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KAPITEL EINS Am Rande der Finsternis

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Onkel Norman starb am 8. März 1906. Am Frühstückstisch im Haus Helderfontein in Stellenbosch in der Kapprovinz. Er war zwei Jahre alt; sein morgendlicher Haferbrei war mit einer Prise Arsen versetzt worden. Das langgestreckte, lichtdurchflutete Frühstückszimmer von Helderfontein blickte auf den Blumengarten hinaus, dessen Beete im März morgens um diese Zeit noch bewässert wurden; der gesamte Garten konnte dank eines genialen Systems von gemauerten Kanälen und Holzdämmen von einem einzigen Wasserhahn versorgt werden. Als Norman starb, war meine Großmutter mit dem dritten ihrer sechs Kinder schwanger.

Eigentlich hatte der Arsenanschlag meinem vierjährigen Vater gegolten. Das Frühstückszimmer lag an einem Ende des Hauses, die Kinderzimmer befanden sich am anderen. Mein Vater hatte einen ausgeprägten Sinn für Hierarchie und für den ihm gebührenden Platz in der Welt von Helderfontein, und das rettete ihm das Leben. Als er an diesem Morgen später als üblich am Frühstückstisch erschien – normalerweise war er vor den anderen dort –, erbrach Norman sich krampfartig. »Ich setze mich nicht mit einem Kind an einen Tisch, das sich übergibt«, verkündete mein Vater und verließ den Raum, ohne seinen Haferbrei angerührt zu haben. Als meine herbeigeeilte Großmutter sich bemühte, den kleinen Jungen zu beruhigen, fielen ihr tote Fliegen in einer kleinen Pfütze neben dem Teller auf. Nachdem Norman gestorben war, wurde der Inhalt des Milchkrugs noch am selben Tag zur Analyse geschickt. Meine Großmutter war eine fromme Christin, und deswegen wurde der ungetaufte Norman an einem Hang unweit des Hauses bestattet. Die Grabstätte gehörte zum Hof; um sie zu erreichen, musste man den Fluss hinter dem Obstladen überqueren. Meine Großmutter kennzeichnete die Stelle mit einem kleinen Stein und verbot allen in der Familie, Norman jemals wieder in ihrem Beisein zu erwähnen.

Hauptverdächtiger war ein Mann namens Wilson, der ehemalige Kutscher meines Großvaters. Wilson war gemischter Abstammung, was später, in der Apartheid, als »Cape Coloured« klassifiziert werden sollte. Er war ein paar Wochen zuvor wegen Diebstahls entlassen worden und hatte Rache geschworen. Er kannte die Morgenroutine von Helderfontein, wusste, wann die Kühe gemolken wurden und wo die Frühstücksmilch aufbewahrt wurde. Er wusste auch, wann man die Molkerei unbemerkt betreten konnte. Und dass der älteste Sohn seines Arbeitgebers der Erste war, der die Milch zu sich nahm. Doch die Ermittlungen der Polizei waren nicht beweiskräftig genug. Weder konnte man dem Kutscher den Kauf von Arsen nachweisen, noch ihn sonst irgendwie mit dem Verbrechen in Zusammenhang bringen. Wilson wurde vor Gericht gestellt, freigesprochen und verschwand aus der Gegend. Doch das überzeugte meine Großmutter noch lange nicht von seiner Unschuld.

Mein Großvater Arthur war ein Pferdenarr. Es bereitete ihm großes Vergnügen, frühmorgens mit meinem Vater auszureiten, um den Simonsberg zu erkunden und allerlei Abenteuer zu bestehen. Mein Vater hatte sein eigenes Pony, und ein paar Monate nach Normans Tod, als er fünf wurde, hielt man ihn für alt genug, täglich zur Schule zu reiten. Der Pfad führte durch den Wald, und eines Nachmittags wurde mein Vater auf dem Heimweg erneut von dem Kutscher angegriffen, dessen Groll sich trotz Normans entsetzlichem Tod nicht gelegt hatte. Er schoss zwischen den Bäumen hervor, schwang eine Axt und brüllte: »Diesmal kriege ich dich!« Das Pferd ging durch, aber mein Vater hielt sich im Sattel und galoppierte nach Hause.

