychosen hervorrufen«, gab Daniel zu bedenken.
Während Schwester Anita an ihre Arbeit zurückkehrte, wanderten die beiden Ärzte Seite an Seite den Flur hinunter.
»Und es gibt noch ein Teil, das in das Puzzle passt«, murmelte Matthias und winkte Daniel mit sich in den Aufenthaltsraum, wo es verführerisch nach Kaffee roch.
Eine Schwester hatte sich erbarmt und eine Kanne des Muntermachers gekocht. Matthias nahm zwei Tassen aus dem Hängeschrank und schenkte sie voll.
»Und was?« Dr. Norden dankte und griff nach der Milchtüte.
»Ich habe vorhin mit der Polizei telefoniert. Deshalb konnte ich nicht gleich zu Schwester Anita kommen. Die Herrschaften sind sich sicher, dass es keinerlei Fremdeinwirkung bei dem Unfall gab. Offenbar hat Frau Moebius den Wagen selbst gegen den Ampelmasten gesteuert.«
Daniel trank einen Schluck Kaffee und sah seinen Kollegen über den Rand hinweg an.
»Soll das heißen, dass Frau Moebius …«
»Die Polizei geht von einem Selbstmordversuch aus«, nahm Matthias dem Kollegen das Wort aus dem Mund.
Als ihn der Schreck mit einem Ruck durchfuhr, hätte sich Daniel um ein Haar die Lippe am heißen Kaffee verbrannt. Doch er fasste sich schnell wieder.
»Gut. In diesem Fall habe ich keine andere Wahl. Ich muss Marla informieren. Das alles hier geht auch sie etwas an. Ob sie will oder nicht.«
»Und ich werde Frau Moebius’ Blut auf Drogen und Alkohol testen lassen«, tat Dr. Weigand seine Pläne kund, als plötzlich lautes Geschrei auf dem Gang ertönte, das schnell näher kam.
Die beiden Ärzte warfen sich einen kurzen Blick zu. Gleichzeitig stellten sie ihre Tassen beiseite und eilten hinaus, um der Ursache für den Lärm auf den Grund zu gehen.
*
Niemand anderer als Heike Moebius lief panisch über den Flur. Als sie Daniel erblickte, wäre sie um ein Haar in Tränen ausgebrochen.
»Ein Glück, dass Sie hier sind, Herr Doktor«, keuchte sie. »Sie müssen mir helfen. Sie sind hier.«
»Was ist passiert?«, erkundigte sich Daniel und legte den Arm um Heikes Schultern. »Wer ist hier?«
»Die Männer. Sie sind in mein Zimmer eingedrungen, als ich gerade im Bad war. Ich konnte im letzten Moment flüchten. Bitte helfen Sie mir.« Ihr Tonfall war so überzeugend wie ihre Angst, sodass Dr. Norden nicht anders konnte als ihr zu glauben.
Er legte den Arm um ihre Schultern und begleitete sie zurück zu ihrem Zimmer. Matthias Weigand folgte ihnen. Unterwegs begegnete ihnen Volker Lammers. Der Kollege war auf dem Weg zur Arbeit und grüßte übertrieben freundlich. In dieser Situation schenkte ihm niemand Beachtung und keiner bemerkte, dass er zunächst an den Kollegen vorbeiging, dann aber Halt machte und nah genug zurückkehrte, um Heike Moebius’ Stimme zu hören.
»Sie werden mich töten. Und diesmal machen sie es sicher.« Vor Angst klapperten ihre Zähne.
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte Daniel Norden und legte die Hand auf die Klinke.
Heikes Darstellung war so glaubwürdig, dass er tatsächlich erwartete, zwei Männer vorzufinden. Doch das Zimmer war leer, und insgeheim atmete er auf. Gleichzeitig wusste er nun mit Sicherheit, dass Heike Moebius größere Probleme hatte als ein paar Schnittwunden.
»Die Männer sind weg. Sehen Sie selbst.« Er öffnete weit die Tür, und Heike lugte hinter seinem Rücken hervor.
Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Mit einem Mal war alles anders. Ein Ruck ging durch Heikes Körper. Sie richtete sich kerzengerade auf und sah Dr. Norden und den Kollegen Weigand an.
»Das ist ja auch mein Zimmer. Wen hatten Sie denn erwartet?«, fragte sie fast empört.
Daniel verstand die Welt nicht mehr.
»Aber Sie haben doch eben noch selbst gesagt, dass sich Unbefugte Zutritt zu Ihrem Zimmer verschafft haben«, verteidigte er sich und sah ihr dabei zu, wie sie an ihm vorbei auf ihr Bett zuging.
»Sie träumen wohl noch, Doktorchen«, lachte sie und legte sich hin. »Vielleicht sollten Sie das nächste Mal ein bisschen länger schlafen.« Mit diesen Worten deckte sie sich zu, drehte sich um und schloss die Augen.
Die beiden Ärzte waren sprachlos.
»Verstehst du das?«, wandte sich Daniel an seinen Kollegen Matthias.
»Wir haben uns ja vorhin schon drüber unterhalten«, wollte der das Kind nicht vor der Patientin beim Namen nennen.
In diesem Moment drehte sich Heike noch einmal um. Unwillen lag in dem Blick, mit dem sie die beiden Ärzte musterte.
»Hätten Sie was dagegen, wenn Sie mein Zimmer jetzt verlassen und sich draußen weiterunterhalten? Ich würde gern schlafen. Schließlich hatte ich einen Unfall und befinde mich in der Rekonvaleszenz.«
Die Kollegen sahen sich an, kamen dann aber dem Wunsch der Patientin nach und ließen sie allein.
Und auch Volker Lammers hatte genug gehört. Ehe Daniel und Matthias ihn bemerken konnten, machte er kehrt und setzte den Weg auf seine Station fort, nicht ohne sich seine ganz eigenen Gedanken zu machen, die alles andere als freundlicher Natur waren.
*
»Ich kann heute leider nicht aufstehen«, verkündete Danny Norden an diesem Morgen.
Dabei hatte seine Freundin Tatjana noch kein einziges Wort gesagt. Sie war lediglich mit zwei Tassen Kaffee ins Schlafzimmer gekommen, von denen sie eine ihrem Freund unter die Nase hielt. Das genügte, um ihn in Alarmbereitschaft zu versetzen.
»Und warum nicht?« Dannys Stimme hatte so dramatisch geklungen, dass sie einen Moment lang tatsächlich in Sorge um ihn war. Sie stellte die Tassen weg und beugte sich über ihn. »Bist du krank?«
»Meine Kissen haben mich als Rudelmitglied akzeptiert. Wenn ich sie jetzt allein lasse, verliere ich ihr Vertrauen«, ächzte Danny unter den Kissen.
Tatjana saß auf der Bettkante und starrte ihn an, bevor sie laut herausprustete.
»Gute Ausrede, mein Lieber. Aber leider nützt dir das nichts«, erklärte sie und zog ihm die Decke weg. In hohem Bogen flog sie auf den Boden. »Du bist nämlich schon längst in meinem Rudel. Und ich dulde keine Rivalen.« Als nächstes zerrte sie an dem Kissen unter seinem Kopf.
Danny klammerte sich daran fest, so gut es ging. Doch Tatjana war in der besseren Position und entschied den Kampf für sich.
»Gnade, ich erfriere!« Bibbernd vor Kälte schlang Danny die Arme um die Beine.
»Da kenne ich ein probates Mittel.«
»Eine Decke?«
»Eine heiße Dusche!« Tatjana stand auf.
Ihr war zuzutrauen, dass die demnächst mit einem Eimer voll mit heißem Wasser vor dem Bett stehen würde. Deshalb entschloss sich der Arzt, doch lieber aufzustehen. Er setzte sich auf die Bettkante und griff nach der Tasse.
»Wie um alles in der Welt konnte ich mich nur in so ein Monster verlieben?«, fragte er sich laut und nippte an seinem Kaffee. »Igitt, du hast den Zucker vergessen.« Angewidert stellte er die Tasse zur Seite.
Tatjana setzte sich neben ihn und wuschelte ihm durchs Haar.
»Armer, schwarzer Kater! Ich dachte, auf die Art wirst du schneller munter«, versuchte sie, ihn zu trösten.
Im nächsten Moment fand sie sich auf der Matratze liegend unter Dannys starken Armen wieder. Er kniete über ihr und hielt ihre Handgelenke fest, die neben ihrem Kopf lagen.
»Mann, wo hast du das denn gelernt?« Verblüfft versuchte Tatjana, sich aus dem Griff zu befreien. Vergeblich.
»Arme, schwarze Katze. Jetzt gehörst du mir«, drohte er und versuchte, seine Stimme möglichst unheilverkündend klingen zu lassen.
»Du bekommst alles von mir, was du willst, wenn du mich nur loslässt und in einer Viertelstunde zur Arbeit fährst«, flehte die Bäckerin um Gnade.
Dannys Augen wurden schmal. Das war in der Tat ein verlockendes Angebot.
»Alles?«
Tatjana schwante nichts Gutes. Doch jetzt gab es kein Entrinnen mehr.
»Alles!«
»Gut. Dann will ich heute alle Rosinenbrötchen haben, die Marla inzwischen bestimmt schon gebacken hat.«
»Die Rosinenbrötchen? Bitte nicht!«, mimte Tatjana Entsetzen. Es kostete sie alle Mühe, nicht in lautes Lachen auszubrechen. »Nicht die Rosinenbrötchen.«
»Dann muss ich dich leider hier festbinden und darben lassen, bis ich heute Abend wiederkomme. Nach dem Essen bei meinen Eltern, versteht sich.«
»Das kannst du mir nicht antun.«
»Die Rosinenbrötchen!«, wiederholte Danny seine Forderung. »Also schön.« Tatjana knirschte mit den Zähnen, als sie sich geschlagen gab. »Du bekommst die Rosinenbrötchen. Alle.«
»Das klingt doch schon besser!«, lächelte Danny und löste den Griff.
