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Kapitel 4 – Das Leben danach
Оглавление„Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischste aller Träume ist.“
Hermann Hesse, Demian, Gesammelte Werke
Ich sollte noch einige Wochen in Essen ambulant behandelt werden, damit die Umstellung langsam erfolgen konnte: vom Klinikleben wieder zurück in die reale Welt.
Wir fuhren daher direkt zum Krankenhaus in Essen. Dort hatten wir einen Termin mit der leitenden Ärztin. Im Entlassungsschreiben war vorgesehen, dass ich auch hier zunächst auf eine geschlossene Station kommen sollte. Das war gar nicht in unserem Sinne. Trotzdem ließen wir uns die Station zeigen.
Im Vergleich zu Düsseldorf, wo eine angenehme Atmosphäre herrschte, war das hier anders. Ich sah eine Patientin wütend einen Mülleimer durch den Raum treten. Einen Anderen sah ich aus der Distanz und hörte ihn wild schreien.
Schnell war meinem Vater und mir klar, dass ich hier nicht bleiben könnte. Also verließen wir im Einverständnis mit der Ärztin die Klinik. Ich wohnte daraufhin mit in der Wohnung der Freundin meines Vaters.
Diese Situation währte aber nicht lange. Seiner Freundin passte meine Anwesenheit gar nicht. Es musste umgehend eine Lösung gefunden werden. Mein Vater suchte daher nach der erstbesten Wohnung und schnell hatte er den Mietvertrag unterzeichnet. Er versprach die erste Zeit mit mir dort zu wohnen, denn ich war weiterhin schwach und hatte auch Angst bei möglichen Problemen oder Unfällen alleine zu sein. So zog ich in eine kleine Zweizimmerwohnung, einige Minuten von dem neuen Büro unserer Firma und der Wohnung seiner Freundin entfernt.
Das „Gemeinsam-mit-mir-zu-wohnen“ hielt mein Vater auch nicht lange durch. Nach drei Tagen setzte seine Freundin ihm das Messer auf die Brust. Wie schon zuvor hieß es sie oder ich. Er ließ mich in der Wohnung alleine. Ich bereute schon jetzt sehr, dass ich nicht zu meiner Mutter gegangen war. Als mich mein Vater nun mehr oder minder im Stich ließ, war sie fortan immer für mich da. Sie kam mehrere Male die Woche aus Düsseldorf, so oft wie es ihr Arbeits- und Studienalltag zuließ, und half mir, mein Leben wieder halbwegs eigenständig zu führen.
In den ersten Wochen hatte ich weiterhin Probleme mit der Nekrose am Steißbein. Da war das Wissen der Freundin meines Vaters sehr hilfreich. Sie behandelte mich mit chinesischen Kräuterauflagen, die die Wunde komplett schlossen. Die Ärzte im Krankenhaus hatten zuvor wegen der Tiefe der Wunde eine Heilung fast komplett ausgeschlossen.
Ich stand geistig weiterhin neben mir. Am liebsten hätte ich alles, was mit Yoga und meinem vorherigen Leben zu tun hatte, weggeworfen. Wohin hatte mich das alles gebracht? Nirgendwohin dachte ich. In meinem Zustand der Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit tat ich selbst das zum Glück nicht. Wegen des Prolapses im Krankenhaus hatte ich große Angst davor, mich körperlich irgendwie stärker anzustrengen. Das Aller-allerletzte, was ich wollte, war noch mal in ein Krankenhaus.
In den ersten Wochen und Monaten ging es für mich nur darum, jeden Tag aufzustehen und irgendetwas zu tun. Ich sah zwar keinen großen Sinn darin, aber nichts zu tun, wie in der Klinik, wäre noch unerträglicher gewesen.
Wieso sollte ich duschen? Wieso sollte ich irgendwo hinfahren? Etwas unternehmen?
