Читать книгу Roter Stern - Patrick S. Narra - Страница 5

Kapitel 3

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Martin starrte wortlos auf den Bildschirm und dachte über den vergangenen Abend nach. Ein halbes Jahr war es mittlerweile her, seitdem Monika ausgezogen war. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn Paul. Ein bisschen Abstand würde ihnen guttun, hatte sie gesagt. Die Streitereien hatten am Ende überhandgenommen. Am meisten jedoch hatte Paul darunter gelitten, auch wenn sie versucht hatten, es vor ihm zu verbergen.

Dann kam der gestrige Abend und alles war anders. Sie wollten lediglich ein paar finanzielle Dinge regeln. Steuererklärung, gemeinsame Konten. Plötzlich hatten sie sich geküsst. Kurze Zeit später lagen sie nackt zusammen auf dem Sofa. Es war schön, so vertraut. Neue Hoffnung keimte auf. Dass es noch nicht zu spät war, um für ihre Beziehung zu kämpfen.

Monika war erst spät nachts in ihre Mietwohnung zurückgefahren. Wehmütig hatte Martin ihr nachgeschaut. Sie müsse über das, was passiert war, nachdenken. Dann hatte sie ihn zum Abschied zärtlich auf den Mund geküsst. Ja, es bestand noch Hoffnung.

Das Klingeln des Telefons holte ihn zurück in die graue Alltagsrealität. Er blickte auf die Uhr. Viertel nach acht. Er hatte fast zwanzig Minuten einfach so dagesessen und über seine Frau nachgedacht. Er griff zum Hörer.

»Hallo Martin. Wo warst du? Du hast das Meeting verpasst!«

Es war Bernd, einer seiner Kollegen. Die morgendliche Besprechung fand immer um acht Uhr statt. Hier wurden die Schlagzeilen der Nacht und des Tages kurz zusammengetragen und die Aufgaben an die verschiedenen Reporter verteilt. Martin selbst war seit vier Jahren Redakteur beim General Anzeiger, der wichtigsten regionalen Zeitung in Bonn.

»Ich hatte zu tun. Ich feile noch an der Sache mit dem Drogenkartell«, erklärte Martin. Vorgestern hatte die Kölner Polizei einen Drogenring hochgenommen, der für den Verkauf großer Mengen Heroin, Kokain und Amphetaminen in der Region verantwortlich war. Die Behörden vermuteten, dass auch Crystal Meth zum Sortiment gehörte. Das Labor hatten sie jedoch noch nicht aufgespürt. »War was Besonderes?«

»Nö! Wollte nur hören, ob du noch lebst«, antwortete sein Kollege.

»Mir geht es gut, danke!«, erwiderte Martin.

»Wie lief es gestern mit Monika?«

»Gut.«

»Kein Zoff?«

»Verlief alles harmonisch.«

»Kantine um halb eins?«

»Das passt mir gut.«

»Dann bis später!«

Martin legte auf und konzentrierte sich wieder auf seinen Artikel. Private Probleme durften ihn nicht von seiner Arbeit ablenken. Er war ohnehin schon im Verzug. Trotzdem drifteten seine Gedanken immer wieder zum gestrigen Abend ab.

Er stand auf und holte sich einen Kaffee. Dann ging er kurz auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. In der Ferne sah er den Posttower, einen der wenigen Wolkenkratzer der Bundesrepublik. Die Morgensonne spiegelte sich in den Fenstern und verlieh dem Gebäude einen majestätischen Glanz. Der Anblick befreite seinen Kopf. Es war schon eine lustige Tatsache, dass Bonn die Stadt mit den zweitmeisten Hochhäusern Deutschlands war. Nach Frankfurt verstand sich. Er rauchte schnell eine Zigarette, bevor er zum Schreibtisch zurückkehrte.

Erneut klingelte das Telefon. Es war sein Schwager, mit dem er trotz der Beziehungsprobleme mit Monika einen sehr engen Kontakt pflegte.

»Geliebter Schwager!«, schoss es aus dem Hörer.

»Hallo Jürgen. Was gibt’s?«

»Ich habe da was für dich!« Der Mann seiner Schwester arbeitete bei der Polizei und versorgte ihn regelmäßig mit Insiderinformationen. Martin bezahlte gut und garantierte absolute Verschwiegenheit, was die Identität seiner Informanten betraf.

»Schieß los!« Martin hatte eigentlich keine Zeit zum Telefonieren und wollte das Gespräch so kurz wie möglich halten.

»Die Zentrale hat zwei Ukrainer zur Großfahndung ausgeschrieben. Die werden deutschlandweit gesucht«, berichtete Jürgen.

»Weißt du, warum?«, hakte Martin nach.

»Das ist es ja gerade. Keine näheren Infos. Die schreiben zwar Drogen- und Bandenkriminalität, aber ich glaub das nicht. Ich hab versucht, ein paar Backgroundinformationen herauszubekommen, aber ich finde nichts. Auch meine Chefs wissen nichts Genaues. Oder sie behaupten es zumindest. Ich denke, das ist etwas Größeres.«

»Das klingt interessant. Wie heißen die beiden denn?«

»Vitali und Alexej Kulowski. Sind aber wahrscheinlich nur Decknamen, unter denen sie eingereist sind. Vor ungefähr einem Monat.«

»Vielen Dank. Ich schau mal, was ich daraus machen kann. Ich muss allerdings vorher noch eine andere Arbeit erledigen.«

»Martin, du enttäuschst mich. Denkst du nicht, ich habe mehr für dich?«, entgegnete Jürgen gekränkt.

»Spann mich nicht auf die Folter. Ich habe zu tun.«

»Das Fax kam nicht vom Polizeipräsidium.«

»Sondern?« Jetzt wurde Martin hellhörig.

