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Kapitel 3: Trugschluss

Berlin, Dezember 2014

Ben schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Puls raste und er war schweißgebadet. Verwirrt blickte er sich in seinem Zimmer um. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er sich an seinen Traum erinnerte. Normalerweise tat er dies nicht. Nach dem Aufwachen waren die Träume verschwunden, hatten sich aufgelöst, wie Nebelschwaden am Morgen. Doch der Traum von letzter Nacht hing ihm noch nach. Er hatte sich an besagtem Weihnachtstag wieder gefunden und gesehen, wie Lily das Haus verlassen hatte. Er war ihr gefolgt und wusste auf einmal, dass er ihr Verschwinden verhindern konnte. Kurz bevor Lily das Haus ihrer Schwiegereltern erreicht hatte, bemerkte sie ihn und sprach ihn an. Ben erschauerte bei dem Gedanken, wie real die Begegnung mit seiner Tochter gewesen war. Allerdings fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern, worüber er mit Lily gesprochen hatte.

Er wischte über sein Gesicht und schwang sich aus dem Bett. Dabei entdeckte er den Beutel mit den Ampullen auf seinem Nachttisch. Er griff danach und sah, dass eine Ampulle leer war. Natürlich. Gestern vor dem Schlafengehen hatte er eine geöffnet und ausgetrunken. War sie der Grund für seinen Traum? Ben rief sich das Gespräch mit dem Mönch in Erinnerung, der ihm keine konkrete Antwort auf die Frage geben wollte, was der Wirkstoff dieser Flüssigkeit sei. Er hatte Ben jedoch nicht nur doppeldeutig geantwortet, dass er es schon bald herausfinden würde, sondern ihm auch die Warnung gegeben, sie gewissenhaft einzusetzen.

Nun denn. Jetzt wusste Ben, was der Inhalt bewirkte. Er versetzte ihn in einen Tiefschlaf und ließ ihn träumen. Wahrscheinlich enthielt sie ein Opiat, welches dafür verantwortlich war.

Mitgenommen stand Ben auf. Obwohl er mehr als zehn Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich alles andere als erholt. Dies war sicher auch eine Folge des Opiats. Er warf einen Blick nach draußen, nur um festzustellen, dass das eher triste Wetter weiterhin Bestand hatte. Trotzdem öffnete er das Fenster und ließ die kühle Morgenluft herein. Plötzlich bemerkte Ben ein Kitzeln an der Nase. Als er sie berührte, spürte er eine warme, klebrige Flüssigkeit an den Fingern.

Blut.

Auf seinem Pyjamaoberteil entdeckte er noch mehr Blutflecken. Irritiert ging er ins Badezimmer, um dort zu erkennen, dass er schon einiges an Blut verloren haben musste. Zumindest seinem Pyjama nach zu urteilen. Weitere, bereits verkrustete Flecken kamen zum Vorschein und Ben fragte sich, wie stark er in der vergangenen Nacht geblutet hatte. Er zog das Oberteil aus, als etwas aus einer der Brusttaschen fiel. Er bückte sich und sah einen Gegenstand. Das konnte nicht wahr sein! Vor seinen Füßen lag ein Schlüsselanhänger. Und nicht nur ein Anhänger, sondern Lilys Schlüsselanhänger! Er erinnerte sich, wie Lily ihm diesen in seinem Traum gegeben hatte. Bestürzt starrte er auf das kleine Stück Metall und hatte Mühe seine Fassung zurückzugewinnen.

Scheinbar war seine Krankheit weiter fortgeschritten, als er sich das eingestehen wollte.

Vor etwas mehr als zwei Monaten wurde bei Ben ein Gehirntumor diagnostiziert. Dies hatte ihn nicht überrascht, da er schon seit einigen Wochen mit starken Kopfschmerzen zu kämpfen hatte. Natürlich hatte er dies anfangs auf die Belastung der vergangenen Monate und Jahre geschoben. Aber tief in seinem Innersten hatte er gewusst, dass es mehr als nur Kopfschmerzen waren. Die ärztliche Untersuchung hatte ihm Gewissheit verschafft. Klassische Behandlungsmethoden wie Chemotherapie oder Bestrahlungen würden nichts mehr erreichen und eine Operation war wegen der Lage des Tumors ausgeschlossen. So hatte sich Ben mit seinem Schicksal abgefunden. Mehr noch. Die Klarheit, nur noch eine bestimmte Zeit zu haben, Lily zu finden, hatte seinen Drang, die Wahrheit herauszufinden, deutlich verstärkt.

