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KAPITEL DREI Der fröhliche Tanz von Handel und Tod1
ОглавлениеEiner von Joseph Conrads ersten Eindrücken von Afrika war der eines französischen Kriegsschiffs, das vor der tropischen Küste ankerte und Granaten in einen stillen Wald feuerte. Er beschrieb diesen Augenblick in Herz der Finsternis. »Inmitten dieser unendlichen Leere von Erde, Himmel und Wasser feuerte es, so unglaublich das war, auf einen Kontinent. […] Es steckte eine Spur Wahnsinn in dieser Taktik«2.
Sein portugiesischer Küstendampfer aus Bordeaux lief eine Kette von Handelsposten an, während er die Westküste von Afrika passierte. Er machte nicht oft in einem Hafen fest, denn es gab nur wenige Häfen, und viele Flussmündungen waren nicht befahrbar. Der Westen Afrikas wird von einer Leeküste geschützt, die für die motorisierten Schiffe im Jahre 1890 nicht mehr so gefährlich wie für Segelschiffe früherer Zeiten, für einen Dampfer mit Motorstörungen aber immer noch potenziell verhängnisvoll war. Dieser geografische Umstand liefert eine weitere Erklärung für die historische Isolation des gesamten Kontinents. Der Sklavenhandel war fünfzig Jahre zuvor abgeschafft worden, und die ersten Forscher mit ihrem Wissensdrang waren inzwischen von Siedlern auf der Suche nach Reichtum abgelöst worden. Das französische Kriegsschiff, das Conrad aufgefallen war, war vor der Küste von Dahomey stationiert, bis dahin eines der berüchtigtsten und gefürchtetsten westafrikanischen Königreiche. Und es feuerte nicht ganz ohne Zweck. Es handelte sich um die Schüsse, die einen drei Jahre dauernden Krieg3 eröffneten, der mit der Niederlage des Königreichs von Dahomey endete. Nach ihrem Sieg legten die Franzosen den Grundstein für Französisch-Westafrika, ein riesiges Kolonialreich, das später in ein Dutzend Staaten aufgeteilt wurde.
Vierhundert Jahre zuvor waren die ersten portugiesischen Entdecker, nachdem sie den Äquator überquert hatten, weiter südlich entlang der bewaldeten Küste über eine dunkelrote Stelle des Ozeans gesegelt und so auf die Flussmündung aufmerksam geworden, die sie gerade passierten. Hier nahmen die portugiesischen Entdecker – ebenso wie Conrads Schiff – Kurs auf die Küste, um vor Banana im breiten Delta des Kongo zu ankern. Vom Amazonas abgesehen ist dieses weltweit der größte Süßwasserabfluss ins Meer. Hier konnte Conrad endlich aufhören, eine Küste zu betrachten, von der er mehr als genug gesehen hatte. »Da hat man sie vor sich – lächelnd, drohend […], öde oder wild, und immer stumm und doch, als flüstere sie: Komm her, sieh selbst.«4 Im Mündungsgebiet nahm Conrad ein anderes Schiff flussaufwärts zu den ersten Stromschnellen, welche die Schnellstraße ins Innere bis zu einem verhängnisvollen Tag dreizehn Jahre zuvor abgeriegelt hatten. Dort setzte Conrad seinen Weg zu Fuß auf einer Straße fort, die mit den Leichen aneinandergeketteter Männer übersät war, die gezwungen worden waren, Eisenbahnschienen zu verlegen. 370 Kilometer weit musste er sich am Rande eines Kriegsgebietes durchschlagen. Kaum angekommen, wurde Conrad mit dem Grauen und der Brutalität von König Leopolds Freistaat konfrontiert.
Joseph Conrads Aufenthalt im Kongo hätte ihn fast das Leben gekostet. Er erkrankte an Malaria und an der Ruhr. Bei einem nächtlichen Versuch, sein Kanu durch eine Flussbiegung zu manövrieren, wäre er beinah ertrunken. Sein Schiff hatte im Juni 1890 in Banana angelegt. Im Dezember war er bereits dienstunfähig auf dem Heimweg nach Europa. Während dieser sechs Monate im Kongo unternahm Conrad eine längere Reise flussaufwärts nach Stanleyville, dem heutigen Kisangani, wo sich die »Station im Innern« der belgischen Handelsgesellschaft befand, bei der er angestellt war. Kurz nach Conrads endgültiger Abreise nach Europa wurden einige Händler dieser Kompanie von feindlichen Eingeborenen gefangen genommen, gefoltert und ermordet; laut The Times wurden – nach lokaler Sitte – »ihre Köpfe auf Stangen gespießt und ihre Leichen gegessen«. Conrad entkam diesem albtraumhaften Schicksal. Er überlebte, und zehn Jahre später verfasste er Herz der Finsternis, das man getrost zu den komplexesten und anspielungsreichsten Texten der englischen Literatur zählen kann.
Herz der Finsternis beginnt eines Nachts etwas flussabwärts von London auf einem in der Themse verankerten Boot. Während ein namenloser Erzähler mit den übrigen Bootsinsassen auf den Wechsel der Gezeiten wartet – erst dann können sie ihre Reise zum Meer fortsetzen –, lauscht er der Geschichte des Seemanns Charlie Marlow. Dieser erinnert sich daran, wie er einst als Flussschiffkapitän von einer Handelskompanie angeheuert wurde, die im Landesinneren einer afrikanischen Kolonie (die große Ähnlichkeiten mit dem Kongo-Freistaat Leopolds II. aufweist) Elfenbein erbeutete. Der Direktor der sogenannten Zentralstation erteilt Marlow den Auftrag, weiter flussaufwärts nach einem Agenten namens Mr. Kurtz zu sehen, dem brillanten und einzelgängerischen Leiter der Station im Innern, einem »Gesandte[n] der Barmherzigkeit und der Wissenschaft und des Fortschritts«5. Die Europäer – hier in Gestalt marodierender Freibeuter, angeführt vom Onkel des Direktors und möglicherweise ebenfalls im Auftrag der Kompanie – hatten vor allem eins im Sinn: »Schätze aus dem Leib dieses Landes reißen, und es steckte nicht mehr Moral in ihrer Sache als in der Tat eines Einbrechers, der einen Geldschrank knackt.«6 Mr. Kurtz war jedoch anderer Ansicht: »Jede Station sollte ein Hort der Erleuchtung und der Aufklärung sein; auch ein Handelsposten, gewiss, aber ein Ort der Bildung, der Erziehung, eine Etappe auf dem Weg zum besseren Menschen.« Mit anderen Worten spiegelt der Konflikt zwischen dem Direktor und Mr. Kurtz den Konflikt zwischen den wahren und den vorgeblichen Zielen König Leopolds im Kongo wider.
Marlow schildert seine Flussreise erschüttert in den Begriffen seiner Zeit; er sieht Afrika mit den Augen eines englischen Seemanns, der zum Diener der Kolonisation wurde. Herz der Finsternis ist sehr vielschichtig; wie F. R. Leavis in The Great Tradition festhält, ist Marlow eine Erfindung, »für die Conrad mehr als eine Verwendung hat, die zugleich immer mehr und weniger als eine Figur ist und immer irgendetwas anderes als nur ein hervorragender Kapitän.«7 In diesen Umständen ist er ein Mann, der in einem albtraumhaften Land gefangen ist. Marlow beschreibt seine gefährliche Reise flussaufwärts – der Strom ist voller Strudel und verborgener Felsen, und die Völker an seinen Ufern befinden sich im Aufstand. Er beschreibt sein Zusammentreffen mit Mr. Kurtz, dessen Folgen und schließlich seine Rückkehr nach Europa.