»Eine Ministeriumsnummer: Verteidigungsministerium.«

»Verteidigungsministerium?«, fragte Martin skeptisch. Das passte in der Tat nicht zu Banden- und Drogenkriminalität.

»Genau«, sagte Jürgen.

»Gut. Danke.«

»Kein Problem.«

»Hast du mit Monika gesprochen?«, wollte Martin wissen.

»Heute Morgen.«

»Was hat sie gesagt?«

»Dass ihr euch gestern getroffen habt.«

»Und weiter?«

»Ich glaube, dass das zwischen euch noch nicht vorbei ist. Auch wenn es stürmische Zeiten gab, ihr liebt euch noch. Ihr solltet euch noch einmal zusammensetzen. Sucht euch einen Therapeuten. Steht euch nicht gegenseitig im Weg!«, riet ihm sein Schwager.

»Ja, vielleicht hast du Recht.«

»Ruf sie an. Sie wird sich freuen.«

»Danke Jürgen.«

»Kein Problem. Ich muss los. Frohes Schaffen noch!«

Dann legte er auf.

Ihr liebt euch noch!

Diese Wörter schossen ihm immer wieder durch den Kopf.

Es bestand noch Hoffnung!

***

Das Motorrad schoss um die Kurve und hätte beinahe eine alte Frau mit Rollator umgefahren, die fluchte und mit dem rechten Mittelfinger eine für ihr Alter erstaunlich vulgäre Geste an den Tag legte. Der Motorradfahrer schenkte ihr keine Beachtung und fuhr weiter. Er musste allerdings besser aufpassen. Einen Unfall konnte er sich nicht erlauben. Geschweige denn eine Polizeikontrolle. Auf der rechten Seite erblickte er den Dom. Es war ein prachtvolles Gebäude, auf das die Kölner zu Recht stolz waren. Sergej und er wollten die Bombe ursprünglich dort platzieren, aber ihrem Auftraggeber erschien das zu vorhersehbar. Die Behörden würden an solchen Orten zuerst suchen. Womöglich hatte er Recht. Eigentlich war Nikolaj ganz froh, dass der Dom verschont wurde. Er war zwar nicht religiös, aber das Kirchenhaus faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Was mussten die einfachen Bauern empfunden haben, die im Mittelalter nach Köln pilgerten und dieses riesige Gebäude zum ersten Mal erblickten?

Zwei Kreuzungen später bog Nikolaj ab und stellte das Motorrad vor dem Museum Ludwig ab. Er trug eine schwarze Lederkluft und einen schwarzen Helm. Ihr Freund im Verteidigungsministerium hatte ihnen bereits mitgeteilt, dass ihre Fotos an alle Polizeistationen gesendet worden waren. Deswegen hatte er sich eine Perücke aufgesetzt und einen falschen Schnurrbart aufgeklebt. Wenn man genau hinschaute, würde man ihn selbstverständlich erkennen. Aber für flüchtige Gespräche sollte es ausreichen. An falschen Identitäten mangelte es ihm nicht. Er hatte ungefähr zehn verschiedene Ausweise mitgebracht, alle digital mit einem Lebenslauf verknüpft, sodass sie auch einer oberflächlichen Überprüfung durch die Polizei standhalten würden. Er nahm den Helm ab und ging die Stufen zum Haupteingang hoch. Am Ticketschalter saß eine junge Frau, die ihn freundlich anlächelte.

»Ein Tagesticket bitte«, sagte Nikolaj schroff.

»Das macht zwölf Euro!«

Nikolaj reichte ihr das Geld und steckte das Ticket in die Hosentasche.

»Den Helm und den Rucksack müssen Sie bitte an der Garderobe abgeben«, ermahnte ihn die Frau.

»Wo finde ich die?«

»Vorne rechts«, antwortete sie und zeigte in die andere Ecke der Eingangshalle.

»Danke«, erwiderte Nikolaj und lief zur Garderobe, um alles abzugeben. Dann ging er in den Ausstellungstrakt und begab sich auf die Suche nach der Toilette. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er allein war, streifte er die Motorradkluft herunter und steckte alles in eine Plastiktüte. Er schloss die Kabine von außen mit einer Münze ab und betrachtete sich im Spiegel. Die Mitarbeiteruniform des Museums war durch die enge Motorradhose zwar etwas zerknittert worden, aber das würde nicht auffallen. Geschwind verließ er die Toilette und begab sich in den dritten Stock. Dabei vermied er jeglichen Augenkontakt mit anderen Besuchern. Er hatte in seiner Zeit als Agent gelernt sich wie ein Geist zu bewegen, ohne unnötig aufzufallen.

Das Museum war weitläufig, aber er musste nicht lange suchen, bis er sich im richtigen Saal befand. Sie waren die Gebäudepläne etliche Male zu Hause durchgegangen. Er hätte den Weg auch mit geschlossenen Augen gefunden. Es war ein separater Trakt mit nur einem Eingang. In der Mitte stand ein gewaltiges Gebilde, bestimmt vier Meter hoch, schwarz. Eine Schulklasse stand davor und inspizierte das Kunstobjekt. Während die Lehrerin Fragen stellte und einige wenige Schüler sich meldeten, beschäftigte sich die Mehrzahl vornehmlich mit dem anderen Geschlecht und weniger mit dem Lehrmaterial. Nikolaj dachte an seine Schulzeit in der Ukraine zurück. Museumsbesuche hatten da nicht zum Lehrplan gehört. Einmal nur hatten sie eine Klassenfahrt nach Kiew unternommen, um den Glanz des kommunistischen Regimes kennenzulernen. Propaganda fing damals schon im Kindesalter an.

In einer Ecke saß eine Museumsmitarbeiterin in den Fünfzigern und passte auf, dass die Jugendlichen das Kunstobjekt nicht berührten. Sie träumte mehr, als dass sie aufpasste, aber der Beruf war eben nicht durch außerordentliche Spannung geprägt. Er näherte sich ihr und sprach sie an.