Bevor er seine Freundin gehen ließ, rang er ihr noch einen Kuss ab ,und schon eine Viertelstunde später waren sie wie versprochen auf dem Weg zum Café ›Schöne Aussichten‹
*
»Guten Morgen, ihr beiden«, begrüßte Marla ihre Chefin nebst Freund. Vor Aufregung schlug ihr Herz schnell in ihrer Brust. Sie war sich nicht sicher, ob Daniel Norden sein Wissen mit den beiden geteilt und ihnen von dem Unfall ihrer Mutter und dem Anruf erzählt hatte. Als aber weder Tatjana noch Danny eine Anspielung machten, entspannte sie sich ein bisschen.
Als Tatjana die Bäckerei betrat, hob sie die Nase.
»Was riecht denn hier so verbrannt?«, fragte sie, und Marla senkte den Kopf.
In dieser Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Der Gedanke an ihre Mutter war ihr nicht aus dem Kopf gegangen, sodass sie früher als sonst zur Arbeit gegangen war. Doch auch hier gelang es ihr kaum, sich zu konzentrieren. Das erste Malheur ließ nicht lange auf sich warten. Sie war so in Gedanken vertieft gewesen, dass sie das durchdringende Piepsen des Ofens nicht gehört hatte.
»Tut mir leid, aber aus der ersten Lage Brezen hab ich Kohle gemacht.«
Tatjana spürte, dass Danny ein Kommentar auf den Lippen lag. Ohne die Augen von Marla zu wenden, legte sie die Hand auf seinen Arm, und er machte den Mund wieder zu.
»Das ist mir auch schon passiert«, winkte Tatjana ab und lachte. »Ich glaube, es lag daran, dass ich unausgeschlafen war.«
»Stimmt. Ich hab heute Nacht auch schlecht geschlafen.« Noch immer fürchtete Marla, wegen ihrer Mutter zur Rede gestellt zu werden.
»Das liegt sicher an der bevorstehenden Hochzeit«, tat Tatjana ihr den Gefallen und stellte sie nicht bloß.
Die Erleichterung fiel wie ein Stein von Marlas Herzen, und sie brachte sogar ein schmales Lächeln zustande.
»Ich bin so froh, wenn ich das alles hinter mir habe«, fing sie den Ball auf, den ihre Chefin ihr zugespielt hatte. »Nicht, dass ich mich nicht auf die Feier und darauf freue, Pascals Frau zu werden. Aber das ganze Drumherum stresst mich schon ganz schön.«
»Jetzt hast du die Kurve gerade nochmal gekriegt«, erwiderte Tatjana. »Ich kann nämlich seit Wochen nicht schlafen, weil ich mir Gedanken übers Buffet mache und ob …«
An dieser Stelle wurde sie von Danny unterbrochen.
»Habt ihr was dagegen, eure Mädchengespräche später fortzusetzen?«, erkundigte er sich und grinste dabei, wohlwissend, dass sich Tatjana über diese Bezeichnung ärgerte. »Hier ist ein hart arbeitender Mann, der auf sein versprochenes Frühstück wartet.«
»Hört, hört! Als ob wir den ganzen Tag nur herumstehen und Däumchen drehen«, blitzte trotz der Sorgen ein wenig der normalen Marla durch. »Ich muss schon sehr bitten, Herr Doktor.«
»Lass nur«, mischte sich Tatjana ein und schickte ihrem Freund ihren düstersten Blick. »Ich hab eine Wette verloren. Er bekommt alle Rosinenbrötchen, die du heute gebacken hast. Es tut mir leid.«
»Was? Alle? Aber das sind zwei ganze Bleche voll!«, Marla konnte es nicht glauben. »Was sagen wir denn dann unseren Kunden?«
»Mir wird schon was einfallen.« Tatjana ging durch den Vorhang in die Backstube und kehrte mit zwei großen Papiertüten zurück.
Danny überwachte sie, während sie ein Rosinenbrötchen nach dem anderen einpackte. Das letzte nahm er ihr aus der Hand und betrachtete es mit verliebtem Blick.
»Das hier esse ich gleich hier«, verkündete er. »Kann ich eine Tasse Kaffee dazu bekommen?«
Tatjana stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an.
»Ich dachte, du hast es eilig.«
»Na schön, dann eben keinen Kaffee!« Danny zuckte mit den Schultern und biss in das Brötchen. Er kaute ein Mal, zwei Mal, dann verzog er angewidert das Gesicht. »Igitt! Das ist ja eklig.« Mit großen Schritten lief er zum Abfalleimer und entledigte sich des Rosinenbrötchens. »Wollt ihr mich vergiften?«, hustete und spuckte er.
Marla bemerkte Tatjanas fragenden Blick.
»Ich weiß nicht …« Sie griff nach einem Brötchen und biss selbst hinein. Und erlitt dasselbe Schicksal wie Danny. »O je, ich hab statt Zucker Salz genommen«, musste sie zu ihrer Schande gestehen.
Offenbar war alles, was sie an diesem Morgen in die Hände genommen hatte, schief gegangen. Doch statt der erwarteten Standpauke grinste Tatjana von einem Ohr bis zum anderen.
»Das hast du gut gemacht, Marla. Ganz ausgezeichnet«, lobte sie ihre Mitarbeiterin, die die Welt nicht mehr verstand. »Lass dir die Brötchen schmecken, mein Liebster!«, lachte Tatjana dann in Dannys Richtung.
»Gib’s zu! Das hast du absichtlich gemacht. Ihr habt ein Komplott geschmiedet«, beschwerte er sich, musste aber in das Lachen seiner Freundin einstimmen.
Unterdessen suchte Marla händeringend nach einer Ausrede.
»Nein, das war keine Absicht. Wirklich nicht. Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist«, versicherte sie so energisch, dass Tatjana und Danny das Lachen schließlich doch noch verging. Die Chefin der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹, wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
»Du musst dir für uns keine Geschichten ausdenken, Marla«, sagte sie und war auf einmal ernst geworden. »Wir wissen, dass es deine Mutter war, die gestern in die Klinik eingeliefert wurde. Und wir wissen auch, dass du keinen Kontakt mit ihr haben willst. Aber wir haben keine Ahnung, warum du dich so verhältst.«
Mit jedem Wort, das Tatjana sprach, wurde Marla ein bisschen blasser.
»Ich … ich …« Hilflos brach sie ab und war nur noch ein kleines Häuflein Elend.
Tatjana hatte Mitleid mit ihr.
»Schon gut«, winkte sie ab. »Wir werden dich zu nichts zwingen. Aber du sollst wissen, dass Danny und ich immer ein offenes Ohr haben für dich.«
Marla nickte. Es war, als hätten sich Schleusen geöffnet, und Tränen strömten ihr über die Wangen.
»Ich kann es nicht erklären, es tut mir leid«, stammelte sie. »Aber bitte, bitte sagt Pascal nichts davon. Wenn er es erfährt, ist alles aus.«
*
Während Daniel Norden auf die Ergebnisse der Blutuntersuchung wartete, die Matthias Weigand sofort angeordnet hatte, besuchte er seine Frau. Auch Fee war inzwischen an ihrem Arbeitsplatz angekommen.
»Na, hast du den Kampf gegen dein Bett gewonnen?«, fragte er, nachdem er sie geküsst hatte.
Volker Lammers, der auf dem Weg zu seiner Chefin war, hörte Daniel Nordens Stimme und machte kurz vor der Tür Halt. Um diese Uhrzeit war der Klinikflur leer, und er nutzte die Gelegenheit, um zu lauschen.
»Mit knapper Not.« Nichtahnend, dass sie einen Zuhörer hatte, musterte Fee ihren Mann. »Aber du wärst besser auch mal liegen geblieben. Du siehst aus, als ob du direkt wieder Feierabend machen könntest.«
»Vielen Dank für die Blumen.« Daniel deutete eine Verbeugung an. »Aber ich fürchte, ich sehe so aus, wie ich mich fühle.«
»Dann komm und trink erst mal einen Kaffee mit mir«, forderte Fee ihn auf und hieß ihn auf der Sitzgruppe Platz zu nehmen.
»Wenn das so weitergeht, bekomme ich demnächst einen Koffeinschock.« Dankend nahm er die Tasse entgegen, die sie ihm reichte.
Dazu stellte Fee einen Teller mit frischen Butterbrezen aus Tatjanas Backstube auf den Tisch. Sie hatte die Gelegenheit genutzt und war auf dem Weg zur Arbeit schnell bei der Bäckerei vorbeigefahren.
»Wie viele Tassen hast du heute denn schon?«
»Das ist die zweite«, gestand Daniel, und Fee lachte.
»Dann besteht noch keine Gefahr«, winkte sie ab und setzte sich zu ihrem Mann. »Laut einer neuen Studie ist maßvoller Kaffeegenuss sogar gesund. Der Kaffee schützt angeblich vor Leberkrebs. Außerdem könnte er sogar gut sein fürs Herz. Forscher haben festgestellt, dass die Arterien bei Menschen, die drei bis fünf Tassen Kaffee am Tag trinken, weniger verkalkt sind als bei denjenigen, die Kaffee meiden.«
»Und dieses Studie gilt so lange, bis eine andere das Gegenteil beweist«, scherzte Daniel und biss in seine Butterbreze. Über den Sorgen mit Heike Moebius hatte er das Frühstück völlig vergessen. »Ich bleibe lieber bei meinem Credo ›Alles in Maßen‹«
»Du bist ja auch der klügste Mann von allen«, schwärmte Fee und küsste ihm einen Butterklecks aus dem Mundwinkel. »Aber willst du mir nicht verraten, was dich hierher treibt? Eigentlich müsstest du doch längst in der Praxis sein.«
»Im Augenblick warte ich auf die Blutwerte von Heike Moebius. Heute früh hat sie uns nämlich schon ganz schön auf Trab gehalten.« Er trank einen Schluck Kaffee und berichtete von seinem aufregenden Morgen.