Der Historiker Jean Stengers widersprach der Lesart, Conrads Erzählung als Anklage gegen König Leopolds Regime zu deuten, weil die meisten Verbrechen, die unter der Regierung des Kongo-Freistaats begangen wurden, im Rahmen der Kautschukgewinnung stattfanden, und diese begann erst ein oder zwei Jahre, nachdem Conrad den Kongo verlassen hatte. Das entspricht zwar der Wahrheit, doch für Conrad war die Kritik am Verhalten gewisser Kautschuksammler nicht der springende Punkt. Es ging ihm vielmehr darum, die grundsätzliche Beschaffenheit der kolonialen Beziehungen infrage zu stellen und ein Problem zu beleuchten, das tiefer wurzelte als alle Gräueltaten im Zusammenhang mit der Gewinnung einer einzelnen Ressource. Die Gewalt, die Conrad mit eigenen Augen sah, war keine Folge des Kautschukhandels; sie war untrennbar verbunden mit dem Vordringen der Europäer, sie war die Antwort auf den Widerstand der einheimischen Herrscher und ihrer Truppen. Sie war außerdem eine Folge des Elfenbeinhandels, den die Behörden des Freistaates den Afrikanern aus den Händen nahmen und monopolisierten. Conrads Briefe und sein Tagebuch belegen, dass eine allgegenwärtige bedrohliche Atmosphäre herrschte; seine Figur Marlow erinnert sich, dass die Männer, die »in dieser Finsternis lebten, eine unermessliche, geheime, verborgene Welt bewohnten, die nichts von der unseren wusste«. Die Kolonialisierung war grauenvoll genug, lange bevor Kautschuk zur Kostbarkeit wurde.
Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf den Kongo oder auf Afrika. Obwohl die Geschichte im Kongo spielt, ist die Finsternis nicht die des finstersten Afrikas. Selbst wenn der Kongo im Herzen des Kontinents liegt, so ist das Herz im Titel ganz und gar nicht afrikanisch; es ist das koloniale Herz mit seiner »undurchdringlichen Finsternis«8, die Zukunft und die Folge der Kolonialisierung, also die Welt, in der wir heute leben. Diese tiefere Bedeutung entfaltet sich nach und nach im Verlauf der Reise.
Während ich in der Abfluglounge im Flughafen von Brüssel mit dem Regisseur Manu Riche wartete, kaufte ich mir Le Soir mit einem bebilderten Bericht von einem Flugzeugabsturz in Goma im östlichen Kongo, dem einundzwanzig Menschen zum Opfer gefallen waren. Eine DC-9 der einheimischen Fluggesellschaft Hewa Bora war beim Start verunglückt. Da wir mit Brussels Air flogen, hatte das nichts mit uns zu tun. Dann fragte ich Manu, ob er je von Hewa Bora gehört habe, und er meinte, soweit er wisse, hätten wir unsere nächsten beiden Flüge bei der Gesellschaft gebucht.
In der vorangegangenen Nacht hatte ich einen ungewöhnlich lebendigen Traum von einer alten Dame und einem weinenden Hund. Einen dieser Träume, die man nicht ganz abschütteln kann; Traumfetzen tauchten auf, als wir über die Sahara flogen. In Herz der Finsternis heißt es, »denn keine Nacherzählung kann die Stimmung eines Traums vermitteln, […] dieses Gefühl, dass man sich nicht wehren kann, dass man zum Gefangenen des Unfassbaren wird, das ja geradezu das Wesen jedes Traums ist …«9. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, ich las sie während des Fluges noch einmal. Dann landeten wir in einem anderen Traum – dem Traum von Afrika.
Grenzkontrolle am Flughafen von Kinshasa, und selbst nach dreißig Jahren wirkt alles noch halbwegs vertraut. Es ist Abend, die frühe Dämmerung der Tropen senkt sich auf die Schlange stehenden Passagiere vor dem Flughafengebäude. Einige werden aus der Menge herausgerufen, es sind die afrikanischen Passagiere. Die Weißen müssen draußen bleiben. Adrett gekleidete Polizisten mit Knüppeln stellen uns in zwei Reihen auf, indem sie »Blancs à gauche, sauf Belges« brüllen – »Weiße nach links, außer den Belgiern«. Bald steht nur noch ein Grüppchen weißer Passagiere auf dem Asphalt, von denen niemand belgischer Staatsangehörigkeit ist. »Weiße nach links«? Es ist wie früher in Leopoldville, nur dass es damals die Schwarzen waren, die sich mit diesen geringfügigen Unannehmlichkeiten abzufinden hatten. Unsere Pässe werden in ein Büro mit dem Schild »Leiter Einreisebehörde« gebracht. Einer nach dem anderen werden wir aufgerufen einzutreten, um ein persönliches Gespräch mit ebenjenem Leiter zu führen. Seinem Auftreten nach zu urteilen handelt es sich bei der Einreise um eine vertrauliche Angelegenheit. Als ich an der Reihe bin, ist er die Höflichkeit in Person. Waren Sie schon einmal hier? Geschäftlich oder als Tourist? Wo ist Ihr Empfehlungsschreiben? Das befand sich bereits in der Gepäckhalle in der Tasche eines belgischen Cineasten. Das war bedauernswert und unüblich, doch die zentrale Frage des Leiters der Einwanderungsbehörde lautet: »Vous avez les moyens?« »Ja.« »Wie viel?« »Wie bitte?« »Combien, combien …?« Die Demokratische Republik Kongo ist nicht unbedingt ein Wohlfahrtsstaat; schwer vorstellbar, dass viele abgebrannte Europäer nach Kinshasa fliegen, um auf Kosten dieses Staates zu leben. Doch er möchte einen Blick in mein Portemonnaie werfen. Wir tun es gemeinsam. Offensichtlich ist es prall genug, denn ich darf gehen. Mit gleichbleibender Höflichkeit entlässt er mich aus seinem Büro in eine weitere Schlange vor der Passkontrolle. Ein anderer Beamter – von niedrigerem Rang, höherem Alter und schlechterer Laune – prüft meinen Pass und ist selbstverständlich über den Geldbetrag in meinem Portemonnaie und das fehlende Empfehlungsschreiben informiert. Kein Schreiben, keine Einreise. Er behält den Pass. In diesem Moment bricht am benachbarten guichet ein heftiger Streit aus, weil die letzte afrikanische Reisende, die dem Spinnennetz der Grenzbehörden noch nicht entkommen ist, den Versuch unternimmt, auch ohne den Nachweis einer Gelbfieberimpfung einzureisen. Sie stammt nicht aus der DRK, sondern aus Gabun, sie ist sehr gut gekleidet und scheint es gewöhnt zu sein, dass man ihre Anweisungen befolgt. Genau wie die Gelbfieberinspektorin, die nicht aus Gabun kommt und zudem noch einen weißen Arztkittel trägt. Der Streit wogt durch die Halle, die Stimmung kippt fast ins Hysterische, beiden Seiten schließen sich immer mehr Mitstreiter an. Schließlich flutet der streitende Mob hinaus auf das Rollfeld und verebbt in der Nacht. Vielleicht ist es an der Zeit aufzuwachen? Leider nicht … der Traum geht noch weiter.
»Qu’est-ce que vous avez prévu pour payer ce monsieur?«, murmelt ein kleiner Mann in der khakifarbenen Uniform eines Gepäckträgers etwas verschüchtert an meinem Ellbogen. Er lächelt freundlich und würde mir gerne helfen. Tja, wie viel habe ich denn eigentlich für den Beamten an der Passkontrolle vorgesehen? »Nichts.« Welch eine heikle Frage: Mein neuer Freund vermutet, dass zwanzig Euro das Fehlen eines Empfehlungsschreibens wettmachen würden. Eine wachsende Anzahl von Gepäckträgern, Taxifahrern, Polizisten und falschen Polizisten umringt mich – und als ein Neuankömmling namens »Thomas« auch noch behauptet, mein »Protokoll« zu sein, knicke ich ein und händige dem Beamten den zuerst genannten Betrag aus. Ein Uniformierter schnappt sich den druckfrischen blauen Schein und bringt ihn ins Büro der Passkontrolle, wo zwei Beamte ihn einer sorgfältigen Prüfung unterziehen. Echt. Mein Pass wird mir ausdruckslos über die Schultern meines Peinigers hinweg ausgehändigt. Ich bin durch die Brandung hindurch an den Strand geschwemmt worden. Der Traum ist vorbei. So viel Tamtam um zwanzig Euro. Thomas nimmt mein Gepäck und führt mich zu einem privaten Taxi. Wie sich herausstellt, hat er nicht gelogen. Er ist ein Freund des Regisseurs.
