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Kapitel 1 – Utopia

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Unsere äußeren Schicksale interessieren die Menschen, die inneren nur den Freund.“ Heinrich von Kleist

Gelandet. Das Ende einer langen Reise und zugleich der Beginn eines neuen Abenteuers. Nach knapp 20 Stunden Flug mit Zwischenstopp in Kuala Lumpur, 11.000 zurückgelegten Kilometern erreichten wir Bali. Das perfekte Fluchtziel aus dem kalten und verschneiten deutschen Winter.

Wir, das waren außer mir mein Vater, seine Partnerin und deren Tochter – seine etwas „andere“ Patchworkfamilie.

Für diese Reise hatte ich im Vorfeld harte Grabenkämpfe durchfochten, da die Lebensgefährtin meines Vaters, eine chinesische Chirurgin, ihn nicht mit mir alleine verreisen lassen wollte.

So erreichten wir letztendlich nach zähen Friedensgesprächen zu einem Kompromiss: Ich zahlte einen Teil ihrer Reisekosten und sie kam mitsamt ihrer Tochter mit nach Bali.

Es war der erste Flug in meinem Leben und dann gleich solch eine Odyssee. Das passte zu mir, frei nach dem Motto: wennschon, dennschon.

Ein tief greifendes Erlebnis nur wenige Monate zuvor hatte mich aus meiner kleinen, beschaulichen Welt katapultiert und mich nun auf das ostasiatische Inselparadies geführt.

Zwei Tage zuvor hatten wir noch gemütlich meinen 23. Geburtstag am 23. Dezember 2007 zu Hause in Iserlohn gefeiert.

Dreiundzwanzig, eine Zahl, die für mich nie eine besondere Bedeutung hatte. Jedoch lernte ich später, dass mit ihr einige Mysterien verbunden sind.

Der berühmte Autor William S. Burroughs war beispielsweise Anhänger des sogenannten „23 Enigma“, einem Glauben, der einen direkten Zusammenhang zwischen außergewöhnlichen Ereignissen und Vorfällen mit der Zahl 23 sieht.

Wie auch immer. Wie sich jedoch herausstellen sollte, wurde das 23. Lebensjahr auch für mich außergewöhnlich.

Da waren wir nun am anderen Ende der Welt. Übernächtigt, erschöpft und gespannt auf die Insel der Götter, wie Bali weitläufig genannt wurde.

Begrüßt wurden wir bei unserer Landung um kurz vor 14 Uhr Ortszeit von Dauerregen und Temperaturen über 30° Celsius. Zunächst ging es aus dem Flieger durch die Kontrollen im Flughafengebäude, wo der Grad der Luftfeuchtigkeit irgendwo zwischen Dampfsauna und tropischen Regenwald einzuordnen war.

Kein Wunder, denn auf Bali herrschte fast das ganze Jahr über eine Luftfeuchtigkeit von 75% und mehr.

Wir erhielten überraschend schnell und unbürokratisch unserer Visa für wenige Dollar an der Einreisekontrolle. Endlich stand die letzte Etappe unserer Reise mit dem Ziel Ubud im Inselkern bevor. Draußen wartete schon ein Jeep samt balinesischen Fahrer auf uns, der uns nach Ubud bringen sollte.

Wieder machte ich eine neue Erfahrung: Einen so chaotischen, doch sich souverän selbst-regulierenden Straßenverkehr hatte ich bis dato nicht erlebt.

Hier fuhren fast nur Geländewagen, da die Straßen außerhalb der Städte nicht allzu gut in Schuss waren und Motorräder, die sich hier und da ohne Rücksicht auf Verluste im dichten Verkehr vorbei schlängelten.

Überhaupt veränderte sich mit Betreten des balinesischen Festlands schlagartig das Raum-Zeit-Kontinuum, denn die Fahrt nach Ubud (30 km) dauerte hier aufgrund der Verkehrs- und Straßenverhältnisse knappe 1 ½ Stunden.

Das ermöglichte mir die balinesischen Häuser, Läden, Statuen, Flora, Fauna und Leute entlang der Fahrtstrecke fasziniert zu betrachten. Dadurch verging die restliche Fahrzeit wie im Fluge und wir erreichten Ubud noch bei Tageslicht. Bali lag sehr nahe am Äquator, weshalb der Sonnenauf- und Untergang immer etwa um 6 und 18 Uhr stattfand.

Unser Hotel Puri Padi lag am Ortsrand von Ubud, direkt neben großen Reisfeldern. Die Rezeption war unter einem großen, zu den Seiten hin offenen Holzdach im balinesischen Stil untergebracht. Der Boden war gepflastert mit Marmorfliesen und hinter dem großen Steintresen befand sich ein großes Wandrelief. Ich war positiv überrascht, denn im Vorfeld hatte ich durchwachsene Bewertungen des Hotels gelesen und ein niedriger Preis, sowie lediglich zwei Sterne, hatten mich mit einer soliden Grundskepsis anreisen lassen. Besonders einprägsam und nach kurzer Zeit auch geradezu hypnotisierend wurde die in einer Endlosschleife laufende balinesische Instrumentalmusik, die ich nicht so recht einordnen konnte. Wir bezogen unsere Hütte. Ich hatte eine Hälfte alleine für mich und die andere Hälfte belegten meine drei Mitbegleiter. Mein Zimmer war nicht sonderlich luxuriös, doch sauber, schlicht und zweckmäßig.

Ein Bett mit Moskitonetz war - wie ich schnell lernen sollte – eine sehr sinnvolle Ergänzung, ein kleiner Fernseher, die obligatorische Minibar, ein Schreibtisch mit einer kleinen Lampe, ein Boden aus hellen Steinfliesen, eine liebevoll verzierte Holztür zur anderen Haushälfte und eine weitere Tür, hinter der sich ein kleiner Balkon versteckte, und ein Wandgemälde mit zwei Haken in der Mitte, das sich als Schiebefenster entpuppte.

Nach Ankunft, Auspacken und kurzem Durchatmen bei mittlerweile einsetzender Dunkelheit, vertrat ich mir noch gemeinsam mit meinem Vater die Beine. Mein Vater sah für sein Alter noch erfrischend jung und unscheinbar aus, denn er war durchschnittlich groß, schwer und auch ansonsten stach er nicht aus der Masse hervor. Er war ein klassischer Mitläufer, der sich anzupassen wusste. Wir hatten bis Mitte 2007 einige Jahre zusammengewohnt und viele meiner Ansichten und Lebensrhythmen hatten auf ihn abgefärbt, wie die gesunde Ernährung und der geregelte Tagesablauf. Bis zu dem Zeitpunkt als er seine Lebensgefährtin, „Die Chinesin“, kennenlernte und ihren Lebensstil widerstandslos annahm.

So war die Reise mit ihm von meiner Seite aus hauptsächlich zweckmäßiger Natur: Alleine wollte ich nicht auf die große Reise ans andere Ende der Welt gehen.

