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Kapitel 2: Der Wanderer

Berlin, 26.Dezember 2004

„Ich bin soweit!“ Ben hörte die Stimme seiner Tochter und trat in den Flur, wo Lily ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trampelte. „Kann ich jetzt endlich gehen?“

„Und du willst nicht warten, bis Oma und Opa nachher kommen?“ Ben registrierte den Blick seiner Tochter, denn sie immer aufsetzte, wenn sie ihren Papa um den Finger wickeln wollte. Ein Blick, der auch diesmal seine Wirkung nicht verfehlte, denn nur zehn Sekunden später schloss Ben hinter ihr die Haustür. Er sah, wie Lily das Grundstück verließ und die Straße überquerte.

Sie hatte ein Bild für ihre Großeltern gemalt, das sie ihnen unbedingt geben wollte.

Ben stieg die Treppe zum Badezimmer hoch. Shannon stellte gerade die Dusche aus. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Warmer Dampf umfing ihn.

„Du kommst ja wie gerufen.“ Shannon wickelte ein Handtuch um ihren Kopf. „Trocknest du mir den Rücken ab?“ Ben trat näher, nahm das Handtuch entgegen und fuhr seiner Frau sanft über den Rücken. „Ist Lily jetzt doch gegangen?“ Shannon drehte sich um und sah Ben in die Augen.

„Gerade eben. Du kennst doch deine Tochter.“

„Na dann ...“ Shannon schlang ihre Arme um Bens Hals, beugte sich vor und küsste ihn sanft. Stürmisch erwiderte er den Kuss, hob seine Frau hoch und trug sie ins Schlafzimmer.

Zwanzig Minuten später lagen sie erschöpft auf dem Bett. Das Telefon klingelte und gedankenversunken griff Ben nach dem Hörer.

„Ja?“

„Hallo Ben, ich bin´s, Jeffery.“ Ben erkannte die Stimme seines Schwiegervaters, der, obwohl schon seit einigen Jahren pensioniert, den Militärton nicht ablegen konnte. „Ich wollte nur wissen, wann wir nachher bei euch sein sollen.“

„So gegen eins. Ihr könnt zusammen mit Lily kommen.“

„Wieso mit Lily?“ Schlagartig saß Ben im Bett. „Ist sie nicht bei euch? Sie hat sich“, Ben schaute auf seine Uhr, „vor zwanzig Minuten auf den Weg gemacht.“

„Nein, Lily ist nicht hier! Wir wussten ja nicht einmal, dass sie kommen wollte.“

„Ich bin sofort bei euch.“ Ohne eine weitere Antwort seines Schwiegervaters abzuwarten, sprang Ben aus dem Bett.

„Was ist mit Lily?“ Shannons Stimme klang besorgt.

„Sie ist nicht bei deinen Eltern angekommen.“

Ben brauchte nicht lange zum Haus seiner Schwiegereltern. Die Straßen waren in den Vormittagsstunden dieses zweiten Weihnachtstages noch leer. Entweder bereiteten sich die Anwohner auf das Mittagessen vor oder genossen ein spätes Frühstück. Ben kam zumindest niemand entgegen, den er nach Lily fragen konnte. Shannon war zuhause geblieben, falls Lily dort auftauchen sollte. Er wollte gerade in den Vorgarten seiner Schwiegereltern eintreten, als er im Rinnstein etwas entdeckte.

Lilys Rucksack!

Ben hob ihn hoch, öffnete den Reißverschluss und sah, dass die Zeichnung, welche Lily für ihre Großeltern angefertigt hatte, noch dort war. Tränen stiegen Ben in die Augen. Er spürte, dass seiner Tochter etwas passiert war.

„Hast du Lily gefunden?“ Die schneidende Stimme seines Schwiegervaters ließ ihn zusammenzucken. Er hielt ihm den Rucksack entgegen. „Der lag vor eurem Gartentor.“

„Und Lily?“

„Keine Spur.“

„Komm rein, Ben! Ich informiere die Polizei.”

Etwa zehn Minuten später betrat ein älterer Kommissar das Haus seiner Schwiegereltern.