Fee hörte zu, und ihre Betroffenheit wuchs von Augenblick zu Augenblick, von Wort zu Wort.
»Wenn ich mir das alles so anhöre …«, murmelte sie, als ihr Mann geendet hatte. »Nein, ich glaube nicht, dass Frau Moebius ein Alkoholproblem hat oder gar Drogen nimmt.«
»Sondern?« Daniel sah seine Frau an.
Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich denke eher an Schizophrenie.«
Dr. Lammers, der noch immer auf seinem Lauschposten hinter der Tür war, ballte die Faust vor Zufriedenheit. Diese Information war Gold wert.
Daniel hingegen war es anzusehen, dass er bisher nicht mit diesem Gedanken gespielt hatte.
»Schizophrenie? Darüber weiß ich zu wenig«, gestand er ohne Zögern.
In diesem Moment hörte Volker Lammers Schritte hinter sich und fuhr herum. Eine Schwester kam des Wegs uns musterte ihn. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Schultern zu straffen, eine gewichtige Miene aufzusetzen und seinen Lauschposten aufzugeben. Aber das war nicht weiter schlimm. Er hatte genug gehört.
Fee sprach unterdessen weiter.
»Dann kannst du ja noch was von mir lernen«, scherzte sie, um gleich darauf zu einer Erklärung anzusetzen. »Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine tiefgreifende psychische Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch Veränderungen der Gedanken, der Wahrnehmung und des Verhaltens«, erinnerte sie sich an das, was sie in ihrer Facharztausbildung zu diesem Krankheitsbild gelernt hatte. »Typisch ist auch der Realitätsverlust, Psychose genannt. Diese Patienten sind zeitweise nicht in der Lage, Wirklichkeit und Wahn auseinander zu halten. Sie hören Stimmen und fühlen sich verfolgt.«
»Das passt genau zu Frau Moebius’ Verhalten«, stimmte Dr. Norden zu. »Aber könnte es sich nicht auch um eine gespaltene Persönlichkeit handeln? Sie hat heute innerhalb von Minuten umgeschaltet und war wie ausgewechselt.«
Noch während Daniel sprach, schüttelte seine Frau den Kopf.
»Das darf man nicht verwechseln. Bei einer dissoziativen Identitätsstörung bildet der Patient viele verschiedene Persönlichkeiten, die abwechselnd auftreten.«
»Stimmt. Heike Moebius wirkt nicht wie eine andere Person.«
»Trotzdem muss natürlich eine sorgfältige Diagnose durchgeführt werden.«
Diese Informationen ließ sich Daniel Norden durch den Kopf gehen. Wie ein Puzzle setzte er Stück für Stück ein Bild zusammen.
»Wenn es denn nicht schon eine gibt.« Er schob das letzte Stück Breze in den Mund und leerte seinen Kaffee.
»Wie meinst du das?« Fee verstand nicht, worauf ihr Mann hinaus wollte.
»Vielleicht will Marla deshalb nichts mehr mit ihrer Mutter zu tun haben. Weil sie an dieser Krankheit leidet und alle Beteiligten das längst wissen. Und genau das werde ich jetzt herausfinden.« Er beugte sich zu Fee hinüber und küsste sie zum Abschied, ehe er aufstand und aus dem Zimmer eilte. »Ich melde mich bei dir!«, rief er ihr an der Tür noch zu.
Dann verschwand er um die Ecke und ließ seine Ehefrau nachdenklich zurück.
*
Heike Moebius kam gerade aus dem Bad, als Dr. Norden ihr Zimmer betrat.
»Nanu, Sie scheinen ja einen richtigen Narren an mir gefressen zu haben«, scherzte sie und war offensichtlich bester Dinge.
Leider war Daniel diesmal nicht zum Scherzen zumute.
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, erwiderte er und setzte sich an den Tisch vor dem Fenster.
Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick über den Klinikgarten, den Landschaftsgärtner nach Jenny Behnischs Plänen angelegt hatten. Doch in diesem Moment hatte Daniel keinen Blick für die blühende Pracht dort draußen. Er sah seine Patientin an und bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu ihm zu setzen.
Heike zögerte. Dann legte sie das T-Shirt, das sie in der Hand hielt, aufs Bett, und kam seiner Aufforderung nach.
»Warum so ernst, Doktorchen?«, fragte sie ihn und wirkte völlig ahnungslos. »Ich dachte, sie freuen sich, wenn Sie Ihre Patienten zum Lachen bringen können.«
»Aber nicht, wenn mir meine Patienten große Sorgen machen«, gestand er und blickte auf die Fingers seiner ineinander verschlungenen Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte.
Sofort drückte Heikes Gesicht all ihr Mitgefühl aus.
»Wer macht Ihnen denn Sorgen?«
»Na, Sie«, seufzte Daniel Norden und beschloss, sie nicht länger auf die Folter zu spannen. »Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Als Sie an den Ampelmasten vor der Bäckerei gefahren sind … wollten Sie sich umbringen?«
»Natürlich nicht. Wie kommen Sie denn auf so eine absurde Idee? Ich wurde verfolgt, das wissen Sie doch!«, ging sie sofort in Verteidigungshaltung.
An Daniels Blick ahnte sie aber, dass sich die Schlinge um ihren Hals enger zog. Vorsichtshalber senkte sie den Kopf.
»Aber Sie wissen doch genau, dass diese Bedrohung nicht echt ist. Nicht wahr? Sie wissen, dass es keine Männer gibt, die Sie verfolgen. Aber Sie wissen, dass Sie eine Tochter hier in München haben. Und dass diese Tochter den Kontakt zu Ihnen abgebrochen hat.«
Heike starrte auf Daniels Hände und presste die Lippen aufeinander. Sie sagte kein Wort, und er fuhr fort.
»Hat Ihre Tochter den Kontakt zu Ihnen abgebrochen, weil Sie krank sind?«, beschloss Daniel, aufs Ganze zu gehen. Er hatte nichts zu verlieren. »Bitte, Frau Moebius, ich will Ihnen helfen. Aber das ist schwierig, wenn Sie nicht mit mir reden.«
Es war Heike anzusehen, dass sie mit sich kämpfte. Nach einer gefühlten Ewigkeit – Dr. Norden dachte schon daran, endlich in die Praxis zu fahren – brach sie endlich ihr Schweigen.
»Ich kann Marla keinen Vorwurf machen.« Ihre Stimme war heiser. »Ich hab es ihr nicht gerade leicht gemacht.«
»Was ist mit Ihrem Mann?«
»Mit Uwe?« Heike Moebius lachte. Es war kein freudiges Lachen. »Wir sind getrennt, seit Marla fünf Jahre alt war.«
Diese Information war neu für den Arzt. Davon hatte Marla nie etwas gesagt.
»Dann leben Sie ganz allein in Stuttgart?«
»Ja, aber ich habe meine Teilhaberschaft in einer Kanzlei, wo ich meine Klienten so gut wie möglich betreue«, erwiderte Heike Moebius, und ihre Hände begannen zu zittern. »Allerdings werde ich alles verlieren, wenn das so weitergeht«, brach es aus ihr heraus.
Diese Bemerkung veranlasste den Arzt zu seiner nächsten Frage.
»Das klingt so, als wüssten Sie, wie es um Sie steht«, sagte er ihr auf den Kopf zu. »Haben Sie eine Diagnose?«
Dieses Gespräch fiel Heike Moebius alles andere als leicht. Sie hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl aus und stand auf, um im Zimmer umher zu gehen.
»Natürlich. Es ist ja nicht so, als würde ich nicht merken, wie schlecht es mir geht.« Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. »Aber wissen Sie, nach all den Jahren habe ich den Kampf aufgegeben.«
»Warum?« Nach wie vor saß Dr. Norden auf seinem Stuhl. Von dort aus beobachtete er den Marsch seiner Patientin. »Hatten Sie vor Ihren Klienten einen Anfall?«
Heike schüttelte den Kopf.
»Das nicht. Bei mir ist es so, dass die Krankheit in Schüben kommt. Und natürlich bin ich zu den verschiedensten Ärzten gegangen und habe noch mehr unterschiedliche Meinungen zu hören bekommen. Und jede Menge Tabletten. Aber wie soll ich denn arbeiten, wenn ich wie ferngesteuert bin? Wenn ich Watte im Kopf habe und mich nicht konzentrieren kann?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Das geht nicht. Deshalb habe ich die Mittel abgesetzt. Wenn ich mich nicht wohl fühle, bleibe ich inzwischen einfach zu Hause. Das wissen meine Klienten und haben sich darauf eingestellt.«
»So gut, wie Sie denken, scheinen Sie die Sache aber doch nicht im Griff zu haben«, hielt Dr. Norden nicht mit seiner Ansicht hinter dem Berg und sah seiner Patientin dabei zu, wie sie wieder Platz nahm. »Dabei gibt es heutzutage wirklich gute Medikamente mit wesentlich geringeren Nebenwirkungen.«
Heikes Augen wurden schmal. Ein paar Falten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab.
»Nein, danke. Ich habe lange genug das Versuchskaninchen gespielt. Wirklich, im Normalfall habe ich diese Sache selbst ganz gut im Griff«, widersprach sie vehement.
Angesichts dieser heftigen Gegenwehr begriff Daniel Norden, dass er gegen Windmühlen kämpfte.
Eine Möglichkeit gab es noch. Aber wenn die nicht funktionierte, wusste er auch nicht weiter. So versuchte er es also mit einer List und stand seufzend auf.
»Da scheint Ihre Tochter anderer Meinung zu sein«, erklärte er von oben herab und ignorierte Heikes offensichtliche Bestürzung. »Sind Sie nach München gekommen, weil Marla hier lebt? Wollten Sie einen neuen Anfang machen?«
Heike Moebius kaute auf der Unterlippe und schüttelte schließlich den Kopf.
»Dazu ist es längst zu spät.«
»Ach, dann sind Sie hierhergekommen, um Marla zu sagen, dass Sie aufgeben?« Die Provokation war offensichtlich, und endlich zeigte sich der erhoffte Erfolg.
