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KAPITEL FÜNF Der einsame Reisende
ОглавлениеBandelier – Zufluchtsort der Urahnen,
der Anasazi, »der Leute, die nicht wir sind«.
An einem extrem kalten Tag im Dezember 1895 setzte ein einsamer Reisender seinen Fuß auf den Bahnsteig von Lamy, Santa Fe. Er war mit einem Zug der Atchinson-, Topeka- und Santa-Fe-Linie aus Denver angekommen. Der Mann war von gedrungener Gestalt, wie ein Ostküstler in einen förmlichen, dunklen Anzug mit Weste und Uhrenkette gekleidet, hatte sich allerdings ein Tuch um den Hals geknotet und einen Cowboyhut aufgesetzt. Er hatte dunkelbraune, glühende Augen und einen Schnauzbart von der Art, die gewöhnlich von Gewichthebern im Zirkus getragen wurde. Er spielte anderen gerne Streiche, war trotz seines sanften Äußeren für sein aufbrausendes Temperament berüchtigt und litt seit seiner Kindheit an Depressionen. Sein Name war Aby Warburg. Er trug einen Pass mit der Genehmigung des Innen- und des Kriegsministeriums in Washington bei sich, der ihn zur Reise durch indianisches Territorium ermächtigte.
Nun, da er neben den Pferden stand und darauf wartete, dass man seine Koffer auf die Kutsche verlud, die ihn zum Palace Hotel bringen sollte, und da er zu den Gipfeln des Sangre de Cristo hinaufschaute, wurde ihm seine Aufregung bewusst. Er war am Ende einer Tausende von Kilometern langen Reise angekommen, die ihn aber auch zweitausend Jahre zurückführte – in eine Welt, von der er besessen war. Warburgs Lebenswerk kreiste um die Bedeutung der Antike für die moderne Zivilisation.1 Als er 1895 in Lamy aus dem Zug stieg, betrat er das Griechenland der klassischen Antike.
Aby Warburg war der älteste Sohn einer Hamburger Bankiersfamilie, der sich gegen den Posten eines Seniorpartners in der Bank und für den Beruf des Kunsthistorikers entschieden hatte. In einem Zeitalter, in dem deutsche Forschung sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften die herausragende Rolle spielte, sollte Warburg einer der einflussreichsten Vertreter seines Faches werden. Im Jahr 1895 lebte und forschte er in Florenz, wo er einige Jahre zuvor bereits seine Doktorarbeit über Botticelli abgeschlossen hatte. Er unterbrach seine Studien in der Stadt und ihren Archiven aus familiären Gründen, sein Bruder Paul hatte ihn zu seiner Hochzeit in New York eingeladen. Da Aby Warburg bereits die Trauung eines anderen Bruders versäumt hatte, stand es außer Frage, dass er dieses Mal erscheinen musste. Beide Brüder heirateten in die jüdische New Yorker Bankiersdynastie der Kuhn-Loebs ein. Während des Bürgerkriegs hatten die Kuhns und die Loebs in Cincinnati ein Vermögen mit dem Verkauf von Uniformen an die Unionsarmee gemacht. Dann gingen sie an die Wall Street, gründeten ihr Geldinstitut und mischten die Spekulationsgeschäfte um die Eisenbahn mit einem solchen Erfolg auf, dass ihre Bank zur Zeit der Allianz mit den Warburgs nur von J. Pierpont Morgan übertroffen wurde. Familie Kuhn-Loeb residierte in einer Villa in der Fifth Avenue.2
Aby Warburg war seiner Familie sehr verbunden, doch New York gefiel ihm nicht; für ihn war die Stadt ein riesiges Kaufhaus. In den Monaten zuvor hatte er sich mit dem Einfluss heidnisch-antiker Symbolik auf die christliche Kunst beschäftigt.3 In Florenz war er auf Entwürfe eines intermedio – einer musikalisch-schauspielerischen Darbietung – von Bernardo Buontalenti für die Hochzeit des Großherzogs Ferdinand von Medici 1589 gestoßen. In dem Stück kämpft Apollo gegen eine Python, und wie in der Legende besiegte er das Ungeheuer, befreite das Land von dessen Schreckensherrschaft und stellte so die Eintracht wieder her. Dem Herzog schmeichelte die Assoziation gehörig. Das dramatische Eindringen eines gewalttätigen mythologischen Geschehens in eine fröhliche christliche Zeremonie wie in dem intermedio gehörte genau zu Warburgs Forschungsgebiet.