»Elke?«

Die Frau schaute hoch und nickte verwundert.

»Ja?«

»Ich bin Nick. Ich bin neu hier. Ich soll Sie ablösen. Ihre Mutter wurde in die Uniklinik eingeliefert. Sieht nicht gut aus. Sie sollten schnell hinfahren. Der Chef schickt mich.«

»Meine Mutter? Was ist mit ihr?«, fragte Elke besorgt.

»Sie hat schlecht Luft bekommen. Das Heim hat gerade angerufen.«

»Oh Gott. Wie schlimm ist es?«

»Ich weiß nichts Genaues, aber der Notarzt hat sie ins Krankenhaus gefahren«, berichtete Nikolaj ungeduldig.

Elkes Gesicht war den Tränen nahe. Zunächst schien die Meldung sie in eine Schockstarre versetzt zu haben, aber schließlich begriff sie, dass dieser Nick sie ablösen sollte, damit sie in die Klinik fahren konnte.

»Hier, das Funkgerät«, stotterte sie. »Wurden Sie schon eingewiesen?«

»Danke, man hat mir alles erklärt«, erwiderte Nikolaj und nahm ihr das Gerät aus der Hand. Ihr Auftraggeber hatte ihnen vorher alle notwendigen Informationen über die Museumsmitarbeiter gegeben. Familienstand, Angehörige, Lebenssituation. Elke war eines der leichteren Opfer. Ledig, naiv und in ständiger Sorge um ihre Mutter, die ihren einzigen Bezugspunkt darstellte. Nikolaj musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Das Schicksal hätte es nicht besser meinen können.

»Vielen Dank, Nick.«

Mehr ging nicht. Sie fing an, zu weinen. Nikolaj hasste weinende Menschen. Für solche emotionalen Extremsituationen fehlte es ihm an Empathie, aber jetzt musste er sich zusammenreißen, damit Elke so schnell wie möglich aus diesem Raum verschwand. Widerwillig legte er seinen Arm um ihre Schulter und tätschelte ihre Hand.

»Am besten Sie gehen jetzt. Ich mach das hier schon.«

Elke nickte und verließ den Raum. Dabei bedankte sie sich immer wieder und versprach, Nick für sein Engagement zum Essen einzuladen. Bei dem Gedanken, mit dieser Frau auszugehen, drehte sich Nikolajs Magen um. Sie war fett und roch nach Schweiß. Einige Jugendliche blickten belustigt herüber.

»Was gibt es da zu lachen?!«, fuhr Nikolaj sie an, woraufhin die Jungs und Mädels sich erschrocken umdrehten. Scheißkinder, dachte Nikolaj.

Nach zehn Minuten beendete die Lehrerin endlich ihren Vortrag und die Schulklasse folgte ihr in den nächsten Saal. Nikolaj lief zum Eingang und stellte zwei goldene Sockel mit einem Absperrseil auf, damit ihn niemand störte. Dann näherte er sich dem Kunstgebilde.

»Die Seele der Menschheit von Emanuel Sanchez«, stand auf einem kleinen weißen Schild geschrieben. Nikolaj grinste. Wenn das die Seele der Menschheit war, dann konnten sie alle nur noch beten.

Er holte einen Schlüssel aus der Hosentasche und suchte die Rückseite der Skulptur gründlich ab. Endlich fand er, wonach er suchte. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete eine mannshohe Tür, die kaum zu sehen war, wenn man sie nicht dort vermutete. Das Innere des Objekts war hohl. Inmitten dieser Struktur schaute ihn ein zwei Meter großer Kasten an, der mit einem dicken Schloss verriegelt war. Auch für dieses hatte er den richtigen Schlüssel dabei und entriegelte die Klappe.

Obwohl aktuell keine Gefahr von diesem Objekt ausging, verspürte er ein ziemliches Unbehagen. Immerhin standen ihm hier mehrere Kilogramm spaltbares Uran gegenüber, das das gesamte Gebäude dem Erdboden gleichmachen konnte.

Heute Morgen hatte Sergej bei den letzten Checks bemerkt, dass das Signal der Kölner Bombe ausgefallen war. Es war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als persönlich nachzuschauen. Ein Fehler, der ihnen nicht unterlaufen durfte. Ihrem Auftraggeber hatten sie nichts davon erzählt, um keine unnötige Standpauke zu kassieren.

Jetzt stand er hier und untersuchte den Funkmechanismus. In der Tat hatte sich die Antenne samt Kabel aus dem Gerät gelöst. Das Funksignal konnte gar nicht mehr empfangen werden. So eine Schlamperei. Sergej hatte alles schnell erledigen wollen und dabei die Gründlichkeit links liegen gelassen. Nikolaj befestigte die Antenne rasch wieder an der richtigen Stelle und sicherte sie zusätzlich mit einem Draht und etwas Sekundenkleber. Das sollte für ihren Zweck genügen. Vorsichtig schloss er die Klappe und verriegelte die Außentür. Dann schaute er sich um. Keine unerwünschten Besucher.

Schnell bewegte er sich zum Ausgang und stellte die Absperrung beiseite. Dann eilte er zur Toilette zurück, in der er seine Wechselklamotten abgestellt hatte. Den anderen Museumsmitarbeitern nickte er auf dem Weg selbstbewusst zu, so als ob alles seine Ordnung hätte. Sie machten sich nichts draus. Es war ihnen wahrscheinlich egal. Sie wurden nicht dafür bezahlt, sich Gedanken zu machen.

In der Toilette wechselte er seine Klamotten und verließ das Klo wieder als Motorradfahrer. Er ging zügig zur Garderobe, um seinen Helm und seinen Rucksack abzuholen, und verließ das Museum durch den gegenüberliegenden Ausgang. Die junge Frau am Ticketschalter tratschte mit ihrer Kollegin und bemerkte ihn nicht. Besser so. Sonst hätte er sich noch eine Ausrede für die kurze Besuchszeit einfallen lassen müssen.