»Ich bin die Letzte, die vor Problemen davon läuft«, protestierte die Anwältin. »Sonst wäre ich längst unter die Räder gekommen.« Sie haderte mit sich und betrachtete die roten Fingernägel. »Sie wollen die ganze Geschichte hören, nicht wahr? Also schön.« Es fiel ihr nicht leicht, die Karten auf den Tisch zu legen. »Mein Mann und ich hatten eine eigene Kanzlei und waren unglaublich stolz. Das Unglück begann, als er mich mit unserer Sekretärin betrog. Damals war Marla gerade mal fünf Jahre alt. Wir trennten uns, arbeiteten aber weiter zusammen, auch wenn es mich jedes Mal fast zerrissen hat, die beiden zusammen zu sehen. Ich wollte alles dafür tun, dass wenigstens unsere Tochter eine glückliche Kindheit haben kann. Das ist mir leider nicht gelungen. Sie hat gegen alles und jeden rebelliert und ist schließlich weggegangen. Seitdem will sie weder was von mir noch von meinem inzwischen geschiedenen Mann wissen. Das muss ich akzeptieren.« Das Gespräch hatte sie erschöpft ,und als Heike gähnte, wusste Dr. Norden, dass es Zeit wurde zu gehen.
Er brachte sie zu ihrem Bett und sorgte dafür, dass sie bequem lag.
»An Ihrer Stelle würde ich mich nicht von Marlas Verhalten abweisen lassen«, erklärte er noch. »Zeigen Sie Ihr, wie stark Sie wirklich sind. Kämpfen Sie gegen Ihre Krankheit statt sie zu verdrängen.«
Heike Moebius sah ihn aus müden Augen an. Als sie keine Antwort gab, verabschiedete er sich für den Moment von ihr und ging zur Tür.
»Warten Sie!«, rief sie ihm nach, als seine Hand schon auf der Klinke lag. »Eines müssen Sie mir noch versprechen. Sie dürfen mich nicht in die Anstalt stecken.«
Daniel zögerte, unsicher, ob er dieses Versprechen guten Gewissens geben konnte. Doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er es tun sollte.
»Ich verspreche es!«, erklärte er und verließ das Zimmer und gleich darauf die Klinik.
Es wurde höchste Zeit, endlich in die Praxis zu fahren, ehe seine Patienten ihm die Freundschaft aufkündigten.
*
Dr. Daniel Nordens Befürchtung erwies sich als haltlos. Den Rest des Tages war er gut beschäftigt, und es wurde Abend, ehe er wieder Zeit hatte, an Heike Moebius zu denken. Erst als er neben Fee auf dem Sofa saß, kehrten seine Gedanken zu Marla und ihrer Mutter zurück, und er erzählte seiner Frau von dem Gespräch.
Noch war es abends zu kühl, um draußen zu sitzen. Doch die Terrassentür war offen und die Geräusche des Frühlingsabends drangen ins Wohnzimmer. Entspannt saß Felicitas neben ihrem Mann und hörte ihm zu.
»Und? Was hältst du davon?«, fragte er, nachdem er geendet hatte.
Fee wiegte den Kopf.
»Nach allem, was du so erzählst, wäre Frau Moebius in einer Spezialklinik wahrscheinlich besser aufgehoben«, gestand sie.
»Ausgeschlossen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr versprochen, genau das nicht zu tun. Und ich halte meine Versprechen.«
»Das weiß ich, mein Schatz!« Beruhigend legte Felicitas ihre Hand auf seinen Arm. »Ich hatte dabei eher an was anderes gedacht … respektive an jemand anderen.«
Daniel stieß mit seiner Frau an und trank einen Schluck Bier. Über den Rand seines Glases sah er sie an.
»An wen?«
»An Jenny. Weiß sie schon von dieser Geschichte?«
»Noch nicht. Zumindest nicht von mir«, gestand Daniel.
»Von jemand anderem sollte sie es auch besser nicht erfahren.«
Seit vielen Jahren waren die Nordens mit der Klinikchefin befreundet und wussten um ihre Ansichten. Und in diesem Fall würde sie noch nicht einmal Unrecht haben.
»Das ist schlecht«, seufzte Fee. »Du weißt so gut wie ich, dass solche Patienten nicht in die Behnisch-Klinik gehören. Das wird ganz schön Ärger geben.«
»Gleich morgen früh gehe ich zu ihr und werde ihr alles erklären«, versuchte Daniel, seine Frau zu beruhigen. Er stupste ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Zufrieden?«
»Wenn es dir gelingt, Frau Moebius zu helfen …«
»Alles hängt davon ab, ob sie sich helfen lassen will. Das ist das Hauptproblem und war es wohl auch schon in der Vergangenheit.«
Bevor Felicitas antwortete, beugte sie sich vor und nahm eines der Pizzabrötchen, die Anneka am Abend gebacken hatte. Sie waren noch warm, mit Knoblauchbutter bestrichen und mit Käse gefüllt. Als sie hineinbiss, zog er herrliche Fäden.
»Vielleicht kann sie das nicht mehr selbst entscheiden«, gab sie zu bedenken.
»Du meinst, wie ich jetzt nicht mehr selbst entscheiden kann, heute Nacht neben einem Knoblauchfeld zu schlafen«, witzelte Daniel, als ihm der Duft in die Nase stieg.
»Dieses Schicksal kann ich dir leider nicht ersparen. Diese Dinger sind echt lecker«, mümmelte Felicitas mit vollem Mund. »Am besten, du isst auch zwei, drei davon. Dann riechst du mich nicht mehr.«
»Ins Schlafzimmer darf dann aber auch keiner mehr kommen«, gab Daniel zu bedenken, als er eines der Brötchen aus der Schale nahm.
»Aus dem Alter sind die Kinder ja glücklicherweise raus. Aber jetzt sag schon. Glaubst du, dass Heike Moebius noch gesund genug ist, um selbst die Verantwortung für sich zu übernehmen?«, kehrte Fee schließlich zu dem Thema zurück, das sie beide bewegte.
»Ich hoffe schon. Entscheidend ist, dass sie einsieht, krank zu sein ,und ihre Krankheit akzeptiert. Nicht als unabänderliches Schicksal. Sondern als Herausforderung, der sie sich stellen muss. Und ich glaube, ihre Tochter ist der Schlüssel dazu.«
»Wenn Marla sich aber weiterhin weigert?«, stellte Fee eine berechtigte Frage.
»Dann müssen wir sie eben so schnell wie möglich überzeugen«, wollte Daniel dieses Argument aber nicht gelten lassen. »Ich will auf keinen Fall, dass Heike weggesperrt wird. Sie ist doch nicht gemeingefährlich.«
»Bist du dir sicher?«, stellte Fee eine Frage, die Daniel verwunderte. Er rückte ein Stück von ihr ab und sah sie an. Sie bemerkte die Verwirrung in seinen Augen und fuhr schnell fort: »Was, wenn sie gestern nicht in eine Ampel, sondern in eine Gruppe mit Fußgängern gefahren wäre? Wenn unbeteiligte Personen zu Schaden gekommen wären? Würdest du dann immer noch sagen, dass sie nicht gemeingefährlich ist?«
Diesem Argument hatte der Arzt nichts entgegen zu setzen.
»Natürlich hast du recht«, seufzte er. Ohne Felicitas aus den Augen zu lassen, nahm er ihre Hände in die seinen. »Ich brauch doch nur ein bisschen Zeit, um sie mit Marla zusammenzubringen. In der Zwischenzeit wird sie sich schon nicht in ein Auto setzen«, tat er seine Hoffnung kund.
Diese Bemerkung quittierte Fee mit einem Lächeln, das aber zu Daniels Bedauern ebenso schnell wieder verschwand.
»Du weißt, was Marla hinter sich hat.«
»Das ist mir klar. Aber ich weiß auch, was sie vor sich hat. Eine Hochzeit«, spielte Dr. Norden den Trumpf aus, den er noch in der Tasche hatte. »Vielleicht stimmt sie diese Tatsache doch noch versöhnlich. Einen Versuch ist es immerhin wert, oder?« Da er die Antwort seiner Frau schon kannte, beugte er sich vor und nahm die beiden Gläser vom Tisch. Eines reichte er Fee, ehe er mit ihr anstieß. »Auf Marla und ihre Mutter!«
Dem war nichts , und Fees Augen leuchteten vor Hoffnung, als die Gläser aneinander klangen.
*
An diesem Abend hatte Dr. Lammers nur darauf gewartet, dass seine Chefin Felicitas Norden endlich die Klinik verließ. Er blieb noch eine Weile auf der Station, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich gegangen war und nicht noch einmal zurückkam. Als er wirklich sicher sein konnte, machte auch er endlich Feierabend. Allerdings wählte er nicht den direkten Weg aus der Klinik, sondern wanderte mit Unschuldsmiene durch die Station, auf der Heike Moebius untergebracht war. Er war auf der Suche nach jemandem, der ihm den Zustand dieser Patientin bestätigen konnte.
Dr. Lammers hatte Glück. Er stieß auf Schwester Elena, die vor einer halben Stunde ihren Dienst angetreten hatte.
»Nanu, Dr. Lammers, was machen Sie denn um diese Uhrzeit noch hier?« Sie stand am Wagen mit den Akten und trug eine Medikamentengabe ein.
Lammers lächelte.
»Ach, Sie wissen doch, wie das so ist. Da will man die Klinik mal pünktlich verlassen und dann kommt noch dieses und jenes daher«, antwortete er.
»O ja, das kenne ich«, seufzte Elena. »Ich habe gerade so eine Patientin. Trotz des Schlafmittels, das meine Kollegin Frau Moebius schon vor einer Stunde verabreicht hat, ist sie vor ein paar Minuten immer noch hier herumgegeistert. Deshalb musste ich eine Dosis nachlegen. Wahnsinn, was sie wegstecken kann.«
»Warum wirken die Medikamente bei dieser Patientin denn nicht?«, schützte Dr. Lammers Unwissenheit vor.
