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Kapitel 3 – Eine Nachtmeerfahrt
Оглавление"Wem der Himmel eine große Aufgabe zugedacht hat, dessen Herz und Willen zermürbt er erst durch Leid.“
Meng Zi
Ich hatte nie ein sonderlich gutes Verhältnis zu Krankenhäusern. Die grauen Fassaden und farblosen Räume vermittelten von Beginn an ein Gefühl von Trauer und Schwermut. Schon der Begriff „Krankenhaus“ gefiel mir überhaupt nicht. Wieso nannte man es nicht Heilungs- oder Gesundungshaus?
Am 3. März kam ich in Iserlohn ins Krankenhaus. Nach dem formalen Aufnahmeprozedere wurde ich kurz untersucht und befragt. „Der Junge braucht Flüssigkeit“, war die resolute Entscheidung des Arztes. Ich bekam umgehend einen Katheter gesetzt und einen Tropf mit Kochsalzlösung an meine Seite gestellt. Ich hatte ein großes Zweibettzimmer für mich alleine. Nach dem Bezug des Zimmers saß ich einige Minuten auf dem Bett und aß noch mit Mühe eine Laugenstange. Es sollte meine letzte richtige Nahrung und das letzte Mal Sitzen für einige Zeit sein. Danach legte ich mich entkräftet hin. Die Schmerzen waren unvermindert stark.
Ich bekam nur die Kochsalzinfusionen und keine Schmerzmittel oder andere Medikamente. Die Zeit verlor schnell ihre Bedeutung. Ich bewegte mich pausenlos im Bett von links nach rechts bei der verzweifelten Suche nach einer erträglichen Liegeposition. Mindestens einmal pro Stunde musste ich mich aus dem Bett Richtung Toilette schleppen. Aus mir kam nur noch Blut. Nach der ersten - so gut wie schlaflosen - Nacht konnte ich mich im Spiegel kaum noch wiedererkennen. Die Flüssigkeit sammelte sich in meinem Körper an. Mein Gesicht war stark angeschwollen. Die Blutuntersuchungen lieferten zumindest ein eindeutiges Ergebnis: einen enorm hohen CRP-Wert. Dieser galt als Beleg für die extreme Entzündung und die heftige Immunreaktion, die sich in mir abspielte.
Mein Vater übernachtete einige Nächte mit in meinem Zimmer. Das war mir eine große Stütze, weil der Schmerz, die Blutungen und die Schlaflosigkeit, mich zermürbten. Ich kämpfte, mit der Hoffnung, dass man mir helfen könnte und würde. In diesem Krankenhaus war man mit meiner Erkrankung jedoch komplett überfordert. Ich bekam nichts zu essen. Das machte mir nicht viel. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Dem Kampf gegen den Schmerz und für das Überleben. Einzig eine Magenspiegelung wurde durchgeführt, die keine neuen Erkenntnisse lieferte.
Im Hintergrund bemühten sich meine Eltern darum, die Verlegung nach Düsseldorf zu organisieren. Der leitende Arzt der tropenmedizinischen Ambulanz hatte sich nach meinem Besuch dafür eingesetzt, mich ins Universitätsklinikum zu holen.
Am 7. März wurde ich nach Düsseldorf verlegt. Ich war sehr schwach und wurde in einem Rollstuhl aus dem Krankenhaus gefahren und auf einer Liege mit einem Krankenwagen nach Düsseldorf transportiert. Bei der Ankunft an der Klinik herrschte zunächst Unklarheit, wo ich hin sollte. Ich fror einige Minuten auf der Liege, weil ich nur ein Krankenhaushemd trug und eine dünne Decke mich nur spärlich warmhielt. Ein weiterer Wintereinbruch hatte kühle Temperaturen und Schnee mit sich gebracht. Nach einigen langen Minuten ging es dann weiter zu meiner Unterkunft: der Infektionsstation MX1. Ich kam auf ein Zweibettzimmer, mit einem Kühlschrank, einem großen Fenster, mit einer Tür zu einer kleinen Wiese an der Rückseite des Gebäudes, einer Toilette und jeweils 2 kleinen LCD-TV-Computer-Kombinationen, die von der Decke hingen. Die beiden Betten und Zimmerseiten waren durch einen hauchdünnen Vorhang getrennt, der außer Blicken nichts filterte. Die ersten Tage verbrachte ich auch hier alleine. Da keiner so recht wusste, was ich hatte, standen die abenteuerlichsten Vermutungen im Raum.
Gerade zu der Zeit grassierte der Norovirus durch die Region und so hing ein großes Schild an der Tür: „Vorsicht Ansteckungsgefahr“. Sowohl die Pfleger als auch meine Besucher mussten Atemschutzmasken tragen. Blutproben, Stuhlproben, Urinproben – alles wurde untersucht. Schnell war klar, dass ich nicht am Norovirus erkrankt war. Folglich wurden die Warnung und die Schutzmaßnahmen aufgehoben.