Warburg hielt nichts von »[e]nthusiastische[n] Kunstgeschichtler[n]«4 und war eher an einer psychologischen Betrachtungsweise der menschlichen Kultur interessiert. Ihm war nur allzu bewusst, dass das Material für die Untersuchung primitiver Kulturen zusehends dahinschwand. Ob er ursprünglich vorgehabt hatte, nach New Mexico zu reisen, ist ungewiss; in jedem Fall lernte er an Bord seines Schiffes nach New York einen Mitarbeiter des Washingtoner Smithsonian Instituts kennen, an dem kurz zuvor Forschungsergebnisse über Wandmalereien der Dakota und indianische Religionen erschienen waren. Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten nahm Warburg einen Zug nach Washington, »um die Smithsonian Institution zu besichtigen. Sie ist ja das Gehirn und das wissenschaftliche Gewissen des östlichen Amerika«5. Hier beschäftigte sich Warburg nicht nur mit Wandmalereien, sondern auch mit indianischer Keramik und Ritualen wie dem Schlangentanz der Hopi-Indianer.
Die Wissenschaftler aus Washington machten Warburg mit der Welt der Hopi bekannt sowie mit den Felshöhlen ihrer entfernten Vorfahren. Nur sieben Jahre zuvor waren diese in Mesa Verde in Colorado von einem Viehzüchter und Hobbyarchäologen entdeckt worden. In einem Gebiet namens Four Corners – hier treffen die Staaten Arizona, Utah, Colorado und New Mexico aufeinander –, das durch die Flüsse Colorado und Rio Grande begrenzt wird, finden sich Unmengen archäologischer Überreste komplexer, bis zu 1400 Jahre alter indianischer Siedlungen. In Washington traf Warburg auch mit James Mooney vom Bureau of Ethnology zusammen, der kurz zuvor den Artikel »Die Geistertanzreligion und der Sioux-Aufstand von 1890« veröffentlicht hatte. In dieser letzten bedeutenden indianischen Widerstandsbewegung hatten die Prärie-Indianer, inspiriert durch den zeremoniellen Geistertanz, die Rückeroberung ihres Landes ins Auge gefasst. Doch ihr Aufbegehren endete mit dem Massaker von Wounded Knee, bei dem über dreihundert Sioux, unter ihnen auch Frauen und Kinder, von der 7. US-Kavallerie niedergemetzelt wurden.
Warburg interessierte sich besonders für Mooneys These, dass es Parallelen gebe zwischen dem Geistertanz und den Glaubenslehren des Hinduismus, Judentums und Christentums. Es war die Hoffnung, Spuren einer kulturellen Evolution zu finden, die Warburg in das Land der Ureinwohner im Südwesten der Vereinigten Staaten lockte. Er hatte keine unmittelbaren Verpflichtungen, weder in Florenz noch in Hamburg; er hatte Zeit, Beziehungen und Geld. Er hätte auf eigene Kosten reisen können, aber die Kuhn-Loebs ließen ihm einen Freifahrtschein für die Eisenbahnlinie zwischen Atchison, Topeka und Santa Fe ausstellen.
Warburg war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Der Kampf zwischen den Indianern und den Siedlern New Mexicos war zehn Jahre zuvor zu Ende gegangen, und der in der Schweiz geborene Anthropologe Adolph Bandelier hatte damit begonnen, die Spuren prähistorischen Lebens in der Umgebung zu untersuchen. Das Hochland zwischen dem Colorado und dem Rio Grande war seit 11000 Jahren, seit dem Ende der Eiszeit, von Menschen bevölkert worden – möglicherweise von den unmittelbaren Vorfahren der überlebenden Pueblo-Indianer. Warburg reiste häufig in Begleitung eines Führers in einer Ponykutsche, doch die entlegeneren Gebiete erkundete er auf dem Pferderücken, denn er war – im Gegensatz zu vielen Renaissance-Forschern – ein fähiger Reiter, der seinen Wehrdienst in der berittenen Artillerie der Preußischen Armee abgeleistet hatte. Während seines Aufenthalts in Santa Fe machte Warburg das Palace Hotel zu seiner Basisstation, von der aus er in das prähistorische Land vorstieß.