„Dieter, danke dass du sofort gekommen bist!“ Kommissar Dutzmann war ein Freund von Jeffery, auch wenn der Kontakt in den vergangenen Jahren eher spärlich gewesen war. Zumindest hatte Ben den Kommissar auf Familienfeiern nie gesehen. Von Shannons Erzählungen wusste er aber, dass sich Dutzmann und ihr Vater von früher kannten. Dieser hatte seine Karriere als Streifenpolizist bei der Berliner Polizei begonnen und war damals in die Ermittlungen involviert, die nach dem Anschlag auf eine Berliner Diskothek eingeleitet wurden. Jeffery leitete damals die Ermittlungen auf Seiten der Alliierten.

„Jeffery, Kathy.“ Dutzmann deutete auf Shannons Mutter. „Wo ist Shannon?“

„Sie wartet zuhause, falls Lily dort auftauchen sollte.“ Ben trat energisch auf Dutzmann zu.

„Sie sind sicher der Vater von Lily?“

„Ben Herzfeld.“ Ben ergriff die fleischige Hand des Kommissars und blickte in seine durchdringenden Augen.

„Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.“

„Wollen Sie nicht lieber meine Tochter suchen!“, fuhr Ben ihn an.

„Natürlich will ich das. Und ich kann auch verstehen, dass Sie aufgeregt sind. Aber je genauer ich über die Umstände des Verschwindens Ihrer Tochter informiert bin, desto effektiver kann ich die Suche koordinieren.“

„Der Kommissar hat Recht, Ben.“ Jeffery legte seinem Schwiegersohn beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Glaub mir, er weiß, was er tut.“

Ben seufzte und begann zu berichten. Viel gab es ohnehin nicht, was er erzählen konnte. Lily hatte ein Bild für ihre Großeltern gemalt und wollte es ihnen bringen. Da Shannon und er noch das gemeinsame Weihnachtsessen vorbereiten wollten, hatte er nichts dagegen gehabt, dass Lily zu ihren Großeltern ging. Zumal sie den Weg schon oft allein gegangen war.

Während Bens kurzem Bericht inspizierte der Kommissar Lilys Rucksack. „Ist das das Bild?“ Ben musste sich eingestehen, dass er es nicht wirklich betrachtet und sich demzufolge nicht mehr daran erinnern konnte.

„Das müsste es sein.“

„Müsste?“ Kommissar Dutzmann hob fragend die Augenbraue.

„Lily hat es mir zwar gezeigt, aber ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen.“ Ben`s Puls beschleunigte sich. „Wann beginnen Sie endlich mit der Suche nach meiner Tochter, statt hier sinnlose Fragen über das Bild anzustellen?“

„Oh, die Fragen sind alles andere als sinnlos, Herr Herzfeld! Die Zeichnungen der Kinder sagen oft sehr viel über ihren Gemütszustand aus. Und ...“

„Was soll das denn heißen? Wollen Sie etwa andeuten, dass Lily weggelaufen ist?“ Ben hatte Mühe seine Stimme im Zaun zu halten.

„Ich will gar nichts andeuten, Herr Herzfeld. Allerdings ist es wichtig, sich ein vollständiges Bild zu machen. Die Erfahrungen zeigen, dass die Ursachen für die meisten solcher Fälle im familiären Umfeld zu finden sind.“

„Jetzt reicht es aber! Sie ...“ Ben wollte auf Kommissar Dutzmann losstürmen, doch Jeffery ging dazwischen.

„Es ist gut, Ben!“ Nur mit Mühe konnte sein Schwiegervater verhindern, dass Ben handgreiflich wurde.

„Habt ihr ein Foto von Lily?“, wechselte Dutzmann das Thema, ohne auf Bens Reaktion einzugehen.

„Natürlich. Ich hole es.“ Kathy ging ins Wohnzimmer und kam kurz darauf mit einem Bild von Lily zurück.“

„Danke, Kathy.“ Dutzmann nahm das Foto aus dem Rahmen und ging zu einem der Polizisten, der an der Haustür wartete. Ben konnte nicht verstehen, über was sich die beiden Männer unterhielten.