Weder änderte es irgendetwas an meiner Situation, noch könnte ich mich lang daran erinnern. Ich feierte innerlich am Ende des Tages meinen kleinen Triumph: Wieder einen Tag überlebt.
Anfangs musste ich noch einige Male zwecks Kontrolle zur Blutabnahme. Einen Monat nachdem ich aus den Kliniken war und keine Medikamente mehr nahm, wiesen die Blutwerte schlagartig einen großen Mangel an Blutplättchen aus. Das bedeutet eine verstärkte Blutungsneigung und eine langsamere Blutgerinnung. Daraufhin machten wir einen Termin in einer onkologischen Abteilung eines Essener Krankenhauses aus.
Die Atmosphäre dort war gespenstisch. Die Patienten, die sich dort aufhielten, waren größtenteils viel schlimmer dran als ich. Die meisten von ihnen hatten Krebs in verschiedenen Stadien. So verwunderte es kaum, dass der Arzt mit mir recht sorglos umging. Er führte eine spezielle Blutuntersuchung durch. Der Befund war positiv: Es war eine 'echte' Thrombozytopenie. Ich wurde ohne weitere Behandlung mit den Werten nach Hause geschickt. Der Arzt meinte lapidar: „Kommen Sie wieder, wenn Sie konstant aus der Nase bluten. Dann machen wir noch eine Knochenmarksuntersuchung.“ Glücklicherweise, so plötzlich, wie der Wert gefallen war, normalisierte er sich ein paar Wochen später wieder.
Meine Vorstellung, dass die Aufgabe in der Firma mir es einfacher machen würde, war größtenteils ein Irrglaube. Ich ging täglich ins Büro, auch am Wochenende und die Zeit verging dadurch schneller. Ich saß aber eigentlich nur da und beantwortete ein paar Anfragen. Ich ließ meinen Vater und seine Freundin alles machen, wie sie wollten. Ich schaute dem Treiben teilnahmslos zu.
Lin schrieb mir wieder: Sie betete für mich und schrieb den anderen Teilnehmern des Bali-Retreats, das ebenso zu tun. Im Juli würde sie nach Deutschland kommen und wollte mich besuchen.
In meiner Situation war es mir recht gleich. Ich überließ ihr die Entscheidung – und so kündigte sie sich für den 21. Juli an. Sie hatte zuvor einen Termin in Frankfurt und würde alleine für mich einen Tag nach Essen kommen.
Ich sah tatenlos zu, wie meine Firma den Bach herunter ging. Bevor ich ins Krankenhaus kam, hatten wir auf unserem Konto gute Reserven. Diese waren jetzt fast aufgebraucht. Meine Mit-Geschäftsführer hatten die Firma zwar nach Essen geholt und sich um offene Bestellungen gekümmert. Sie hatten aber keine neuen Kunden hinzugewonnen und auch nicht darüber nachgedacht, ob ein teures Büro mit unserem Umsatz finanzierbar war.
Mit meinem Vater bin ich zu der Zeit einige Male angeeckt. Natürlich auch, weil er mich privat im Stich gelassen hatte. Gerade aber auch, weil er keine Ahnung hatte, wie ein Geschäft zu führen war. Eine dieser Situation blieb nachhaltig haften.
Wir waren eines Nachmittags in der Essener Innenstadt unterwegs. Ich weiß nicht mehr wieso, aber sowohl meine Mutter, als auch mein Vater waren bei mir. Mein Vater sagte im Zuge unserer Auseinandersetzung zu mir so etwas wie: „Ich habe ja nicht zwei Monate lang Urlaub gemacht.“
Das war für mich unglaublich verletzend und ich brach innerlich zusammen. Ich weinte und schrie ihn an. Meine Mutter gab mir daraufhin Halt und Trost.
Die Zeit plätscherte weiter so dahin und schon war der 21. Juli gekommen. Ich war zu Hause und gegen Mittag klingelte es. Ich war gerade am Kochen und Lin überraschte mich etwas. Sie hatte sich nicht verändert.