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Thomas trug den Ehrentitel »Papa« wegen seines hohen Alters – er musste ungefähr fünfundfünfzig sein. Er war unser Fahrer und wirkte kräftig und leistungsfähig, auch so, als könne er mit einem Paddel umgehen, wenn er plötzlich in einem Einbaum säße. Er war ein Überlebender, der improvisierte. Auch wenn er uns nicht besonders alt vorkam, sagte er, dass es in der DRK nur wenig Menschen seines Alters gebe. Er fuhr schnell, aber ohne uns nervös zu machen. Als das Auto einmal liegenblieb und ich unter die Motorhaube lugte, entdeckte ich, dass der Drahtzug des Gaspedals mit einer Schnur umwickelt war. Warum? »Keine Ersatzteile.« Thomas lebte mit seiner Frau oder seinen Frauen in irgendeinem entfernten Vorort und stand sehr früh auf, um uns nach unserem Frühstück abzuholen. Ich erkundigte mich bei ihm nach der politischen Situation. Er legte jedes Wort auf die Goldwaage. »Es geht bergauf«, sagte er. »Langsam.« Und der Präsident? »Er ist ein junger Kerl, kein erschöpfter alter Mann. Er ist besser als sein Vorgänger. Aber wir müssen Gas geben. Wir sind noch nicht auf Reisegeschwindigkeit. Wir sind noch nicht mal auf dem Standard der Kolonialzeit angekommen, weil wir immer noch im ersten Gang fahren.« Er sah Politik durch die Brille des Autofahrers.
Als wir vom Flughafen auf einer vierspurigen Schnellstraße voller Menschen in die Stadt fuhren, kamen wir an einer halbfertigen Fußgängerbrücke vorbei, deren Betontreppen beidseits der zum Regierungssitz führenden Straße in den Himmel ragten. Die Stufen waren schon da, doch es gab keine Verbindung zwischen ihnen. Auch hier wuselte es vor Fußgängern, die sich zwischen den rasenden Lastwagen und Autos hindurchzuschlängeln versuchten.
Papas Taxi ratterte voran und lavierte sich durch den Industriemüll der westlichen Welt. Eine überdimensionierte Reklamewand gab die Präsenz des Polizeibataillons für Kriminalnachforschungen bekannt. An den Kreuzungen winkten Verkehrspolizisten in gelben Hemden auf Podesten, die ihren Pfeifen ab und an verblüffende Tonfolgen entlockten. Meistens standen sie einfach nur dort, ohne zu winken, und sahen durch ihre verspiegelten Sonnenbrillen auf das Chaos hinab. Wenn sie nicht einschritten, löste sich die Situation zwar nicht von selbst auf, sie verschlimmerte sich aber auch nicht.
Wir kamen mit einem Mann ins Gespräch, der auf einem Bürgersteig im Stadtzentrum neben einem Saftstand saß und sich gerade die Nachrichten im Radio anhörte. Er erzählte uns, er sei Lehrer, würde aber streiken, weil er seit geraumer Zeit nicht bezahlt worden sei. Er sollte eigentlich 75 Pfund die Woche plus Gehaltserhöhungen verdienen, aber bei ihm kam seit geraumer Zeit nichts mehr an. »Die sagen, dass wir dem IWF täglich 50 Millionen Dollar zurückzahlen. All das Geld, das Mobutu gestohlen hat. Deswegen hat das Kultusministerium kein Geld, und deswegen werde ich nicht bezahlt.« Die frei gewählten Abgeordneten der DRK bezogen in regulären Intervallen das Zehnfache seines Gehalts, und obendrein wurde ihnen ein Wagen mit Allradantrieb gestellt.
Während wir uns unterhielten, kam ein Junge vorbei. Er zog eine leere Orangensaftpackung an einer Schnur hinter sich her, die von zwei Stöcken durchbohrt war, an denen sich vier Räder drehten. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten. Es gibt Tausende Straßenkinder in Kinshasa, manche von ihnen in der dritten Generation, Nachkommen der grandpères de la rue. Sie werden als Kleinkinder ausgestoßen und der Hexerei bezichtigt, was meistens bedeutet, dass ihre Mütter kein Geld haben, um sie großzuziehen. Wenn sie überleben, arbeiten sie als Taschendiebe oder Putzhilfen.
Der Lehrer bemerkte mein Interesse an dem Spielzeug. »Niemand hier sitzt händeringend rum, wenn er Probleme hat«, meinte er. »Wenn man ein Problem hat, findet man einen Weg, es zu umschiffen.«
1890 beschrieb Joseph Conrad den Nukleus der Siedlung, die sogenannte Hauptstation, die später zu den Stanleyfällen, dann zu Leopoldville und schließlich zu Kinshasa werden sollte, als »Bild einer bewohnten Wüstenei«10. Zwanzig Jahre später wurde aus dem persönlichen Herrschaftsgebiet des belgischen Königs eine Kolonie und Leopoldville zum Vorzeigeobjekt im kolonisierten Afrika. Es gab dort schattige Boulevards, moderne Hotels und ab 1960 Bürogebäude aus Stahl und Glas, eine Universität und einen Zoo. Doch unter Mobutu ging all das zugrunde. Heute bietet Kinshasa nach zwei Bürgerkriegen wieder das »Bild einer bewohnten Wüstenei«, wenngleich von ganz anderen Dimensionen. Die Stadt wirkt, als wäre sie von einem Tsunami aus dreckigem, abwasserverseuchtem Meerwasser überschwemmt worden, allerdings ohne dass ein Hilfsfonds auf die Überflutung reagiert hätte. Dabei bauen sich die Wellen immer und immer wieder auf, und von Mal zu Mal mit verheerenderen Folgen. So also sieht das Ergebnis des Experiments von König Leopold hundert Jahre danach aus.
An diesem ersten Abend aßen wir draußen in einem Restaurant an einem Markt namens Le Blok de Bandal. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen – »Stromsperre« –, aber im Restaurant hingen Girlanden mit Glühbirnen, die aus einem Generator hinter der Küche gespeist wurden. Das Bier war kalt, das Essen geheimnisvoll, und dazu dröhnte ausgelassene Musik aus den Lautsprechern. Ein Junge mit einem Tablett voller Nüsse und Zigaretten ging zwischen den Tischen umher, gefolgt von Kindern, die ihre Hände nach den Resten auf unseren Tellerrändern ausstreckten. Als wir abfuhren, rannten sie in der Hoffnung auf Geld oder ein paar Krümel neben dem Auto her. Sie hatten die Hälfte unseres Essens abbekommen. Sowie der Verkehr es zuließ, beschleunigte unserer Fahrer und sie fielen zurück, wie riesige Motten still in der Dunkelheit herumhüpfend, um den Hieben der größeren Jungen auszuweichen. Die kleineren Jungen führten fast geistesabwesend ihre Tänze auf. Ab und an sauste ein unsichtbarer Schlag aus der Finsternis auf sie nieder.
Unser Hotel war billig und lag in der Nähe der Straße zum Flughafen am Ende einer Gasse. Ein uniformierter Wächter döste in einem Stuhl vor dem Haupteingang. Mein Zimmer war sauber, auch wenn sich in der Wand bei der Dusche ein Loch befand, das groß genug für eine Ratte und ihre Beute war, was immer das sein konnte. Beim Einschlafen erinnerte ich mich an meine allererste Nacht in Kinshasa im Jahr 1975 während Mobutus Herrschaft, als die Stadt für ihre Extravaganz und hohen Preise bekannt war. Ich hatte in einem Restaurant unter lauter Europäern zu Abend gegessen, die in Kinshasa arbeiteten, aus Brüssel eingeflogene moules aßen und sich an einem guten französischen Muscadet betranken – Dinge, die ich mir nicht leisten konnte. Eigentlich hatte ich gar nicht in diesem Land übernachten wollen, und bis ich das Stadtzentrum erreicht hatte, gab es keine Hotelzimmer mehr. Schließlich fand ich ein Bett in einer billigen Absteige. Das Zimmer war voller Kakerlaken, die so groß wie kleine Vögel waren. Sowie ich das Licht löschte, begannen sie miteinander zu kommunizieren, flatterten umher und setzten zu Notlandungen neben dem Wasserglas an. Oder auf meinem Kissen. Schaltete ich das Licht an, verharrten sie mit ihren glänzenden und robusten Körpern regungslos an Ort und Stelle. Es war eine dieser unvergesslichen Nächte, in denen man sich fragt, warum zum Teufel man nicht in Europa geblieben ist. 1975 galt Kinshasa nachts als gefährlich, doch das Schlimmste, was ich erlebte, war ein Soldat, der mit einem Gewehr in mein Taxi stieg und mich darüber informierte, dass wir einen Umweg zu seinem Haus machen würden. Als er schließlich ausstieg, wollte er meine Olivetti Lettera 22 mitnehmen, eine hochmoderne tragbare Schreibmaschine. Der Taxifahrer zahlte ihm einen Obolus, und er ließ sie stehen.
