Читать книгу Roter Stern - Patrick S. Narra - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеLukas konnte kaum stillsitzen, so aufgeregt war er. Alle paar Minuten stand er auf und spähte zur Tür des Konferenzraumes, um sich dann wieder hinzusetzen. Dies wiederholte sich jetzt schon zum dritten Mal. Zwischendurch schaute er immer wieder auf seine Uhr. Die Besprechung hatte vor einer halben Stunde begonnen und noch immer kein Zeichen von Frank. Lukas hatte nur eine niedrige Sicherheitsfreigabe erhalten, so hatte es ihm sein Freund erklärt. Das hieß, dass Lukas nicht an der Hauptkonferenz teilnehmen, sondern lediglich für die Dauer seines Vortrags hineindurfte. Danach musste er das Ministerium verlassen und auf Abruf bleiben. Das ging ihm ordentlich gegen den Strich, denn er war von Natur aus sehr neugierig.
Er beobachtete die beiden Kellnerinnen, die mehrere Kaffeekannen und ein Buffet mit belegten Brötchen auf einem Tisch aufstellten. Zumindest würde er nicht verhungern, dachte er. Die beiden Frauen hatten seine Blicke bemerkt und grinsten dem Unbekannten zu.
»Darf man sich schon bedienen?«, fragte Lukas höflich. Eine von den beiden nickte, woraufhin er sich eine Tasse mit Kaffee einfüllte. Der Duft der koffeinhaltigen Flüssigkeit zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und wartete.
Wenn es stimmte, was Frank ihm erzählt hatte, dann stand das Leben vieler Menschen auf dem Spiel. Er hatte den Zusammenhang mit der Ukraine erwähnt, wo seit einigen Jahren Bürgerkrieg herrschte. Separatisten hatten den Osten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Die Russen unterstützten sie mit Waffenlieferungen, während Europa und die USA auf Seiten der ukrainischen Regierung standen. Das Verhältnis zwischen Ost und West war so schlecht wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Auf wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland folgten Visasperren und der Stopp von russischen Gaslieferungen an Europa. 2014 hatten sich die Russen die Krim einverleibt, eine Halbinsel am Schwarzen Meer, die vorher zur Ukraine gehört hatte. Weder die USA noch Europa wollten einen Krieg riskieren und schauten tatenlos zu, obwohl diese Aktion eindeutig völkerrechtswidrig war. In der kommenden Woche würden die Konfliktparteien auf einer Friedenskonferenz in Zürich über eine Waffenruhe verhandeln. Der Ausgang des Treffens war ungewiss und eine Verschlechterung des politischen Klimas wahrscheinlich. Die populistischen Parteien in Europa nutzten die angeheizte Stimmung für den eigenen Wahlkampf. Schwierige Zeiten standen bevor, in denen Pazifismus keine Selbstverständlichkeit mehr war. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht. Lukas hoffte, dass die europäische Gemeinschaft diese schwere Krise gemeinsam lösen würde.
Schritte holten ihn aus seinen Gedanken. Eine Frau kam den Flur herbeigeeilt. Sie mochte um die dreißig sein, hatte langes blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre Bluse und ihr Jackett bewirkten ein seriöses Auftreten, der schwarze Rock und die hohen Absätze betonten ihre langen, schlanken Beine. In der linken Hand hielt sie eine Aktentasche.
Wie konnten Frauen auf solchen Schuhen nur laufen, fragte sich Lukas.
Sie schritt zielstrebig auf die Tür des Besprechungsraums zu, zögerte dann aber kurz.
»Bin ich hier richtig?«, erkundigte sie sich, nachdem sie das kleine Schild neben der Tür inspiziert hatte.
Lukas hatte mit der Frage nicht gerechnet und gerade zum Trinken angesetzt, verfehlte den Mund allerdings um wenige Millimeter und schüttete sich heißen Kaffee auf die Hose. Es schmerzte höllisch, aber er verzog keine Miene.
»Kommt drauf an, was sie suchen«, antwortete Lukas mit einem charmanten Lächeln. Das Bein brannte wie Feuer!
Die Frau kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche heraus.
»Besprechungszimmer 23.4. Ja, ich bin richtig!«
Sie wollte gerade die Klinke betätigen, als sie sich noch einmal zu Lukas herumdrehte, der damit beschäftigt war, seine Hose mit einem Taschentuch trocken zu reiben.
»Wollen Sie nicht rein?«, fragte sie verwundert.
»Ich darf ...«, Lukas stockte. Was sollte er ihr sagen? Er besäße keine Sicherheitsfreigabe? Sie würde denken, er sei ein unwichtiger Beamter, obwohl er ein angesehener Professor war. Seine Eitelkeit ließ eine solche Schmach nur widerwillig zu und zudem wollte er der hübschen Frau imponieren.
»Achso, und ich dachte, die Besprechung hätte noch gar nicht angefangen«, erwiderte er. »Ich bin gerade erst angekommen und wunderte mich schon, wo die anderen sind.« Scheiß auf Sicherheitsfreigaben! Scheiß auf Frank! Wenn er ihn schon mitten in der Nacht herzitierte, hatte er ein Anrecht darauf, zu wissen, was los war.
»Dann schnell!« Die Blondine gab ihm Zeichen, ihr zu folgen, und öffnete die Tür. Lukas schlich hinterher.
Der Raum war abgedunkelt. Am anderen Ende des Zimmers flackerte ein Fernseher. Daneben standen ein Rednerpult und eine Tischreihe, an der einige Minister und die Bundeskanzlerin saßen. Im Plenum befanden sich ungefähr dreißig Zuhörer, die meisten im Anzug, einige in Uniform. Sie starrten gebannt auf den Fernseher und warteten darauf, dass etwas passierte. Niemand beachtete sie.
Die blonde Frau stupste Lukas in die Flanke und deutete auf zwei freie Stühle in der letzten Reihe. Er folgte ihr und nahm Platz. Jetzt entdeckte er Frank, der vorne mit einem Techniker redete. Offensichtlich versuchten sie etwas auf dem Fernseher abzuspielen, was wohl nicht klappte. Er hatte Lukas unerlaubtes Eindringen nicht bemerkt.
»So, jetzt haben wir es«, sagte Frank schließlich. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Wir zeigen ihnen jetzt das Erpresservideo. Ich bitte Sie, dabei ruhig zu bleiben und Ihre Fragen am Ende der Besprechung zu stellen. Nach dem Video werden Ihnen auswärtige Experten alle notwendigen Hintergrundinformationen geben.«
Frank nickte dem jungen Techniker zu, der daraufhin die Fernbedienung betätigte.