Wir gerieten, nachdem es einige Stunden nicht mehr geregnet hatte, in einen monsunartigen Regenfall und kamen klatschnass zurück ins Hotel. Wer schon einmal länger als 24 Stunden am Stück wach geblieben ist, wird mich bestätigen können, dass nach einer Phase enormer Müdigkeit wiederum eine Phase voller Wachheit folgt, sodass ich trotz der langen Reise eine sehr durchwachsene Nacht hatte. Zudem war es meine erste Begegnung mit dem ominösen Jetlag, dass ich in den gesamten Tagen auf Bali nicht ganz überwinden konnte. Besonders die schwüle Hitze und die Moskitos machten mir zu schaffen. Ein paar Stunden Schlaf konnte ich mir schlussendlich erkämpfen. Vor dem Start meines eigentlichen „Programms“, blieben noch zwei Tage um die Insel zu erkunden.

Den Anfang machte ich am nächsten Morgen mit einem kurzen Erkundungsspaziergang nahe dem Hotel. Schnell war ich von dem strahlenden Sonnenschein bereits um halb sieben am Morgen überwältigt, wie auch von dem grünen Leuchten der Reisfelder und der restlichen Umgebung, die hier nur vor Leben und Vitalität strahlte.

Das Hotel lag direkt an der langen Hauptstraße „Jalan Hanuman“. Jalan bedeutete Straße und Hanuman war einer der wichtigsten Götter des Hinduismus. Der Affengott symbolisierte große Kraft und Hingabe. Für mich wurde es zu einem täglichen Ritual mit meinem MP3 Player die Hanuman Chalisa (eine Hymne zu Ehren Hanumans) singend die Straße entlang zu gehen. Am Vortag hatte ich nur wenig von der Umgebung gesehen, bei grellem Sonnenschein war das etwas anderes. Der Kulturschock war vorprogrammiert.

Der Gehweg entlang der Straße war nur teilweise vorhanden.

Ohne Vorwarnung befand sich zwischen den Pflastersteinen einfach mal ein zwei Meter tiefes Loch und entlang der Straße befanden sich abenteuerliche Bauten, größtenteils aus Bambus mit Strohdächern, nur wenige aus Stein.

Wie ich schnell erkennen konnte, war Ubud tatsächlich die künstlerische Hauptstadt Balis und ein Touristenmekka, wo es in jedem zweiten Laden aus China importierte Massenware zu erwerben gab. Viele der Touristen kamen aus Japan und Australien. Zudem war Ubud ein attraktiver Ort für Aussteiger. So überraschte es nicht, dass viele Läden und Einrichtungen in westlicher Hand und in modernen Stil gestaltet waren. Besonders das „KAFE“ wurde für uns an den ersten Tagen eine Anlaufstätte. Es war ein alternatives Café mit vielen westlichen Speisen, speziell auf die Zielgruppe der „spirituell Reisenden“ ausgerichtet:

Mit einer großen Auswahl an Bio-Speisen, vegetarischen Gerichten und Rohkost in vielen Variationen.

Auch Supermärkte entdeckte ich entlang der Straße, die aber außer Lindtschokoladen und den üblichen Weltmarken (Coca-Cola und Co.) nur wenig Bekanntes oder Vertrauenerweckendes verkauften.

Meine Strategie zum Überleben in dieser fremden Umgebung lautete: beobachten, erkunden, die wichtigsten Orte geistig notieren und gedanklich in die entsprechenden Schubladen ablegen.

Bali war im Unterschied zum Rest Indonesiens stark durch den Hinduismus geprägt. Das war vielerorts zu erkennen: an den Straßennamen, den großen hinduistischen Statuen und Tempeln und besonders durch die morgendlichen Opfergaben der Balinesen vor ihren Häusern. Diese bestanden meist aus mit Liebe zum Detail geformte Schalen aus Palm- oder Bananenblättern, in denen Räucherwaren, Blumen, Reis oder auch Obst als Geschenk für die Götter arrangiert waren.

Wir hatten uns für den Rest des Tages einen Fahrer gemietet, der uns zu einigen der schönsten Orte und Sehenswürdigkeiten der Insel fuhr. Unser Hauptziel war einer der Vulkane der Insel im Hochland.

Leider war es an diesem Tag trüb und neblig, sodass wir kaum etwas vom Vulkan sehen konnten. Dennoch war es ein imposanter Anblick und wir lernten ein paar Einheimische kennen: einen älteren Maler, der am Vulkan seine Bilder verkaufte und uns unterhaltsame Anekdoten von seinen Erlebnissen mit anderen Touristen erzählte und Fischer, die uns zeigten, wie sie dort Fische fingen. Wir schauten uns auf der Route zwei der unzähligen Tempelanlagen Balis an.

Beide hinterließen durch ihre imposante und gut erhaltene Architektur bleibenden Eindruck. Es war Pflicht vor dem Betreten der Tempel einen Sarong anzuziehen: einen langen Wickelrock, der gegen eine kleine Spende am Eingang auszuleihen war.

Einerseits war ich von dieser fremden Religionskultur und Spiritualität fasziniert, andererseits bin ich über die Jahre zu der Überzeugung gelangt, dass alle Religionen durch ihre verschiedenen Bilder, Ikonen und Götter letztendlich ein und dasselbe ausdrücken: Es gibt eine höhere Kraft, Macht, Energie, oder wie man es auch immer bezeichnen möchte, die über unserer Realität steht. Einer der Tempel war der Goa Gajah Tempel, auch die Elefantenhöhle genannt. Hier wurde einer der großen Götter des Hinduismus, Ganesha, der Beseitiger aller Hindernisse, verehrt. Das mochte ich an dieser Religion sehr:

Je nach „Problem“ gab es eine Form des Göttlichen, die man anbeten und sich ihr hingeben konnte.

Rund um die Tempelanlagen zeigte sich ein zwiespältiges Bild: Geschickt am Ausgang positionierte Souvenirverkäufer, die mehr oder minder aufdringlich ihre Waren an Mann und Frau bringen wollten und wahre Meister in Sachen Feilschen und Preisverhandlungen waren. Daneben die Mönche und Gläubigen, die hier nur darauf bedacht waren, ihre Gebete und Rituale auszuüben. Auf den Parkplätzen tummelten sich entstellte, ausgehungerte und behinderte Menschen, die um Spenden baten oder sich durch den Verkauf von Babybananen Geld verdienen wollten. Dazu gab es noch Verkaufsstände mit gerösteten Maiskolben und den von mir so geliebten Kokosnüssen mit dem perfekten, natürlichen Erfrischungsgetränk: Kokoswasser. Schon zu Hause hatte ich mir häufig die grünen Kokosnüsse gekauft und im Vorfeld gelesen, dass sie hier im Übermaß und unglaublich günstig erhältlich waren. Zudem hatte ich gelesen, dass Kokoswasser wegen seines Elektrolytreichtums in Krisenzeiten in den Tropen direkt als Infusion gegeben wird. Wir tranken nahe einem der Tempel genüsslich ein paar Kokosnüsse, auch wenn ich im Vorfeld wegen der mangelnden Hygiene davor gewarnt worden war.