Papa Thomas war früh aufgestanden und wartete schon auf uns, um uns zum Zoo zu fahren. Im Auto lief das Radio. Ich stellte ihm wieder Fragen zur politischen Situation. Er musste keine Rücksicht auf eigene Interessen nehmen und war im Gegensatz zu gebildeteren Leuten bereit, offen über Politik zu sprechen.
»Was war eigentlich mit dem letzten Präsidenten, Thomas, der so alt und müde war wie wir?«
»Hihi.« Nach einer Weile hörte er auf, in sich hineinzukichern. »Der wurde hier in seinem Palast ermordet. In Kinshasa hat den sowieso keiner gewählt.«
»Und wer hat ihn umgebracht?«
»Das wissen wir nicht. Es heißt, dass er von dem Leibwächter ermordet worden ist, dem er am meisten vertraute.«
»Aber waren das nicht alles Kinder?«
»Doch. Angeblich hat dieser Junge etwas mehr Geld von ihm gefordert, und als er sich geweigert hat, hat er ihn erschossen.«
Wir schwiegen nachdenklich. Ein Mann kommt aus dem Wald, aus dem Osten. Keiner aus dieser Gegend hat je in Kinshasa geherrscht. Mord und Totschlag, wohin seine Soldaten auch kommen. Sie vergewaltigen, plündern, bringen willkürlich Menschen um, nehmen sich, was sie kriegen können. Auch in Kinshasa. Mobutu ist geflohen. Dessen Männer reißen sich die Uniformen vom Leib und werfen die Gewehre weg. Viele nehmen die Fähre über den Fluss nach Brazzaville, der Hauptstadt eines anderen Landes, der (einst französischen) Volksrepublik Kongo. Und so wird Kabila Präsident, der Raubmörder aus dem Osten. Die afrikanischen Nachbarstaaten, deren Armeen das halbe Land gebrandschatzt haben, unterstützen ihn; er hat den Rückhalt der internationalen Gemeinschaft, denn er ist nicht der berüchtigte Tyrann Mobutu, der mittlerweile doch sehr unangenehm geworden ist. Er verspricht freie Wahlen und die Wiederherstellung der Demokratie. Alles soll anders werden. Er zieht in den Palast. Wo er von einem Kindersoldaten erschossen wird, den er zum Kämpfen gezwungen hat.
»Was ist aus dem Jungen geworden, der ihn getötet hat?«
»Den haben sie auch erschossen. Jetzt gibt es keine Kinder als Leibwächter mehr im Palast«, fügte Thomas hinzu. »Der neue Präsident hat sie sich vom Hals geschafft.«
Wir waren am Zoo angekommen.
Um in den Zoo von Kinshasa zu gelangen, muss man erst über matschiges Brachland waten, das einmal ein Park gewesen sein könnte. Dann kommt man zu den Drehkreuzen mit dem Schild: »Der größte Zoo in Zentralafrika. Eintritt: Erwachsene 500 F, Ausländer [»Expatriés«] 700 F.« Der Ticketverkäufer nuschelt: »Hier gibt es nicht mehr viel zu sehen. Wir sind pleite.«
Vor meiner Abreise aus Belgien hatte ich dem vorbildlichen Zoo in Antwerpen einen Besuch abgestattet, der verkehrsgünstig in der Nähe des Bahnhofs lag. Es gab dort ein riesiges Gehege mit einer Schimpansen-Sippe. Eins der Tiere sah ziemlich bedrückt aus, und um die Öffentlichkeit zu beruhigen, war an der Glaswand des Geheges der Hinweis angebracht worden, dass die Besucher sich keine Sorgen um den traurigen Schimpansen machen müssten, denn er sei in psychologischer Behandlung.
Aber das war in Antwerpen gewesen. In Kinshasa war es anders. Hinter dem Eingang empfing uns ein penetranter Geruch. Die meisten Käfige waren entweder abgerissen worden oder sie standen leer, und die übrigen waren seit längerem nicht gereinigt worden. Doch die Beschriftungen waren immer noch korrekt: »Wissenschaftlicher Name: Pan troglodytes. Üblicher Name: Schimpanse. Landessprachlicher Name: Soko Mutu. Herkunft: Demokratische Republik Kongo. Nahrung: Allesfresser. Lebensdauer: Über 40 Jahre.« Das Geschöpf hinter den Gittern würde dieses Alter wohl kaum erreichen. Es strich in seinem Drahtkäfig von der Größe eines kleinen Hotellifts hin und her und suchte Blickkontakt mit allen, die vorbeikamen. Der Draht war locker, im Boden war ein Loch, in dem sich Schmutz und Abfall gesammelt hatte: Karotten, Kothaufen, Brotkrusten und eine leere Sardinenbüchse. Soko Mutu hatte das meiste davon in eine Ecke geschoben, vielleicht in der Hoffnung, dass jemand kommen und es beseitigen würde. Er hatte sich auch eine Plastiktüte beschafft und in das Loch im Boden gestopft. Der baufällige Käfig nebenan schien leer zu sein. Doch auf den zweiten Blick erkannte ich, dass das Dach auf seinen Bewohner, einen winzigen Alligator, herabgefallen war.
Das einzige Tier, das einen wohlgenährten Eindruck machte, war ein Leopard namens Maréchal, benannt nach Mobutus militärischem Rang eines Marschalls. Sein ehemaliger Besitzer hatte ein paar von den wilden Tieren, die sein Wappen schmückten, frei auf dem Palastgelände herumlaufen lassen. Nach seiner Flucht wurden die Überlebenden in den Zoo gebracht. Maréchal war groß und sah schnell und stark aus, allzeit bereit, die menschlichen Müßiggänger aufzufressen, die ihre Tage damit vertrödelten, ihn zu ärgern.
Zwei Schulbusse fuhren aufs Gelände. Ein leiser Nieselregen setzte ein. Die Schulkinder waren ordentlich gekleidet, aufgeweckt, höflich und neugierig. Die Busse wirkten hingegen, als würden sie im nächsten Moment – wie die Fahrzeuge von Clowns in der Zirkusmanege – explodieren. Rauchwolken quollen aus den Ritzen, Funken schlugen aus den Auspuffrohren, als sie an uns vorbeiknatterten. Ein Wärter kam hinter der Kasse hervor, hob einen Zweig vom Boden und fegte den Müll um den Schimpansenkäfig zu einem neuen Haufen zusammen. Ein paar junge Männer in Rollstühlen dösten vor sich hin. Der Wärter erklärte uns, sie dürften den Zoo gratis besuchen, damit sie etwas frische Luft schnappen konnten.
Zwei zerlumpte Männer näherten sich dem Regisseur, der gerade filmte. Sie behaupteten, Zivilpolizisten zu sein, und forderten ihn auf, seine Genehmigung vorzuzeigen. Als er nach ihrer Legitimation fragte, zogen sie abgegriffene, speckige Polizeiausweise hervor, die den Anschein erweckten, von Toten gestohlen worden zu sein – was durchaus möglich war. Als der Regisseur die Kamera auf die vorgezeigten Plastikkarten richtete, traten sie den Rückzug an. Die Schulkinder liefen zum Gehege eines eher kleinen Gorillas, wo sie einen Zoobesucher zurechtwiesen, der den Affen ärgerte und ihm beizubringen versuchte, wie man klatscht und bettelt. Aus der nahgelegenen Kaserne kamen Soldaten auf Halbblut-Arabern herangetrabt und begannen, zwischen den Käfigen zu exerzieren. Ein Mann auf Krücken, ein Albino mit einem grünen Tuch um den Kopf, der sich zu den Rollstuhlfahrern gesellt hatte, stand verärgert auf und ging fort, als er die Kamera bemerkte. Auf meine Frage, warum es nur noch so wenige Tiere gab, entgegnete der Wärter, dass die Patrons nach Mobutus Flucht die Zahlungen für das Futter der Tiere und die Löhne der Angestellten eingestellt hatten, sodass die Wärter gezwungen gewesen waren, einige ihrer Schützlinge zu verzehren. Es regnete sich ein; die Schulkinder kletterten wieder in ihre Busse, die sich langsam unter Hinterlassung von blauen Rauchwolken entfernten; der Krückenmann und die Lahmen suchten unter einem Baum Zuflucht; die Drehkreuze wurden über Mittag gesperrt. Affenfleisch ist eine Delikatesse in Westafrika. Kein Wunder, dass Soko Mutu so einen ängstlichen Eindruck machte.