Der leitende Arzt der Station war Doktor Tischler. Von seinem Auftreten und Aussehen her hätte er meines Erachtens sehr gut in eine Krankenhausfernsehserie gepasst. Von Anfang an forderte ich von den Ärzten absolute Offenheit. Diese erhielt ich auch ohne Einschränkungen. Die Behandlungsstrategie bestand zunächst darin, auf alle möglichen Infektionserreger hin zu untersuchen und dazu intravenös Antibiotika zu geben. Auf der anderen Seite wurde ich mit Cortison behandelt, um gleichzeitig den zweiten Verdacht Colitis Ulcerosa zu behandeln.
Es wurde mit allen Waffen geschossen. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf Besserung und Heilung zu hoffen und die Behandlung so gut es mir möglich war zu ertragen und unterstützen. Zu der Kochsalzlösung kamen also Cortison- und Antibiotikainfusionen hinzu.
Ich blieb nicht lange alleine auf dem Zimmer. Nach den ersten Tagen wurde ein junger Türke auf dem anderen Bett untergebracht. In seinem Fall spielte sich ebenfalls ein Drama ab: Er war HIV-positiv und hatte körperlich komplett abgebaut. Er kämpfte mit verschiedenen Infektionen und starken Schmerzen. Besonders prekär war, dass er die Erkrankung vor seiner Familie verheimlichte. Er hatte Angst davor, sie würden ihm dann wegen ihres Glaubens den Rücken zukehren. Die Ärzte halfen ebenfalls mit. Sie verschwiegen seine wahre Situation und spielten seinen Zustand herunter. Die Krankheit hatte ihn körperlich und geistig zerfressen. Er reagierte oft mit Wut und beschimpfte die Pfleger. Seine Freundin, eine junge Amerikanerin, kam häufig zu Besuch und brachte ihm etwas zu essen und Zigaretten. Trotz seiner Erkrankung war er weiterhin Kettenraucher und hatte Drogenprobleme. Wir erfuhren, dass er seine Freundin auch mit AIDS angesteckt hatte. Er ließ seine Verzweiflung und Wut jedoch besonders an ihr aus. Das einzig Positive war sein Glauben an die Ärzte, der es ihm ermöglichte, durchzuhalten.
Ich lag daneben und verfolgte alles hautnah. Einerseits kämpfte ich um mein Leben, andererseits hatte ich Mitleid. Egal, was hier mit mir passierte: Ich suchte die Schuld weder bei den Ärzten noch bei den Pflegern oder gar bei mir selbst. Ich reagierte auf das Leiden vielmehr mit Tränen und Verzweiflung, doch nicht mit Wut und Hass. Besonders nicht auf die Leute, die mir helfen wollten.
Nach wenigen Tagen verschlimmerte sich sein Zustand so sehr, dass er auf die Intensivstation verlegt wurde. Danach hörten wir nichts mehr von ihm. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie seine Freundin getroffen hatte und er kurze Zeit später verstorben war.
Ich baute weiterhin stetig ab. An Essen war kaum zu denken. Ein Joghurt war schon eine große Herausforderung. Schlaf und Ruhe fand ich äußerst selten. Meistens war es so, dass ich Schmerzmittel bis zu einer verantwortbaren Dosis bekam und dann für eine Stunde Ruhe fand. Die Kombination aus Kochsalzinfusionen und Cortison ließ mich trotzdem Gewicht zunehmen und weiter anschwellen. Ich wog um die 60 kg, mehr als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ins Krankenhaus kam, und das ohne zu essen. Die Blutungen blieben konstant und stark. Ich erhielt einen Toilettenstuhl, damit ich mich nicht immer auf die Toilette schleppen musste.
Rückblickend ist es faszinierend, wie viel Kraft und Ausdauer ein Mensch entwickeln kann, wenn er um sein Leben kämpft.