„Meine Kollegen“, Dutzmann kam zurück und deutete auf die beiden Polizisten, „werden zunächst eure Nachbarn befragen.“ Er wandte sich wieder Ben zu. „Auch wenn Sie mir die Frage wahrscheinlich übel nehmen werden, Herr Herzfeld. Gab es Streit in Ihrer Familie?“

„Um Gottes willen, nein! Wie kommen Sie darauf?“ Dutzmann deutete auf das Bild. Erst jetzt kam Ben dazu, es sich anzusehen. Er erschrak, denn es entsprach nicht den Bildern, die Lily gewöhnlich malte. Im Zentrum war eine riesige blaue Welle zu sehen, die auf zwei Menschen zurollte. Ein kleines Mädchen und eine Frau. Ben erkannte seine Frau an den langen schwarzen Haaren und dem roten Kleid, das Shannon so gerne trug. Lily war blond und trug ebenfalls ein rotes Kleid. Im ersten Moment fragte sich Ben, wo er auf dem Bild war. Einen Lidschlag später bekam er die schreckliche Gewissheit. Ben befand sich über der Welle, was an sich nicht erwähnenswert war. Jedoch hatte er den Mund aufgerissen und wirkte so überaus bedrohlich. Was hatte Lily mit diesem Bild ausdrücken wollen?

„Finden Sie nicht auch, dass dies nicht unbedingt das Bild ist, was eine Enkelin ihren Großeltern zu Weihnachten schenkt?“ Ben schluckte trocken und war nicht fähig zu antworten.

„Mit Lily ist alles in Ordnung, Dieter.“ Jeffery trat auf seinen Freund zu. „Sie ist ein liebes Mädchen, und wenn es Ärger gibt, dann in der Form, wie ihn alle Eltern mit ihren Kindern haben.“ Doch der Kommissar ließ nicht locker. „Und bei Ihnen und Ihrer Frau? Hatten Sie vielleicht einen Streit, den Ihre Tochter mitbekommen haben kann?“ Bens Puls beschleunigte sich.

„Nein. Es ist wirklich alles in Ordnung.“ In dem Moment, in dem er die Lüge ausgesprochen hatte, fragte sich Ben, warum er das tat. Doch er bekam keine Gelegenheit mehr, seine Aussage zu revidieren. Einer der Polizisten stand plötzlich im Flur.

„Herr Kommissar, können Sie bitte einmal kommen?“ Dutzmann wandte sich ab. Ben sah, wie dieser mit seinem Kollegen sprach und der immer wieder auf einen vor der Haustür stehenden Mann deutete. Das Gesicht des Mannes kam Ben bekannt vor, doch er konnte es in dieser Sekunde nicht einordnen. Dutzmann hörte aufmerksam zu und Ben sah, wie er bestätigend nickte.

„Es wird sich alles aufklären, Ben. Sie finden Lily.“ Kathy hatte sich zu ihm gesetzt und legte ihre Hand in seine. Anders als Shannons Vater hatte sie Ben vom ersten Tag an gemocht und ihn als den Sohn aufgenommen, den sie nach Shannons Geburt nicht mehr hatte bekommen können.

„Herr Herzfeld“, wandte sich der Kommissar wieder Ben zu. „Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“ Ben verstand die Frage nicht.

„Das habe ich Ihnen doch gesagt. Nach dem Frühstück ist sie zu meinen Schwiegereltern gegangen. Ich habe an der Haustür gestanden und ihr nachgewunken, bis sie um die Ecke gebogen ist.“

„Sind Sie ganz sicher?“ Ben glaubte, einen etwas schärferen Ton in der Frage zu hören.

„Natürlich bin ich mir sicher.“ Kommissar Dutzmann atmete tief durch. „Jensen!“, rief er einem der Polizisten zu. „Können Sie bitte Herrn Regner ins Wohnzimmer bitten.“ Ben sah, dass Manfred Regner ins Wohnzimmer trat. Jetzt erkannte er den Nachbarn seiner Schwiegereltern.

„Manfred, was hat das zu bedeuten?“ Bens Schwiegervater sah seinen Nachbarn überrascht an.

„Herr Regner“, antwortete Kommissar Dutzmann, „hat Lily kurz vor ihrem Verschwinden gesehen.“

„Ist das wahr, Manfred?“, wollte Jeffery wissen. Sein Nachbar nickte.

„Herr Regner, erzählen Sie uns doch einfach, was Sie meinen Kollegen gerade berichtet haben.“

Regner räusperte sich. „Ich stand am Küchenfenster und sah, wie Lily die Straße einbog. Ich ging kurz zum Herd, um Kartoffeln aufzusetzen. Als ich mich wieder dem Fenster zuwandte, hatte Lily fast euer Gartentor erreicht. Doch dann kam ein Mann auf sie zu und sprach sie an.“ Ben schloss die Augen. Also doch. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten.