Wir waren mit einem Beamten der Belgischen Botschaft zum Mittagessen verabredet und holten ihn in seinem Büro ab. Die Botschaft ist eine Sehenswürdigkeit der besonderen Art. Sie sieht aus wie das irakische Verteidigungsministerium vor dem Einschlag der ersten US-Raketen in Bagdad, liegt in der Innenstadt, ist aus Stahlbeton, wird von einem fünf Meter hohen Sicherheitsdrahtzaun umgeben und von behelmtem Sicherheitspersonal mit Maschinengewehren bewacht. Allem Anschein nach trauten die belgischen Diplomaten der Lage nicht so recht. Plötzlich schwangen die Stahltore zur Seite, und ein Konvoi gepanzerter Limousinen raste an uns vorbei. Mittagspause. Unser Mann hatte zu tun, doch er hielt sich an die Verabredung. Er war in diesen Tagen mit einer Brüsseler Militärdelegation beschäftigt. »Waffengeschäfte?« »Wir nennen es militärische Kooperation.« Darüber hinaus war ihm noch eine weitere Aufgabe in sein Posteingangsfach geflattert – der Flugzeugabsturz in Goma musste bearbeitet werden. »Alle vier Belgier haben überlebt. Haben Sie Flüge im Kongo gebucht?« »Ja. Mit derselben Fluggesellschaft.« »Ah, bon? Hoffentlich nicht mit demselben Piloten.«
Ich fragte den belgischen Diplomaten, wie der offizielle Besuch des belgischen Außenministers verlief, weil ich wusste, dass Präsident Kabila ihn am Tag zuvor sieben Stunden hatte warten lassen. Doch der lenkte die Unterhaltung auf sein Lieblingsthema, die Geschichte des Kongo. Er erzählte uns, dass Stanley dem König bei seinem ersten Treffen mitgeteilt hatte, der Kongo sei ohne Eisenbahn unrentabel. Der Fluss führte zwar in das Landesinnere, aber zwischen der Küste und Kinshasa lagen die unschiffbaren Stromschnellen, und deswegen kämen sie um eine moderne Eisenbahnverbindung nicht herum. Der Diplomat nannte den Bau der Eisenbahn zu jener Zeit unter den herrschenden Bedingungen »heroisch«. Er teilte uns mit, dass die Strecke zwischen 1921 und 1931 unter der Kolonialherrschaft erneuert wurde11 und dass der belgische Historiker Jules Marchal kürzlich die Anzahl der Todesopfer unter den Zwangsarbeitern auf 7000 geschätzt hatte. Es sind diese Männer, derer mit einer prächtigen Bronzeskulptur am Eingang zur Stadt Matadi, an der alten Eisenbahnstrecke nach Kinshasa, gedacht wird. Sie zeigt drei afrikanische Lastenträger, zwei von ihnen ruhen sich von der Arbeit aus. Die Inschrift auf der Plakette lautet: »Diese Eisenbahnstrecke erlöste die Lastenträger von ihrer Bürde.« Der Diplomat bedauerte, dass die Skulptur vor kurzem teilweise zerstört und die Plakette entfernt worden war.
Als »Zaire« mit dem Ende des Kalten Krieges unterging, zog Washington seine Unterstützung zurück. In Katanga stellten große amerikanische Bergbauunternehmen über Nacht den Betrieb ein, verbarrikadierten die Stollen und machten sich auf den Heimweg. Mobutus Kartenhaus fiel in sich zusammen. Seine Soldaten, die oft ohne Lohn auskommen mussten, gingen dazu über, unbewaffnete Zivilisten zu bestehlen. Provinzgouverneure und Minister verloren die Angst vor einem Präsidenten, der seine Armee nicht mehr bezahlen konnte, und veruntreuten immer größere Summen. Der Befehlshaber der Luftwaffe ließ die gesamte Mirage-Jagdbomberflotte nach Frankreich zur Wartung ausfliegen. Dort verkaufte er sie.12 Ab 1990 verbrachte Mobutu immer mehr Zeit bei seinen Frauen, den eineiigen Zwillingen Bobi und Kosia, auf seiner Luxusyacht, der Kamanyola. Das Schiff hatte sechzig Kabinen, zwei Prunkzimmer, einen Festsaal für hundert Gäste, einen Hubschrauberlandeplatz und eine Besatzung von dreihundert Mann. 1997 bekam Mobutu es mit der Angst zu tun und floh in seinen Marmorpalast im Wald bei Gbadolite im äußersten Norden des Landes. In der Nähe des Palastes lag ein Flugplatz mit einer Startbahn, die lang genug für die 747 des Präsidenten war, sowie der Grenzfluss zur benachbarten Zentralafrikanischen Republik. 1997, drei Monate nachdem seine zerlumpte Armee aus dem Wald nach Kinshasa gehumpelt war, kehrte der schwer an Krebs erkrankte Mobutu seinem Land für immer den Rücken. Da waren viele Städte im Kongo bereits zerstört worden. Seitdem bemühen sich die Vereinten Nationen, eine Art von Ordnung in das Chaos zu bringen.
Die UN-Truppen der Demokratischen Republik (MONUC13) ist mit 17000 Mann die größte Einheit der Vereinten Nationen weltweit. Befürworter argumentieren, dass die Präsenz der MONUC-Truppe vielleicht von eingeschränktem praktischem Nutzen sei, dass sie jedoch einen schwachen Präsidenten an der Macht gehalten und menschliches Leid etwas gemildert hätte. Außerdem habe ihre Anwesenheit der DRK ermöglicht, den Anschein eines funktionsfähigen souveränen Staates aufrechtzuerhalten. Die meisten MONUC-Soldaten stammen aus Indien und Pakistan. In Kinshasa haben die bewaffneten Friedenswächter keinen guten Ruf. Ihnen werden immer wieder Raubzüge, Vergewaltigungen von Kindern und Entführungen vorgeworfen. Es heißt, dass MONUC-Offiziere in Kivu Goldschmuggel betreiben.
Der belgische Diplomat widersprach diesen Anschuldigungen nicht, wies aber darauf hin, dass es ohne die Präsenz der MONUC in der DRK unmöglich gewesen wäre, die Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Die Organisation der Wahl, die in sein Aufgabengebiet fiel, hatte ihm Kopfschmerzen bereitet. Das Wahlregister war seit 1981 nicht mehr aktualisiert worden. Und dann wurden 1993 im Bürgerkrieg auch noch die Dokumente vernichtet, auf denen die Register basierten. Da es im Land so gut wie keine Straßen gibt, war es unmöglich, Wahlscheine zu verteilen. MONUC hatte hundert Flugzeuge in der DRK stationiert, bei weitem die größte Flotte des Landes. »Was wäre ohne MONUC passiert?«, fragte er. »Was passiert mit ihr?«, entgegnete Thomas düster.
Für den Diplomaten war es an der Zeit, in die Botschaft zurückzukehren; die Militärdelegation aus Brüssel brauchte ihn. Er drängte uns, das Staatliche Museum zu besuchen.
Das Museum der Demokratischen Republik Kongo blickt von einem Hügel in den Palastgärten Mobutus auf den Stanley Pool und die Strudel hinab, den ersten warnenden Vorboten der Stromschnellen des Kongo. An einem klaren Tag kann man über das graubraune Wasser hinweg Brazzaville erkennen, die Hauptstadt der Volksrepublik Kongo. Das Museum wurde während des Bürgerkriegs beschädigt und ist noch immer geschlossen. Professor Joseph Ibongo, der Generaldirektor, empfing uns in seinem Büro. Die Uhr im Wartezimmer war um drei Minuten vor drei stehengeblieben, und um die Form zu wahren, gab es eine kurze Verzögerung, bevor wir hineingelassen wurden.