Unser letzter Stopp war ein Bauernhof im Hochland. Streng genommen war es ein riesiger Obst-, Gemüse- und Gewürzgarten, der für Touristen geöffnet war. Durch das Klima auf Bali gab es einiges zu bestaunen:

Hier gedieh alles, was angepflanzt wurde. Kakaobäume, Kaffeesträucher, Vanille, Ananas, Papayas, Kokospalmen, Zitronen, Bananen und vieles mehr.

Ich konnte mich kaum sattsehen.

Die freundlichen Bauern luden uns ein, den frischen Kakao und Kaffee zu probieren. Wir genossen die Ruhepause und den Geschmack der Getränke, eng zusammengerückt auf massiven Holzbänken unter einem kleinen Strohdach. In der Mitte des Farmlandes befand sich ein kleiner Laden, der die verschiedensten Erzeugnisse der Bauern, darunter ätherische Öle und Gewürze, im Angebot hatte. Ein junger Balinese hatte uns über die Farm geführt und im Laden hielten wir Small Talk. Er war wohl ein paar Jahre älter als ich es war, durchtrainiert und sprach gutes Englisch. Er fragte:

„Was machst du auf Bali?“

„Ich bin hier für ein Yoga Retreat.“

„Oh, sehr interessant. Ich habe einen Guru in der Stadt und mache auch Yoga (..) Es gibt viel zu wenige Lehrer und du solltest auch Yogalehrer werden.“

Wir zeigten uns gegenseitig ein paar Yogapositionen und ich verließ die Farm, bestärkt im Streben nach dem Ziel, dass ich mir kurz vor der Balireise gesetzt hatte: Yogalehrer werden.

Der nächste Morgen glich dem vorherigen: Strahlender Sonnenschein, sommerliche Temperaturen und viel Zeit, um noch mehr von Ubud zu erkunden. Abseits der Hauptstraße in den Nebengassen zeigte sich Ubud von einer anderen Seite:

Sehr schöne Häuser mit wundervollen Gärten, Hunde und Katzen auf der Straße, die eine ungemeine Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlten, wie fast alle Lebewesen auf dieser Insel. Im Laufe des Tages entdeckten wir ein Café namens „Bali Buddha“. Es ähnelte dem „KAFE“, wobei es hier etwas gab, was ich bis dahin verzweifelt gesucht hatte:

Frisches Gebäck und Brot aus biologischen und gesunden Zutaten. Zudem gab es noch Nahrungsergänzungsmittel, vornehmlich aus Australien, darunter auch den pflanzlichen Zuckerersatz Stevia. Das bedarf einer kurzen Erklärung:

Nach dem ich 2003 die Schule vorzeitig verlassen musste, war ich gezwungen, Geld zu verdienen.

Ich hatte mich über die Jahre zuvor bereits mit allerlei exotischen Themen beschäftigt: Alternative Medizin, gesunde Ernährung, Heilkräuter und besonders Yoga. Dabei lernte ich auch Stevia kennen und baute mir mit finanzieller Unterstützung eine kleine, aber ausreichende Existenz mit dem Handel von Stevia auf. Ich konnte meinen Lebensunterhalt sichern, ohne mich allzu sehr zu verausgaben und hatte genügend Zeit für Yoga und alles, was mich sonst noch interessierte.

„Bali Buddha“ wurde für uns zu einem täglichen Anlaufziel. Sei es wegen der unvergleichlich gute frisch gekochte Gewürzchai, der warme Haferbrei mit Walnüssen und Zimt oder die leckeren Salate. Alles gab es zu für uns Europäer unvorstellbar niedrigen Preisen und trotzdem exzellenter Qualität. So langsam stieg bei mir die Spannung und Vorfreude auf das Yoga-Retreat. Am Abend gab es dann die erste kleine Zusammenkunft in einem Restaurant neben unserem Hotel. Wir saßen in der milden Abendluft bei Kerzenlicht draußen auf der Veranda des Restaurants: Die bis dahin angekommenen Retreatteilnehmer, Lin und ich.

Womit ich auch an dem Punkt angelangt wäre, an dem es zur Beantwortung der Frage kommt: wieso Bali?

Rückblickend war es eine unvorhersehbare Aneinanderreihung verschiedener Ereignisse. Ob das nun Karma, Schicksal oder Zufall gewesen ist, sei dahingestellt. Mehrere Jahre hatte ich für mich zu Hause Yoga gelernt und ausgeübt.

Als ich 2003 die Schule wegen chronischer Schmerzen verließ, war es das Einzige, was mir wirklich half, im Gegensatz zur klassischen Medizin, die bis auf Krankengymnastik oder manuelle Therapie keine Ideen hatte. Beides hatte ich probiert, jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. So begab es sich, dass ich mit Hilfe von DVDs und Büchern Yoga lernte. Meine erste DVD hieß passenderweise „Yoga für Dummies“. Über die Jahre konnte ich die Veränderung meines Körpers und Geistes verwundert und fasziniert mitverfolgen.

In der Schule war ich völlig unsportlich (ich gewann nie eine Medaille bei den Bundesjugendspielen) und als grobmotorisch verschrien. Nun hatte ich es durch Ausdauer, Disziplin und Konzentration geschafft, mich fließend und im Einklang mit meinem Atem bewegen zu können. Das Wichtigste jedoch war, dass ich den Schmerz überwunden hatte.

Er war zwar noch da, aber ich stand über ihn.

Ich lebte für mich allein, doch war ich zufrieden und glücklich mit dem Leben, was ich hatte: Eat, work, relax and do yoga. Ich entwickelte eine geradezu kindliche Unbekümmertheit und ebenso eine große Dankbarkeit für das, was ich erreicht hatte. Mitte des Jahres 2007 entschloss ich mich dann mit Yoga unter die Leute zu gehen und so kam es mir sehr gelegen, dass in Köln ein Yoga Festival stattfand. Zum ersten Mal Yoga außerhalb meiner eigenen vier Wände und dann gleich bei einem großen Event. Das war sinnbildlich für mein Selbstbewusstsein und meine Unbekümmertheit zu der Zeit. Im Vorfeld stellte ich mir einen Zeitplan zusammen, denn im Rahmen des Festivals gab es drei Workshops zeitgleich und über den Tag verteilt. Ich hatte die Qual der Wahl und besonders schwer fiel es mir, mich für meine erste Stunde zu entscheiden. Zu Hause übte ich noch mit anderen DVDs, hauptsächlich fließendes und dynamisches Yoga. Wie der Zufall es wollte, war auch eine der Lehrerinnen von den DVDs dort:

Seane Corn.

Sie unterrichtete gleich am ersten Morgen eine Stunde. Zeitgleich gab es eine weitere von Lin, einer Lehrerin, von der ich bis zu dem Zeitpunkt nichts gehört hatte. Sie praktizierte einen ähnlichen Stil und ich studierte ihre Internetseite. Dort wirkte sie auf mich sehr interessant und sympathisch. Eine Mischung aus Neugier und Bauchgefühl bewog mich, zu Lins Stunde zu gehen. Ich wurde bestärkt durch die Angabe in der Workshopbeschreibung:

Für alle Levels offen – von Anfänger bis Fortgeschrittene.