Als er die Treppe vor dem Museum erreicht hatte, stockte ihm der Atem. Sein Motorrad lag auf dem Boden. Daneben eine junge Frau mit zwei Kleinkindern. Sie hatte beim Parken mit ihrem Auto die Maschine touchiert und umgeworfen. Das allein wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn sie nicht die Polizei informiert hätte und zwei Beamte den Unfall nun aufnahmen.

Die Frau hatte ihn schon entdeckt. Er konnte jetzt nicht einfach weglaufen. Wenn ihn die Polizisten aber erkannten, konnte es brenzlig werden. Er wollte seine Waffe nicht benutzen. Jegliche Aufmerksamkeit war in so einer heißen Phase der Operation gefährlich.

»Ist das Ihr Motorrad?«, fragte die weibliche Polizistin.

Nikolaj zögerte.

»Äh, ja?«

»Es tut mir schrecklich leid«, schluchzte die Unfallverursacherin. »Die Kinder waren am schreien, ich habe nicht aufgepasst. Entschuldigung! Das war keine Absicht.«

»Ist ja gut«, beruhigte sie die Polizistin. »Sie haben richtig gehandelt und uns direkt angerufen.«

Sie hätte lieber besser aufpassen sollen! Von wegen alles richtig gemacht! Jetzt hatte sie sich unwissend in eine lebensgefährliche Lage gebracht. Nikolaj näherte sich den Beamten. Vorsichtshalber legte er die Hand auf seine Waffe, die griffbereit hinten in der Hose steckte, und entsicherte sie.

»Sorry, aber ich bin wirklich in Eile. Ich regle das mit der netten Dame. Ich verzichte auf eine Anzeige.«

»Der Unfall ist bereits aufgenommen. Wir bräuchten nur noch Ihren Ausweis, Führerschein und die Fahrzeugpapiere.«

Schlimmer konnte es kaum kommen. Nikolaj kramte in seiner Hosentasche und reichte ihr die Dokumente.

»Andrej Polotz. Aus Russland?«, erkundigten sich die Beamten.

»Ja«, bestätigte Nikolaj die falsche Identität.

»Wir checken das mit unserer Zentrale gegen. Einen Augenblick.«

»Es tut mir wirklich leid«, rief die junge Mutter. Schon wieder eine weinende Frau. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm.

»Es ist doch nichts passiert«, erwiderte er und hob die Maschine hoch. »Nur ein Blechschaden, sehen Sie? Das regeln unsere Versicherungen und dann ist alles gut.« Ein Scheiß war alles gut! Das Motorrad war völlig demoliert. Unter normalen Umständen hätte er den Unfallgegner zur Schnecke gemacht. Schon allein dafür hätte er gerne die Pistole benutzt. Aber er zwang sich zur Contenance.

Warum brauchten die Polizisten so lange? Hatten sie ihn durchschaut? Musste er fliehen? Mit der rechten Hand umgriff er erneut die Waffe, die er jetzt unter der Jacke versteckt hielt. Sicherheitshalber drehte er die Maschine in Richtung Straße und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

Schließlich kam die Polizistin zurück und überreichte ihm die Papiere.

»Alles in Ordnung, Herr Polotz. Der Unfall ist aufgenommen. Hier die Kopien des Unfallberichts.«

»Danke.«

»Und Sie passen das nächste Mal ein bisschen besser auf, Frau Schlüter!«, ermahnte der männliche Beamte die Unfallverursacherin.

»Ja, auf jeden Fall!«, versprach die Frau mit heftigem Nicken.

»Gut, dann wäre ja alles geklärt«, sagte Nikolaj. »Ich muss jetzt wirklich los.«

Er zog seinen Rucksack über und setzte sich auf die Maschine. Dann drehte er den Zündschlüssel um. Das Brummen des Motors ließ ihn aufatmen. Immerhin kein Motorschaden.

»Tschüss. Einen schönen Tag noch!«, sagte er und schloss das schwarz getönte Visier seines Helms. Er spielte noch zweimal mit dem Gashebel und fuhr schließlich mit lautem Getöse fort. Glück gehabt, dachte er und trat erleichtert den Heimweg an.

***

»Sag mal, fandst du das nicht seltsam?«, fragte die junge Beamtin ihren Partner, als sie sich in den Wagen setzten.

»Was denn?«

»Der Typ ist einfach weggefahren, ohne die Personalien der Unfallgegnerin zu notieren. Oder die Versicherungsdetails. Merkwürdig, oder?«

»Steht doch alles im Unfallbericht, den du ihm gegeben hast. In Köln laufen viele Verrückte herum. Damit musst du dich abfinden. Ist nicht alles so geordnet wie bei euch in Münster.« Der Polizist grinste und stellte den Radiosender um. »Im Radio läuft immer dieselbe Scheiße. Ich könnte mich jedes Mal darüber aufregen«, fluchte er. Die junge Kollegin ließ nicht locker.

»Etwas stört mich dennoch. Der war nicht einfach nur schräg. Der hatte es eilig. Und er war nicht erfreut, uns zu sehen.«

»Ich wäre auch nicht erfreut gewesen an seiner Stelle. Hast du die Maschine gesehen?«

»Das ist auch noch so eine Sache. Das Motorrad hatte einen riesigen Schaden. Aber er hat das als Lappalie abgetan.«

»Barbara, geh mir nicht auf die Nerven. Lass mich dir eines raten: Wenn du ein angenehmes Leben als Streifenpolizistin in Köln verbringen möchtest, dann lass manche Dinge einfach jut sein.«

Plötzlich dämmerte ihr etwas. Sie kramte nach den Fotos, die sie vor einer Stunde von der Zentrale bekommen hatten. Zwei Männer wurden gesucht. Zwei Ukrainer, keine Russen. Und es waren andere Namen. Außerdem sahen sie ganz anders aus als der Mann mit dem Motorrad. Und es wäre schon ein krasser Zufall gewesen, wenn ausgerechnet einer dieser Männer ihnen bei einem Verkehrsunfall in die Arme laufen würde. Vermutlich hatte ihr Kollege Recht. Manchmal musste man Dinge gut sein lassen.