„Um Gottes Willen, Manfred! Warum hast du nicht das Fenster aufgerissen, um ihn zu verscheuchen?“, fragte Jeffery aufgebracht.

„Aber warum sollte ich das? Es war doch euer Schwiegersohn!“

Für einen Augenblick herrschte Totenstille im Zimmer. Ben glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

„Warum erzählen Sie so etwas?“ Er hörte, wie brüchig seine Stimme klang. Es fiel Ben schwer, das eben Gehörte mit seinen Gedanken in Einklang zu bringen.

„Weil es die Wahrheit ist.“

„Herr Regner“, schaltete sich Kommissar Dutzmann ein, „sind Sie absolut sicher, dass Herr Herzfeld der Mann war, der Lily vor dem Gartentor angesprochen hat?“

„Selbstverständlich. Ich kann von meinem Fenster aus genau auf das Tor blicken. Daher bin ich mir ja auch so sicher. Schließlich kenne ich Herrn Herzfeld.“

„Und was ist dann passiert?“, wollte der Kommissar wissen.

„Das weiß ich nicht, da ich mich wieder ums Essen gekümmert habe.“

„Konnten Sie sehen, ob Herr Herzfeld und seine Tochter sich gestritten haben?“

„Nein. Jedenfalls habe ich nichts bemerkt.“ Regners Blick wanderte unruhig von Ben zu Kommissar Dutzmann. Es war ihm anzumerken, wie aufgeregt er war. „Herr Herzfeld hatte sich zu Lily hinuntergebeugt und schien ihr etwas zu sagen. Das war das Letzte, was ich von den beiden gesehen habe. Als ich mich das nächste Mal umgedreht habe, waren beide nicht mehr da. Ich dachte, dass sie ins Haus gegangen sind.“

„Und Sie haben keinen Zweifel daran, dass es Ben Herzfeld war?“

„Nein, Herr Kommissar! Ich habe sein Gesicht erkannt. Deshalb bin ich mir ja auch so sicher.“

„Oh mein Gott, Ben“, mischte sich Kathy ein. „Wo ist Lily denn?“

„Ganz ruhig, Kathy.“ Dutzmann trat einen Schritt auf Ben zu. „Was haben Sie dazu zu sagen, Herr Herzfeld?“

„Nichts! Hören Sie, Herr Kommissar. Ich weiß nicht, was der alte Mann gesehen haben will, aber ich schwöre Ihnen, dass ich mit meiner Tochter nicht mehr gesprochen habe, seit sie unser Haus verlassen hat!“

„Nun gut, wir werden sehen.“ Dutzmanns Stimme war anzuhören, dass er Ben nicht glaubte.

„Dieter“, mischte sich Jeffery ein, „ich kenne meinen Schwiegersohn. Welchen Grund sollte er haben, zu lügen? Wie ich dir schon gesagt habe, war zwischen Lily, Ben und Shannon alles in Ordnung.“ Bei dieser Aussage zuckte Ben für einen Augenblick zusammen. Dutzmann schien die Reaktion zu bemerken.

In diesem Moment erklang die aufgeregte Stimme einer Frau im Flur und Shannon trat ein. Ohne auf ihre Eltern oder Kommissar Dutzmann zu achten, stürmte sie auf Ben zu.

„Wo ist unsere Tochter? Was hast du mit ihr gemacht?“

„Shannon ...“ Ben kam nicht dazu, zu antworten, da Shannon wie eine Furie auf ihn losging.

„Ist es wegen Liem? Herrgott, ich habe dir doch gesagt, dass da nichts ist.“

„Shannon“, versuchte es Ben noch einmal. „Ich weiß nicht, was Herr Regner gesehen hat, aber ich habe mit Lilys Verschwinden nichts zu tun! Was denkst du denn? Dass ich meine Tochter verschwinden lasse, weil sie dich mit einem Liebhaber erwischt hat, der zufälligerweise noch mein Adoptivbruder ist?“

Wieder herrschte Stille und Ben wurde bewusst, dass der Ausbruch seine Situation nicht verbessert hatte. Dieser Meinung war auch Kommissar Dutzmann. „Ich denke es ist besser, wenn wir uns in Ruhe auf dem Polizeirevier unterhalten.“

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