Es herrschte eine komische Atmosphäre. Die Yogamatten wurden in einem Halbkreis arrangiert, rund um mich nur durchtrainierte, athletische Frauen. Lediglich mir direkt gegenübersaß ein junger Mann aus Osteuropa. Spannung und Vorfreude lagen in der Luft. Dann sah ich Lin, die ich vorher nur von Bildern auf dem Flyer und aus dem Internet kannte. Ich war umgehend von ihr fasziniert.

Sie war Amerikanerin mit asiatisch-europäischen Wurzeln, eine kleine Person mit starker Ausstrahlung und langen, dunklen Haaren, bedacht in jeder ihrer Bewegungen und sofort alle Blicke auf sich ziehend. Sie hatte etwas Königliches wie Kleopatra, dachte ich mir.

Zu Beginn der Stunde thematisierte sie Recycling und Nachhaltigkeit. Sie erzählte in diesem Zusammenhang von Erlebnissen auf ihren Reisen und, an denen sie sich wünschte, jeder würde sich ein Beispiel nehmen. Bei ihr passte alles zusammen. Sie entsprach beinahe komplett meinem Idealbild einer Frau.

Die Stunde gestaltete sich für mich äußerst unterhaltsam, denn die Übungssequenzen, die Lin hier unterrichtete waren mir fremd und neu. Besonders die Rechts-links-Dreh-Sequenzen brachten mich mehrmals aus dem Konzept - was mich nicht sonderlich störte. Es überwogen die Genugtuung und der Genuss dieser Erfahrung, nach der harten Arbeit über die Jahre zuvor. Es war wohl auch für Lin ein interessantes Bild: Um mich herum waren viele fortgeschrittene Yoginis, die durchaus etwas von meiner leichten Unbeholfenheit genervt waren. Ich war dazwischen mit einem Dauerlächeln und einer Zufriedenheit, die ich bis dahin selten empfunden hatte. So kam es dazu, dass Sie mich zur Demonstration einiger Übungen zu sich nach vorne holte. Wir hatten sofort eine Verbindung miteinander.

Schnell spürte ich, dass ich mehr Zeit mit diesem Menschen verbringen und ihn besser kennenlernen wollte. Passend dazu lagen nach Ende der Stunde Flyer für ihren Bali-Retreat aus und ich wusste sofort, das ist es:

Das musst du machen.

Es waren so viele Dinge, die mich reizten: die Reise nach Asien, da ich seit Ewigkeiten nirgendwo mehr hingereist war, mehr Yoga von Lin zu lernen und sie näher kennenzulernen, und zu sehen, wie mein Körper auf die intensive Yogapraxis dort reagiert – sozusagen als Härtetest, bevor ich eine Ausbildung beginnen wollte.

Das Festival dauerte zwei weitere Tage. Ich war noch bei anderen Klassen, auch von Lin.

Die gesamte Zeit war großartig. Ich war in der Welt angekommen, in die ich schon immer hingehörte.

Kurz nach dem Festival schrieb ich ihr eine Email:

„Liebe Lin, ich möchte dir nochmals für die herausfordernde und sehr inspirierende Praxis in Köln danken. Dafür, dass es meine erste „echte“ Yogastunde war, hätte ich mir keine bessere Lehrerin vorstellen können. Obwohl ich zugeben muss, dass ich heute noch jeden Muskel spüren kann :-) (..) Hoffentlich hat dir die Zeit in Köln ähnlich viel Freude gemacht wie mir.“

Ich hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet und war daher sehr überrascht, dass ich wenige Tage danach von ihr hörte. Sie freute sich sehr über meine E-Mail und schrieb, dass sie es großartig fand, mich in ihren Klassen gehabt zu haben, dass sie unsere Gespräche danach genossen hat und dass wir uns sicher wieder begegnen würden. In der folgenden E-Mail erzählte ich ihr, dass ich mich für den Bali-Retreat entschlossen hatte.

Es gingen noch ein paar E-Mails hin und her:

Sie schickte mir auch ein Foto ihrer Familie samt ein paar Worten zu ihren Eltern. Das berührte mich sehr. Ich kannte diese Frau doch nur flüchtig von einem Yoga Festival.

Trotzdem zeigte sie mir etwas persönliches, was starkes Vertrauen voraussetzte. So hatte ich ein klares Ziel vor Augen und die nächsten Wochen verflogen.

Eh ich es mich versah saß ich mit ihr an einem Tisch auf einer Insel, irgendwo zwischen dem Indischen Ozean und dem Pazifik. Während unserer Unterhaltung erwähnte ich beiläufig, dass ich vor ein paar Tagen Geburtstag hatte.

Nur wenige Minuten später stand ein großes Stück Schoko-Kokos-Kuchen vor mir. Ich zögerte, weil es schon spät war und ich abends recht empfindlich auf koffeinähnliche Stoffe reagierte. Die liebevolle Geste konnte ich jedoch nicht ausschlagen, daher aß ich etwas von dem vorzüglichen Kuchen und bedankte mich herzlich.

Die folgende Nacht war entsprechend unruhig, denn die Mischung aus Koffeinkick, Aufregung, Tropenklima und Zeitumstellung machte das Schlafen abermals zu einem schwierigen Unterfangen. Am folgenden Morgen fand das offizielle Willkommenstreffen am Pool des Hotels statt.

Wir waren eine kleine, bunt gemischte Gruppe aus Amerikanern, Australiern und mich als einzigem Europäer. Der Grundsätzliche, wie sich jedoch später herausstellte, äußerst flexible Zeitplan wurde festgelegt:

Morgens dynamisches Yoga, danach Brunch und nachmittags noch entspannendes Yoga. Die Woche in Ubud verging äußerst schnell. Wenn wir kein Yoga machten, waren meistens Massagetermine im anliegenden „Zen Spa“ vereinbart.

Die traditionelle balinesische Massage war eine sehr entspannende und preiswerte Behandlung. Psychologisch war es sehr hilfreich, dass die anstrengenden und schweißtreibenden zwei Stunden Yoga am Morgen danach mit einem umfangreichen Brunchbuffet belohnt wurden.

Hinter dem „Yoga Barn“, unserer Übungsstätte, wurden für uns jeden Tag liebevoll präparierte und abwechslungsreiche Speisen vorbereitet – gesund, frisch und äußerst lecker. Besonders die Kokosnüsse hatten es mir wieder angetan.

Es gab Kokoswasser bis zum Abwinken!

Der „Yoga Barn“ war ein traumhafter Übungsort, gegründet von derselben amerikanischen Auswanderin, die auch das „KAFE“ ins Leben gerufen hatte.

Neben den großen Reisfeldern war das doppelstöckige Gebäude mit zwei großen Yogaräumen, sowohl unten als auch oben mit einem tollen Ausblick auf die Anbauflächen. Alles befand sich unter einem imposanten Holzdach, die Räume waren zu den Seiten hin offen und trotzdem fern vom Straßenlärm.