»Komm, wir holen uns jetzt ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Es ist elf Uhr und ich habe Hunger«, sagte der Beamte auf dem Beifahrersitz.

Barbara grinste. Sie legte das Foto von Nikolaj wieder auf den Rücksitz und machte den Motor an. Sie schaute noch ein letztes Mal darauf, schüttelte aber den Kopf und fuhr los.

***

Am Nachmittag saß das Team wieder beisammen, um die Fortschritte der Ermittlungen zusammenzutragen. Tanja begann damit, die Täterprofile vorzustellen, die sie am Nachmittag erstellt hatte. Sergej und Nikolaj hatten eine beachtliche Karriere in der russischen Mafia hingelegt. Sie waren professionelle Auftragskiller geworden, ohne dass sie einer bestimmten Familie verpflichtet waren. Mindestens 30 Morde wurden ihnen zugeschrieben. Wahrscheinlich waren es viel mehr, denn sie zeichneten sich dadurch aus, ihre Spuren gut zu verwischen. Der russische Geheimdienst hatte mehrfach versucht, sie über die Geldwege zu überführen. Es wurden zwar oft Geldausgänge bei den Auftraggebern nachgewiesen, aber dann löste sich das Geld förmlich in Luft auf, sodass man die Transaktionen nie bis zu den beiden Brüdern nachverfolgen konnte. Tanja schätzte, dass sie mittlerweile genug Geld verdient hatten, um sich problemlos zur Ruhe zu setzen. Wahrscheinlich trieb sie der Kick an, den sie während ihrer Arbeit verspürten. Möglicherweise konnte dies ihr letzter großer Coup werden, bevor sie sich aus dem aktiven Geschäft zurückzogen. Die Russen verdächtigten sie, auch vor der Liquidierung ehemaliger Mitglieder des Roten Sterns keinen Halt gemacht zu haben, solange die Bezahlung stimmte. Das bestätigte Tanjas ursprünglichen Verdacht, dass sie käuflich waren und man sie mit einem angemessenen Angebot vielleicht umdrehen konnte.

Lukas hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Schlafmangel, der Alkohol des Vorabends sowie der Tag im Archiv zehrten an seinen Kräften. Genau wie Tanja hatte auch er mehrere Stunden am Computer verbracht und Nachforschungen über den Roten Stern angestellt. Die Informationen, die er gesammelt hatte, brachten die Ermittlungen jedoch nicht sonderlich nach vorne. Er hätte am liebsten einfach geschlafen, aber das war natürlich keine Option. Also zwang er sich wach zu bleiben. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er kurzzeitig einnickte. Er wechselte mehrfach die Sitzposition, atmete tief ein und aus, rieb sich die Augen. Aber all das machte ihn nicht wacher. Er sehnte sich nach dem Ende der Besprechung.

»Sie werden jetzt keine unnötigen Risiken eingehen und sich bedeckt halten. In dieser Phase der Operation werden sie ihr Versteck nur dann verlassen, wenn dies unbedingt erforderlich ist«, beendete Tanja ihren Bericht. Bauer bedankte sich bei ihr und übernahm das Wort.

»Wir haben die ersten Stunden der Ukrainer auf deutschem Boden rekonstruiert«, erzählte er. »Auf den Überwachungskameras des Flughafens erkennt man die beiden, wie sie zwei große Rollkoffer hinter sich herziehen. Da sie die Gepäckkontrollen ungehindert passiert haben, nehmen wir an, dass sie die Bomben auf andere Wege ins Land geschmuggelt haben. Danach sieht man, wie sie sich zum Parkplatz P2 begeben und in einen schwarzen Dreier BMW einsteigen.«

Bauer klickte auf die nächste Folie der Powerpoint-Präsentation.

»Das Auto stand bereits im Parkhaus. Wir sind dabei herauszufinden, wer es dort abgestellt hat. Das Kennzeichen führt zu einer Mietwagengesellschaft. Das Auto wurde mit einer gehackten Kreditkarte gebucht. Wir haben mit der Firma telefoniert. Der Wagen ist seitdem spurlos verschwunden. Sie haben bereits eine Anzeige aufgegeben, aber die Polizei hat das Fahrzeug bisher nicht gefunden. Nach dem Verlassen des Flughafengeländes wurde das Auto noch von zwei Verkehrsüberwachungskameras aufgenommen. Danach nichts mehr. Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Also sind die Ukrainer untergetaucht«, schlussfolgerte Frank.

»Wir wissen noch nicht einmal, in welcher Stadt sie sich aufhalten«, sagte Bauer weiter. Das klang ziemlich entmutigend, wie Lukas fand. »Die Fahndung hat bisher noch nichts ergeben. Die Fotos sind allerdings auch erst heute Morgen an die Polizeistellen gesendet worden.«

»Wie kommen wir mit den taktischen Stadtanalysen voran?«, wollte Frank wissen.

Zwei Männer aus den vorderen Reihen erhoben sich und nahmen den Laserpointer von Bauer entgegen. Der kleinere der Beiden steckte einen USB-Stick in den Laptop und startete die Präsentation.