Schwester Elena zuckte mit den Schultern.
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau. Offenbar leidet sie manchmal unter Verfolgungswahn. Dabei ist sie eigentlich sehr nett.« Sie legte den Kugelschreiber an die Lippen und dachte einen Augenblick nach. »Seltsam, eigentlich passt das alles gar nicht zusammen. Man könnte den Eindruck bekommen, dass die Patientin an einer dysfunktionalen Störung leidet«, teilte sie ihren Eindruck mit dem Kinderarzt.
»Alle Achtung. Sie kennen sich ja ganz schön gut aus mit solchen Patienten«, sparte Dr. Lammers nicht mit Lob und brachte Elena damit zum Lachen.
»Ach was«, winkte sie unbeschwert ab. »Ich interessiere mich nur sehr für Psychologie. Deshalb arbeite ich auch so gern mit Frau Dr. Norden zusammen. Sie hat so viel Ahnung von dieser Materie«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für die stellvertretende Chefin der Pädiatrie.
Volker Lammers’ Magen zog sich vor Ärger zusammen. Doch nach außen war ihm nichts anzumerken. Er suchte noch nach einer passenden Erwiderung, als plötzlich Schreie aus einem der Zimmer ertönten. Eine Tür am anderen Ende des Ganges wurde aufgerissen und eine Frau stürmte laut kreischend heraus. Der Zufall wollte es, dass Heike Moebius direkt auf Schwester Elena und den Kinderarzt zulief.
Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Atem galoppierte.
»Hilfe! Schwester, helfen Sie mir! Die Männer sind wieder hier. Hilfe!«
Während Elena der Patientin entgegen eilte, blieb Volker Lammers, wo er war, und beobachtete das Geschehen voller Interesse. Für sein Vorhaben hätte ihm gar nichts Besseres passieren können. Voller Genugtuung wartete er, was geschah.
»Frau Moebius, was ist denn passiert? Warum schlafen Sie nicht?«, erkundigte sich Schwester Elena.
»Die Männer … sie wollen mich umbringen!« Heike schnappte nach Luft.
Doch Elena hatte ihrem Vorbild Fee Norden oft genug zugesehen, um zu wissen, was sie zu tun hatte. Sie packte die panische Frau an beiden Oberarmen und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen.
»Beruhigen Sie sich, Frau Moebius. Hören Sie mir zu!«, sprach sie laut und deutlich auf ihre Patientin ein. »Sie sind in Sicherheit. Niemand will Ihnen etwas tun. Alles ist in Ordnung.«
Heike starrte die Schwester an. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Doch je länger sie Elenas Stimme lauschte, umso mehr beruhigte sie sich. Nach und nach ging ihr Atem langsamer, und schließlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass die Schwester sie wieder auf ihr Zimmer bringen konnte.
Auch Volker Lammers machte sich endgültig auf den Heimweg. Er hatte genug gesehen, um gleich am nächsten Morgen bei der Klinikchefin vorzusprechen. Diesmal musste Jenny Behnisch endlich einsehen, dass Fee Norden und ihr Mann zu weit gegangen waren. Diesmal musste sie Konsequenzen ziehen und ihn zum stellvertretenden Chef der Pädiatrie machen.
*
In der Tat wirkte Dr. Behnisch schockiert über das, was der Kollege Lammers am nächsten Morgen über die Patientin Heike Moebius und das eigenmächtige Handeln ihrer Freunde berichtete. Da traf es sich gut, dass das Telefon klingelte und die Assistentin Andrea Sander ausgerechnet Daniel Nordens Besuch ankündigte. Gleichzeitig forderte die Klinikchefin die Patientenakte an.
»Wunderbar!«, lächelte sie Volker Lammers an, als sie an den Besprechungstisch zurückkehrte. Dort saß der Kollege und wartete auf sie. »Daniel hat um einen Termin bei mir gebeten. Er ist in zwei Minuten hier.«
Tatsächlich öffnete sich nur wenig später die Tür, und Dr. Norden kam herein. Andrea Sanders hatte ihm die Akte Moebius gleich mitgegeben. Als er Lammers sah, konnte er sich nur mit Mühe einen anzüglichen Kommentar verkneifen. Auch wenn er die Spitzelei nicht bemerkt hatte, ahnte er, warum der Kollege dort saß.
»Guten Morgen, die Herrschaften«, grüßte er in die Runde und reichte Jenny die Akte.
»Danke.« Sie bat ihn, Platz zu nehmen und schlug die Mappe auf. »Dasselbe wünsche ich dir. Auch wenn es ein durchaus ernstes Thema gibt, das der Kollege Lammers mir auseinandergesetzt hat«, erklärte sie, während sie den Inhalt der Akte überflog.
»Ich nehme an, er ist aus demselben Grund hier wie ich«, gab Daniel zurück und blitzte den Kinderarzt an.
Schon wollte Volker Lammers den Mund öffnen und eine entsprechende Antwort geben, als Jenny ihm zuvor kam.
»Wir haben alle viel zu tun und keine Zeit für langwierige Diskussionen. Deshalb will ich nicht lange um den heißen Brei herumreden«, wandte sie sich an ihren langjährigen Freund. »Was gibt es über Heike Moebius zu berichten?«
Dr. Norden dachte kurz nach und entschied sich schließlich dafür, über die medizinischen Fakten zu sprechen, wegen der die Patientin eingeliefert worden war.
»Sie hat ein Schleudertrauma und mehrere Schnittwunden, die genäht werden mussten. Wenn alles glatt läuft, können die Fäden in zwei, drei Tagen gezogen werden. Außerdem befindet sie sich in einem schwierigen seelischen Zustand.«
Das war nicht genau das, was die Klinikchefin hören wollte.
»Hier steht etwas von Panikattacken und Verfolgungswahn«, bemerkte sie und klopfte mit den Fingerspitzen auf die Akte. »Ist es das, was du unter ›schwierigem seelischen Zustand‹ verstehst?«
Volker Lammers saß schweigend am Tisch und lauschte dem Gespräch. Er machte sich nicht die Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Daniel übersah es gekonnt und konzentrierte sich auf seine Freundin.
»Ehrlich gesagt habe ich gestern herausgefunden, dass Heike Moebius unter einer bereits diagnostizierten Schizophrenie leidet«, gestand er, als es Lammers nicht länger aushielt.
»Und das sagen Sie so einfach?«, schnaubte er, und plötzlich war alles Grinsen aus seinem Gesicht verschwunden. »Sind Sie sich im Klaren darüber, welchem Risiko Sie die anderen Patienten aussetzen? Ich habe es gestern selbst miterlebt. Die Moebius hat sich aufgeführt wie eine Verrückte.«
Daniel legte den Kopf schief und sah seinen Kontrahenten an.
»Täusche ich mich oder leiden Sie auch unter Stimmungsschwankungen? Vor einer Minute haben Sie noch gelacht und jetzt sind Sie fast aggressiv. Ich muss mich schon sehr wundern, Kollege Lammers.« Er schnalzte mit der Zunge, und Jenny hätte am liebsten laut herausgelacht.
Doch sie besaß mehr Selbstbeherrschung als der Kinderarzt und verzog keine Miene.
»Frau Moebius hatte also gestern Abend wieder einen Anfall?«, wandte sie sich an Daniel.
»Davon höre ich jetzt zum ersten Mal.«
»Nur für den Fall, dass Sie mir nicht glauben«, presste Lammers durch die Lippen. »Ich habe Zeugen.«
»Schon gut«, winkte Jenny Behnisch ab, ohne den Blick von ihrem Freund zu wenden. »Wenn du von den Anfällen wusstest, hast du sicher auch einen Plan, wie es weitergehen soll. Dass die Patientin nur so lange hier bleiben kann, wie eine medizinische Indikation gegeben ist, ist dir mit Sicherheit klar.«
»Ich würde sie gern hier behalten, bis die Fäden gezogen sind«, erwiderte Daniel und schenkte sich ein Glas Wasser aus einer der Flaschen ein, die auf dem Tisch standen. »Die Wunden heilen nicht so gut wie erwartet, und es ist eine Infektion zu befürchten.«
Diese Bemerkung war nicht imstande, Volker Lammes zu erheitern.
»Das sind doch nur faule Ausreden!« Wie um seine Worte zu unterstreichen, schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sie wissen genau, dass die Patientin nicht hierher, sondern in eine Psychiatrie gehört!«
»Sie unterstellen dem Kollegen Lügen?«, fragte Jenny und zog eine Augenbraue hoch zum Zeichen ihrer Missbilligung.
Volker Lammers klappte den Mund wieder zu, und sie wendete sich an Daniel.
»Habe ich das richtig verstanden? Frau Moebius soll noch zwei bis drei Tage hier bleiben?«
Daniel nickte.
»Das wäre das Beste für sie.«
»Das Beste wäre eine entsprechende Behandlung«, knurrte Lammers, immer noch nicht willens, sich zu fügen. »Was, wenn die anderen Patienten von dieser Verrückten Wind bekommen? Was, wenn sie in ihre Zimmer stürmt und Angst und Schrecken verbreitet, weil sie meint, Mörder wären hier unterwegs?« Er wandte sich an Jenny und sah sie aus schmalen Augen an. »Sie sind doch eine intelligente Frau«, fuhr er härtere Geschütze auf. »Was dann passiert, muss ich Ihnen doch nicht sagen, oder?«
Wohl oder übel musste die Klinikchefin eingestehen, dass sie dieses Argument nicht außer Acht lassen konnte.
»Wie hast du dir das vorgestellt? Personell bin ich nicht in der Lage, eine Schwester für ihre persönliche Betreuung abzustellen«, teilte sie ihrem Freund mit.