Weiterhin hatte sie eine unglaublich tolle Ausstrahlung. Ich konnte mich trotzdem kaum freuen. Wir unterhielten uns über das, was passiert war. Nach einigen Minuten lag ich weinend in ihren Armen. Sie tröstete mich. Über den Tag versuchte sie mich immer wieder aufzumuntern, doch leider vergebens. Sie hatte mir mehrere Geschenke mitgebracht: ein Bild von unserem White Water Rafting Trip aus Bali und ein Bild von Durga, einer der Göttinnen des Hinduismus. Sie stellte mir noch eine CD mit ihrer Lieblingsmusik zusammen. Sie verbrachte fast den gesamten Tag in Essen. Später waren wir noch gemeinsam mit meinem Vater und seiner Freundin essen. Sie wollte den Stomabeutel sehen. Für sie hatte es keine große Bedeutung. Vielmehr war sie inspiriert davon, dass ich das alles so überstanden hatte.
Es war ein trister Tag.
Der Mensch, den ich neben meinen Eltern vor dem Krankenhaus am meisten in mein Herz geschlossen hatte, kam zu mir nach Essen und ich konnte es nicht wertschätzen.
Nicht mal ein Lächeln konnte ich mir abringen. Wir verabschiedeten uns am Nachmittag am Essener Hauptbahnhof.
Wenige Tage später schickte sie mir noch per E-Mail einen Link zu einem Artikel über „Yoga bei Depressionen“ und zwei Fotos, die sie mit mir in Essen gemacht hatte.
In der Zwischenzeit war ich noch bei einem anderen Therapeuten. Ich erzählte ihm meine Geschichte und er zeigte sich verständnisvoll. Gerade, weil ich so einen Medikamentencocktail im Krankenhaus bekommen hatte, hielt er den Verlauf dort für plausibel. Mir ging es weiterhin hauptsächlich um meine Gedächtnisprobleme und meine Konzentrationsfähigkeit, die weiter beide unverändert schlecht waren. Unterm Strich war das Gespräch jedoch ernüchternd. Er hielt Medikamente für die einzige Option und wollte mir ein Antidepressivum verschreiben: Cipralex.
Das berichtete ich Lin. Ihre Reaktion war ebenfalls skeptisch. Sie sprach mir erneut Mut zu, zu kämpfen und weiterzumachen. Ich verzichtete auf weitere „Experimente“ mit Psychomedikamenten.
Etwas Ablenkung hatte ich dann doch. Die Olympischen Spiele in Peking fanden im August statt. Ich hatte in den Jahren zuvor Sport breit verfolgt und mit Recherchen, Analysen und Statistiken hatte ich gutes Geld verdient. Somit war ich den August über fast durchgängig beschäftigt – zwar weiterhin nicht glücklich, dafür aber nicht so viel am Grübeln.
Ein paar Dinge versuchten wir in den nächsten Monaten.
Zu den etwas skurrileren Versuchen gehörte der Besuch bei einem ägyptischen Heiler in Essen. Ich hatte auch tatsächlich was gespürt, denn von seinen Händen ging eine starke Wärme aus. Nachhaltig änderte das jedoch nichts.
Ich machte mich schlau, was es so an natürlichen Alternativen zur Stimmungsaufhellung gab. Ich probierte Johanniskraut aus. Jedoch kam ich zur Erkenntnis, dass ich auf Dauer mein Denken ändern müsste, damit sich meine Welt wieder aufhellt.
Die Firma wurde meine vorrangige Beschäftigung. Hatte ich noch Ende 2007 für mich damit abgeschlossen, war sie nun nach dem Verlust meiner körperlichen Integrität das Einzige, was mir von vorher geblieben war. Solange ich nur da saß und zusah, wie mein Vater und seine Freundin agierten, war die Situation entspannt. Ich erlangte aber nach und nach mehr von meiner Klarheit und meinem Selbstbewusstsein zurück.