»Wir haben in den sechs Städten Ziele von besonderer politischer oder symbolischer Bedeutung herausgefiltert«, erklärten sie und klickten sich durch die Powerpoint-Folien, die verschiedene Kartenausschnitte der betroffenen Städte zeigten. Lukas erkannte die berühmten Wahrzeichen wie den Kölner Dom, das Stuttgarter Schloss, das Hamburger und Bonner Rathaus. Es folgten Brücken, Fernsehtürme, Kirchen. Eine Vielzahl an Gebäuden, die eine nähere Inspektion verdienten. »Diese Orte sollten wir uns auf jeden Fall genauer ansehen. Aber die Terroristen könnten die Bomben überall deponiert haben.«

Es folgten weitere Folien. Lukas Kopf fiel mit Wucht gegen seine Brust. Erschrocken blickte er sich um. Er war kurz eingeschlafen, aber scheinbar war es niemandem aufgefallen. Er konzentrierte sich wieder auf die beiden Männer, die den Vortrag hielten. Die aktuellen Folien sortierten die Stadtbezirke nach möglichen Opferzahlen.

»Wenn man diese verschiedenen Faktoren zusammen betrachtet, ergeben sich bestimmte rote Zonen, in denen unsere Terroristen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Bomben platziert haben werden«, hörte er die Männer sagen. Lukas schaute auf die rot umrandeten Bezirke. Es waren große Bereiche. Auch dort gab es tausende Versteckmöglichkeiten. Wie sollten sie auf gut Glück dort die Bomben aufspüren?

»Gut«, übernahm Bauer wieder die Regie. »Wir bilden Einsatzteams, die die Bereiche absuchen. Seit heute Nachmittag untersuchen bereits Spezialkräfte die Städte auf radioaktive Strahlung. Herr Neefe, haben Sie etwas für uns?«

Lukas hörte nur seinen Namen und öffnete die Augen. Dreißig Augenpaare starrten ihn an. Im Raum herrschte eine erwartungsvolle Stille. Vorne stand Bauer, der ihn ebenfalls fragend anschaute. Mist! Er war schon wieder weggenickt. Er versuchte, sich an Bauers Frage zu erinnern. Vielleicht war sie im Unterbewusstsein ja zu ihm gedrungen. Nichts. Gähnende Leere. Wie lange hatte er gedöst? An die Folie, die er auf der Leinwand sah, konnte er sich noch erinnern. Aber die beiden Männer, die die Stadtanalyse vorgestellt hatten, saßen wieder auf ihren Plätzen. So langsam musste er etwas sagen, sonst würde es peinlich. Es gab eigentlich nur einen Grund, warum die Aufmerksamkeit plötzlich auf ihn gerichtet war. Sie wollten seine Ergebnisse hören. Er riskierte es und stand auf.

Auf dem Weg nach vorne gewann er schnell an Sicherheit. Er steckte den USB-Stick in den Laptop und startete seinen kurzen Vortrag.

»Vielen Dank!«, begann er. »Ich habe leider keine Neuigkeiten herausgefunden, die uns den Bomben näherbringen würden. Frau Rohte hat bereits die wichtigsten Dinge zusammengefasst. Bisher wissen wir ja nicht, ob nicht auch andere Mitglieder des Roten Sterns involviert sind.«

Er blickte zu Bauer und Frank herüber. Sie wirkten nicht überrascht oder verwundert. Also hatte Lukas richtig gelegen. Er sollte erzählen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Seine Stimme nahm jetzt einen noch selbstbewussteren Ton an.

»Die Terrorgruppe hat über 20 Jahre nichts von sich hören lassen«, sagte Lukas weiter. »Ich frage mich, warum sie plötzlich wieder aus dem Nichts auftaucht. Ich finde das seltsam und meiner Meinung nach passt das nicht zusammen. Da stecken andere Beweggründe dahinter, die mir aber noch nicht klar sind.«

Er klickte auf die nächste Folie. In roter Farbe leuchtete das Datum des Ultimatums. Der 9. Mai.

»Dann dieses Datum«, erklärte Lukas. »Wissen Sie, wofür dieses Datum steht?«

Er legte eine rhetorische Pause ein und blickte in die Runde. Die Anwesenden schauten ihn erwartungsvoll an.

»Es ist der Tag, an dem die Deutschen vor Russland im zweiten Weltkrieg kapituliert haben. Ein symbolträchtiges Datum. Der zweite Weltkrieg hat immer noch bleibende Spuren in der russischen Seele hinterlassen. Auch heute nach mehr als 60 Jahren. Wer sich so einen Tag als Ultimatum aussucht, der möchte nicht, dass Deutschland die Forderungen erfüllt. Der Rote Stern bezweckt genau das Gegenteil. Die Terroristen werden die Bomben zünden. Wie ein Feuerwerk zu Ehren derjenigen, die damals ihr Leben für die Sowjetunion gelassen haben. Als Racheakt. Mit deutschen Opfern. Hier sind Strippenzieher im Hintergrund tätig, die Deutschland immer noch als Feindbild sehen und Russland zu alter Stärke zurückführen möchten. Sie identifizieren sich also mit den Zielen der ursprünglichen Terrorgruppe. Damit drücken sie aus, dass sie es ernst meinen.«

Lukas war jetzt voll in seinem Element. Jegliche Müdigkeit war mit einem Mal verflogen. Er liebte es, vor Menschen zu sprechen. Zu seinem Bedauern musste er jedoch feststellen, dass er bereits am Ende seines Vortrags angelangt war.

»Diese Einschätzung ist zwar nicht sehr beruhigend«, übernahm Bauer wieder das Wort, »aber es ändert nichts an unserer Taktik, denn die Bundesregierung wird sich so oder so nicht auf die Forderungen der Terroristen einlassen. Der Staat würde sich in diesem Fall erpressbar machen. Wir alle wissen, dass das keine Option ist. Daher gehört es zu unserer Aufgabe, die Bomben zu finden, bevor sie gezündet werden. Danke, Herr Neefe.«

Lukas nickte und begab sich zurück an seinen Platz.