Der Professor erzählte uns, dass die Sammlung des Museums rund 60000 Objekte umfasse und dass sein Vorgänger unmittelbar vor dem Fenster seines Büros erschossen worden sei. Ibongo war ein besonnener Mann, dem seine Sammlung offensichtlich am Herzen lag und dem deren trostloser Zustand naheging. Das Museum war früher ein Ableger des Königlichen Museums von Tervuren gewesen, und er selbst hatte vor vielen Jahren an der Universität von Leuven studiert, aber mittlerweile waren die Beziehungen abgekühlt. Seine confrères in Tervuren machten sich mittlerweile kaum noch die Mühe, seine Briefe zu beantworten. Der Professor setzte uns sehr eloquent auseinander, was für eine wesentliche Rolle das Museum beim Entstehen einer kulturellen Identität in der DRK gespielt hatte. Er wünschte sich, seine Mitbürger wären sich darüber klar, dass sie ein nationales Erbe hätten, auf das sie stolz sein könnten. Doch wie sollten sie sich mit einer Sammlung vertraut machen, die größtenteils in einem Lagerhaus verstaut war? Er schätzte die Kosten für eine wissenschaftliche Sichtung und Katalogisierung der Sammlung auf 1,3 Millionen Euro; doch bis dahin verfiel sie aufgrund der primitiven und vollkommen ungeeigneten Lagerbedingungen. Natürlich war es ihm unter diesen Umständen nicht möglich, weitere Exponate anzukaufen, mit der Ausnahme eines Objektes von großem historischem Wert, das er uns gerne zeigen würde, falls wir daran interessiert seien.
Auf der Erde vor dem Büro des Professors, der Hitze, dem Staub und dem Regen ausgesetzt, lag der rostige Eisenrumpf eines kleinen Flussschiffes, das auf einer Müllhalde hinter dem Ministerium für Öffentliches Bauwesen gefunden worden war. Professor Ibongo erklärte uns, dies sei Stanleys Schiff gewesen, mit dem er inkognito als »Monsieur Henri« im Auftrag Leopolds II. in den Kongo zurückgekehrt war. Das Schiff war um einiges kleiner als die Dampfer des 19. Jahrhunderts, die nach der Eröffnung der Bahnlinie von Matadi gebräuchlich waren. An seinem Bug prangten noch die Buchstaben »AIA« (Association Internationale Africaine). Dies war eine von Leopold II. 1876 ins Leben gerufene Institution, aus der 1879 die AIC (Association Internationale du Congo) hervorging, für die Stanley dann im selben Jahr seine zweite Kongoreise antrat. Und dieses verrostete Wrack war tatsächlich eines der Instrumente, mit deren Hilfe die Völker des Urwalds versklavt worden waren.
Ein kleiner Teil der Sammlung befand sich in den benachbarten Baracken. Lauter Metallregale voller Holzschnitzereien, Steinskulpturen, Artefakte aller Art, Boote, Waffen, Masken, Hocker, Ornamente und Amulette. Auf dem Boden standen Trommeln, groß wie Boote, Kriegs- und Signaltrommeln, die aus gewaltigen Baumstämmen gefertigt waren. »Ich hoffe, Ihnen kommen beim Anblick der Sammlung nicht die Tränen«, hatte uns der Professor gewarnt. In den staubigen Gängen zwischen den Regalreihen konnte man die Gegenstände gerade noch ausmachen. Hier waren sie versammelt, die Insignien von Kriegstänzen: »das grimmige Antlitz dessen, der eine Wahrheit erblickt hat«14, »die Düsternis […], der Klang der Trommeln, gleichmäßig und dumpf wie der Schlag eines Herzens«15. Hier waren die gehörnten Köpfe, die getrockneten Kürbisse, die geschweiften schwarzen Federn … Die Welt der Bäume aus der Zeit, als Bäume Herrscher waren, die unermesslich große geheime Welt, die sich mit Gedanken nicht durchdringen ließ, das Herz einer siegreichen Finsternis. Hier gab es Holzfiguren, die so schön waren, dass man ihnen huldigen wollte, daneben Fetische, die so abartig, verklumpt und schwarz waren, dass man sie am liebsten gar nicht gesehen hätte. Je länger wir uns zwischen den Regalen herumdrückten und uns bemühten, kein Tongefäß umzustoßen und in keine rostige Speerspitze hineinzulaufen, desto mehr Assistenzkuratoren begleiteten uns. Sie schauten uns erwartungsvoll an, als wären sie neugierig, was für Mächte diese einst so schrecklichen Objekte noch immer entfesseln konnten.
Wir gingen von Baracke zu Baracke. Auf dem Gras zwischen ihnen waren riesige Kupferstatuen von Leopold II. und seinem Sohn Albert I. deponiert worden. Stanley lag mit abgeschlagenen Füßen neben seinen leeren Stahlstiefeln auf dem Rücken. In der schattigen Ecke einer Terrasse mit Blick auf den dahinfließenden Kongo ein gedankenverlorener König in Uniform, ohne Hut, aber hoch zu Ross. Vielleicht fragte er sich, wann eigentlich alles schiefgegangen war. In der letzten Baracke endete die Sammlung unvermittelt mit Toby-Krügen und Staffordshire-Keramik. Überbleibsel von Siedlern, die nach der Unabhängigkeit 1960 um ihr Leben geflohen waren und ihre Fetische – kuhförmige Milchkännchen, King-Charles-Spaniel und fünfundzwanzig Zentimeter hohe Gentlemen in Schottenröcken – aufgegeben hatten? Oder hatten sie den sogenannten Evolués gehört, den offiziell »zivilisierten« Ureinwohnern der Kolonie, die in unmittelbarer Nähe zu ihren weißen Herren leben durften?
Die allerletzten Ausstellungsstücke zeugten von einer späteren Niederlage. Ein drei Meter hoher und anderthalb Meter breiter vergoldeter Rahmen, der einst Marschall Mobutus offizielles Porträt geschmückt hatte, lehnte gegen eine Wand. Das Gemälde selbst ist nicht erhalten. Vielleicht hatten die Leute es satt. Unter Mobutu durfte einzig und allein sein Konterfei gezeigt werden. In einer Rumpelkammer hinter dem Bilderrahmen standen zwei präsidentielle Thronsessel, der eine vergoldet und in protzigem napoleonischem Stil, der andere aus Teakholz und mit Leder und Leopardenfell bezogen. Breit grinsend nahm Thomas auf dem Leopardenfell Platz und posierte für ein Foto, bevor ihn ein Assistenzkurator scharf zurechtwies. Der Thron war leer, seine Symbolkraft hatte er deshalb noch nicht verloren.
Wir verabschiedeten uns von dem Generaldirektor und gingen den Hügel hinter dem Museum hoch zu den Überresten eines Freilichttheaters neben dem Präsidentenpalast, einer weiteren Extravaganz Mobutus. Die Zuschauer, die sich hier einst gedrängt hatten, um Miriam Makeba und Stokely Carmichael zuzuhören, waren zuversichtlich gewesen, dass Afrikas Zukunft so glanzvoll sein würde wie dieses Theater. Die Zufahrtsstraße führte zwischen den Gehegen durch, in denen Mobutu seine wilden Tiere hielt; die Bühne und der Zuschauerraum waren mit Onyx und Marmor verkleidet. Heute ist das Theater verfallen, der Großteil des Marmors gestohlen, die Bühne von Moosen und Flechten überzogen, und der Wald rückt von allen Seiten heran.
Unser Führer, einer der Assistenzkuratoren, sieht sich um und bemerkt: »In diesem Land wiederholt sich die Geschichte.« Er zählt anscheinend zu der kleinen Gruppe Überlebender, den fähigen Männern und Frauen, die sich immer noch an die Regeln halten, die immer noch unerschütterlich auf ihren Posten ausharren, während sich die große Idee, in die sie so viel Hoffnung gesetzt haben, in Luft auflöst. Man kann kein Museum leiten, wenn die eigenen Briefe ins Leere gehen, man kann keine Datenbank anlegen, wenn es nicht einmal Strom für die Schreibtischlampe gibt. All diesen Widrigkeiten zum Trotz geben diese Männer und Frauen die Hoffnung nicht auf, eines Tages wieder mit der rationalen Welt verbunden zu werden.