Im Oktober spitzte sich die finanzielle Situation zu. Wir mussten uns unterhalten. Zunächst kam es zu zähen Verhandlungen zwischen mir und der Freundin meines Vaters. Sie war ebenfalls Geschäftsführerin und Teilhaberin und die Einzige von uns mit einem geregelten Einkommen. Ich wollte, dass wir einen Kredit beantragen, um die Firma neu auszurichten. So ging es nicht weiter:
Unsere Fixkosten überschritten unseren Gewinn Monat für Monat, wir verkauften fertige Produkte, die wir zukauften und unser Umsatz stagnierte. Die Verhandlungen mit ihr waren nervenaufreibend. Wir setzten einen Vertrag auf, dass mein Vater und ich das gesamte Risiko des Kredits tragen würden und noch viele andere Zugeständnisse zu ihren Gunsten. Als wir uns einig waren, war ich erleichtert. Alles war unterschrieben und ich hoffte, dass wir nun eine Lösung gefunden hätten. Ich machte meine Rechnung jedoch ohne sie. Am nächsten Tag informierte sie mich, dass ihr jemand davon abgeraten hätte.
Letztendlich war meinem Vater und ihr die Firma egal. Sie hatte neben der Textilfirma ihres Bruders und ihrem Chirurgenjob noch eine kleine, eigene Akupunkturpraxis und er war noch freiberuflich in seinem alten Job tätig.
So blieb mir nur, Geld aus meinen Reserven in die Firma zu investieren. Zunächst nur soviel, um die Firma am Laufen zu halten.
Mein Vater holte wenig später seinen Cousin zu uns. Er war knapp um die 50, und zuvor jahrelang Verkäufer für alles Mögliche: Unter anderem Wäschespinnen und Tonerpatronen. Jetzt war er langzeitarbeitslos und für uns aufgrund der Unterstützung vom Arbeitsamt eine günstige Arbeitskraft. Er kam mit großem Elan und einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein zu uns, die schon an Überheblichkeit grenzte. Er hatte viele Vorschläge, von denen ich viele aufgriff und so wieder anfing, produktiv zu arbeiten. So hatte seine Anwesenheit durchaus etwas Positives.
Lin meldete sich im Oktober auch wieder. Sie schickte mir ein Foto, auf dem sie einen großen Freudensprung machte, und forderte mich auf, ihr auch ein Bild zu schicken, auf dem ich einen ähnlichen Sprung mache. Ich konnte ihr nichts wirklich Positives berichten, außer ihr für das Bild und die Mail zu danken.
Dann passierte etwas, dass eine große Signalwirkung hatte: Stevia wurde in den USA offiziell als Lebensmittel zugelassen. Nicht die ganze Pflanze, doch einige Inhaltsstoffe. Nun war es klar, dass die EU-Zulassung nicht mehr so fern sein könnte.
Wir vertrieben Stevia seit 2003, und es hieß jedes Jahr, eine EU-Zulassung stünde bevor. Ohne eine Lobby war das wohl nicht möglich. Nun war die Lobby gegeben, denn in den USA hatten die Zulassung „Coca Cola“ und „Cargill“ tatkräftig angetrieben und die notwendigen Studien finanziert. Es war an der Zeit, die Firma neu auszurichten. Ich hatte eine klare Vorstellung, wie das auszusehen hatte:
Wir brauchten eine eigene Marke mit professionellem Aussehen. Produkte mit eigenen Rezepturen, für uns in Deutschland hergestellt. Eine Webpräsenz, die professionell und ansprechend wäre.
Dafür war nun mehr Einsatz nötig. Ich müsste auf mich selbst setzen. Eine riskante Wette.
Zum Jahresende kam dann noch ein weiterer Tiefpunkt in der Beziehung zwischen mir und meinem Vater hinzu.
Gerade nach diesem schweren Jahr für mich fuhr er mit seiner neuen Familie über meinen Geburtstag und über Weihnachten in die Türkei.