Die Geologie des Rio-Grande-Tals ist beeindruckend, um nicht zu sagen furchteinflößend. Die fruchtbaren Ebenen sind von Hochplateaus, den sogenannten mesas, von Canyons und Schluchten umgeben und durchzogen, die sich vor 30 Millionen Jahren bei Vulkaneruptionen gebildet haben. Ein knapp 200 Meter tiefer Graben, das Rio Grande Rift, beherrscht das Leben von Mensch und Tier über Tausende von Quadratkilometern, indem er für Wasser und fruchtbares Weideland sorgt. Als Warburg zwischen Mesa Verde und dem Rio Grande reiste, hat er sicherlich die Treppen der mesas erklommen, die natürliche Aussichtsplattformen bilden. Im Osten reihen sich mehrere Kratergipfel aneinander. Die höchsten von ihnen sind über 4000 Meter hoch und tragen Namen wie Angel Fire, Hermit Elk und Agua Fria. Schauten die Talbewohner bei Sonnenuntergang zu diesen schneebedeckten Gipfeln hinüber, sahen sie, wie sie sich im letzten Abendlicht rot färbten, und deswegen gaben sie ihnen den Namen Sangre de Cristo – Blut Christi.
Eine der westlichen mesas, an denen Warburg vorbeikam, hieß Los Alamos. Dort gab es damals nichts außer einer kleinen Ranch, die ein paar Jahre zuvor von Siedlern aus dem Osten abgesteckt worden war. Im Süden von Los Alamos liegt ein langgezogenes, abfallendes Plateau namens Pajarito, das aus weichem Bimsstein oder Tuff besteht, ursprünglich also aus Vulkanasche. Es bildet einen scharfen Kontrast zu den schwarzen Basaltschichten, den Überresten eines früheren Ausbruchs, die ein deutlich härteres Gestein bilden, das Ablagerungen von Obsidian enthält, einem vulkanischen Glas. Die Hochebene zwischen dem Colorado und dem Rio Grande ist eine Art Laboratorium der menschlichen Evolution und der geologischen Gegebenheiten, die diese ermöglichten. Warburg befand sich in einer Gegend, die bereits deutlich früher besiedelt war als das klassische Griechenland.
Die Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner kamen vermutlich aus China oder sogar aus Japan. Als das Eis schmolz, zogen sie durch Nordasien, überquerten die Beringstraße und wandten sich dann nach Süden, hinein in einen unbewohnten Kontinent. Diese Menschen waren Jäger, die langsam und stetig den Wanderbewegungen der Herden folgten, von denen sie sich ernährten. Sie nutzten Speere und Bogen zum Töten, sie hatten eventuell Pferde und sicherlich Hunde. 1895 sah Warburg dieselbe Landschaft, die diese Nomaden erblickten, als sie den 37. Breitengrad erreichten und nach New Mexico zogen. Nur dreißig Jahre vor Warburgs Ankunft nutzten deren Nachkommen, die Prärie-Indianer, noch immer die gleichen Waffen zur Büffeljagd – Tiere, die sie mit Nahrung, Kleidung, Wetterschutz und manchmal sogar mit Brennstoff versorgten. Von den prähistorischen Herden waren nur noch Büffel und Hirsche übriggeblieben. Ursprünglich hatte die Jagdbeute viele inzwischen ausgestorbene Arten umfasst: Riesenbüffel mit einer Hornspannweite von zwei Metern, Riesenbiber und -elche, Kamele, Moschusochsen und Wollmammuts. Die meisten von ihnen wurden durch die Jagd ausgerottet, und dementsprechend sank auch die Zahl der Menschen.
Man weiß nicht genau, aufgrund welcher Veränderungen sich die jagenden Stämme in größeren Gemeinschaften zusammentaten und begannen, sich von der Landwirtschaft zu ernähren; doch wo es genügend Wasser gab, Tuff und fruchtbaren Boden, herrschten günstige Bedingungen. Das Pajarito-Plateau, das an eine Felswand, den Frijoles Canyon, grenzt, erfüllte alle drei Voraussetzungen und hatte dazu noch den weiteren Vorteil einer gut zu verteidigenden Lage. Aus Obsidian ließen sich wertvolle Werkzeuge herstellen, mit denen man handeln und Höhlen aus dem weichen Bimssteinfels schlagen konnte. Die Erde des Canyons ist fruchtbar, und ein Bach bewässert die Hochebene. Er führt das ganze Jahr über Wasser und schwillt auf seinem Weg in den Rio Grande immer mehr an, bis er sich schließlich über spektakuläre Wasserfälle in ihn hinabstürzt. An dieser Stelle entdeckte Adolph Bandelier fünfzehn Jahre vor Warburgs Ankunft Überreste einer Siedlung, die einst mehr als 2400 Wohnstätten umfasst hatte. Die heutigen Pueblo-Indianer nennen die Menschen, die dort wohnten, die »Anasazi«, das bedeutet »die Urahnen« oder »die Menschen, die nicht wir sind«. Sie pflanzten Bohnen, Mais und Kürbis an und bewässerten die Felder im Winter, doch weil der durchschnittliche jährliche Niederschlag lediglich knapp vierzig Zentimeter betrug, war der Regen im Sommer überlebenswichtig. Sie kannten sich aus mit Regen. Der Blitz, der den Wald durch Feuer lichtete, brachte auch Wind und Wasser. Der Blitz, der töten konnte, brachte auch Leben. Ohne den Blitz würden sie sterben.