Als er seiner Mutter erzählte, was geschehen war, wurde ihr klar, dass ihr Sohn erst sicher sein würde, wenn der Mann für den Mord an Norman verurteilt wurde. Sie engagierte einen Privatdetektiv aus Kapstadt namens Davis, der sehr gründlich vorging und schließlich den Händler ausfindig machte, von dem Wilson das Arsen gekauft hatte. Aufgrund der veränderten Beweislage konnte der Mordprozess gegen Wilson neu verhandelt werden.* Wie beim ersten Mal wies er auch jetzt alle Schuld von sich. Er behauptete, das Arsen als Rattengift gebraucht zu haben.

Im Laufe des Kreuzverhörs fragte ihn der Staatsanwalt: »Sie haben mehr Gift gekauft, als man für Ratten benötigt. Was haben Sie mit dem Rest getan?«

»Ich habe es ins Feuer geworfen.«

»Gab es daraufhin irgendeine Reaktion?«

»Eine Stichflamme.«

»Welche Farbe hatte sie?«

»Sie war gelb.«

Der Experte, den die Staatsanwaltschaft als Nächstes aufrief, gab zu Protokoll, dass Arsen die Flammen beim Verbrennen blau färbt.

Der Kutscher wurde des Mordes schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und gehängt. Mein Vater konnte wieder unbehelligt zur Schule reiten, und meine Großmutter konnte in Ruhe um Norman trauern. Jedenfalls dachte sie das. Das Gerichtsverfahren hatte sie erschöpft, und einige Zeit später reiste sie nach England, um bei ihren Cousinen Abstand von den Ängsten zu gewinnen, die ihr glückliches Leben in Helderfontein überschatteten. An den Docks von Southampton stieg sie in den Zug nach London. Ein Gepäckträger hievte ihren Koffer auf die Ablage über ihrem Platz. Auf dem Schild der Union Line war »Mrs. Arthur Marnham, Stellenbosch« zu lesen. Als sich der Zug in Bewegung setzte und meine Großmutter sich an der abwechslungsreichen Landschaft der Hampshires und dem Gefühl zu erfreuen begann, den noch nicht lange zurückliegenden Albtraum allmählich hinter sich zu lassen, beugte sich die ihr gegenübersitzende Frau vor und erkundigte sich: »Sind Sie verwandt mit der Dame, deren kleiner Junge am Kap ermordet wurde?«

Im ganzen Königreich hatte die Presse über den Mord an Onkel Norman berichtet. Doch in dem drei Monate nach den Ereignissen im Auckland Star* erschienenen Artikel war mittlerweile von der Vergiftung der gesamten Familie die Rede. Das Verbrechen war zum Sinnbild für den kolonialen Albtraum geworden: Offene Rechnungen mussten beglichen werden, alles hatte seinen Preis. Alle unterdrückten Völker rächten sich eines Tages. Joseph Conrads Herz der Finsternis war 1902 in Buchform erschienen.

Gleichwohl schien Normans Tod meine Großeltern an Afrika zu binden. Arthur war ursprünglich nur ans Kap ausgewandert, um seine angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen, und hatte immer beabsichtigt, irgendwann nach England zurückzukehren, und doch verbrachten seine Frau und er den Rest ihres Lebens in Helderfontein. Nach seinem Tod meißelten die Mitglieder der Methodistischen Kirche in Stellenbosch, der Kirche der »Cape Coloured«, seinen Namen in einen Stein neben der Kapellentür. Und darunter den Zusatz, dass es ihm zeit seines Lebens ein Anliegen gewesen sei, »Gutes zu tun«. Mein Vater verließ Südafrika im Alter von einundzwanzig Jahren; er lebte nie wieder dort. Er sprach auch nie darüber, dass ein Mann, den er für einen Freund gehalten hatte, zweimal versucht hatte, ihn umzubringen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Als er Helderfontein verließ, um in England Medizin zu studieren, überreichte ihm John X. Merriman, der letzte Premierminister der Kapkolonie, ein Abschiedsgeschenk: Zwischen Wasser und Urwald von Albert Schweitzer.