Mehr und mehr wurde meine Mutter die Kraft in meinem Leben, die mich stützte.
Für eine Weile funktionierte die Konstellation in der Firma.
Ich ließ mich auf fast alle Vorschläge des Cousins meines Vaters ein, solange es nicht zu kostspielig war. Irgendwann kamen wir doch an einen Knackpunkt. Durch seine Art eckte er gerade bei meiner Mutter an, die schon jetzt mir auch in der Firma half. Er schaffte es, auch mich aus der Fassung zu bringen. Die Art und Weise, wie er mit mir umging, war wie mit einem Angestellten. Ich war sein Chef und das machte ich ihm dann einmal rigoros und lautstark klar. Ab dann waren die Fronten klar verteilt.
In den nächsten Wochen kümmerte ich mich um Designentwürfe für die Marke und die Webseite. Hier prallten wieder Welten aufeinander. Sowohl er als auch mein Vater hatten sehr eigene Vorstellungen, die sich mit meinen absolut nicht vereinbaren ließen. Wäschespinnen und Tonerpatronen sind schon etwas anderes als ein natürliches Süßungsmittel, dachte ich nur.
Fortan kümmerte ich mich alleine um das Vorantreiben der Projekte. Ich arbeitete klare Briefings aus, überwachte jeden Schritt der nun beauftragten Freiberufler. Nach ein paar Aufs und Abs stand dann Anfang 2009 zunächst das neue Markenlayout und die Firmenwebseite. Ich hatte einen jungen russischen Grafiker gefunden, mit dem ich das Markenlayout für „steviana“ entwickelte und einen jungen Polen, der zugleich technisch versiert und grafisch talentiert war, mit dem ich die Webseiten gestaltete. Zunächst wurde unser Online Shop neu gestaltet, dann eine Firmen- bzw. Markenpräsenz geschaffen und zu guter Letzt ein Communityportal zu Stevia. Wir fanden Partner und Lohnhersteller, die für uns kleine Mengen produzieren konnten und stetig entwickelte sich das Geschäft wieder in Richtung Profitabilität.
Im April kam der Cousin meines Vaters dann zu mir. Er hatte seine Kündigung aufgesetzt und bat mich um meine Unterschrift. Ich war nicht überrascht und sogar etwas erleichtert: Seine Art zu verkaufen und Geschäfte zu machen passte nicht zu meiner. Ich war stets auf Ehrlichkeit und Authentizität bedacht, er hingegen auf Superlative und Aggressivität im Verkauf fokussiert. Er begründete seine Kündigung damit, dass er einen Job bei einer Werbeagentur in Köln gefunden hätte. Kurz nach der Unterschrift sagte er mir, dass er noch Resturlaub hätte und somit das sein letzter Arbeitstag wäre. Insgesamt war ich von der Art und Weise enttäuscht und spürte, dass das nicht die Wahrheit war.
Mittlerweile hatte der Besuch von Lin im Sommer 2008 für mich eine andere Bedeutung. Je mehr Zeit verging, desto höher wurde für mich der Wert ihres Besuchs. Mehr und mehr hatte ich das Bedürfnis, ihr zu sagen, dass ich es zu dem Zeitpunkt nicht wertschätzen konnte und das es nun für mich unglaublich wichtig war. Sie war aus reiner Nächstenliebe zu mir gekommen, selbstlos und ohne Erwartungen.
Mitte 2009 ging ich dann zu einem Neurologen in Essen. Ich schilderte meine Probleme und wie ich damit umging. Für ihn passte das alles auch nicht so zusammen – wäre ich wirklich so schwer depressiv, würde ich mein Leben nicht wieder so in Angriff nehmen. Er verstand, dass die Erfahrungen und die neuen Umstände, in denen ich nun lebte, nicht einfach waren.
Über die nächsten Monate wurde es immer klarer, das meine Gedächtnisprobleme wohl eine andere Ursache haben müssten.