Die Anasazi stammten von Völkern ab, die sich mitten im Gebiet der Four Corners, in der Nähe von Mesa Verde niedergelassen hatten. Sie hatten den Frijoles Canyon über die Bergpässe aus dem Südosten erreicht. Nach und nach errichteten und befestigten sie ihre Siedlungen; in der größten gab es schließlich mehr als tausend Räume. Die Art der Anlage von Frijoles, das heute Bandelier genannt wird, lässt vermuten, dass sich die Menschen in Zeiten von Gefahren hierher zurückziehen konnten, etwa im Winter, wenn die Vorräte zur Neige gingen und nomadisierende Jäger angriffen, um ihre Speicher zu plündern. Den Mittelpunkt ihrer Dörfer bildeten kivas. Die genaue Bestimmung der unterirdischen Zeremonienräume der Anasazi ist nicht bekannt, aber es ist deutlich zu erkennen, dass in ihnen komplexe religiöse Rituale stattfanden. Die Religion regelte nicht nur den Umgang der Anasazi untereinander, sie ermöglichte es ihnen auch, sich zu organisieren, miteinander zu kooperieren und schließlich eine Gesellschaft zu entwickeln, die Hunderte von Jahren florierte.
Die Wand einer kiva in Bandelier ist mit einem schwarzen Zickzackmuster bemalt, das im gesamten Südwesten ebenso wie in den Ruinen der Azteken und Maya in Mexiko und Guatemala vorkommt. Dieses Muster symbolisiert die Gefiederte Schlange, den Schlangengott, der sich wie ein Blitz bewegt und in Form eines Blitzes dargestellt wird, die Schlange, die Leben bringt, weil sie für Wasser steht.
Die Anasazi lebten ungefähr bis 1600 im Frijoles Canyon. Dann erreichten die spanischen Eroberer den heutigen Staat New Mexico. In den nächsten dreihundert Jahren sollte hier ein blutiger nachsteinzeitlicher Kampf zwischen vier Parteien ausgetragen werden: den nomadischen Prärie-Indianern, den Pueblo-Indianern, den spanischen Kolonialisten und schließlich den Anglos aus dem Norden. Das ist die Geschichte, die sich in dieser gewaltigen geologischen Szenerie abgespielt hat, und Warburg traf kurz nach dem endgültigen Ende der Kämpfe dort ein.
Warburg war mit der Eisenbahn nach Santa Fe gekommen, und die Eisenbahn war es auch, die den Kampf entschied, denn sie besiegelte den Untergang der nomadischen Lebensweise, die 10000 Jahre gewährt hatte. Dieser Prozess war zwar unaufhaltsam, lief aber allmählich ab. Der Santa Fe Trail, der die spanische Missionsstation nach Osten mit dem knapp 1500 Kilometer entfernten Missouri verband, wurde 1821 eröffnet, aber erst 1886 wurde das letzte Kopfgeld auf einen Apachenskalp gezahlt.* Nur neun Jahre vor der Ankunft des Kunsthistorikers aus Florenz zahlten Grundbesitzer noch den üblichen Preis von hundert Dollar für den Skalp eines Mannes und fünfzig für den einer Frau. Diese Zahlungen waren im Bundesstaat Colorado illegal, aber nicht in New Mexico, das noch kein Bundesstaat, sondern nur »Territorium« war. Noch 1895 fürchteten sich Siedler in Texas und New Mexico vor den Prärie-Indianern. Auf der Suche nach Verbindungen zwischen der Antike und der modernen Welt hätte Warburg kaum ein dramatischeres Labor finden können.
* Zum Zeitpunkt von Warburgs Besuch war das Büro des Gouverneurs in seinem Palast an der Plaza von Santa Fe mit Girlanden aus Ohren und Skalps von Indianern geschmückt.6