Auf dem 52 Zoll Fernseher erschien nach kurzem Schneegestöber ein steriler weißer Raum. Im Hintergrund bedeckten Vorhänge ein Fenster. In der Mitte saß eine vermummte Gestalt auf einem Stuhl. Dahinter sah man ein weißes Banner, auf dem ein roter Stern prangte. Die Stimme der Person war elektronisch verzerrt, was ihr einen bedrohlichen Unterton verlieh.
»Wir sind der Rote Stern. Wir kämpfen für die einzig wahre politische Ordnung in der Welt. In sechs Tagen werden wir Geschichte schreiben. Wir werden die kapitalistischen Werte mit all ihren Mängeln und Gefahren vernichten. Der Westen wird verstehen, dass er seine Profitgier nicht durch die Unterdrückung der Schwachen befriedigen darf. Die Völker dieser Erde werden sich gegen den europäischen Kolonialismus erheben und am Ende eins werden im Kampf gegen ihre Peiniger.
Wir haben in sechs deutschen Städten nukleare Sprengsätze platziert und mit einem Fernzündemechanismus versehen. In Hamburg, München, Köln, Bonn, Stuttgart und Frankfurt. Diese Städte stehen seit jeher für den Kapitalismus in Deutschland. Wir werden nicht zögern, sie dem Erdboden gleich zu machen, wenn Sie unsere Forderungen nicht erfüllen.
Erstens: Stopp jeglicher Waffenlieferung an Kiew.
Zweitens: Anerkennung der Krimannexion und Integration der Ukraine in das russische Staatsgebiet.
Drittens: Offizieller Verzicht auf eine Erweiterung der Europäischen Union und der Nato nach Osten.
Der Westen hat seine Macht in Europa viel zu lange ausgebaut, ohne dass Gegenwehr erfolgte. Das ist jetzt vorbei. Russland wird bald die Vorherrschaft in der Welt übernehmen.
Wenn Sie die Bevölkerung aus den Städten evakuieren, werden wir die Bomben zünden, bevor auch nur ein Bürger die Stadtgrenze verlassen hat. Die Bundeskanzlerin muss sich ab heute Morgen um acht Uhr in Bonn aufhalten. Ihnen bleiben sechs Tage. Wenn Sie unsere Forderungen nicht erfüllen, zeigen wir der Welt das wahre Gesicht der deutschen Regierung: Dass Sie aus Gier und Machtsucht das Leben von Millionen Bürgern in Kauf nimmt.«
Das Video endete abrupt mit Schneegestöber. Lukas starrte entsetzt auf den Fernseher. Frank schritt zurück zum Rednerpult. Der Techniker knipste das Licht an. Lukas versteckte den Kopf hinter seinem Vordermann, um nicht entdeckt zu werden.
Für einen kurzen Augenblick wurde es laut. Die Videonachricht hatte für Aufregung gesorgt. Frank klopfte auf das Mikrofon, damit Ruhe einkehrte. Das Gemurmel wurde durch das Hämmern und Fiepen aus den Wandlautsprechern schnell unterbunden.
»Wie Sie sehen, handelt es sich hier um ein Worst-Case Szenario. Wir reden von schmutzigen Bomben. Nukleare Spreng-sätze. Deshalb haben wir die oberste Geheimhaltungsstufe angesetzt«, erklärte er.
Lukas schaute sich im Raum um. Bestimmt waren hier hochrangige Vertreter vom Bundesnachrichtendienst, der Bundespolizei und vom Militär zusammengekommen. Wozu gehörte wohl seine Begleiterin neben ihm?
»Ich darf als nächstes Herrn Bauer vom Bundesnachrichtendienst nach vorne bitten«, sagte Frank und deutete auf einen Mann in der ersten Reihe. Er war glattrasiert und hatte die Haare penibel nach hinten gegelt. Der graue Anzug ließ jegliche Falten vermissen, seine braunen Lederschuhe glänzten. Er wirkte äußerst gepflegt, was in Lukas Augen der Agententätigkeit geschuldet war. Präzision und Disziplin konnten in so einem Metier über Leben und Tod entscheiden. Der Mann stand auf und schritt entschlossen zum Rednerpult.
»Danke, Herr Schulte. Guten Morgen an die Runde. Bauer ist mein Name«, stellte er sich vor. » Ich leite eine geheime Sonderabteilung des BND, die für die Mission »Stille Suche« verantwortlich ist. Offiziell gibt es mich nicht und nach Verlassen dieses Raumes wird es mich auch weiterhin nicht geben. Ich entschuldige mich für den strengen Ton, aber Geheimhaltung ist für die nationale Sicherheit unerlässlich.
Unsere Einheit ist für die Abwendung von Gefahren aus ehemaligen kommunistischen Ländern zuständig. Anfang der neunziger Jahre plante die Terrorgruppe Roter Stern die Platzierung von nuklearen Sprengsätzen in sechs westdeutschen Städten als Sabotageakt gegen Gorbatschows Entspannungspolitik. Sie wollten das Ganze als einen direkten Angriff durch die Sowjetunion inszenieren. Geplant waren Frankfurt als Sitz der größten deutschen Börse, Bonn als damaliger Regierungssitz, Hamburg, Köln und München als einwohnerreichste Städte und Stuttgart als Hauptquartier der amerikanischen Europatruppen. Da sie die deutsche Wiedervereinigung nicht anerkannten, wollten sie Westberlin verschonen, denn ein derartiges Attentat hätte auch Ostberlin in Mitleidenschaft gezogen. Unsere Aufgabe bestand darin, die Gerüchte um diesen Plan zu überprüfen und im Ernstfall die Bomben zu beseitigen. Um die Bevölkerung nicht zu verunsichern, arbeiteten wir verdeckt. Die Gruppe hat nach unseren Erkenntnissen den Plan zum Glück nie verwirklichen können. Zwei ehemalige Mitglieder sind jedoch vor einem Monat am Düsseldorfer Flughafen durch eine Überwachungskamera identifiziert worden. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Gruppe angesichts der aktuellen Entwicklung in der Ukraine neuformiert hat.«
Lukas hatte von Anschlagsgerüchten durch den Roten Stern gehört, aber ihm war zuvor nicht bekannt gewesen, dass sie einen atomaren Erstschlag gegen die Bundesrepublik planten. Das hätte den dritten Weltkrieg ausgelöst und damit die Auslöschung der Menschheit. Ihn schauderte es bei dem Gedanken.