»Das ist mir durchaus klar«, räumte Daniel ein. »Ich werde gleich im Anschluss nochmal mit Frau Moebius reden. Wenn Sie sich bereit erklärt, Psychopharmaka zu nehmen, bin ich ziemlich sicher, dass die Anfälle ausbleiben.«
Mit diesem Vorschlag konnte Jenny Behnisch leben und beendete die außerordentliche Besprechung. Der nächste Termin saß ihr schon im Nacken, und sie musste sich beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Daniel machte sich auf den Weg zu Frau Moebius. Im Anschluss wollte er Marla ins Gewissen reden und sie von einem Treffen mit ihrer Mutter überzeugen. Und auch Volker Lammers kehrte notgedrungen an seine Arbeit zurück. Wieder hatte er sein Ziel – die Entmachtung von Fee Norden – nicht erreicht. Doch es würden sich andere Gelegenheiten ergeben, und er würde nicht eher ruhen, bis er zuerst stellvertretender und irgendwann Chef der Pädiatrie der Behnisch-Klinik sein würde.
*
»Hast du eine Ahnung, wo der Ordner mit den Kontoauszügen hingekommen ist, Prinzessin?«, rief Pascal durch die Wohnung, die er vor kurzem mit seiner Verlobten bezogen hatte. Obwohl sämtliche Umzugskisten bereits ausgeräumt und der Inhalt in Schränken und Schubladen verschwunden war, herrschte noch ein ziemliches Durcheinander. Das war auch der Grund, warum die beiden sich an diesem Tag freigenommen hatten.
Als der Galerist keine Antwort bekam, machte er sich auf die Suche nach seiner Braut. Er fand sie im Wohnzimmer, wo sie am Fenster stand und offenbar tief in Gedanken versunken hinausblickte.
»Prinzessin!«, wiederholte er dicht hinter ihr, und wie von der Tarantel gestochen fuhr Marla herum.
Dabei wischte sie mit dem Ärmel übers Fensterbrett und riss einen Blumentopf mit sich. Krachend zerbarst er auf dem Boden, und die Erde spritzte zu allen Seiten.
»Bist du verrückt geworden?«, fauchte sie, und schlagartig standen ihr Tränen in den Augen. »Wie kannst du mich so erschrecken?«
»Aber ich hab doch schon aus dem Arbeitszimmer gerufen, und du hast mich nicht gehört«, verteidigte er sich völlig verdattert. »Was ist denn nur los mit dir? Seit zwei Tagen bist du wie verwandelt. So schreckhaft und streitsüchtig bist du doch sonst nicht.«
Marla fühlte sich ertappt, und das Blut schoss ihr ins Gesicht.
»Stimmt doch gar nicht«, wehrte sie sich, als zu ihrer Erleichterung das Telefon klingelte. »Gehst du ran? Dann räume ich inzwischen den Dreck hier weg.«
Um des lieben Friedens willen war Pascal einverstanden und machte sich auf die Suche nach dem Apparat. Kurz darauf reichte er Marla den Hörer und nahm ihr Kehrblech und Besen aus der Hand.
»Hier, für dich. Dr. Norden will dich sprechen.«
Die werdende Mutter riss die Augen auf und wollte im ersten Moment schreiend davon laufen. Da das aber schwer möglich war, ohne Pascals Verdacht zu erregen, griff sie nach dem Apparat und verließ das Zimmer.
»Warum rufst du mich hier an?«, fragte sie statt eines Grußes. Ihre Hand zitterte und sie drehte sich um, um sicherzugehen, dass Pascal sie nicht hörte. »Wenn es wegen meiner Mutter ist …«
»Es ist wegen deiner Mutter. Und nein, du legst jetzt nicht auf, sondern hörst mir zu!« Daniel Nordens Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
Marla schluckte.
»Okay.« Ihre Stimme war ein tonloses Flüstern.
Doch ihre Zusage war mehr, als Daniel zu hoffen gewagt hatte.
»Ich brauche eine Unterschrift von dir«, fuhr er fort. »Deine Mutter muss demnächst in eine andere Klinik verlegt werden.« Er konnte nur hoffen, dass sie ihm seine kleine Lüge abnahm. »Sie ist nicht mehr zurechnungsfähig.« Es tat ihm leid, zu so drastischen Mitteln greifen zu müssen. Doch die Bäckerin ließ ihm keine Wahl.
Tatsächlich zögerte Marla.
»Warum von mir?«
»Weil du die einzige Angehörige bist«, war Daniel nicht bereit aufzugeben. Seine Hartnäckigkeit zeigte Erfolg.
Marla haderte noch einen Moment mit sich. Dann gab sie schließlich nach.
»Also schön. Ich komme. Wo ist sie?«
Daniel versuchte, sich seinen Triumph nicht anmerken zu lassen, und nannte ihr die Station, in der sein Büro lag. Sie versprach, in einer halben Stunde dort zu sein, und legte auf.
»Na, was wollte er?«, fragte Pascal, als Marla ins Arbeitszimmer kam.
Er saß am Schreibtisch und blätterte in dem Ordner, den er inzwischen gefunden hatte.
»Die Tochter einer Kundin wurde vor ein paar Tagen in die Klinik eingewiesen. Sie ist ein großer Fan meiner Bilder, und Daniel hat gefragt, ob ich sie nicht besuchen kommen könnte«, bediente sie sich einer Notlüge in der Hoffnung, er möge ihr glauben.
Trotz des Zwists begannen Pascals Augen vor Stolz zu glänzen.
»Natürlich hast du zugesagt, nicht wahr?«, fragte er.
Marlas schlechtes Gewissen wog zentnerschwer.
»Ja, klar.« Sie wagte es nicht, ihm in die Augen zu schauen. »Ich fahr dann mal.«
»Warte. Ich bringe dich natürlich hin!«, erbot sich Pascal. Er ließ alles stehen und liegen und stand auf.
Marlas Proteste halfen nichts, und schon zehn Minuten später waren sie auf dem Weg in die Klinik. Um diese Uhrzeit herrschte nicht viel Verkehr, und das Ziel war bald erreicht.
»Ich mache inzwischen ein paar Besorgungen«, erklärte Pascal, nachdem er sich mit einem Kuss und der Versicherung, dass er ihr nicht länger böse war, von Marla verabschiedet hatte.
»Es wird nicht lange dauern.« Sie stand vor dem Wagen und rang sich ein Lächeln ab.
»Gut, dann warte ich hier.« Er winkte ihr und sah ihr nach, wie sie auf den Eingang zuging, als sein Blick auf die Tasche fiel, die auf dem Rücksitz lag. »Marla, warte, du hast deine Tasche mit dem Geschenk für das Mädchen vergessen!«, rief er ihr nach, doch da war sie schon durch die Tür verschwunden.
Einen Moment lang starrte Pascal auf die Tasche in seinen Händen. Dann traf er eine Entscheidung. Er warf die Wagentür zu, ließ die Schlösser einschnappen und lief ihr nach.
*
Erst auf der Station wurde Marla gewahr, dass sie die Zimmernummer, die Daniel ihr genannt hatte, wieder vergessen hatte. Ratlos wanderte sie von Zimmertür zu Zimmertür, als ihr eine Schwester entgegenkam.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Elena die Frau, die ganz offensichtlich auf der Suche war.
Am liebsten hätte Marla abgelehnt, auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre davon gelaufen. Doch es gab kein Entrinnen.
»Ich suche Dr. Norden. Wissen Sie, wo er ist?«, fragte sie stattdessen.
»Worum geht es denn?«, erkundigte sich Elena, obwohl sie schon eine vage Ahnung hatte, um wen es sich handelte. Trotz des Altersunterschieds war die Ähnlichkeit nicht zu leugnen.
»Ich bin die Tochter von Heike Moebius«, gab sich Marla zu erkennen. »Dr. Norden hat mich gebeten zu kommen. Er braucht eine Unterschrift von mir.«
Schwester Elenas Miene erhellte sich. Sie hatte mit Daniel gesprochen und ihre Zweifel daran geäußert, dass seine List aufgehen würde.
»Kommen Sie«, lächelte sie und winkte Marla mit sich. »Ich bringe Sie zu ihm.«
Daniel wartete in seinem Büro auf seine Besucherin und stand auf, als sie ins Zimmer kam. Während Elena die Tür hinter Marla schloss, ging er um den Schreibtisch herum und lächelte.
»Danke, dass du gekommen bist.« Seine Stimme verriet, wie groß seine Erleichterung wirklich war. Er berührte sie kaum, als er sie am Arm nahm und zu der Sitzgruppe führte, die für solche Gespräche reserviert war. »Und ich sag’s dir lieber sofort: Das mit der Unterschrift und der Unzurechnungsfähigkeit war eine Notlüge. Aber mir ist einfach kein anderes Mittel eingefallen, um dich hierher zu locken«, warb er um ihr Verständnis. »Ich brauche deine Hilfe«
Marla hatte sich auf die äußerste Kante des Sessels gesetzt und sah Daniel über den Couchtisch hinweg an.
»Ich wüsste nicht, wie ich meiner Mutter helfen sollte. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr.«
»Das hat einen Grund, nehme ich an«, erwiderte er sanft. »Willst du darüber sprechen?« Das, was wie eine Frage klang, war in Wahrheit eine Aufforderung.
Marla hatte dieser Familie so viel zu verdanken, dass sie noch nicht einmal darüber nachdachte abzulehnen. Wie ein Häuflein Elend saß sie da und legte die Hände schützend auf das wachsende Leben in ihrem Bauch.
»Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann es angefangen hat«, begann sie stockend. »Es muss ein paar Jahre nach der Trennung von meinem Vater gewesen sein. Lange Zeit hat sich Mama nichts anmerken lassen und mir eine heile Welt vorgegaukelt, die es gar nicht gab. Daran ist sie irgendwann zerbrochen.«
»Sie hat mir so was in der Art erzählt«, nickte Dr. Norden. Doch Marla schien ihn nicht zu hören, so sehr nahmen sie ihre Erinnerungen gefangen.