»Gibt es noch Anregungen?«, fragte Bauer in die Runde.

Tanja hob den Arm.

»Um die Ukrainer zu finden, müssten wir sie aus ihrem Versteck locken.«

»Sie meinen, ihnen eine Falle stellen?«, ergänzte Frank.

»Genau. Das sind Profis. Die werden keine Fehler machen. Man muss sie also zu Fehlern zwingen«, erklärte sie.

»Das ist ein guter Ansatz«, lobte Bauer den Einwurf. »Hat jemand Vorschläge, wie man dies erreichen könnte?«

Das Plenum blieb still. Lukas strengte sein Gehirn an, aber auch ihm fiel nichts ein. Bauer merkte, dass er heute keine Fortschritte mehr erwarten durfte. Also beendete er die Besprechung.

»Jeder macht sich bitte Gedanken darüber, wie man die Petrov-Brüder aus ihrer Deckung locken könnte. Nächstes Meeting morgen früh um fünf für alle.«

Lukas packte seine Sachen und verließ das stickige Zimmer. Auch der Rest des Auditoriums schien erleichtert darüber, dass das Treffen vorbei war. Im Flur wartete er auf Tanja, die ihn wenige Augenblicke später erreichte. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie Lukas sah. Mein Gott, sah diese Frau gut aus! Lukas konnte die Augen nicht von ihr lassen. Es kam ihm vor, als würden sie sich schon seit Jahren kennen, dabei hatten sie sich erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen.

»Du siehst aus wie abgestellt und nicht abgeholt«, begrüßte sie ihn.

»Wieso? Du bist doch jetzt da«, erwiderte er mit einem verschmitzten Grinsen. Sie lachte.

»Ich habe keine Paketmarke bekommen.«

»Dann muss ich wohl weiter hier stehen bleiben«, antwortete Lukas und zog eine Schnute.

»Wir können ja einfach so tun, als ob ich sie doch hätte. Dann könnten wir in die Mensa gehen. Ich habe einen mordsmäßigen Hunger.« Auch Lukas Magen machte sich bemerkbar. Seit der Morgenbesprechung hatte er zwar literweise Kaffee zu sich genommen, aber für ein richtiges Essen war keine Zeit gewesen.

»Hast du einen Tisch reserviert?«, fragte er.

»Klar! Letzte Woche schon, als ich in meiner Glaskugel gesehen habe, dass ich dich kennenlernen würde. Habe ein Zweiertisch am Kamin bestellt. Zusammen mit dem romantischen Dinner und dem Aperitif für Frischverliebte. So, wie du es magst.«

»Ich stehe mehr auf rauchige Whiskeys, aber na gut.«

»Die sollen auch eine sehr gute Bar haben. Donnerstags ist immer Jazzabend«, fügte sie hinzu.

»Schade, dass heute Montag ist!«

»Genug gescherzt. Ich habe wirklich Hunger. Wenn du nicht willst, dass ich gleich jemanden erwürge, sollten wir uns zur Cafeteria begeben. Ich habe nur ein kurzes Zeitfenster, in dem mein Gemüt von leicht hungrig und nett zu zickig und aggressiv wechselt«, beendete Tanja die Witzelei. Lukas wollte das lieber nicht riskieren, also schlugen sie den Weg ins Erdgeschoss ein, wo in einem Raum Tische, Stühle und ein kleines Büffet aufgestellt worden waren. Üppig war es nicht. Es gab Gulaschsuppe, Aufschnitt und Brot. In der hinteren Ecke stand eine kleine Salatbar. Jamie Oliver wäre in Tränen ausgebrochen.

»Wie konntest du nur in so einer Kaschemme reservieren?«, fragte Lukas. Tanja grinste.

»War das einzige Restaurant weit und breit.«

Sie füllten sich ihre Teller und nahmen an einem der vielen Tische Platz. Acht andere Personen hatten dieselbe Idee gehabt. Es herrschte eine unangenehme Stille. Lukas versuchte, das Beste aus der angespannten Situation zu machen, und genoss die Zeit, die er mit Tanja verbringen durfte, weit weg von Besprechungen, Bomben und Terroristen. So, als ob sie sich in der Mensa der Universität getroffen hätten. Ungezwungen. Aber so war es leider nicht. Kurze Zeit später platzte Bauer herein und bat Tanja, ihnen bei der Fahndung von den Petrov-Brüdern behilflich zu sein. Sie nickte und verabschiedete sich mit einem gequälten Lächeln von Lukas, der jetzt allein beim Candle-Light Dinner verblieb. Er konnte nicht sagen, ob es der Hunger war, oder ob die Gulaschsuppe wirklich so gut war. Er stand auf und holte sich eine zweite Portion. Nach dem Essen verließ er die Cafeteria und ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen.

***

Martin wartete jetzt schon seit dreißig Minuten auf seinen Freund. Montags war er um 20 Uhr immer mit Lukas am alten Zoll verabredet, um bei einem frisch gezapften Kölsch den Feierabend einzuleiten. Der alte Zoll war ein Biergarten am Rhein, in dem die Bonner Bürger im Sommer gerne ihre Freizeit verbrachten. Eine über hundert Jahre alte Platane dominierte den Platz und spendete Schatten. Von hier aus genoss man eine traumhafte Sicht auf den Fluss und das Siebengebirge.

Lukas ließ heute jedoch auf sich warten. Er hatte weder abgesagt, noch ging er an sein Handy. Das war ungewöhnlich für ihn. Martin hatte mehrfach versucht, Lukas Sekretärin zu erreichen, aber die war um diese Uhrzeit nicht mehr im Büro.

Um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen, wählte er Monikas Nummer. Es tutete lange, ohne dass etwas passierte. Er wollte schon auflegen, aber dann ertönte ihre Stimme. Sein Herz schlug sofort schneller.