Bauer übergab das Mikrophon an Frank, der sich bedankte und zum nächsten Vortrag überleitete.
»Vielen Dank, Herr Bauer. Wie gesagt, Sie werden später Gelegenheit haben, Ihre Fragen zu stellen. Als nächstes ...« Frank verstummte und warf Lukas einen bösen Blick zu. »Wir legen jetzt eine kurze Pause ein, damit jeder die überwältigenden Informationen verarbeiten kann. Wir machen in einer Viertelstunde weiter«, unterbrach er die Besprechung abrupt. Lukas Magen krampfte sich unangenehm zusammen angesichts der drohenden Standpauke.
»Ich müsste mal kurz raus«, sagte die blonde Frau neben ihm und erhob sich von ihrem Stuhl.
»Ja klar!« Lukas stand auf und ließ sie vorbei. Im Augenwinkel sah er, wie Frank auf ihn zustürmte.
»Spinnst du?!«, brüllte dieser und packte ihn rüde am Arm. Die um sie herumstehenden Männer und Frauen blickten neugierig herüber. Frank, peinlich berührt von seinem Emotionsausbruch, zog Lukas näher an sich heran und begann zu flüstern.
»Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich wollte wissen, warum du mich mitten in der Nacht ins Ministerium bringen lässt«, erklärte Lukas. Dabei hob er die Arme entschuldigend nach oben.
»Ich hatte doch klargestellt, dass du bestimmte Dinge nicht wissen darfst«, schimpfte Frank.
»Wann wolltest du mir denn sagen, dass in Bonn eine Atombombe versteckt ist? Nächste Woche? Wenn es zu spät ist?«
»Es tut mir leid, aber ich kann keine Rücksicht auf persönliche Beziehungen nehmen!«
»Du stellst deinen Beruf über unsere Freundschaft und würdest mich eiskalt mit hochgehen lassen, wenn die Terroristen die Bombe zünden?«
»Mach es nicht komplizierter, als es ist. Ich habe meine Vorschriften!«
»Du bist so ein Korinthenkacker!«
»Jetzt beruhig dich. Wahrscheinlich hätte ich es dir noch gesagt.«
Sie wussten beide, dass das gelogen war.
»Vielleicht gehe ich jetzt einfach nach Hause und ihr holt euch einen anderen Deppen, der über den Roten Stern referiert«, drohte Lukas.
»Das geht jetzt nicht mehr«, konterte Frank.
»Wer sagt das?«
»Ich! Es handelt sich um die höchste Sicherheitsstufe. Niemand, der Genaueres über die terroristische Bedrohung weiß, darf das Gelände verlassen.«
Lukas starrte ihn ungläubig an.
»Willst du damit sagen, dass ihr mich nicht nach Hause lasst?«
»Das hast du dir gerade selber eingebrockt!«, erwiderte Frank mit einem selbstgefälligen Grinsen und ließ Lukas sprachlos zurück. Diese Schlacht hatte er verloren. Warum war er bloß immer so ein Sturkopf?
Eine Glocke läutete. Es war das Signal, dass die Besprechung weitergehen würde. Die blonde Frau drängelte sich wieder an Lukas vorbei und ließ sich auf ihren Sitz fallen. Dabei schwang sie ihre Haare über ihre Schultern. Ihr Auftritt beeindruckte Lukas. Sie wusste ganz genau, wie ihre äußeren Reize auf Männer wirkten, das spürte er. Nach einer kurzen Tagträumerei hastete auch er zurück an seinen Platz, während Frank vorne das Wort ergriff.
»Als nächstes wird Herr Professor Neefe einen Vortrag über den Roten Stern halten. Ich bitte Sie nochmals, Ihre Fragen am Ende der Besprechung zu stellen. Unser Zeitplan ist eng getaktet und vieles wird sich durch die kommenden Vorträge klären.«
Frank nickte Lukas zu, der daraufhin aufstand und mit wackeligen Beinen nach vorne lief. Er konzentrierte sich darauf, so gerade wie möglich zu gehen und stellte sich eine imaginäre Linie auf dem Fußboden vor. Hoffentlich wirkte er nicht mehr betrunken. Der Kaffeefleck auf der Hose war glücklicherweise kaum noch zu sehen. Am Rednerpult angekommen, sortierte er seine Unterlagen und betrachtete das Publikum. Die blonde Frau lächelte ihm zu, was sein Selbstbewusstsein stärkte.
»Guten Morgen«, begrüßte er die Zuhörer, aber die Stimme versagte und erinnerte mehr an einen knarzenden Holzboden als an eine eloquente Männerstimme. Er räusperte sich und startete einen neuen Versuch. »Ich bin Professor Neefe und unterrichte Geschichte an der Bonner Universität. Ich habe mich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit mit der Sowjetunion, insbesondere mit der Terrorgruppe Roter Stern befasst, die zwischen 1985 und 1994 aktiv war.
Ich werde Ihnen als erstes etwas über die Sowjetunion der späten Achtziger erzählen und danach näher auf die Gruppierung eingehen.
In den letzten Jahren des Fortbestehens der UDSSR setzten die Führer der kommunistischen Partei tiefgreifende Reformen in Gang. Sie alle kennen Michail Gorbatschow, der mit Helmut Kohl die Verträge über die deutsche Wiedervereinigung unterzeichnete. Er leitete die sogenannte Perestroika ein, die zunehmende Demokratisierung des Landes und die langsame Abschaffung des Sozialismus. Durch die Entspannungspolitik näherte er sich dem Westen an und beendete den Kalten Krieg.
Die Maßnahmen waren für diese Zeit äußerst drastisch und sollten die damalige Welt radikal verändern. Deshalb stieß er mit seiner Politik nicht nur auf Befürworter. Es gab viele Hardliner und alteingesessene Kommunisten, die die Reformen als bedrohlich ansahen. Sie befürchteten den Untergang des kommunistischen Systems. Auch die Führer einiger Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes standen den Änderungen skeptisch gegenüber, so auch die SED Führung der DDR, um nur ein Beispiel zu nennen.