In den Yogastunden gab ich immer alles. Ich war berauscht vom Wetter, von Bali und von den Eindrücken. Ich fühlte mich, als ob ich auf einer unbrechbaren Welle ritt:

Der Junge, der als Kind noch pummelig und unsportlich war, war jetzt hier unter erfahrenen Yogaübenden und mit ihnen auf Augenhöhe.

Ich verbrachte viel Zeit mit der Gruppe und auch mit Lin. Es waren teilweise nur kleine Augenblicke, die mir doch klar in Erinnerung blieben. Wie ein Gespräch, was wir beim Schlendern zu zweit um die Hotelanlage führten:

Als wir dann am Pool vorbeikamen, sprang sie spontan mit einer sehenswerten Bombe in den Pool. Ihre Leichtigkeit und Unbekümmertheit, obwohl sie immerhin knapp 15 Jahre älter als ich war, beeindruckte mich erneut. Ich traute mich nicht, trug ich doch normale, pool-ungeeignete Kleidung. Ich entschied mich pragmatisch und rational zum Trockenbleiben.

Ein weiteres Highlight war das „White Water Rafting“. Auf Deutsch bedeutete es:

Wildwasser fahren mit einem Schlauchboot. Eigentlich wollte ich ja mit zum Elefantenreiten, doch entschied ich mich aus Solidarität mit Paul, Ted und Lin zum Rafting. Gerne schlug ich mich auf die Seite der Minderheit, denn vier Teilnehmer war die Mindestvoraussetzung. Ich erinnere mich noch äußerst lebhaft an den unglaublich langen Treppenabstieg durch den tropischen Wald gen Fluss: Ich zählte die Steinstufen nicht, aber gefühlt waren es mindestens 1000.

Paul war ein australischer Diplomat, der in Bangladesh bei der australischen Botschaft arbeitete.

Er war leicht ergraut, drahtig, recht intelligent und introvertiert. Ted hingegen war ein absoluter Sunnyboy, ein Australier durch und durch, stets gut gelaunt, groß, schlank und durchtrainiert. Von Beruf her war er Psychiater, was auf den ersten Blick doch recht ungewöhnlich schien.

Der Raft gestaltete sich als überraschend ruhig, denn das Wasser war recht still. So blieb genug Zeit, die imposante Natur rund um den Fluss zu genießen. Wir fuhren durch eine Schlucht mit steilen Felswänden, allerlei blühenden Pflanzen und ebenso an einigen Hütten und Einheimischen vorbei. Leider gab es auch weniger schöne Einblicke, wie die großen Müllberge nahe dem Ufer, die auch den Fluss verunreinigten. Wir erreichten einen Wasserfall.

Das war eine willkommene Gelegenheit, eine Erfrischung bei den tropischen Temperaturen zu erhalten. So sprangen alle aus dem Boot, um unter den Wasserfall zu gehen. Ich zögerte, denn mein Bauchgefühl war nach den kurz zuvor gesehenen Müllbergen nicht gut. Schlussendlich ließ ich mich von Lin überreden und kam in den Genuss eine erfrischende Dusche. Zurück ging es wieder nur über Treppen am anderen Ende des Flusses. Der Weg war ähnlich lang und erschwerend dazu hieß es diesmal Treppen steigen. Dabei wurden wir auf Schritt und Tritt von emsigen Verkäufern begleitet. Ich hatte schnell gelernt:

Konsequentes und erbarmungsloses Abblocken führte schnell zu einem unproblematischen Ende der Verkaufsgespräche, sodass sich die Verkäufer ein neues Opfer suchen mussten. Sie fanden es in Lin. Es war ein ungemein unterhaltsames Bild:

Das Verkaufsobjekt war eine kleine, handgeschnitzte Holzkiste. Der Startpreis lag bei um die 150.000 indonesische Rupien (etwas mehr als 10 Euro). Lin war freundlich und bekundete Interesse an eben jener Truhe, und wenn ein Verkäufer mal ein Geschäft gerochen hatte, ließ er so schnell nicht locker. Stufe um Stufe herauf fiel der Preis, wie auch Lins Fähigkeit, Contenance zu wahren. Paul und ich gingen etwas weiter zurück, jedoch stets in ausreichender Nähe, um den Dialog amüsiert mitzuverfolgen. Kurz bevor wir das Ende der Treppen erreicht hatten, einigten sie sich und die Truhe wechselte für 10.000 Rupien den Besitzer. Das entsprach einem Preisnachlass von mehr als 90%.

Wie so häufig saßen wir abends noch zusammen im Bali Buddha. Trotz relativ später Stunde warf man für uns noch um kurz vor 21 Uhr die Küche an. Lin saß in einer Yogaposition, sie verkörperte Yoga auf und fern der Matte.

Es gab stets viel zu erzählen, kamen wir doch alle aus unterschiedlichen Regionen und teilweise sogar Kulturen. Zudem kamen wir auf kleine Spiele wie „Errate das Lied“ anhand vom Vorsummen. Lin ließ mich ihr Rosenwasserlassi (ein indisches Erfrischungsgetränk) probieren. Teilweise kam ich mir vor, als würde ich sie vereinnahmen, doch immer wieder war es auch sie, die auf mich zukam. Schon in Köln sah sie in mir das, was ich einmal werden könnte und mehr als das, was ich zu dem Moment war.

Zudem lernte ich an diesem Abend Rama kennen.

Er war einer der balinesischen Taxifahrer, charmant, kräftig und stets gut gelaunt. Er erzählte äußerst stolz und unterhaltsam von seinem Ruhm als Darsteller auf einer DVD über Hahnenkämpfe. Zunächst verstand ich nicht, worüber er in stark akzentuierten Englisch sprach. Erst später erfuhr ich, das Hahnenkämpfe auf Bali im Rahmen der religiösen Rituale eine lange Tradition haben.

Lins Yogastunden waren äußerst unkonventionell und immer wieder überraschend. Es gefiel mir, jeden Tag etwas Neues und völlig Unerwartetes zu erleben.

In einer der Klassen sollten wir einfach einige Minuten einem der anderen Teilnehmer gegenübersitzen, ihn dabei anlächeln und durchweg in die Augen schauen. Mir fiel es nicht so leicht, gerade weil ich grundsätzlich schüchtern veranlagt war. Mein Gegenüber war eine attraktive Amerikanerin namens Patricia. Dazu gab es eine nette Anekdote:

Lin hatte mir ohne mein Wissen nach kurzer Zeit einen Spitznamen gegeben. Sie nannte mich Patricio. Das war innerhalb der Yogastunden für mich äußerst verwirrend, denn so richtig konnte ich Patricio und Patricia nicht auseinanderhalten, bis ich es endlich verstanden hatte.

Manchmal dauerte es halt etwas länger.