Und so hatte er gelernt, mit den Schmerzen und den Schwindelanfällen zu leben. Sicher, an manchen Tagen waren die Kopfschmerzen kaum zu ertragen. Sein Sehvermögen war dermaßen beeinträchtigt, dass Ben es vermied, mit dem Auto zu fahren. Noch schwerer wog allerdings die Tatsache, dass er niemanden hatte, dem er sich anvertrauen konnte. Shannon wollte er mit diesem Thema nicht belasten. Außerdem hätte er ihr Mitleid nicht ertragen. Und Liem? Natürlich hatte sein Bruder ein Recht zu erfahren, wie es um Ben stand. Darüber hinaus war Liem Arzt und hätte mit Sicherheit darauf bestanden, dass Ben sich eine weitere ärztliche Meinung einholte. Doch genau das wollte er nicht.

Ben stieg unter die Dusche. Anschließend warf er einen Blick in seinen Kleiderschrank. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er viel Wert auf seine Kleidung gelegt. Doch diese, nach seinem heutigen Verständnis, Oberflächlichkeit hatte er längst abgelegt. So entschied er sich für eine saubere Jeans und ein Poloshirt. Außerdem hatte er heute keinen Termin. Er wollte nur kurz in die Redaktion fahren, um nach dem Rechten zu sehen und würde sich dann zum Mittagessen mit Liem treffen.

Eisiger Wind umfing Ben, als er auf die Straße hinaustrat. Die Chancen für eine weiße Weihnacht standen in diesem Jahr nicht schlecht. Er brauchte einen Moment, um seinen Wagen zu finden, den er vor seiner Abreise nach Thailand in einer Seitenstraße geparkt hatte. Ben hoffte, dass der Motor seines Volvo keine Probleme machen würde.

Und tatsächlich. Der Wagen sprang ohne Murren an. Ben fädelte sich in den Verkehr ein, der sich schleppend dahin zog. Allein zur Hasenheide brauchte er fast zwanzig Minuten, da verschiedene Baustellen immer wieder den Verkehrsfluss immer wieder zum Erliegen brachten. Über die Gneisenaustraße bog er rechts in den Mehringdamm ein. Er schaltete das Radio an und vernahm, wie der Nachrichtensprecher über eine weitere Krise in Afghanistan berichtete.

Kurz darauf erreichte er die Ebertstraße und bog rechts in die Dorotheenstraße ein, in der sich die Zufahrt zur Tiefgarage befand, die von den Redakteuren des Senders genutzt werden konnten.

Ben arbeitete seit vielen Jahren als Korrespondent und Auslandsjournalist. In dieser Funktion hatte er von verschiedenen Brennpunkten dieser Welt berichtet. Eine Tatsache, die seiner Ehe nicht gerade gut getan hatte. Aufgewachsen in Bangkok, kam Ben 1985 nach West-Berlin, um in seiner Geburtsstadt zu studieren. In Berlin verliebte er sich Hals über Kopf in Shannon, deren Vater für das amerikanische Militär arbeitete und der hier stationiert war. Nach seinem Studium bekam er eine Stelle in der Redaktion der Sendung Auslandsmonitor. Ben hatte schon immer ein ausgeprägtes Gespür für Wahrheit und Gerechtigkeit und so kam es, dass er gleich mit seinem ersten Beitrag das Wohlwollen des damaligen Sendeleiters gewann. Dieser gab Ben eine Chance und so durfte er daraufhin aus allen Krisengebieten dieser Welt berichten: Er war in Afrika, im Irak und im Nahen Osten.

Seit Lilys Verschwinden hatte sich Ben auf den ostasiatischen Raum konzentriert. Er konnte nicht sagen, warum, aber seine Intuition verriet, ihm, dass hier die Antwort lag. Und bisher hatte er sich immer auf sein Gefühl verlassen können. Jedoch hatten all seine Bemühungen ins Leere geführt.

Ben ging an der Pförtnerloge vorbei und sah, dass Hubert gerade am Telefon war. Er winkte dem Pförtner kurz zu, doch dieser beachtete ihn kaum. Merkwürdig, dachte Ben, doch ihm fiel ein, dass Hubert sicher ein wenig Stress mit seiner Frau hatte. Wie jedes Jahr stand zu den Weihnachtstagen der Besuch seiner Schwiegermutter an und Huberts sonst sonniges Gemüt veränderte sich schlagartig.

Ben fuhr in den zweiten Stock und betrat die Redaktionsräume. So kurz vor Weihnachten war auch hier nicht wirklich etwas los. Viele Kollegen befanden sich im Urlaub.

Bis zum Mittag hatte Ben zumindest ein paar seiner Mails gesichtet und beantwortet, kurz mit seinem Produktionsleiter gesprochen und erfahren, dass er erst wieder nach den Weihnachtstagen gebraucht wurde.

Gegen zwölf machte er sich auf den Weg zum Mittagessen mit Liem. Er freute sich darauf, ihn zu sehen. Ben verließ die Redaktionsräume und begab sich zu Fuß ins Borchardt, wo die beiden auch diesen wie sonst jeden Mittwoch verabredet waren.