Im Juni eskalierte die Situation in der Firma. Ich hatte die ständigen Querelen mit der Freundin meines Vaters satt. Sie hatte ihn voll in ihrer Hand und ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Als ich ihre Hilfe gebraucht hatte, um die Firma zu retten, hatte sie mich im Stich gelassen. Insgesamt hatte sie in der Firma nichts geleistet. Nun, als ich viel Zeit und Geld investiert hatte und diese Investitionen endlich Früchte trugen, wollte sie nicht gehen.
Eigentlich wollte ich nur, dass sie als Geschäftsführerin Abtritt, denn sie tat faktisch nichts für die Firma, wohingegen ich Vollzeit arbeitete.
Im Gegenteil: Sie wollte viel Geld von mir, damit ich vor ihr Ruhe hatte. Weiter benötigte die Firma jedoch Geld, um die Liquidität zu sichern. So forderte ich entweder ihre Unterstützung oder dass sie die Firma verlässt.
Mein Vater und sie hatten mein Vertrauen missbraucht und Geld von unserem Firmenkonto auf ihr GbR Konto gebucht, was unser Konto in die Miesen brachte. Dazu kamen noch einige andere Dinge: Mein Vater ließ sich eine Bahnkarte finanzieren und sie ließen sich ihr Privatauto über die Firma finanzieren, inklusive Spritkosten und KFZ-Steuer. Sie nötigten mich, Spirulina Produkte zu kaufen und zu verkaufen. Auch dass sie den Firmensitz gegen meinen Willen verlegt hatten, ein teures Büro und Büromöbel von dem hart erarbeiteten Geld meiner Firma gekauft hatten, spielte eine Rolle.
Mein Vater konnte sich daraufhin einen Kommentar nicht verkneifen: „Du hast vielleicht Geld, ich nicht“. Als ob das meine Schuld wäre. Sein Neid war seit dem Krankenhaus stets spürbar.
Es kam einige Tage später zu einer Gesellschafter-versammlung mit dem Schwager meines Vaters als Schiedsmann. Letztendlich einigten wir uns auf ihr Ausscheiden, mein Vater machte ihr gegenüber wohl einige finanzielle Zugeständnisse, die mir nie wirklich klar waren. Soweit ich weiß, verpflichtete er sich, ein Jahr kostenfrei für sie zu arbeiten und ihr für ihren Anteil einen gewissen Betrag zu geben. So waren wieder nur noch mein Vater und ich Anteilseigner.
Gerade in der Zeit, als die Situation sich zuspitzte, kontaktierte mich ein kroatischer Geschäftsmann. Er wollte Stevia in Kroatien auf dem Markt bringen. Ich schickte ihm einige Information und wir vereinbarten ein Treffen in den nächsten Monaten.
Ich nahm mein Leben langsam wieder in die Hand. Dazu gehörte auch, sich mit anderen Menschen mit Stoma in Kontakt zu setzen. Ich traf den Leiter der ILCO-Essen. Das Treffen war ernüchternd. Ich musste feststellen, dass die Konstellation jung und Stoma äußerst selten war.
Er war Mitte sechzig und im Gespräch erfuhr ich, dass in der gesamten Essener Gruppe keiner in meinem Alter war. Es waren alles Darmkrebspatienten, die sich einmal die Woche auf ein Bierchen trafen.
Weiter fand ich heraus, dass es eine junge ILCO-Gruppe in Recklinghausen gab, und telefonierte mit dem Leiter dieser. Es war ein interessantes Gespräch. Er hatte sein Stoma in meinem Alter bekommen und lebte jetzt mehr als 15 Jahre damit. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, dass er sich davon sehr einschränken ließ. Es reichte ihm, „normal“ essen und leben zu können.
Mir war das nicht genug. Es motivierte mich, meine Grenzen auszuloten. Der Prolaps war mittlerweile lange her und ich entschied mich, Qi Gong zu lernen. Wie ich schon mit Yoga anfing, so auch mit Qi Gong – mit einer DVD.