Direkt neben der Hauptstraße „Jalan Hanuman“ und nur wenige Minuten entfernt von unserem Hotel befand sich der „Monkey Forest“ (Affenwald). Er war eine Mischung aus Naturreservat und Tempelkomplex. Früh morgens war es dort noch recht ruhig, denn nur wenige Affen trieben ihr Unwesen. Wir wählten daher für den Besuch den nächsten Morgen um kurz vor sieben. Auch dort waren die hinduistischen Zeichen unübersehbar: Auf dem Weg in das Zentrum des Reservats war der Weg von Swastikas, dem Glückssymbol der Hindus übersät.

Die Affen kannten keine Scheu.

Lin sprang sogar ein besonders mutiger Affe auf Arm und Schulter. Ich zankte mich mit einem Streitsüchtigen um eine Wasserflasche. Kurz bevor die Affenbande komplett wach und der Lärmspiegel das Maximum überschreiten konnte, verließen wir den Wald.

Nach einer weiteren intensiven Yogasession stand ein kleiner Trip mit einem Überraschungsziel auf dem Programm. Zwei von unserer Gruppe, Ranjid und Jeff, fuhren mit dem Motorrad. Der Rest von uns fuhr mit einem Taxi bis zu einem Punkt, an dem es nur noch zu Fuß weiterging. Wir warteten auf die beiden und mussten mit ansehen, wie sie stürzten und Jeff sich schwere Schürfwunden zu zog. Jeff wurde umgehend zu einem Arzt gebracht. Wir marschierten ohne die beiden auf schmalen Trampelpfaden quer durch die Reisfelder. Dabei hatten wir viel Zeit zum Reden.

Ich erzählte Lin, wie ich mich mit Yoga aus meiner gesundheitlichen Krise gekämpft hatte und wie ich beim Festival in Köln gelandet war. Sie erzählte von ihrer vorherigen Berufslaufbahn als Headhunter, wie sie zum Yoga gekommen war, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte und von ihrem Partner Pete, der in Australien lebte und nach dem Retreat zu ihr stoßen würde. Während des Gesprächs sammelte sie nebenbei Abfälle ein, die Touristen gedankenlos hingeworfen hatten und, ihrem Beispiel folgend, tat ich das Gleiche. Nach einigen Minuten erreichten wir dann inmitten der Reisfelder eine kleine Hütte, die sich als Bio-Restaurant nebst kleinem Verkauf der Anbauerzeugnisse der Besitzerin entpuppte. Wir saßen inmitten einer malerischen Landschaft, atmeten die reine Landluft, genossen weiterhin das perfekte Wetter und ein leckeres Mittagessen.

Abends bot Lin eine „Community“ Klasse an. Das war eine kostenlose, offene Yogastunde, auf Spendenbasis. Der „Yoga Barn“ war gut besucht und um die hundert Matten mitsamt Teilnehmern wurden eng zusammengerückt. Besonders inspirierend war es die Menschen zu sehen, die sonst eher wenig mit Yoga zu tun hatten und doch hier mit vollem Einsatz und Freude mitmachten.

Ich erlebte die Tage auf Bali wie in Trance.

Alles war neu, begeisternd, geradezu elektrisierend und doch trübte eine Tatsache die Erfahrung:

Mehrere Tage konnte ich nicht auf die Toilette gehen, und als ich es versuchte, hatte ich etwas Blut am Toilettenpapier.

Natürlich besprachen wir das und die Freundin meines Vaters, wie erwähnt Ärztin, meinte lapidar:

„Das sind sicher Hämorriden“. Nachdem ich mir ein Abführmittel aus der Apotheke besorgt hatte, wurde die Situation wieder einigermaßen normal, doch ein mulmiges Gefühl blieb.

Mein Vater hatte die ihm etwas jüngere Chinesin bei einer Heilpraktikerausbildung im Jahr davor kennengelernt. Ich kannte sie vor Bali kaum, bis auf ihre, trotz langjährigem Leben in Deutschland, recht begrenzten Sprachkenntnissen und ihren ungemeinen Macht- und Kontrolldrang. Nicht umsonst hatte sie meinem Vater gedroht: Wenn er mit mir alleine fliegen würde, wäre ihre Beziehung vorbei. Kurz vor der Balireise hatte mein Vater mich überzeugt, sie in unsere Firma mit aufzunehmen. Ich vertraute seinem Urteil relativ blind. Auf Bali hatten wir wenig Miteinander zu tun, was auch gut so war.

Im Gegensatz zu meinem Vater hatte ich als Mensch mit klaren Prinzipien und Durchsetzungsvermögen keine Scheu mich mit ihr anzulegen.

Kulturell hatte Ubud sehr viel zu bieten. Nicht umsonst galt es als das kulturelle Zentrum Balis. Einen kleinen Geschmack davon bekamen wir bei dem Besuch einer Tanzvorführung der Ramayana im Stadtkern Ubuds. Die Aufführung fand vor großem Publikum statt, denn die Touristen, die gerade in Ubud waren, wollten sich das Spektakel nicht entgehen lassen. So saßen wir alle zunächst unter freiem, leicht bewölktem Himmel auf weißen Plastikstühlen vor der Bühne und warteten gespannt auf das Spektakel. Schlagartig setzte strömender Regen ein und spontan wurde die Aufführung unter einen großen, überdachten Säulenbau verlegt. Wir waren alle leicht durchnässt und nun eng zusammengepfercht. Dafür waren wir auf Tuchfühlung mit den Darstellern.

Die Ramayana, ein hinduistischer Epos, der in gesamt Ostasien beliebt war, wurde hier aufwendig inszeniert: liebevoll bis ins Detail ausgearbeitete Kostüme, filigrane und aufwendig geschminkte Tänzerinnen und die schöne, dramatische Liebesgeschichte, die nur durch Musik, Bewegung, Mimik und Gestik, doch trotzdem eindrucksvoll und unterhaltsam erzählt wurde.

Meist nutzte ich den frühen Sonnenaufgang, um schon vor den morgendlichen Yogastunden ein paar Minuten frische Luft zu schnappen und mit meinem MP3 Player durch die Straßen zu schlendern. Ich staunte nicht schlecht, als ich etwas früher zum Yoga Barn kam. Ein junger Balinese hatte dort mit seinem Schlafsack genächtigt.

Erst später erfuhr ich, dass er eine Art Wachmann war. Davon wenig beeindruckt realisierte ich, wie sich das Jahr nun dem Ende zu neigte. Der 31. Dezember war angekommen.

Damit brach auch unser vorletzter Tag in Ubud an, bevor wir am 1. Januar Richtung Küste fahren würden.

In unserer morgendlichen Yogastunde führten wir eine kleine Zeremonie durch. Diese gestaltete sich wie folgt:

Jeder von uns schrieb seine Wünsche für das kommende Jahr auf ein kleines Zettelchen Papier. Dieses wurde dann vor der großen Ganesha Statue im Yogaraum in einer Feuerschale verbrannt.

Ganesha, der Elefantengott, war wie bereits erwähnt der Zerstörer aller Hindernisse und galt als weise, gnädig, gutmütig und vieles mehr. Traditionell wurde er angerufen, um Glück und Erfolg, besonders am Anfang von neuen Unternehmungen, zu erbeten.