»Früher kamen die Schübe selten, und eine Weile hat sie sogar Medikamente genommen. Vielleicht hätte sie es geschafft, wenn sie nicht damit aufgehört hätte.«
»Auf der einen Seite kann ich Heike verstehen.« Daniel Norden drehte sein Wasserglas in den Händen. »Früher waren solche Medikamente echte Hämmer. Aber diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei.«
Doch Marla schüttelte den Kopf.
»Wegen der Tabletten hat Mama mal einen wichtigen Prozess verloren und ein unschuldiger Mensch wurde verurteilt. Das kann sie sich nicht verzeihen. Deshalb wird sie keine Medizin mehr nehmen.«
Daniel war ehrlich erschrocken.
»Das wusste ich nicht. Heike hat nicht darüber gesprochen.«
»Natürlich nicht. Es tut zu weh. Immer noch.« Marla lächelte bitter. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich damals alles versucht habe, um ihr zu helfen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich versteht das nur jemand, der so was durchgemacht hat. Es ist wie bei einer Sucht, wenn der Süchtige nicht einsieht, dass er abhängig ist. Ich wollte Mama helfen bis zur Selbstaufgabe. Als das nicht funktioniert hat, kam die Wut. Wenn ich daran denke, was ich ihr alles an den Kopf geworfen habe, in der Hoffnung, sie zu erreichen. Umzustimmen. Vergeblich.«
Zutiefst ergriffen lauschte Dr. Norden Marlas Geschichte. Er wollte sie nicht unterbrechen. Deshalb sagte er kein Wort.
»Und am Ende kommt dann die Ohnmacht«, murmelte sie und senkte den Kopf.
»Deine Mutter kann sich nur selbst helfen. Sie muss einsehen, dass sie krank ist.« Seine eigenen Worte klangen in seinen Ohren lapidar, ja, fast lächerlich.
Eine ähnliche Wirkung schienen sie auf Marla zu haben, denn sie lachte hämisch auf.
»Mama? Da kennst du sie schlecht. Wie kann eine rechthaberische Anwältin einsehen, dass sie krank ist? Ich habe so oft versucht, das zu ändern. Was willst du jetzt von mir? Welche Rolle soll ich spielen?«, stellte sie die Frage, die ihr am meisten auf dem Herzen brannte.
»Ich möchte dich bitten, noch einmal mit ihr zu sprechen. Sie gibt es nicht zu, aber ich glaube, ihr Unfall vor der Bäckerei war kein Zufall.«
Marla schnappte nach Luft.
»Du glaubst, sie hat es absichtlich gemacht?«
»Nein. Aber ich glaube, dass sie wusste, wo du arbeitest. Dass sie dort vorbeigefahren ist und so abgelenkt war, dass sie nicht mehr auf die Straße geachtet hat«, erklärte er seine Theorie. »Deshalb möchte ich dich bitten, noch einmal mit ihr zu reden.«
Marla kämpfte mit sich. Ihre Augen schwammen in Tränen, als sie den Kopf hob und Daniel ansah.
»Weißt du, wie schwer es mir damals gefallen ist, alle Brücken abzubrechen und wegzugehen?«, schluchzte sie. »Aber wenn ich es nicht gemacht hätte, wäre ich mit ihr untergegangen. Und schau mich jetzt an!« Sie deutete auf ihren sich wölbenden Leib. »Ich habe es geschafft, habe die Liebe meines Lebens gefunden und erwarte ein Kind.« Dankbar nahm sie das Taschentuch, das der Arzt ihr reichte. »Du weißt selbst, wie hart ich für alles gekämpft habe. Pascal weiß nichts von meiner verrückten Mutter. Wenn er das erfährt, verlässt er mich bestimmt.«
»Vielleicht musst du etwas mehr Vertrauen in die Menschen haben, die dich lieben«, machte Daniel einen Vorschlag, der ein Lächeln über Marlas Lippen huschen ließ.
»Vielleicht«, gestand sie und trocknete sich die Tränen. Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Dann atmete Marla tief durch und nahm allen Mut zusammen. »Und jetzt sag schon, wo sie ist.«
In diesem Moment wusste Dr. Norden, dass zumindest diese erste Hürde endlich genommen war. Er lächelte der jungen Frau zu und stand auf, um sie zu ihrer Mutter zu bringen.
*
Als Heike Moebius sah, wer in ihr Zimmer kam, hielt sie die Luft an. Mit kreisrunden Augen sah sie ihrer Tochter dabei zu, wie sie sich einen Stuhl ans Bett zog und sich setzte.
»Hallo, Mama.«
Heike schluckte.
»Schön, dich zu sehen, Marla.« Heike klang schüchtern. »Du siehst gut aus.«
»Mir geht’s auch gut.« Marla zögerte. »Warum hast du das getan, Mama?«
»Es … es war ein Unfall. Ich wollte nicht gegen die Ampel fahren. Aber ich war so damit beschäftigt, durch das Schaufenster zu schauen, dass ich nichts anderes mehr im Kopf hatte«, bestätigte Heike die Vermutung ihres Arztes.
Schon wieder brannten die Tränen in den Augen der Tochter.
»Aber warum bist du überhaupt gekommen?«
In diesem Moment gab es kein Halten mehr für Heike. Sie richtete sich im Bett auf und streckte die Hände nach ihrer Tochter aus. Als Marla sie ihr reichte, zog sie sie an sich und schloss sie in die Arme.
»Weil ich dich liebe, mein Mädchen. Und weil mein Leben öde und leer ist, seit du nicht mehr da bist«, gestand sie dicht an Marlas Ohr.
Die spürte die Wärme der Umarmung und roch das Parfum ihrer Mutter. Es war der Geruch ihrer Kindheit. Tröstend und aufwühlend zugleich.
»Das hätte nicht so sein müssen. Wenn du deine Krankheit behandelt hättest …« Das Ende des Satzes schwebte in der Luft. Marla atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann löste sie sich aus der Umarmung und sah ihre Mutter an. »Aber darüber haben wir ja schon so oft geredet, und es hat sich nichts geändert«, seufzte sie und wirkte plötzlich wie eine alte Frau. »Ich will dir keine Vorwürfe mehr machen. Wenn du dich kaputt machen willst, dann tu es. Aber ohne mich. Ich habe jetzt ein neues Leben und werde bald heiraten.«
»Was?« Heikes Augen wurden groß und rund vor Staunen, und ihr Blick wanderte zu Marlas Bauch. »Ich wollte ja nicht fragen, aber … aber … bist du schwanger? Werde ich Oma?«
Marla schluckte und nickte.
»Ja.« Sanft streichelte sie über die kleine Kugel, die sich unter ihren Berührungen bewegte, als wollte der kleine Bewohner antworten. »Und mehr als alles andere auf der Welt wünsche ich mir, dass du eine richtige Oma sein kannst. Mit allem, was dazugehört.«
Heike verstand diese indirekte Botschaft und konnte es kaum glauben.
»Das ist ja so, als würde ich eine zweite Chance bekommen«, flüsterte sie.
»Wenn du das so sehen willst, ja!« Marla lächelte und fühlte plötzlich, wie die Kraft nach und nach zu ihr zurückkehrte. »Aber nur …«
Heike Moebius ließ ihre Tochter nicht ausreden.
»Ich weiß, ich weiß.« Abwehrend hob sie die Hände. »Aber das werde ich nicht mit dir besprechen. Dafür gibt es diesen großartigen, gutaussehenden Arzt.«
Über diese Bemerkung konnte Marla schon wieder lachen.
»Mach dir keine Hoffnungen, Mama. Er ist schon vergeben.«
»Hat er einen Bruder?«
»Nein.«
Heike lächelte und zuckte mit den Schultern.
»Na, dann muss ich mich eben auf einen geschäftlichen Umgang beschränken. Aber der ist ja auch schon eine Freude.«
*
Marlas Augen glänzten, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie das Zimmer ihrer Mutter verließ. Sie hatte Daniel versprochen, ihn vom Ergebnis der Unterhaltung zu unterrichten, und wollte sich eben auf den Rückweg in sein Büro machen, als sie eine Stimme hörte, die sie so gut kannte wie keine andere.
»Marla, da bist du ja!« Pascal war sichtlich nervös, als er auf sie zueilte. Ihre Tasche baumelte über seiner Schulter. »Ich hab dich überall gesucht. Du hast deine Tasche mit dem Geschenk für die Kleine vergessen.«
Als Marla ihren Bräutigam sah, sackte ihr das Blut in die Beine und ihre Wangen wurden blass. Sie musste sich an der Wand festhalten, um nicht zu fallen.
»Oh, Pascal …«, stammelte sie und suchte händeringend nach einer Ausrede. »Ich wusste nicht …«
»Gib dir keine Mühe.« Er stand vor ihr und sie konnte sein Aftershave riechen. Und doch schien er in diesem Augenblick ihr Feind zu sein, so scharf war seine Stimme. »Du warst nicht auf der Kinderstation. Ich hab einen Arzt getroffen, Lammers oder so, und er hatte keine Ahnung, dass du erwartet wirst.«
»Selbst die Halbgötter in Weiß sind nicht allwissend«, erwiderte Marla mit spitzer Stimme, wusste aber genau, dass sie diese Bemerkung nicht retten würde.
Pascal stand vor ihr und ballte die Hände zuFäusten.
»Welches Spiel spielt ihr mit mir?«, fragte er, und seine Stimme zitterte.
Er wirkte so zornig, dass Marla es mit der Angst zu tun bekam.