Leider führten die Reformen nicht zum erhofften Wirtschaftswachstum. Der Sowjetunion ging es in den späten Achtzigern sogar schlechter als vorher. Grund war jedoch nicht der politische Kurswechsel, sondern die enorme Korruption im Land. Dazu kamen Umweltkatastrophen, die die Wirtschaft bremsten. Zum Beispiel das Reaktorunglück in Tschernobyl. Den Gegnern der Perestroika passte die angespannte Lage sehr gut. Sie schoben die Krise auf die eingeleiteten Reformen. Der Widerstand wuchs so sehr an, dass 1991 ein Putschversuch gegen Gorbatschow erfolgte. Unter den Aufständischen fanden sich einige seiner engsten Mitstreiter, darunter der russische Ministerpräsident, der Vizepräsident und der Verteidigungsminister.
Die Mehrheit der Russen begrüßte jedoch die Idee des liberalen Staates. Der Putsch wurde in wenigen Tagen niedergeschlagen. Die Sowjetunion zerfiel noch im selben Jahr. Boris Jelzin wurde der erste Präsident eines demokratischen Russlands. Davor war es bereits zum Zerfall der DDR und zur deutschen Wiedervereinigung gekommen. Die Befürchtungen der Hardliner haben sich im Endeffekt bewahrheitet.
Was viele nicht wissen ist, dass der Putsch durch eine Gruppe aus konservativen Parteimitgliedern und ehemaligen KGB-Funktionären unterstützt wurde. Sie nannten sich »Krasnaja Swesda«, russisch für Roter Stern. Bis zu ihrer Auflösung 1994 führten sie gezielte Aktionen gegen die Demokratisierung des Landes durch. Sie schalteten in den achtziger Jahren liberale Politiker aus und schüchterten die Bevölkerung ein, so wie die SA im Dritten Reich. Die fehlende Unterstützung durch die Menschen des modernen Russlands drängte die Gruppe jedoch in den Untergrund. 1992 verbot der Kreml die Vereinigung und stufte sie als Terrorgruppe ein, 1994 löste sie sich auf.
Die Mitglieder tauchten unter und fanden ihren Platz in der Welt des organisierten Verbrechens. Ein paar erreichten hohe Führungspositionen in der russischen Mafia. Von der Terrorgruppe selbst hat man bis zur heutigen Nacht nichts mehr gehört.
Ich hoffe ihnen einen verständlichen Überblick vermittelt zu haben. Gibt es noch Fragen?«
»Wie vorhin erwähnt, würden wir die Fragen gerne ans Ende der Vorträge stellen. Ich möchte jetzt mit dem nächsten Referenten fortfahren. Vielen Dank Herr Professor Neefe!«, intervenierte Frank.
»Natürlich!« Lukas packte seine Unterlagen zusammen und ging zurück an seinen Platz, wo ihn die blonde Frau mit einem Zwinkern in Empfang nahm.
»Wir machen jetzt weiter mit Herrn Professor Ludovin«, stellte Frank den nächsten Redner vor.
Ein kleiner weißhaariger Mann aus der ersten Reihe stand auf und schritt zum Pult. Mit der Halbglatze und dem braunen Cord Sakko erfüllte er das Klischeebild eines zerstreuten Professors. Die Haare zeigten in alle Richtungen, sein Schnurrbart wackelte bei jeder Lippenbewegung. Warum zum Teufel hatte dieser Kerl die Sicherheitsfreigabe und Lukas nicht? Beleidigt verschränkte er seine Arme.
»Auch von mir einen guten Tag! Ich bin Professor Ludovin und ich unterrichte Kernphysik an der Universität in Bonn.
Ich soll Ihnen etwas über Aufbau und Funktion nuklearer Sprengsätze erzählen. Zunächst ein paar Informationen zum Aufbau einer Atombombe. Die gängigen Kernwaffen haben Uran oder Plutonium als instabiles Element zur Basis. Instabile Elemente sind die Grundvoraussetzung für eine nukleare Kettenreaktion. Dafür müssen sie in einer sogenannten überkritischen Masse vorliegen, auf Deutsch in einer zu hohen Menge und Dichte. Die Kettenreaktion lässt Energie in Form einer gewaltigen Explosion frei.
In einer Atombombe liegt unser Element zunächst in einer unkritischen Masse vor. Sonst würde die Bombe ja sofort explodieren. Durch die Zündung wird sie in eine überkritische Masse umgewandelt. Wie passiert das? Das kann dadurch geschehen, dass eine unkritische Masse Uran auf eine andere unkritische Masse Uran geschossen wird. Die Zusammenführung erzeugt eine überkritische Masse und führt zur Explosion. Dieses sogenannte »Gun-Design« wurde bei der Little Boy Bombe verwendet, die die Amerikaner 1945 über Hiroshima abwarfen.
Eine andere Methode nutzt das Implosionsprinzip. Plutonium liegt in unkritischer Masse als Kugelform im Bombeninneren vor. Durch Zündung mehrerer Sprengstoffe an der Hülle der Kugel wird das Plutonium im Inneren zusammengedrückt. Durch den Druck erhöht sich die Dichte bis zum Erreichen einer überkritischen Masse, was zur Auslösung der Kettenreaktion führt. Dieses Prinzip wurde bei der Nagasaki Bombe genutzt, die wenige Tage nach der ersten Atombombe abgeworfen wurde.
Die Sprengkraft einer Bombe wird allgemein in TNT-Äquivalent ausgedrückt. Das ist die Energie, die bei der Sprengung einer entsprechenden Menge TNT frei wird. Man kann das ganz einfach berechnen. TNT hat eine molare Masse von 227,1 g/mol und setzt eine Energie von circa 1047 kj/mol frei. Das entspricht ungefähr 250 kcal/mol...«
»Herr Professor Ludovin, ich glaube, dass wir auf Formeln und Berechnungen verzichten können. Das würde zu sehr ins Detail gehen«, unterbrach ihn Frank.
»Natürlich!« Der Professor versuchte erst gar nicht, die Empörung über die mangelnde Intelligenz seiner Zuhörerschaft zu verbergen. »Wir drücken mit der Äquivalenzzahl aus, wie viel TNT wir verwenden müssen, um dieselbe Wirkung zu erzielen. In Hiroshima wurde eine Bombe mit einer Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT verwendet. Für die gleiche Sprengkraft hätte man also 13000 Tonnen TNT zünden müssen. »Fat Man« in Nagasaki hatte eine Äquivalenzsprengkraft von 20 Kilotonnen.«
Aus dem Plenum hörte Lukas staunendes Gemurmel.
»Die Explosion besteht aus drei Komponenten: Druck, Hitze und Strahlung. Druck und Hitze bewirken die direkte Zerstörung von Gebäuden und Lebewesen. Strahlung führt zu Gesundheitsschäden bis hin zum Tod. Entweder sofort bei hoher Strahlenbelastung oder nach mehreren Tagen bis Jahren bei niedriger Strahlendosis.