Wir saßen in einem Halbkreis rund um die Statue und der Reihe nach ging jeder von uns zu der Schale, zündete sein Papierstück an und ließ es im Feuer aufgehen. Der Rest der Gruppe rezitierte währenddessen ein Ganesha Mantra: Om Gam Ganapataye Namaha.

Ich wünschte mir für meine Familie und mich alles Gute und Gesundheit für das kommende Jahr. Es folgte ein weiteres interessantes Experiment:

Der meditative Gang auf den schmalen Wegen, die zwischen den Reisfeldern verliefen. Mein Hang zum Perfektionismus wurde mir hier zum Verhängnis. Je mehr ich darauf achtete, mich so fließend und so gut wie möglich im Einklang mit meinem Atem zu bewegen wurden meine Schritte unbedachter.

Eh ich mich versah, landete einer meiner Füße abseits des Pfades und rutschte in das Reisfeld. Mein erster Gedanke war: „Wow, hätte nie gedacht, dass ein Reisfeld so tief und sein Boden so weich sein kann“.

Mein Bein war bis zum Knie im lehmigen Boden eingetaucht. Für mich war das ein entscheidender Moment: Würde ich mich schämen und mich bloß gestellt fühlen, oder könnte ich über diesen kleinen unbedeutenden Unfall selbst lachen? Eine Millisekunde, eine kleine Abstimmung in meinem Gehirn, die mir zeigte, was sich über die Jahre in mir verändert hatte. Ich musste wie die anderen herzhaft lachen, zog das Bein mit etwas Mühe aus dem Matsch und ging weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Am Abend trafen wir uns zum Silvesteressen in einem feinen Restaurant außerhalb Ubuds. In dem großen Saal bereitete sich eine Jazzband auf ihren Einsatz vor. Für uns war eine lange Tafel direkt neben der kleinen Bühne reserviert.

Nach und nach trudelte der Rest der Gruppe ein und wir genossen ein ausgiebiges Abendessen. Danach ging es dann leicht dezimiert (Ted hatte sich ausgeklinkt) in einen exklusiven Klub mit Pool, wo eine Silvesterfeier mit DJ stattfand. Für mich war das fremd und aufregend zugleich.

Auf Bali tauchte ich in eine andere Welt ein. Bei unserer Ankunft wurde zunächst ein stattliches Eintrittsgeld fällig, was umgehend mit einem Willkommensglas belohnt wurde. Ich bestand auf mein Wasser und erhielt dafür von Lin vollstes Verständnis. Ich hatte ihr erzählt, dass ich in meinem Familienumfeld häufig gesehen hatte, was Alkohol anrichten konnte und mich daher früh entschlossen hatte, gar nicht erst damit anzufangen. Das Thema war damit jedoch nicht abgehakt.

Wir setzten uns alle zusammen in eine Ecke mit einer großen Couch und ein paar Sesseln. Direkt daneben war die Tanzfläche samt DJ. Entsprechend ließ der Lautstärkepegel kaum noch vernünftige Gespräche zu. Jenny, eine junge Frau aus New York, etwas proper und schon stark angeheitert, kam dann auf die glorreiche Idee mich mit einem kleinen Trick zu überlisten (zugegebenermaßen muss ich in dem Moment in einem Zustand geistiger Umnachtung gewesen sein):

„Mach die Augen zu und leg deinen Kopf in den Nacken und mach den Mund auf.“

Sie wollte mir Sekt in den Mund schütten, doch im letzten Moment ahnte ich, was sie vorhatte. Ich schloss den Mund und der Sekt floss an mir herunter. Wenig amüsiert war ich ab dann hoch aufmerksam, was die junge Frau sonst noch im Schilde führen konnte. Kurze Zeit später wurde ich jedoch mit einem anderen Thema konfrontiert: Tanzen.

Wenn ich wusste, was ich nicht konnte, dann war es genau das. Doch Paul, der sich inzwischen Mut angetrunken hatte, zeigte mir das Tanzen ein doch sehr dehnbarer Begriff war. So nahm ich mir an seinem „Freestyle“ - Tanz ein Beispiel und bewegte mich auch auf die Tanzfläche. Wie schon so oft zuvor war ich fasziniert von Lins Energie, die wie ein Kugelblitz über die Tanzfläche fegte. Ich tat mein Bestes, mich möglichst unauffällig und dennoch ansehnlich zu bewegen, bis Mitternacht und somit der Jahreswechsel, sich näherten. Spontan sprangen wir alle in unserer Abendgarderobe um Punkt zwölf in den Pool. Das war ein würdiger Höhepunkt, wie ich ihn mir kaum hätte besser ausmalen können. Wenig später lag ich in meinem Bett, erschöpft, doch mit einem Gefühl der Zufriedenheit und Dankbarkeit für die Erfahrungen und Erlebnisse, die ich auf Bali machen durfte.

Neujahrsmorgen um acht Uhr Yoga – das schien nach der Nacht sehr unwahrscheinlich und es war zwischen dem Sekt und dem Poolsprung beiläufig abgesagt worden. Ich konnte selbst an diesem Morgen nicht wesentlich länger schlafen und daher schlich ich mich aus Neugier zum Yoga Barn. Siehe da:

Ted wartete nichts ahnend. Leicht amüsiert sagte ich ihm, dass die Stunde später stattfände und Schritt wieder von dannen, um etwas Morgenluft zu schnappen. Am Nachmittag ging es dann zum zweiten Ziel des Retreats: Canggu.

Das war eine kleine Stadt in der Nähe der Küste, unweit der Touristenmetropole Kuta. Im Vergleich zu Kuta war sie noch frei vom Party- und Pauschaltourismus. Auf dem Weg machten wir noch Halt am „Pura Luhur Uluwatu“, einem Tempel direkt an den Klippen. Wir hatten bis den ersten Tag auf Bali und dem Regen am Abend der Ramayana stets traumhaftes Wetter und so auch hier. Wir genossen die beeindruckende Kulisse der Tempelanlage und des Meeres. Wir trafen auch ein paar alte Bekannte wieder: Affen, die auf alles aus waren, was nicht niet und nagelfest war. Unser Ziel in Canggu war „Desa Seni“. Das war ein luxuriöses und recht teures „Eco Village Resort“. Traditionelle Hütten aus ganz Indonesien waren hier hergebracht und originalgetreu aufgebaut worden.

Es wurde mediterrane Küche auf höchstem Niveau geboten, es gab einen großen Pool und eine wunderschöne Yoga-Hütte. Die unmittelbare Küstennähe rundete das beeindruckende Gesamtbild ab. Auch hier stand ein Amerikaner an der Spitze des Unternehmens. George war ein großer, athletischer und kahler Endvierziger aus Chicago mit schwarzen Doggen.

Er war freundlich, aber unter anderen Umständen mochte ich ihm nicht begegnen. Rund um das Resort befanden sich viele Baustellen. Besonders wohlhabende Indonesier und andere Asiaten ließen sich hier nieder, sodass es in ein paar Jahren wohl auch nicht mehr so ein ruhiger und Touristenarmer Ort seien würde. In Canggu war nun auch die Surf-Option gegeben. Ich verzichtete und stattdessen machten wir, die Patchworkfamilie und ich, uns zu Fuß Richtung Kuta auf. Theoretisch ganz einfach: immer am Strand entlang.