»Es gibt kein Spiel. Bitte, Pascal. Du musst mir glauben.«
»Dann sag endlich, was los ist. Ich bin doch nicht blöd. Seit Tagen bist du völlig verändert. Schlecht gelaunt, ungeduldig, unkonzentriert, nervös, abwesend«, zählte er nur einen Teil der Eigenschaften auf, die sie an den Tag legte, seit sie wusste, dass ihre Mutter in der Nähe war. »So warst du noch nicht mal, als unser Kind in größter Gefahr war. Also will ich jetzt, verdammt noch mal, von dir wissen, was los ist.«
So aufgebracht hatte Marla ihren Bräutigam noch nie zuvor gesehen. Sie wusste: Wenn sie ihm jetzt nicht die Wahrheit sagte, würde er das Vertrauen in sie für immer verlieren. Doch würde er das nicht so oder so? In diesem Moment fielen ihr wieder Daniel Nordens Worte ein. Sie durfte die Menschen, die sie liebten, nicht unterschätzen. Dieses Rezept hatte bei ihrer Mutter gewirkt. Vielleicht wirkte es auch bei Pascal. Wenn sie nicht alles verlieren wollte, musste sie es versuchen.
*
»… dass die Frau Opfer eines Racheaktes wurde.« Janine Merck saß an ihrem Schreibtisch und beugte sich über die Tageszeitung, die der Postbote wie jeden Morgen in die Praxis gebracht hatte. Ihre Kollegen standen am Tresen und lauschten ihrem Bericht. »Es war nicht etwa ein Geist, der aus dem Reich des Todes zurückgekehrt war, sondern lediglich eine Person, die dem Verunglückten sehr ähnlich sieht.« Die Enttäuschung stand der Assistentin ins Gesicht geschrieben.
Danny grinste seinen Vater an.
»Zum Glück verfügen wir über genügend naturwissenschaftliche Bildung, um zu wissen, dass es solche Phänomene nicht gibt.«
Zu seiner Enttäuschung ging sein Vater nicht auf seine Worte ein. Sein ganze Aufmerksamkeit ruhte auf Janine.
»Und wie geht es weiter? Ich meine, steht da noch mehr? Um welche Art von Racheakt hat es sich gehandelt?«, stellte er eine Frage nach der anderen, dass sich Wendy nur wundern konnte.
»Seit wann interessieren sich Naturwissenschaftler denn für Klatsch und Tratsch?«, fragte sie.
»Auch wenn wir nicht an Übersinnliches glauben, sind wir trotzdem Menschen, die Anteil nehmen an ihrer Umwelt«, verteidigte sich Daniel. »Außerdem kann man sich ja nicht den ganzen Tag nur mit hochtrabenden Themen beschäftigen.« Mit diesen Worten wendete er sich wieder an Janine. »Bitte lesen Sie vor.«
Die Assistentin hatte den Artikel inzwischen zu Ende gelesen und gab des Rätsels Lösung preis.
»Der verunglückte Mann war offenbar ein ziemlicher Casanova«, berichtete sie. Es war ihr anzusehen, dass ihr ein anderes Ende lieber gewesen wäre. »Deshalb wollte seine Frau ihrer Nebenbuhlerin einen Denkzettel verpassen.« Mit diesen Worten faltete sie die Zeitung zusammen und legte sie auf den Stapel zu den Magazinen und Zeitschriften.
»Ein Glück«, seufzte Wendy. »Mir ist es bedeutend lieber, wenn keine Untoten in unserer Umgebung ihr Unwesen treiben. Sonst müsste ich mir doch noch einen Mann als Beschützer suchen.«
»Es gibt Schlimmeres, finden Sie nicht?«, grinste Danny und erntete einen zweifelnden Blick.
»Bei meinem Glück erwische ich wahrscheinlich den Untoten höchstpersönlich«, erwiderte sie, und alle lachten.
Dann wurde es Zeit, sich an die Arbeit zu machen, und Danny beugte sich über den Tresen, um einen Blick in den Terminkalender zu erhaschen.
Es gelang ihm nicht.
»Die erste Patientin heute Morgen ist Marla Brandt«, ließ sich Wendy nicht in die Karten schauen.
Danny wunderte sich.
»Was denn? Marla? Aber sie war doch erst vor ein paar Tagen zur Vorsorge hier.«
»Sie kommt ja auch nicht zu dir, sondern zu deinem Vater«, verkündete Wendy, und ein Lächeln zuckte um ihre Lippen.
»Was denn, spannst du mir etwa heimlich meine Patienten aus?«, fragte der junge Arzt.
»Was kann ich dafür, wenn sich die jungen Damen bei mir besser aufgehoben fühlen?«, scherzte Dr. Norden senior und zwinkerte seinem Sohn belustigt zu.
Beide wussten, dass Marlas Besuch in der Praxis keinen medizinischen Grund haben konnte. Das hätte Danny längst erfahren, wohnte er doch im selben Haus wie die junge Bäckerin.
»Keine Angst, ich gönne dir dein spätes Erfolgserlebnis«, gab er sich großzügig. »So viele wirst du ja nicht mehr davon haben.« Ehe sein Vater auf diese Frechheit etwas sagen konnte, drehte er sich um und verschwand in seinem Sprechzimmer.
»Da zieht man die Brut mit Geduld und Liebe auf. Lässt ihr alle erdenklichen Annehmlichkeiten zukommen. Und was erntet man? Nur Undank«, seufzte er, als die Flurtür aufging.
Es war Marla, und sie hatte die letzten Worte aufgeschnappt.
»Herrje, wenn ich das früher gewusst hätte, hätte ich mir das mit dem Nachwuchs nochmal überlegt.«
»Dazu ist es jetzt zu spät«, erklärte Daniel. Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu und begrüßte sie mit einem Kuss links und rechts auf die Wange. »Die Frage, wie es dir geht, erübrigt sich eigentlich«, machte er ihr ein Kompliment und begleitete sie in sein Sprechzimmer. Dort bot er ihr nicht etwa einen Platz vor dem Schreibtisch an, sondern auf dem Sessel der Sitzgruppe. Er selbst nahm ihr gegenüber Platz und sah sie gespannt an. Obwohl er bereits Informationen vom Leiter des Sanatoriums auf der Insel der Hoffnung hatte, wollte er seinen Eindruck durch Marlas Einschätzung komplettieren.
»Und? Ist deine Mutter mit unserem Vorschlag zufrieden, sich auf der Insel der Hoffnung einer Behandlung zu unterziehen?«, fragte er.
»Zufrieden?« Marla lachte. »Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Mama ist schlichtweg begeistert. Sie meinte, wenn sie gewusst hätte, wie schön es dort ist, hätte sie sich schon viel früher einer stationären Therapie unterzogen. Außerdem hat sie festgestellt, dass es viele gutaussehende Ärzte dort gibt.«
Daniel legte den Kopf in den Nacken und lachte.
»Solange sie meiner Schwiegermutter nicht meinen Schwiegervater ausspannt, ist mir alles recht.«
»Mir auch«, erwiderte Marla aus tiefstem Herzen. Unvermittelt wurde sie ernst. »Allerdings muss uns allen auch klar sein, dass wir noch lange keinen Grund zum Feiern haben. Es ist er erst ein winzig kleiner, erster Schritt, den Mama damit tut.«
»Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.« Auch wenn Daniel wusste, wie recht Marla mit ihrer Bemerkung hatte, wollte er optimistisch in die Zukunft sehen. »Hast du dir schon überlegt, ob du deine Mutter zu eurer Hochzeit einladen willst?«
Marla nickte.
»Sie soll mit Pascals Eltern an unserem Tisch sitzen. Ich glaube, wenn sie sich daran erinnert, was es heißt, eine richtige Familie zu haben, dann wird sie daraus die Kraft schöpfen, die sie zum Durchhalten braucht.«
»Diese Kraft wird ihr auch der kleine Fynn geben«, versicherte Daniel und stand auf. »Danke, dass du trotz Arbeit vorbeigekommen bist. Ich war sehr gespannt auf deinen Bericht.«
»Kein Problem«, winkte Marla ab und verabschiedete sich mit einer Umarmung von Dr. Norden. »Pascal wartet im Wagen auf mich und bringt mich gleich im Anschluss an die Bäckerei.«
»Aber überanstreng dich nicht!«, hörte Daniel sich sagen und musste über sich selbst lachen. Er führte sich auf wie der Großvater höchstpersönlich. Doch Marla war dankbar dafür und lächelte, ehe sie die Praxis verließ mit dem Versprechen, gut auf sich und Fynn aufzupassen.
*
»Und? Alles klar?«, fragte Pascal, als sie zu ihm in den Wagen stieg. Er wartete, bis sie sich angeschnallt hatte, dann startete er den Motor.
»Ja, ich denke schon«, erwiderte sie und sah ihren Bräutigam von der Seite an. »Zumindest hoffe ich, dass zwischen uns wieder alles in Ordnung ist.«
Ihre Stimme war so voller Sorge, dass Pascal den Motor wieder ausmachte.
»Wieso? Gibt es vor der Hochzeit noch etwas, was ich wissen sollte? Hast du einen Onkel, der bei uns einziehen will? Eine Schwester, die dringend eine Bankbürgschaft braucht? Ein uneheliches Kind, das ich adoptieren soll?«, zählte er scherzhaft auf, was ihm an Katastrophen spontan einfiel.
Marla schüttelte den Kopf.
»Jetzt weißt du wirklich alles von mir. Trotzdem frage ich mich, ob das nicht ein bisschen zu viel ist.«
Pascals Gesicht wurde weich vor Liebe zu seiner Braut.
»Mach dir keine Sorgen, meine Prinzessin«, erklärte er und legte ihr den Arm um die Schultern. Das war nicht so einfach im Wagen, aber es gelang ihm doch. »Ich liebe dich. Lass es mich einfach wissen, wenn ich was für euch tun kann.«
Seine Liebeserklärung rührte an Marlas strapaziertes Herz.
»Ich liebe dich auch«, seufzte sie und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Aber wir müssen uns wirklich auf einen sehr, sehr langen Weg gefasst machen.«
»Das will ich hoffen, dass wir einen langen, langen Weg vor uns haben.« Pascal zwinkerte ihr zu. Er beugte sich zu Marla hinüber, um ihr auch noch den letzten Zweifel aus der Seele zu küssen, und startete dann den Wagen, um einen weiteren Schritt auf dem langen gemeinsamen Weg zu machen, den sie vor sich hatten.