Als Ben das Lokal betrat, kam ihm ein Schwall warmer Luft entgegen. Er fand einen Platz am Fenster, von dem er einen guten Blick auf die Französische Straße hatte. Er bestellte sich einen Espresso uns sagte dem jungen Kellner, dass er mit dem Essen noch warten würde.

Zehn Minuten später hatte Ben seinen Espresso ausgetrunken, doch von Liem war noch nichts zu sehen. Das war ungewöhnlich, denn eigentlich war Ben der Unpünktliche. Er warf einen Blick auf sein Handy, nur um festzustellen, dass Liem sich nicht gemeldet hatte. Ben widerstand dem Versuch, seinen Bruder anzurufen und orderte einen weiteren Espresso. Als Liem jedoch weitere zehn Minuten später immer noch nicht da war, begann Ben, sich Sorgen zu machen. Er vermutete, dass es im Krankenhaus einen Notfall gegeben hatte, wählte Liems Nummer, hinterließ aber keine Nachricht auf der Mailbox. Liem sah schließlich auch so, dass er angerufen hatte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Borchardts und Liem trat ein. Ben wollte sich schon bemerkbar machen, als er sah, dass sein Bruder das Lokal nicht alleine betrat. Shannon folgte ihm!

Für einen Moment setzte Bens Herzschlag aus. Warum hatte Liem nicht erwähnt, dass er Shannon heute mitbringen würde? Doch die Situation wurde noch skurriler. Ohne sich nach Ben umzusehen, ließen sich die beiden an einen Tisch im hinteren Teil des Restaurants führen. Ihre Vertrautheit irritierte Ben. Bisher hatten sie ihn auch noch nicht entdeckt. Er sah, wie Liem Shannon aus dem Mantel half und ihr einen Kuss auf die Wange gab.

Das konnte doch nicht wahr sein! Liem und Shannon? Ben wusste nicht, was er davon halten sollte. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und seine Kehle trocken wurde. Sicher, Shannon und er hatten Probleme und waren getrennt. Doch das gab Liem noch lange nicht das Recht, sich an seine Frau heranzumachen!

Ben ballte die Faust und erhob sich. Sicherlich würde er hier keine Szene machen, aber eine Erklärung wollte er dennoch.

Mit wenigen Schritten erreichte er den Tisch. „Ich hoffe, ich störe nicht.“ Ben hatte Mühe seine Stimme in Zaum zu halten. Shannon und Liem sahen ihn überrascht an, jedoch irritierte Ben, dass gerade Liems Blick aussah, als hätten sie alles und jeden, aber nicht ihn hier erwartet.

„Hallo Ben“, antwortete Liem kühl, während Shannon ihn nicht weiter beachtete. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer solch kühlen Reaktion der beiden. „Könnt ihr mir mal erklären, was das hier soll?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Wieder war es Liem, der antwortete, während Shannon Ben nicht eines Blickes würdigte.

„Sag mal, spinnt ihr?“ Bens Stimme wurde lauter und die ersten Gäste drehten sich zu ihnen um. „Wir sind vor einer halben Stunde zum Mittagessen verabredet gewesen.“ Liem sah Ben an, als habe er vollkommen den Verstand verloren.

„Wir waren bitte was?“, fragte dieser noch einmal nach. „Ich glaube kaum, dass wir beide zum Essen verabredet gewesen waren. Und jetzt sei so nett und lass uns bitte allein.“ Ben glaubte, sich verhört zu haben.

„Was soll das Theater?“ Ben legte Liem eine Hand auf die Schulter. Dieser erhob sich abrupt, so dass Ben sich erschrak. „Ich weiß nicht, was du genommen hast, Ben. Aber wir waren unter Garantie nicht zum Essen verabredet. Wie sollten wir auch? Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr. Und jetzt nimmt deine Hand von mir und verschwinde, oder ich lasse dich aus dem Lokal werfen.“ Wie aufs Stichwort kam der junge Kellner, der Ben vorhin den Espresso serviert hatte.

„Gibt es hier ein Problem?“

“Nein, alles bestens. Der Herr wollte gerade gehen.“ In Liems Blick lag so viel Verachtung für Ben, dass dieser nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.

„Shannon, ich ...“ Weiter kam Ben nicht.

„Noch ein Wort, Ben und ich rufe die Polizei.“

„Aber warum ... Was ...“ Bens Gedanken spielten vollkommen verrückt. Er konnte diese Szene nicht einordnen. „Ich habe keine Ahnung, was ihr mit dieser Komödie bezweckt. Ich bin gestern aus Thailand zurückgekommen, wo ich nach Lily gesucht habe.“ Hatte Ben bis zu diesem Moment gedacht, dass die Situation schon unglaublich genug war, gaben ihm Shannons Worte endgültig den Rest.

„Wag es nicht, den Namen meiner Tochter noch einmal in den Mund zu nehmen, du Mörder!“ Shannon griff nach ihrem Mantel und verließ mit Liem ohne ein weiteres Wort das Borchardt.

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