Ich fand eine sehr schöne Übungs-DVD von einem Amerikaner, der bei einem chinesischen Meister über einige Jahre gelernt hatte. Sie war sehr sanft, aber fließend und abwechslungsreich.
An Yoga traute ich mich jedoch nicht wieder ran. Yogaübungen waren dann doch noch von anderer Qualität.
Im Juli erfuhr ich durch Zufall, dass der „liebe“ Cousin meines Vaters mir ins Gesicht gelogen hatte. Plötzlich prangte auf seiner „XING“ - Seite seine neue Stelle:
Geschäftsleiter seiner eigenen Stevia Firma. Ich stoß auf Internetadressen, die er schon während er noch für uns tätig war, für sich und seine neue Firma registriert hatte. Von jemandem aus der eigenen Familie hintergangen zu werden war mir bis dahin fremd. Ich war mehr enttäuscht als wütend. Es war für mich letztendlich nur noch mehr Ansporn, zu zeigen, was ich konnte.
Ich traf auch den Kroaten zum ersten Mal in Essen. Nach unserem Gespräch schickte ich ihm Preislisten und Informationsmaterial, aber auch einen weiteren Vorschlag, der mir kam.
Wir verstanden uns auf Anhieb gut und er hatte die Ausbildung und die Erfahrung, die mir fehlte. Er wollte eigentlich genau dasselbe machen, was ich in die Wege geleitet hatte. Wieso das Rad neu erfinden, dachte ich. Ich legte ihm dar, das wir bereits eine Marke, Zulieferer und eigene Produkte hatten. Genau das, was er plante. Ich bat ihm an, Anteilseigner zu werden. Für mich war das Geld, dass ich für den Anteil erhalten würde, eine willkommene Hilfe, um die Firma noch weiter voranzubringen.
Besonders ging es mir jedoch um das Potenzial, was unsere Zusammenarbeit haben könnte. Er war grundsätzlich nicht abgeneigt und bat um Bedenkzeit.
Im August kam es dann zu einem Rechtsstreit mit dem Cousin meines Vaters. Er hatte sich im Internet als Pionier und Marktführer für Stevia Produkte eingetragen. Das war so dreist, dass wir dagegen rechtlich vorgehen mussten.
Zunächst verleugnete er, das so eingetragen zu haben.
Wir waren dann vor Gericht in Essen. Es war ein sehr trauriges Bild. Unser Anwalt, mein Vater und ich standen auf der einen, und der Verteidiger seines Cousins auf der anderen Seite. Er hatte nicht den Schneid, uns gegenüberzutreten. Der Richter sah es als erwiesen an, dass er das eingestellt hatte. Trotzdem trugen wir die Hälfte der Kosten und er musste alles entfernen.
Mitte August nahm ich wieder Kontakt zu Lin auf. Endlich fühlte ich, dass es aufwärtsging – und das ihre kleine Geste, zu mir zu kommen und mir beizustehen, eine der wichtigsten Erfahrungen war, die mich wieder ins Leben zurückgeholt hatten. Sie freute sich sehr von mir zu hören und teilte mir mit, dass sie im September nach München kommen würde. Sie bot mir an, einfach zu dem Workshop zu kommen. Als Gast, ohne bezahlen oder bei den Übungen mitmachen zu müssen. Ich überlegte recht lang und intensiv.
Ich wusste, dass es mir das Herz brechen könnte, diese Welt noch einmal zu sehen, in dem Wissen, dass sie für mich nicht mehr greifbar war. Ich war seit dem Krankenhausaufenthalt nirgendwo mehr hingereist.
Was sollte ich da überhaupt? Andererseits stand dem Ganzen ein Gedanke gegenüber:
Was hatte ich wirklich zu verlieren?
Ich buchte einen Flug und Hotel für zwei Tage München, den 5. und 6. September und nahm meinen Vater als Begleitung mit.