Für den Kongo benötigt man ein Visum. Die Botschaft ist in Nordlondon in einem Reihenhaus aus dem 19. Jahrhundert untergebracht, dem einzigen mit einem Fahnenmast. Grauer Backstein an einem grauen Tag. Eine schmuddelige blau-rote Flagge hängt, schlaff von Abgasen und Regen, am Mast. Viele der Reihenhäuser sind mittlerweile Wettstuben und Schnellrestaurants. Die windschiefen Schornsteine scheinen nur von dem Gewirr rostiger Antennen gestützt zu werden. Jahrelang war diese Gegend ein Rotlichtviertel gewesen. Am Eingang von Gray’s Inn Road Nr. 281 waren am Tag meines Besuchs zwei Überwachungskameras und drei unbeschriftete Klingeln unter der Flagge angebracht. Es war nur ein Hauseingang in King’s Cross, aber schon hier spürte ich Afrika – nach dreißig Jahren – deutlich. Die unbekannte Flagge, die Klingeln ohne Schilder, das Gefühl, selbst aus den Bäumen beobachtet zu werden – alles lief auf die Frage hinaus: »Willst du hier wirklich rein?«

In den 1970er Jahren war ich mir jedenfalls sicher gewesen, raus zu wollen. Das war in Obervolta gewesen, dem späteren Burkina Faso. Die Hauptstadt heißt nach wie vor Ouagadougou. Damals gab es Probleme wegen eines Ausreisevisums. Das gar nicht existierte. Wenn man mich damals mit der Forderung nach einem nicht existenten Dokument konfrontierte, weigerte ich mich zu zahlen. Ich hatte kein Geld und mehrere Jahre Arbeit in Afrika hinter mir. Ich schwor: Sollte es mir gelingen, mich an diesem Uniformierten vorbeizudrücken, ohne für dieses imaginäre Visum zu zahlen, dann wäre es das letzte Mal.

Jetzt boten mir die fehlenden Klingelschilder erneut eine Chance, nicht in den Kongo zurückzukehren. Aber ich hatte mich vertraglich zur Reise verpflichtet, also brauchte ich ein kongolesisches Visum. Keine der Klingeln funktionierte, doch die Tür der Botschaft gab auf leisen Druck nach – und damit hatte ich meine Chance vertan. Hinter mir fiel die Tür ächzend ins Schloss. In einer dunklen Ecke moderten Hochglanz-Visitenkarten von Prostituierten vor sich hin. Es gibt Gerüchte, nach denen der kongolesische Botschafter in Tokio einmal das Dienstgebäude verkaufte. Das Personal landete vermutlich in einem japanischen Gegenstück zu Nr. 281. Im Schummerlicht konnte ich am Rand der Finsternis die ungestrichenen Wände des Flures ausmachen, die den Eindruck erweckten, als habe es vor kurzem gebrannt. Von der rußigen Decke baumelte ein Sicherungskasten an einem einzelnen Kabel. An der gegenüberliegenden Wand konnte ich durch die Glasscheibe neben einer Tür etwas erkennen, was nach dem Tresen eines Wettbüros aussah. Zwei vergitterte Schalter waren besetzt; über dem einen stand: »Konsularabteilung – Visa«.

Hinter diesem Gitter im Empfang der kongolesischen Botschaft in der Gray’s Inn Road saß eine majestätisch schöne Frau in einem prachtvollen wallenden Gewand. Sprach man sie auf Englisch an, antwortete sie auf Französisch. Entgegnete man ihr auf Französisch, wechselte sie wieder zu Englisch. Oder andersherum. Eine Frage der Macht. Sie reichte mir ein detailliertes Formular. Die Gebühr für das Visum betrug vierzig Pfund. Die Bearbeitungszeit, sagte sie, werde sich sehr lange hinziehen, ja, eigentlich könne sie mir gar kein Datum für die Fertigstellung nennen. Es sei denn, ich entscheide mich für den Express-Service, der höchstens vierundzwanzig Stunden dauere. Die Gebühr belaufe sich auf weitere dreißig Pfund, in bar, ohne Beleg. Auf einem weiteren Formular hatte ich meinen guten Leumund zu bestätigen. Wenn ich den Express-Service in Anspruch nähme, dürfe ich eigenhändig versichern, dass ich polizeilich nicht bekannt war. So viel zu dem Vorsatz, den ich in Ouagadougou gefasst hatte. Siebzig Pfund wechselten den Besitzer. Sie nahm meine Opfergabe an, ohne zu lächeln. Das Visum wurde innerhalb von zwölf Stunden ausgestellt. Der Flug ging von Brüssel.

* Nach südafrikanischem Recht konnte jemandem nach einem Freispruch noch einmal der Prozess gemacht werden, wenn neue Beweise auftauchten.

* Auckland Star, 9. Juni 1906, S. 13

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