Durch den radioaktiven Fallout kommt es zur Verseuchung der Umgebung. Fallout ist nichts anderes als radioaktiver Staub, der durch die Explosion in die Luft gewirbelt wird und in Minuten bis Tagen, manchmal sogar erst nach Monaten wieder auf den Boden fällt. Dabei können große Landstriche für lange Zeit verseucht und unbewohnbar werden. So ähnlich wie bei Tschernobyl, als die radioaktive Wolke nach Westeuropa zog.
Man kann verschiedene Zerstörungszonen definieren. Mit zunehmender Entfernung steigt die Überlebenschance.
Wie weit erstrecken sich die verschiedenen Zerstörungszonen? Das hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens von der Sprengkraft. Je stärker, desto größer die Reichweite der Explosion. Zweitens, in welcher Höhe die Bombe gezündet wird. Detonationen in der Höhe haben eine größere Reichweite, aber eine kleinere Maximalwirkung im Zentrum. Die amerikanischen Bomben im Zweiten Weltkrieg wurden in einigen hundert Metern Höhe gezündet, um den Zerstörungsradius in den Städten so groß wie möglich zu halten.
Ein Beispiel: Eine Bombe mit einer Sprengkraft von 10 Kilotonnen kann in 600 Metern Höhe gezündet in einem Radius von über zwei Kilometern alles dem Erdboden gleichmachen. Am Boden gezündet, zerstört dieselbe Bombe vielleicht nur wenige Wohnblöcke. Das ist für uns von Bedeutung, da wir hier von einer Bodendetonation ausgehen müssen. Allerdings wird in diesem Fall mehr radioaktiver Staub hochgewirbelt als bei einer Luftdetonation. Obwohl eine Stadt nicht vollständig zerstört ist, bleibt sie also dennoch für lange Zeit unbewohnbar. Das Gesundheitsrisiko für die Bewohner wäre immens.«
Der Professor schaute in die Runde.
»Fragen?«
»Ja!«, rief die Bundeskanzlerin. »Was für eine Sprengkraft erwarten Sie in unserem Fall?«
»Schwierige Frage. Der limitierende Faktor ist die Größe und damit die Transportfähigkeit der Bombe. Wir benötigen eine Mindestmenge an spaltbarem Material. Die kritische Masse von Uran beträgt in Kugelform zum Beispiel 15 Kilogramm. Allerdings wird bei einer Explosion nur ein Bruchteil des Urans genutzt. Deshalb besaßen die amerikanischen Bomben viel mehr Uran als nötig. Bei der Hiroshima Bombe wurden nur 650 Gramm der 64 Kilogramm Uran gespalten. Der Effektivitätsgrad war mit einem Prozent sehr gering. 50 Gramm Uran können in der Theorie eine Sprengkraft von einer Kilotonne bewirken.
Die Effektivität kann man durch den Aufbau der Bombe und durch Wirkungsverstärker beeinflussen. Je stärker die Minisprengungen am Rand einer Implosionsbombe zum Beispiel, desto mehr wird das spaltbare Material im Inneren der Kugel zusammengedrückt. Dadurch benötigt man weniger instabiles Material.
Der Kern der Bombe kann mit Neutronenreflektoren ummantelt werden, der die Neutronen zurück ins Innere wirft. Man kann die Temperatur erhöhen. Mit Boostermodulen ist sogar eine Verdopplung der Sprengkraft möglich. Es gibt Stoffe mit noch kleineren kritischen Massen, zum Beispiel Californium. In einfachster Bauweise reichen fünf Kilogramm aus.
Studien mutmaßen, dass sogenannte Kofferbomben, ungefähr 23 Kilogramm schwer, eine Zerstörungsenergie von zehn bis 1000 Tonnen TNT Äquivalent erreichen können.«
»Die Bomben, die die Terroristen einsetzen, werden die Städte also nicht komplett zerstören?«, fragte Frank.
»Eher nicht. Die Bomben wären extrem schwer und der Transport umständlich. Außerdem ist so viel Uran von Zivilpersonen nur schwer zu beschaffen. Die eingesetzten Bomben werden maximal ein paar Wohnblöcke vollständig zerstören. Ich glaube sogar, dass die Sprengung nur wenige Gebäude betreffen wird. Die Radioaktivität ist das gravierendere Problem, auch psychologisch gesehen. Jedes Krebsopfer, das mit diesem Anschlag im Zusammenhang steht, würde die Bevölkerung daran erinnern, wie verwundbar sie ist. Ein tiefes Trauma für einen demokratischen Rechtsstaat, wie wir es sind.«
»Wie lange würde eine Stadt dadurch unbewohnbar bleiben?«, wollte der Innenminister wissen.
»Das hängt von der Menge an radioaktivem Staub ab. Tschernobyl ist heute immer noch Sperrbezirk, fast 30 Jahre nach dem Unglück. Fukushima wird in wenigen Jahren wieder bewohnbar sein. Ich denke, eine deutsche Großstadt würde für mehrere Jahrzehnte ausfallen. Auch kleine Bomben können das Grund- und Trinkwasser für die gesamte Stadt verseuchen. Wind und Regen sind unberechenbare Faktoren. Wie sich eine Explosion genau auswirkt, ist unmöglich vorherzusagen. Die Langzeitfolgen mit erhöhten Leukämieraten und Schilddrüsenkrebs ebenso.«
»Vielen Dank, Herr Professor Ludovin«, übernahm Frank jetzt wieder die Regie und leitete zur offiziellen Fragenrunde über. Sofort meldeten sich verschiedene Zuhörer aus dem Auditorium.
»Für wie realistisch halten Sie es, dass es jemand schafft, Atombomben nach Deutschland zu schmuggeln? Und dann gleich sechs Stück?«, fragte ein Mann, der neben Lukas in der letzten Reihe saß.