Praktisch jedoch war der Küstenstrich länger als gedacht und leider hatte ich kein Smartphone mit Navigation.

Der Optimismus wurde schnell von Anspannung überlagert.

Zu unserem Glück kamen wir mitten im Nirgendwo an einem kleinen Restaurant vorbei. Wir wurden herzlich begrüßt und man rief uns ein Taxi. Hier trennten sich unsere Wege und ich fuhr allein mit meinem Vater nach Kuta.

Kurz nach Mittag erreichten wir Kuta und ohne klare Orientierung war unser Ziel zunächst, etwas Essbares zu finden. Ein Tandoori Restaurant kam uns da gerade recht. Ich aß eine indische Pilzsuppe und Chicken Tandoori.

Vom Letzteren gab es für einen recht hohen Preis nur eine kleine Portion, die dafür jedoch perfekt zubereitet war. Der junge Kellner ließ sich von mir mit Fragen löchern, denn der Tandoori Ofen war etwas, was mich schon vorher fasziniert hatte. Ich schwamm in diesen Tagen auf einer Welle kindlicher Neugier und Begeisterung, was dann immer in nicht aufhören wollenden Gesprächen (Monologen) endete.

Ich war so angetan, weil nicht nur im Tandoori-Stil gewürzt, sondern das Essen auch wirklich in einem Lehmofen zubereitet worden war.

Zum Abschluss gab er mir einen kleinen Zettel mit seiner Telefonnummer und Adresse. Für den Fall, dass ich nach Bali zurückkehren würde und einen Job für ihn hätte. Gestärkt liefen wir noch etwas ziellos durch Kuta, bis wir in Küstennähe an einer Surfschule vorbeikamen, in der uns ein wohlbekanntes Gesicht begrüßte: Jeff.

Noch immer leicht lädiert, saß er hier und wartete auf den Rest unserer Gruppe, die surfen war. Ein Mitarbeiter der Schule gab uns mit einem Wasserschlauch eine kleine Fußdusche, die aufgrund unseres Marsches Stunden zuvor im schlammigen Sand sehr willkommen war. Wenige Minuten später tauchten Lin und Co. auch am Laden auf. Wir fuhren gemeinsam zurück nach Desa Seni.

Der unvermeidliche Tag der Abreise und des Abschieds war gekommen. Noch vor Beginn der Yogastunde morgens saß ich in dem kleinen Barhaus in der Mitte des Desa Seni Dorfes mit meiner Reiselektüre „Practical Ayurveda“ von Atreya Smith. Es war ein sehr interessantes Buch, weil der Autor seine eigene Geschichte erzählte. Er berichtete von einer schweren Darmerkrankung, die er mithilfe von Ayurveda in den Griff bekommen hatte. Nun saß ich da, um kurz nach sieben morgens, und trank einen tiefschwarzen balinesischen Kaffee. Vor der Abreise wollte ich ihn doch mal probieren, weil ich schon viel Gutes gehört hatte. Mein Gefühl, das er relativ stark war, bestätigte sich. Nach dem ich das letzte bisschen Flüssigkeit aus der Tasse getrunken hatte, blieb ein tiefschwarzer, dicker Kaffeesatz. Während des Lesens und Kaffeetrinkens versuchte ich unter Zuhilfenahme von Atreyas Beschreibungen meine Pulse zu ertasten und war begeistert, als ich sie gefunden hatte. Dann war es aber auch Zeit, sich auf die Yogastunde vorzubereiten. Meine Letzte auf Bali. Diese Stunde blieb mir in Erinnerung.

Nicht weil wir irgendetwas Besonderes gemacht hätten, sondern weil Lin zu Beginn der Stunde uns etwas erzählte. Sie redete von Nächstenliebe und Respekt, gerade den Armen und Schwachen gegenüber. „Einem Bettler, auch wenn man ihn nichts geben kann, zumindest ein Lächeln zu schenken.“

Ich saß ihr direkt gegenüber. Es war ein so intimer Moment, den sie mit uns teilte. Während sie erzählte, fing sie an zu weinen. Auch ich war sehr ergriffen. Ich fühlte mich in diesem Moment sehr mit ihr verbunden. Es schien so, als hätte sie ihr Herz für uns alle geöffnet. Nur wenig später folgte der Moment des Abschieds. Ich umarmte Lin und hob sie dabei hoch. Ich schenkte ihr zum Abschied einen kleinen „Ongkara“ Anhänger, der balinesischen Variante vom OM-Zeichen. Es war meine Lieblingsvariante des Zeichens.

Zudem schenkte ich ihr ein Gedicht, das ich Monate zuvor auf Deutsch geschrieben hatte und für Sie ins Englische hier übersetzt hatte.

Kopfkosmos

Selten vermute ich:

...Die Menschheit verliert den Bezug zur Unendlichkeit

und zerstört sich selbst.

...Die Dunkelheit das Licht und die Liebe auslöscht

und ich das erste Opfer seien werde.

...Mein Leben ist eine schmerzhafte Qual

und nur mir geht es so.

Doch Beweise finde ich nie.

Manchmal glaube ich:

...Dass die Welt durch Materialismus bestimmt wird

und sich keiner mehr an Ethik, Nächstenliebe und Selbstlosigkeit erinnern will.

...Die Boten des Lichtes sind bereits vertrieben

und ich bin allein und machtlos.

...Egal was ich tue, ich werde verletzt

und meine Schwächen gnadenlos ausgenutzt

...Einsamkeit ist mein Schicksal

und mein Herz gefriert für immer.

Doch die Hoffnung verliere ich nie.

Oft denke ich:

...Dunkle Wolken sind düstere Gedanken

und ich versuche sie aufzulösen.

...Jeder Tag ist ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis

und ich beschreite ihn mit Freude.

...Der Duft der Pflanzen stärkt meinen Körper

und ich fühle mich in Harmonie mit der Natur.

...Ich empfinde echtes Glück

und ein Kribbeln erfasst mein Gesicht.

...Ich bin ein Fremder in dieser Welt.

Doch glauben werde ich das nie.

Immer bin ich mir gewiss:

...Nur ein klarer Geist kann das Leben erfahren

und verdamme jegliche Drogen.

...Ich forme meinen Körper und Geist

und dies durch alles was ich denke, mir zuführe und mir auferlege.

...Jeder Mensch ist ein roher Diamant

und ich will meinen Teil beitragen, ihn zu veredeln.

...Ein kleines Stück noch und ich erreiche mein volles Potenzial

und werde versuchen die Welt zu verändern.

Und ändern wird sich das nie.

Ich verließ Bali mit einer klaren Vorstellung von meiner Zukunft: Yogalehrer werden, dann Yoga rund um die Welt zu unterrichten und möglichst bald wieder auf diese unglaubliche Insel zurückzukehren.

23 - Und Schnitt!

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