»Hallo Martin!«

»Hallo.«

»Wo bist du?«

»Ich bin am alten Zoll.«

»Stimmt, heute ist Montag.«

»Ja, aber Lukas ist nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich ist etwas dazwischengekommen«, erzählte Martin traurig.

»Oh, das ist ja schade.«

»Ich wollte dir sagen, dass das sehr schön war, gestern, mit dir«, führte Martin das Gespräch auf den Abend zurück.

»Fand ich auch«, hörte er sie sagen.

»Meinst du, wir haben noch eine Chance?«, fragte er hoffnungsvoll.

Sie schwieg eine Weile.

»Das hoffe ich.«

Für einige Augenblicke hielten beide inne.

»Wie geht es Paul?«, unterbrach Martin die Stille.

»Gut. Er ist bei einem Freund.«

»Bist du allein?«

»Ja. Ich bin gerade von der Arbeit nach Hause gekommen.«

»Sollen wir uns treffen?« Martin bereute sofort, diese Frage gestellt zu haben.

»Wir sollten es nicht überstürzen. Wir können das vergangene Jahr nicht mit einer einzigen Nacht ungeschehen machen«, erwiderte Monika.

»Tut mir leid. Das war unüberlegt!«, entschuldigte sich Martin.

»Aber wir sollten uns noch einmal treffen und reden«, fügte sie hinzu.

»Das ist eine gute Idee.« Martin machte eine Pause. Er wollte seine Gefühle nicht einfach so unterdrücken, also sprach er es aus. »Du fehlst mir!« Er hörte, wie sie schluchzte.

»Du mir auch«, entgegnete sie. »Und Paul vermisst dich auch.« Auch Martin lief jetzt eine Träne über die Wange.

»Gib ihm einen Kuss von mir. Sag ihm, ich melde mich morgen.«

»In Ordnung.«

»Rufst du mich nach der Arbeit an? Dann können wir was verabreden.«

»Mach ich.«

»Wünsche dir noch einen schönen Abend.«

»Ich dir auch.«

Dann legten sie auf. Martin trank das Bier leer und bezahlte. Als er gerade im Begriff war zu gehen, entdeckte er an einem anderen Tisch zwei Assistenten aus Lukas Fakultät. Vielleicht wussten die ja, wo er abgeblieben war. Er schlenderte zu den beiden Männern herüber und grüßte freundlich. Sie kannten sich von den legendären Sommerpartys, die Lukas jedes Jahr im August in seiner Wohnung ausrichtete. Martin besuchte schon lange keine Diskotheken mehr, aber dieses Ereignis ließ er sich nie entgehen.

»Hallo«, begrüßte er die beiden, die seinen Gruß freundlich erwiderten. »Wisst ihr, ob Lukas heute auf der Arbeit war? Ich bin mit ihm verabredet, aber er ist nicht gekommen.«

»Er war heute nicht in der Uni«, antwortete der mit der Halbglatze. »Die Sekretärin meinte, er müsse heute etwas für ein Ministerium erledigen.«

»Für ein Ministerium?«, fragte Martin verdutzt.

»Ich glaube, fürs Verteidigungsministerium. Aber mehr weiß ich auch nicht.«

»Okay, danke.«

Martin verabschiedete sich und verließ den Biergarten. War das ein Zufall? Oder hatte das irgendetwas mit diesen Ukrainern zu tun, die auf der Fahndungsliste standen? Lukas wurde des Öfteren als Berater von verschiedenen Instituten eingesetzt. Er hatte sogar Aufträge in Russland, den USA und Japan angenommen. Er genoss ein hohes Ansehen in internationalen Kreisen. Martin versuchte noch einmal, Lukas übers Handy zu erreichen, aber es antwortete lediglich die Mailbox.

»Ruf mich zurück! Ist dringend!«, sprach er und legte auf.

Hoffentlich war ihm nichts passiert. Mittlerweile war es halb zehn. Wirklich ungewöhnlich. Vielleicht hatte er ein unerwartetes Date? Da er nichts an der Situation ändern konnte, beschloss er, den restlichen Abend auf der Couch zu verbringen. In der Küche stand eine Flasche Merlot bereit, die er vorgestern bei einem Film geöffnet, aber nicht leer getrunken hatte. Zufrieden mit dieser Aussicht ging er zu seinem Motorrad und fuhr nach Hause.

***

Lukas wälzte sich mehrfach hin und her. Die Matratze war völlig durchgelegen und erinnerte seinen Körper daran, dass der Bandscheibenvorfall vom letzten Herbst noch nicht verheilt war. Da Frank ihm verboten hatte, zu Hause zu übernachten, hatte man ihm ein Zimmer in einer der vielen Kasernen des Verteidigungsministeriums bereitgestellt. Jeder, der in diese Operation involviert war, hatte einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt bekommen. Er war jedoch immer noch viel zu aufgewühlt von den Ereignissen des Tages und konnte nicht schlafen.

Lukas schaute aufs Handy. Halb zwölf. Er war müde, aber sein Geist ließ ihn nicht in Ruhe. Je mehr er sich über diesen Zustand aufregte, desto wacher wurde er. Es war ein Teufelskreis, den er auf diese Weise nicht durchbrechen konnte. Also versuchte er, sich zu beruhigen. Er hatte nach dem Essen einen kleinen Spaziergang auf dem Ministeriumsgelände gemacht. Es war eine sternklare Nacht und die frische Luft hatte gutgetan. Schließlich hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen, da er sich sonst nirgends nützlich machen konnte. Er befürchtete, dass eine qualvolle Woche bevorstand, in der er zwar anwesend sein musste, aber nicht viel beisteuern konnte. Nach einer weiteren Stunde fielen ihm endlich die Augen zu. Auch wenn die Nacht alles andere als erholsam war.

Roter Stern

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