»Für wie wahrscheinlich hielten Sie vor dem 11. September 2001 einen Anschlag mit zwei Passagierflugzeugen auf das World Trade Center in New York?«, ging Bauer auf die Frage ein. Es folgte eine rhetorische Pause. »Es gibt viele Wege, Waffen ins Land zu schaffen. Im Hamburger Hafen kann lediglich jeder 12000. Container vom Zoll überprüft werden. Über die anderen 11999 können Güter aller Art unbemerkt nach Deutschland gelangen. Das, um nur eine Möglichkeit zu nennen. Wir müssen die Bedrohung als real einstufen.«
»Letztes Jahr wurden in einer russischen Fabrik Bombenkomponenten gestohlen«, ergänzte Frank. »Es handelt sich um die von Professor Ludovin erwähnten Neutronenreflektoren und die Booster, mit denen man die Effizienz von Atombomben erhöhen kann. Die Russen haben den Einbruch dementiert. Wir haben jedoch Hinweise dafür, dass der Rote Stern dafür verantwortlich war.«
»Und die Russen tun einfach so, als ob nichts passiert wäre?«, wunderte sich eine Frau aus dem Auditorium.
»Ein derartiges Sicherheitsleck ist äußerst peinlich und würde dem Ansehen des russischen Präsidenten schaden«, erwiderte Frank.
»Was für eine Sprengkraft erwarten Sie?«, fragte der Verteidigungsminister.
»Wir gehen von einer bis fünf Kilotonnen aus. Dies genügt, um mehrere Häuser bis hin zu wenigen Wohnblöcken vollständig zu zerstören. Die Städte blieben dennoch erst einmal unbewohnbar, bis wir das Ausmaß der Verseuchung erfasst hätten.«
»Die Terroristen werden versuchen, so viele Menschen wie möglich zu töten. Daher werden sie die Stadtzentren wählen. Wie Herr Professor Ludovin erwähnte, dürfen wir das psychologische Trauma nicht unterschätzen. Die Bürger sollen sich in ihrer Stadt nicht mehr sicher fühlen. Wir müssen und werden das verhindern!«, betonte Bauer.
Die Politiker einigten sich darauf, die Bevölkerung erst nach 48 Stunden zu warnen. Während dieser Zeit würde man alle notwendigen Vorkehrungen treffen. Die Terroristen hatten ihnen untersagt, die Städte zu evakuieren, aber es würde der Zeitpunkt kommen, an dem der Regierung keine andere Wahl bleiben würde. Auch die Nachbarstaaten mussten rechtzeitig informiert werden, da der radioaktive Staub durch Wind und Wetter die Landesgrenzen jederzeit überschreiten konnte. Analysten hatten berechnet, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit nach spätestens 48 Stunden Informationen an die Presse durchsickern würden. Sie mussten um jeden Preis verhindern, dass die Bevölkerung von den Medien und nicht durch die Regierung gewarnt wurde. Wenn die Schlagzeile vor einer offiziellen Pressekonferenz veröffentlicht wurde, konnte das zu Massenpaniken und Chaos führen.
Frank verteilte die Aufgaben an die verschiedenen Teams. Es mussten Evakuierungspläne erstellt werden. Ludovin sollte Szenarien mit unterschiedlichen Sprengkräften durchspielen. Eine Taskforce würde sich auf die Suche nach den beiden Terroristen konzentrieren, die am Dortmunder Flughafen gesichtet worden waren. Ein weiteres Team würde Stadtanalysen durchführen, um mögliche Standorte der Bomben zu finden: verlassene Häuser, unübersichtliche Grundstücke, öffentliche Gebäude. Ein fast unmögliches Unterfangen. Selbst ein Kaufhaus konnte ein effizientes Versteck sein. Eine Gruppe organisierte ein geheimes Treffen mit den EU-Partnern. Es sollte in 48 Stunden stattfinden, kurz nach der offiziellen Regierungsmitteilung an die Bevölkerung. Ein Arbeitskreis würde sich um die Presseerklärung kümmern. Oberstes Ziel war es, eine Massenpanik zu verhindern und so wenig Menschen wie möglich zu gefährden.
Frank legte eine erneute Zusammenkunft für 18 Uhr fest, um den Fortschritt der Ermittlungen zu überprüfen. Dann entließ er alle in ihre Kleingruppen. Das Plenum drängte nach draußen, um sich zunächst am Frühstücksbuffet zu stärken, dass die Kellnerinnen vorhin aufgebaut hatten. Lukas wollte die Gunst der Stunde nutzen und ein paar Worte mit der blonden Frau wechseln, wurde aber direkt von mehreren Anzugsträgern überfallen, die ihn mit Fragen zum Roten Stern bombardierten. Eine halbe Stunde später hatten sich alle Arbeitsgruppen zusammengefunden. Lukas stand mit wenigen Wissbegierigen und einem Mettbrötchen im Flur, als Frank ihn abholte.
»Komm! Auch du kannst dich nützlich machen. Jetzt, wo du ständiges Mitglied unserer kleinen Gemeinschaft bist«, sagte er mit einem Schmunzeln. »Entschuldigen Sie uns?« Die anderen Herren nickten.
Er führte Lukas in einen kleinen Besprechungsraum, in dem Bauer die Einsatzgruppe briefte, die mit der Suche nach den Terroristen betraut war. Auf einer Magnetwand im hinteren Teil des Zimmers klebten Fotos von den beiden Ukrainern, die in Düsseldorf gesichtet worden waren. Daneben hing eine Deutschlandkarte, auf der sechs Aufsteckfähnchen die betroffenen Städte markierten. Das Datum, an dem die Bomben gezündet werden sollten, war rot umrandet: 9. Mai 2018. Zu seiner Entzückung gehörte auch die blonde Frau zum Team.
Als Erstes stellte Frank Lukas und Bauer einander vor.
»Das ist Professor Neefe. Ich kenne ihn aus Studienzeiten. Er ist einer der führenden deutschen Experten in Sachen Roter Stern.«
»Ich habe alle Ihre Veröffentlichungen gelesen, Herr Professor. Ich bin ein großer Fan«, begrüßte ihn Bauer und streckte ihm die Hand entgegen.
»Danke!«, erwiderte Lukas mit einem stolzen Unterton.
»Wenn das alles vorbei ist, werde ich Ihnen als Dankeschön für Ihre Hilfe Zugang zum Archiv meiner Abteilung gewähren. Ein Privileg, für das einige Wissenschaftler töten würden«, redete Bauer weiter.
Lukas Herz raste. »Das wäre eine großzügige Geste.«
Dann drehte sich Bauer zu Frank um.
»Ich wusste gar nicht, dass ihm auch die Sicherheitsstufe A erteilt wurde«, flüsterte er ihm zu.
»Ich habe nachträglich beschlossen, dass er uns hier von größerem Nutzen sein kann. Niemand kennt die Gruppe besser als er. Vielleicht abgesehen von Ihnen.« Frank brachte ein gequältes Lächeln hervor.