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1959, ein Jahr bevor sich die belgische Regierung in einer Panikattacke und aufgrund des starken Drucks aus Washington dazu durchrang, den Kongo in die Unabhängigkeit zu entlassen, wurde an der Universität von Leopoldville noch ein Kernreaktor gebaut. Er war ein »Geschenk des Volkes der Vereinigten Staaten« für das Uran, das der Kongo während des Zweiten Weltkrieges für die Entwicklung der Atombombe geliefert hatte. Am Eingang zum Kraftwerksgelände hängt eine Tafel, die an die wechselseitige Großzügigkeit erinnert.
1974, vierzehn Jahre nach der Unabhängigkeit, als Marschall Mobutu längst im Ruf eines der korruptesten und inkompetentesten Machthaber in Afrika stand, entschied sich die belgische Regierung dazu, den Reaktor in Kinshasa aufzurüsten, beziehungsweise ihn durch einen neuen zu ersetzen. Erklärtes Ziel war es, Zaire zu befähigen, seine eigene Atomenergie zu generieren. Damals plante das Land eines der weltweit größten Wasserkraftwerke, um die Energie der unschiffbaren Stromschnellen des Kongo bei Inga nutzbar zu machen. Aber während Mobutu sein »Authentizitäts-Programm« ins Leben rief – in dessen Verlauf er seinen Namen von Joseph-Désiré Mobutu zu Mobutu Sese Seko änderte, alle christlichen Namen im Land abschaffte, seine Untertanen anwies, sich gegenseitig mit citoyen anzusprechen, und ihnen verbot, Krawatten zu tragen –, taten sich belgische Ingenieure und Physiker schwer, diesen neuen Reaktor zum Laufen zu bringen, der die tägliche Leistung des Wasserkraftwerks in weniger als einer Sekunde erbringen sollte.
Seit dieser Zeit ist der Atomreaktor der DRK in den Kreisen internationaler Atomenergieexperten verschrien. Das Gebäude ist im selben Zustand wie der Rest der Stadt. Es handelt sich um einen niedrigen Betonklotz, der auf den ersten Blick an eine Kaserne oder ein Gefängnis erinnert. Weiße Farbe blättert vom Beton, aus den Wänden wächst Unkraut, Fensterscheiben sind zerbrochen oder nicht mehr vorhanden. Da hier ein Reaktor steht, sollte das Regionale Zentrum für Nuklearstudien Kinshasa (CREN-K) eigentlich ein Hochsicherheitsareal sein. Tatsächlich kann der Drahtzaun, der das Grundstück umgibt, mit einer Hand umgestoßen werden. Am Tor des Haupteingangs hängt ein Schild, »Zutritt verboten«. Eine Bewachung rund um die Uhr scheitert an Wächtern, die selten auf ihrem Posten sind, und an der defekten Sicherheitsbeleuchtung. Die Wände des Gebäudes sind einen Meter dick, und der Reaktor wird durch drei verschiedene Schlösser geschützt, zu denen drei Leute Schlüssel haben. Möglicherweise auch mehr. Denn in einem Moment geistiger Umnachtung hat der Direktor der Kommission für Atomenergie der DRK vor einigen Jahren einem Fremden einen vollständigen Satz von Schlüsseln ausgehändigt, der seitdem nicht mehr gesehen ward. Und es gibt noch ein Problem. Der Reaktor ist auf sumpfigem Untergrund erbaut worden, in den er langsam, aber sicher hinabsinkt. Der größte Krater in der Nähe des Gebäudes ist fünfzehn Meter tief.
Die Regierung der Vereinigten Staaten stellte den Nachschub von Ersatzteilen im Jahr 1980 ein. Danach gab es wiederholte Aufforderungen, den Reaktor dichtzumachen. Aber welche Regierung der DRK sollte sich je bereitwillig von Afrikas erstem Atomreaktor trennen? Für die Kongolesen ist diese verfallene und potenziell tödliche Anlage ein Symbol ihres Stolzes und ihrer Souveränität. Kurz nachdem dem Direktor seine Ersatzschlüssel verlustig gegangen waren, verschwanden zwei Uranbrennstäbe. Einer wurde von der italienischen Polizei – wohl auf dem Weg zu einem Abnehmer im Nahen Osten – auf Sizilien sichergestellt. Der andere tauchte nie wieder auf. 1999 grub sich ein Stahlsplitter in eine der Betonwände, womöglich ein Schrapnell, und der Reaktor wurde heruntergefahren. Bei einer Inspektion im Jahr 2004 wurde der Reaktor als so gefährlich eingestuft, dass dringend empfohlen wurde, ihn zu demontieren. Stattdessen hat die kongolesische Kommission für Atomenergie die Absicht bekanntgegeben, ihn wieder hochzufahren.
Obwohl der Reaktor in Kinshasa alle Sicherheitsstandards unterläuft, der Strahlenschutz der zweihundert Mitarbeiter unzureichend beziehungsweise nicht vorhanden ist, obwohl die Gefahr besteht, dass er die Wasserversorgung der Stadt kontaminiert, wurde 2006 ein Vertrag mit einem britischen Bergbauunternehmen namens Brinkley Africa unterzeichnet. Im Gegenzug zur Reparatur des Reaktors und dessen Nutzung für medizinische Forschung bekam Brinkley Africa die Lizenz zum Abbau von Uran: Sie durfte die stillgelegte Uranmine in Shinkolobwe in der Provinz Katanga öffnen. Im März 2007 verhaftete Kongos Forschungsminister Sylvanus Mushi den Direktor der Kommission für Atomenergie, Dr. Fortunat Lumu, welcher das Abkommen mit Brinkley unterschrieben hatte, und warf ihn ins Gefängnis. Dr. Lumu wurde vorgeworfen, »eine große Menge Uran gestohlen« zu haben. Nach einer Woche wurde die Anklage fallengelassen und Lumu auf freien Fuß gesetzt. Allerdings bedeutete es das Ende für Brinkley Africa. Laut Minister Mushi war Dr. Lumu nicht der Einzige, der »Staatsgefährdendes« im Schilde führte. Seinem eigenen Vorgänger Gérard Kamanda wa Kamanda wurde vorgeworfen, insgeheim geplant zu haben, den Gewinn aus dem Verkauf von gestohlenem Uran für die Kampagne seiner eigenen Wiederwahl zu verwenden. Kamanda wa Kamanda leugnete das entschieden. Er behauptete, es sei Ziel des Vertrags mit Brinkley gewesen, den gefährlichen und widerrechtlichen Export von Uran zu unterbinden. Er verteidigte sich auch damit, dass er ein ehemaliger Schützling von Präsident Mobutu sei, während sein Nachfolger Mushi nichts von Wissenschaft verstehe und es ihm an Glaubwürdigkeit mangele. Außerdem sei Mushi lediglich ein ehemaliger Kommandeur der Mai-Mai-Stammesmiliz, die dafür berüchtigt war, ihren Kindersoldaten vorzumachen, dass ju-ju-Amulette Kugeln abfangen könnten. So wurde aus dem Streit einer dieser klassischen Interessenkonflikte zwischen zwei einflussreichen Männern, bei dem beide Seiten nur darauf bedacht waren, Gewinne aus den reichen Erzvorkommen des Kongo in die eigene Tasche zu wirtschaften. Zehn Jahre nach Mobutus Abgang wurde die Schatzkiste der Nation immer noch von der Führungsriege der Nation geplündert.
Kinshasas Kernreaktor hat nie ein einziges Volt Energie geliefert. Heute steht er halb verfallen am Rande des Universitätscampus. Die CIA bestätigte das folgende Szenario: Sollte irgendjemand einen der verbliebenen Brennstäbe – die beiden fehlenden wurden nie ersetzt – stehlen und mit Dynamitstangen umwickeln, hätte er eine wirkungsvolle schmutzige Bombe, und dann hieße es: »Gute Nacht, Kinshasa.«
Vom Kontrollraum zum Mittelpunkt des Reaktors führt eine Brücke, von der die Mitarbeiter die Stäbe zur Inspektion herausziehen. Und zwar mithilfe einer ganz normalen Angelrute, die neben dem Zugang zur Brücke abgestellt ist. Diese Methode wird allen Ernstes bei der äußerst heiklen Entnahme der Brennstäbe angewandt. Im Kontrollraum sticht einem sofort das vollkommen veraltete Steuerpult aus dem Jahr 1980 ins Auge, vor dem ein Tisch mit einer großen gelben Taste steht, mit der man den Reaktor hochfährt. Damit das Personal die Schaltfläche nicht versehentlich betätigt, wurde ein durchsichtiger Eisbehälter aus Plastik darüber gestülpt. Er ist so rissig wie die Wände des Reaktors.