Bauer nickte. Er schien, verstanden zu haben, dass Frank diese Entscheidung nicht ganz freiwillig getroffen hatte. Er sagte nichts Weiteres dazu und deutete auf die Frau, der Lukas vorhin in den Besprechungsraum gefolgt war.
»Das ist Frau Doktor Rohte. Sie gehört zu unseren kompetentesten Fallanalytikern. Ihr Beruf ist Ihnen aus dem Fernsehen vielleicht besser bekannt als Profiler«, stellte Bauer die hübsche Frau vor. Diese legte ihre Unterlagen beiseite und stand auf.
»Sehr erfreut!«, sagte sie und schüttelte Lukas Hand.
»Frau Rohte wollte gerade ein erstes Täterprofil von den beiden Ukrainern präsentieren«, erklärte Bauer.
»Dann kommen wir ja genau zum richtigen Zeitpunkt«, erwiderte Frank und setzte sich. Lukas tat es ihm nach. Zusammen mit ihnen saßen noch drei weitere Männer im Raum, die Bauer als Agenten vom BND vorstellte. Nachdem alle miteinander vertraut waren, schritt Tanja Rohte zur Tafel mit den Fotos, denen sie einen verächtlichen Blick zuwarf.
»Sergej Petrov und sein Bruder Nikolaj, beide Söhne eines hochrangigen Parteifunktionärs aus der Ukraine. Über Beziehungen gelangten sie zum KGB und stiegen die Karriereleiter schnell auf. Eliteeinheit. So etwas wie 007.
Anfang der Neunziger schlossen sie sich dem Roten Stern an. Als die Sowjets 1991 ihre Macht verloren, wurde die Gruppe als terroristische Vereinigung deklariert. Sie tauchten unter und fanden ihren Platz in der Welt des organisierten Verbrechens. Waffen- und Drogenschmuggel, Prostitution, illegale Casinos. Alles, was man sich nur vorstellen kann. Sergej ist Anfang fünfzig, sein Bruder Ende vierzig. Beide sind äußerst gefährlich und skrupellos. Sie haben mindestens 50 Menschen auf dem Gewissen. Und das allein nach der Zeit als Regierungsmitarbeiter.«
»Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass diese Männer etwas mit dieser Sache zu tun haben?«, wollte Frank wissen.
»Es wäre schon ein ungewöhnlicher Zufall, wenn zwei ehemalige Mitglieder vom Roten Stern sich in Deutschland aufhielten und nicht involviert wären. Ich glaube allerdings nicht, dass sie aus eigener Motivation handeln«, erklärte sie.
»Sie meinen, es sind Söldner?«, verstand Bauer.
»Ich glaube ja. Sie haben über zehn Jahre in der Welt des organisierten Verbrechens gearbeitet, in der es lediglich um Profit geht. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie plötzlich idealistische Ziele verfolgen.«
»Das hieße, dass jemand anderes hinter den Bomben steckt und sie angeheuert hat«, vervollständigte Frank den Gedanken.
»Korrekt«, erwiderte Tanja.
»Also müssen wir alles daransetzen, diese Männer aufzuspüren. Über sie können wir vielleicht an die Hintermänner gelangen«, betonte Bauer.
»Für uns kann es von Vorteil sein, wenn diese Männer für ihren Auftrag bezahlt werden. Menschen, die aus politischer Überzeugung handeln, sind durch Deals mit der Staatsanwaltschaft kaum umzustimmen. Wenn sie jedoch für Geld arbeiten, stehen unsere Chancen gut, sie mit einem besseren Angebot umzudrehen«, warf die Profilerin ein.
»Dazu müssen wir sie erst einmal fassen. Danke Frau Rohte«, sagte Bauer.
»Gerne.«
»Die Fahndungsfotos wurden an alle Polizeistellen des Landes verschickt. Wir werden sofort informiert, falls sie gesichtet werden«, erklärte Frank.
»Sehr gut. Professor Neefe, Sie beleuchten die Terrorgruppe bis ins kleinste Detail. Ich will alles über diese Leute wissen!«, wies Bauer ihn an.
»Mache ich.«
»Einer meiner Mitarbeiter wird Ihnen die Zugangskarte für den Archivraum geben. Dort haben Sie Zugriff auf den Zentralrechner und auf alle Informationen über den Roten Stern, die die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragen hat. Die Internetverbindung dort ist sicher. Sie können also unbehelligt im Netz surfen. Ihr Handy müssen Sie allerdings aus Sicherheitsgründen draußen lassen.«
»In Ordnung«, willigte Lukas ein.
»Sie, Tanja, fertigen ausführliche Täterprofile an, mit denen wir die nächsten Schritte der Ukrainer voraussagen können. Und dann brauchen wir noch eine Motivationsanalyse für die Erstellung eines Gegenangebots, mit denen wir die beiden umdrehen können.«
»Ich setze mich gleich dran!«, bestätigte sie mit einem Kopfnicken.
»Die anderen stimmen die Fahndung nach den Ukrainern mit der Bundespolizei ab«, sprach Bauer nun zu seinen Agenten.
»Akustikus ist mit uns verkabelt, Chef«, bestätigten diese.
Lukas warf Frank einen fragenden Blick zu.
»Akustikus ist ein Überwachungsnetz, mit dem wir Telefongespräche und die Internetkommunikation überwachen können«, riss Bauer das Wort an sich, der das Fragezeichen in Lukas Gesicht bemerkt hatte. »Die zentrale Schaltstelle befindet sich auf einem geheimen Gelände in der Nähe von Berlin. Wir haben dort ungefähr 800 Mitarbeiter, die für die Auswertung der Daten zuständig sind. Sie können sich vorstellen, dass über 90 Prozent der Informationen völlig nutzlos sind. Datenmüll. Deshalb müssen wir bestimmte Filter einsetzen und nach Schlagwörtern suchen. Wenn wir Auffälligkeiten entdecken, untersuchen wir deren Relevanz und versuchen, den Ursprung der Nachricht zurückzuverfolgen.«
Lukas war beeindruckt und beunruhigt zugleich.
»Ist das legal?«, fragte er stutzig.
»Zunächst möchte ich Sie auf Ihre Verschwiegenheitspflicht hinweisen. Alles, was wir hier besprechen, ist geheim. Wenn Sie irgendetwas nach draußen weitergeben, droht Ihnen eine lange Haftstrafe wegen Landesverrat. Ist das klar?«, fuhr ihn Bauer streng an.
»Äh, ja natürlich!«, antwortete Lukas erschrocken.
Bauer schien für einen kurzen Augenblick bereut zu haben, so offen mit Lukas zu reden, der ja gar kein Angestellter des BNDs war. Er beruhigte sich aber schnell wieder.
»Wir bewegen uns in einer Grauzone, um auf Ihre Frage zurückzukommen. Wir sammeln die Informationen anonym. Nur wenn die Schlagwörter fallen, verfolgen wir den Anruf oder die Mail zurück«, erklärte er.
»Wenn man so etwas hört, kann man sich nur schwer vorstellen, dass ein Attentat wie in Berlin überhaupt noch stattfinden konnte«, überlegte Lukas laut. Vor zwei Jahren war ein islamistischer Terrorist auf dem Berliner Weihnachtsmarkt mit einem LKW in eine Menschenmenge gefahren und hatte 12 Leute getötet.
»Das System ist leider nicht allmächtig. Wir laufen den Tätern meistens hinterher. Wir fangen bereits losgeschickte Nachrichten ab und können dann nur noch reagieren. Den nächsten Schritt zu erahnen gehört zur Kunst der Geheimdienstaktivität. Aber glauben Sie mir, wir haben schon die zehnfache Menge an Anschlägen vereitelt, ohne dass die Öffentlichkeit überhaupt etwas davon mitbekommt«, verteidigte Frank die Technik.
Bauer schaute auf die Uhr. Er und Frank würden sich gleich mit der Bundeskanzlerin und den obersten Köpfen des BNDs, der Polizei und des Militärs treffen, um die Gesamtoperation zu koordinieren.
»Wir treffen uns um 17 Uhr hier, um unsere Ergebnisse zusammenzutragen. Danach gehen wir geschlossen zur Besprechung im Konferenzraum.«
Mit diesen Worten verabschiedeten sie sich und ließen die anderen allein. Seit über zwei Stunden sehnte Lukas diesen Moment herbei. Endlich konnte er sich mit der hübschen Fallanalytikerin unterhalten. Vielleicht würden die nächsten Tage auf dem Gelände ja doch noch etwas Abwechslung bringen. Er setzte sich zu ihr. Sie legte ihre Unterlagen beiseite und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Ich heiße Lukas!«, stellte er sich noch einmal persönlich vor.
»Angenehm. Ich bin Frau Doktor Rohte! Sie können aber auch Frau Rohte zu mir sagen«, antwortete sie und streckte ihm die Hand entgegen. Lukas schaute sie verblüfft an.
Nach einem kurzen Augenblick lachte sie laut.
»War nur ein Scherz. Ich bin Tanja. Sehr erfreut.«
Lukas grinste.
»Psychologen und ihre Art von Humor«, schmunzelte er.
»Immerhin haben wir Humor«, erwiderte sie. »Geschichtsstudenten gelten eher als Langweiler.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel!«
»Und Sie sind ... ich meine, du bist eine dieser Ausnahmen?«
»Genau.«
»Deine Slapstickeinlage war ja schon ganz nett«, sagte sie und deutete auf den Kaffeefleck auf seiner Hose.
»An der Nummer habe ich ein Jahr lang geprobt und du sagst, ganz nett?! Ich bin empört!«
Tanja lachte.
»Du hast mit Frank studiert?«
»Wir haben zusammengewohnt. Für drei Jahre. In Berlin«, korrigierte Lukas.
»Und dann?«
»Die Sehnsucht nach dem Rheinland. Familie. Freunde. Und ein Jobangebot, das ich nicht ausschlagen konnte.«
»Familie? Bist du verheiratet?«. Dabei suchte sie an seiner Hand vergeblich nach einem Ehering.
»Nein. Ich bin ungebunden. Aber meine Eltern wohnen hier in Bonn«, antwortete Lukas schnell.
»Verstehe! Ein Muttersöhnchen«, erwiderte sie frech.
»Eher ein Familienmensch«, sagte Lukas leicht gekränkt.
»Ich stamme aus Hamburg«, wechselte sie das Thema.
»Arbeitest du dort?«, wollte Lukas wissen.
»Teils, teils. Ich bin drei Tage die Woche in Berlin.«
»Und wie kommst du zu dem Vergnügen, hier zu sein?«
»Das Institut, für das ich arbeite, ist dem deutschen Staat unterstellt. Ich werde oft von Bauer in Anspruch genommen. Er hat mich heute Nacht abholen lassen und ist mit mir nach Bonn geflogen. Ich wundere mich ohnehin, dass wir nicht von Berlin aus arbeiten.«
»Das Verteidigungsministerium steht immer noch hier. Und die Terroristen haben im Video verlangt, dass sich die Bundeskanzlerin in Bonn aufhält.«
»Aber wieso Bonn? Heute hat die Stadt doch keine politische Bedeutung mehr. Berlin wäre doch das viel logischere Ziel.«
»Sie orientieren sich am ursprünglichen Plan der neunziger Jahre, als die Regierung ihren Sitz noch in Bonn hatte. Vielleicht, um ihre Identität als Roter Stern zu beweisen«, mutmaßte Lukas.
»Vielleicht.«
Für einen kurzen Moment saßen sie wortlos nebeneinander.
»Bist du das erste Mal in Bonn?«, ergriff Lukas erneut das Wort. Tanja nickte. »Vielleicht kann ich dir eine kleine Stadtführung geben, wenn wir die Krise bewältigt haben. Du scheinst dieser Stadt sehr skeptisch gegenüber zu stehen.«
Sie schmunzelte.
»Sie gehen ja ganz schön in die Vollen, Herr Professor. Kaum zwei Sätze mit der Unbekannten gewechselt und schon ein privates Treffen aushandeln wollen!«
»Ich bin nur höflich«, erwiderte Lukas.
»Sie wissen, dass ich liiert bin?« Die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben. »Aber über eine persönliche Stadtführung würde ich mich trotzdem freuen«, fügte sie schnell hinzu.
Ein Angestellter des Ministeriums unterbrach die beiden und drückte ihnen die Chipkarten in die Hand, mit denen sie Zugang zu allen Räumen einschließlich der Archive erhielten.
»Dann sollten wir uns mal an die Arbeit machen!«, schlug Tanja vor.
»Ja, das sollten wir«, antwortete Lukas traurig.
»Wir sehen uns später?«, fragte sie zum Abschied.
Lukas las Vorfreude in ihrem Gesicht. Das war keine Frage. Das war eine Bitte. Er lächelte.
»Gerne!«