Der ehemalige Direktor des Zentrums für Nuklearforschung ließ sich von diesen praktischen Problemen nicht weiter beeindrucken. Bevor er seinen Posten in Kinshasa antrat, hatte er ein paar Jahre an der University of California in Berkeley verbracht. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er einen Artikel über die Zukunft der afrikanischen Wissenschaft, der aus seiner Sicht vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch »kreative Energie« fehlte. Den Grund dafür suchte er nicht in den mangelnden Finanz- und Ausbildungsressourcen, sondern im »psychologischen Charakter der Afrikaner«. Wissenschaftlicher Fortschritt sei für die Menschen in Afrika nie zwingend notwendig gewesen, und die mündliche Überlieferung, die südlich der Sahara vorherrsche, rege nicht zum selbständigen Denken an. Afrikanische Wissenschaftler sollten sich um mehr bemühen als um eine zweitklassige Nachahmung kolonialer Wissenschaft, die sich mit der Chaostheorie in eine Sackgasse manövriert habe. Er kam zu dem Schluss, dass die afrikanische Psyche mit ihrer kreativen Vorstellungskraft der westlichen bald überlegen sein werde.
In der Zwischenzeit behauptet der Kernreaktor – wie Stanleys Schiff, die Messingkanonen in den unbeleuchteten Baracken des Nationalmuseums oder der »schon ganz vom langen Gras überwuchert[e]«16 Dampfkessel, den Marlow passierte – seinen Platz unter den erbeuteten Totems der Kolonialherrschaft. Kinshasa ist weniger die Hauptstadt eines souveränen Staates als vielmehr das verlassene Steuerpult eines längst untergegangenen Reiches. Die Schlüssel sind im schwülheißen Reich der Bäume jenseits der Brandung und der Stromschnellen verschwunden.
Die Fahrt zum Flughafen in Papa Thomas’ üblichem unbekümmertem Tempo führte über eine neue Route vorbei am Institut Georges Simenon, benannt nach dem belgischen Romanautor, der mehrere Bücher über die colons verfasste, die Kolonisten von Belgisch-Kongo, von denen keines ein schmeichelhaftes Licht auf sie wirft. Dann kamen wir am Institut enseignement médiatique vorbei, einer geschlossenen Journalistenschule, die ausgebrannt war, womöglich durch Granatfeuer. Sowie wir langsamer wurden, überfiel uns der Geruch afrikanischer Städte aus verrottender Vegetation, vor sich hin moderndem Müll und Abwässern, die in der schwülen Hitze eine beißende Mixtur bildeten, die kaum einzuatmen war.
Papas Handy trällerte. Er fuhr rechts ran, obwohl wir unseren Flug erreichen mussten, und unterhielt sich ausführlich mit einem lieben, lange verschollenen Freund. Am Straßenrand bemalte ein auf einem Hocker stehender Künstler eine Werbetafel für eine Online-Ausbildung in Bürokommunikation. Schulkinder bahnten sich in ihren unwahrscheinlich weißen Hemden und gebügelten kurzen Hosen einen Weg zwischen umgestürzten Bäumen, Pfützen tropischer Gewittergüsse und baufälligen Hütten mit den handgemalten, wunderbar optimistischen Namen: »Maison la Gloire«, »Chez Mère Pierrette«, »Faculté de la Sade«, und schließlich »Maison Don de Dieu«, wo mit Klempnerzubehör und Hygieneartikeln gehandelt wurde. Papa Thomas beendete seine Unterhaltung. Eine riesige Polizistin in gelber Bluse winkte uns zurück in den Verkehr der Schnellstraße, bevor sie ihre Arbeit beendete und die Menge vor sich wie eine Bugwelle teilte, um an ihr Ziel zu gelangen, an das Laboratoire de l’Elégance.
Das originellste Schild hing über einem Barbiersalon – »Espace Schengen«. Seit dem Schengener Abkommen ist es ja nur noch eine kurze Seereise von der Saharaküste zu den kanarischen Inseln oder von Libyen zur Mittelmeerinsel Lampedusa und von dort über die Autobahn nach Brüssel und zum Justizpalast.
Conrad brauchte fast zehn Jahre, um seine Erfahrungen in Afrika in einen kaum hundert Seiten langen Roman zu destillieren. Ein vielschichtiger, dichter Text, dessen Lektüre sich immer wieder lohnt und der dem Bösen und dem Wahnsinn, die im Kongo-Freistaat ihr Unwesen trieben, auf den Grund geht. Er schildert die übermächtige Präsenz des Urwalds, die kriminelle Energie unter der Maske rechtmäßiger Gewalt, die Versklavung, die Furcht vor dem Unbekannten, die Heftigkeit des afrikanischen Gegenangriffs, das tödliche Klima, die Ausbeutung des Landes. Die Finsternis des Titels spiegelt die kindliche Idee des fernen Unbekannten und ganz wörtlich das erstickende Dunkel des hohen Waldes. Doch Finsternis wird schnell zu einer Metapher für den Tod, der so viele Agenten der Kompagnie erwartete, ebenso wie für die finsteren Absichten der Direktoren, die Geheimhaltung ihrer Geschäfte, die Furcht, die ihnen ihre aufsässigen Opfer einflößten, und für den Einfluss, den all das auf die zentrale Figur, auf Mr. Kurtz hat.
Zu der Zeit, als Conrad an dem Roman schrieb, griff die britische Armee in Transvaal auf der Suche nach Gold die Burenrepubliken an und pferchte Zivilisten in Konzentrationslagern zusammen, in denen Tausende Frauen und Kinder an Krankheiten und Mangelernährung starben. Derweil trieben die europäischen Nationen, die sich die Zivilisierung Afrikas zum Ziel gesetzt hatten, ihre offenen und geheimen Vorbereitungen für einen globalen Krieg voran.
Während sich die europäischen Großmächte – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland – ihrer Selbstzerstörung immer weiter näherten, vervielfachten sich die Friedenskonferenzen, -kongresse und -tagungen. Auf der Haager Friedenskonferenz 1899 wurden Ausschüsse zu Fragen der Bewaffnung und des Kriegsrechts einberufen. Eine führende Figur auf dieser Konferenz, ebenso wie auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz 1907, war Auguste Beernaert, einer der belgischen Politiker, die sich am stärksten für Leopolds afrikanisches Abenteuer einsetzten. Leopold II. schätzte seinen ehemaligen Premierminister Beernaert so sehr, dass er ihm das höchste Kompliment zollte, indem er ihn »den größten Zyniker des Königreichs« nannte. Beernaert bestätigte den König in seiner Einschätzung, als er 1909 den Friedensnobelpreis annahm.
Auf der Konferenz von 1899 erhob der Abgesandte der Vereinigten Staaten, Captain Alfred Mahan, ein Marineoffizier und Militärtheoretiker, gegen den Vorschlag eines Verbots von »Stickgasen« den Einwand, dass er »den Erfindungsgeist der amerikanischen Bürger« nicht einzuschränken wünsche. Der britische Abgeordnete wiederum lehnte das Verbot von Dum-Dum-Geschossen (einer britischen Erfindung) mit der Begründung ab, es sei die einzig wirksame Methode, die Wilden daran zu hindern, auch verwundet weiter anzugreifen. Dennoch wurden die militärischen Möglichkeiten in diesen beiden Punkten beschnitten. Es war, als lege ein martialisches olympisches Komitee unmittelbar vor Beginn der Wettkämpfe die Regeln fest.
Am 4. August 1914 erklärten die Großmächte diese Spiele für eröffnet. Elf Tage später feierten die Vereinigten Staaten, eine noch im Frieden lebende Nation, die Einweihung des Panamakanals. Und so strömten die stillen Wasserwege, die Conrads Erzähler Marlow beschrieben hatte, beidseits des Atlantiks dahin. Noch im Jahr 1915 bestieg ein englischer Geologe, der von der Union Minière du Haut Katanga zum Kupferschürfen eingestellt worden war, in einem Wald südlich des kongolesischen Kuba einen Hügel namens Shinkolobwe und erkannte, dass er auf einem sehr großen Uranvorkommen stand.