Die ganze Situation war unwirklich. Die Schmerzen, die ich empfand, waren für mich nicht in Worte zu fassen. Ich dachte häufig: „Diese Schmerzen hat kein Lebewesen verdient.“
Ständiges Hin- und Herdrehen, das Verstellen des Bettes auf und ab: Verzweifelte Versuche, den Schmerz ertragen zu können. Stunden, Tage, Wochen vergingen. Jeder Tag war unendlich lang und das Prozedere war immer ähnlich: Infusionen wurden ausgewechselt, neue Stiche gesetzt und mindestens einmal täglich Blut abgenommen. Nach kurzer Zeit waren meine Arme von Stichen übersät. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon viel Blut verloren und es wurde Tag für Tag mühevoller für die Ärzte, Blut abzunehmen. Erschwerend kam hinzu, dass die Blutabnahmen meist den „Frischlingen“ überlassen wurden. Wie der Name schon sagte, war das Universitätsklinikum direkt mit der Universität verknüpft. Eine der angehenden Ärztinnen schaffte es, dass ich in Tränen ausbrach. Sie hatte so eine kalte Art und ging völlig unsensibel vor. Ich fühlte mich wie ein Versuchsobjekt. Meine Mutter saß neben mir. Sie konnte es ebenfalls kaum fassen. Auch das steckte ich weg, weiterhin in dem Glauben, dass Heilung möglich wäre. Wegen der langen Liegerei musste ich dann auch Thrombosestrümpfe tragen.
Abhängig davon, in welchen Arm mir die Infusionsnadeln gesetzt wurden, schwoll die jeweilige Hand und Körperseite stärker an. Ich konnte nicht fassen, was mit mir passierte: Meine Füße wurden zu groß für meine Schuhe. Wassereinlagerungen waren eine bekannte Nebenwirkung der Cortisonbehandlung, doch hatte es bei mir bereits mit der Gabe der Kochsalzlösung begonnen. Die Frage, wieso es bei mir solche Ausmaße annahm, blieb letztendlich unbeantwortet.
Während ich in den Tagen in Iserlohn nur liegen konnte, versuchte ich in Düsseldorf anfangs noch zu gehen. Nach einigen Tagen war ich einfach zu schwach dafür und konnte das Bett kaum noch verlassen. Schnell hatte ich mich wund gelegen. Es bildete sich ein Wundliegegeschwür an meinem Steißbein. Es wurde über die folgenden Wochen so schlimm, dass das Gewebe teilweise abstarb. Mithilfe von Pflastern und Sitzringen versuchten die Pfleger, die Wunde zu versorgen.
Ich bekam nicht so viel davon mit, was hinter den Kulissen geschah. Was ich jedoch täglich sehen durfte, waren bei der Visite mindestens zehn Ärzte, die untereinander diskutierten, mir Fragen stellten, doch trotzdem komplett im Dunkeln tappten. Glücklicherweise waren die Pfleger und Schwestern sehr mitfühlend und einfühlsam. Der Leidensdruck war enorm und umso dankbarer war ich um die fürsorgliche und gute Behandlung.
Eine Darmspiegelung war zu Beginn des Aufenthalts noch möglich. Das Ergebnis war, wie zu erwarten, verheerend. Der gesamte Dickdarm war stark entzündet und am Bluten. Die dabei entnommenen Gewebeproben waren nicht eindeutig und so sollte eine zweite Spiegelung gemacht werden.
Dazu musste ich es wiederum schaffen, eineinhalb Liter Flüssigkeit zu trinken, was mir nur mit Disziplin und Selbstüberwindung möglich war. Schon nach dem ersten Glas füllte ich mich voll und kurz vor der Implosion. Die Mühe war jedoch umsonst, da die Ärzte die Untersuchung aufgrund des Entzündungsgrads für zu risikoreich erachteten. Ein ähnliches Prozedere durchlief ich wenig später bei einer Darm Computertomografie. Der Vorteil dieser Untersuchungsmethode: Sie war ungefährlich und nicht invasiv.
Endlich gab es auch mal eine positive Nachricht: Der Dünndarm war zwar geschwollen, aber nicht entzündet. Die Blutungen und die Entzündung beschränkten sich auf den Dickdarm.
Meine Stuhl- und Blutproben wurden deutschlandweit ausgewertet, doch konnte kein bekannter Erreger nachgewiesen werden.
Dazu gab es von einem der Ärzte einen passenden Kommentar: „Es gibt auch viele Erreger, die wir gar nicht kennen.“
Aufgrund der Faktenlage entschieden sich die Ärzte dann zur standardmäßigen Behandlung einer Colitis Ulcerosa. Die Blutungen wurden somit auf eine Autoimmunreaktion zurückgeführt. Das bedeutete weiterhin Cortison in hoher Dosis. Zudem lernte ich den Leiter der Klinik kennen, Professor Rosinger, der bei seinem ersten Besuch eine Entscheidung traf: Ich sollte keine Ballaststoffe mehr zu mir nehmen, nur noch Astronautenkost.
Das nahm dann skurrile Ausmaße an. So wurde mir an einem Tag ein Sojaschokodrink gegeben, der 0.9 g Ballaststoffe enthielt. Nach diesem „großen“ Fehler gab es nur noch das Zuckerwasser, wie ich es nannte. Denn die Astronautenkost war ein hochkalorisches Getränk und bestand größtenteils aus Glukosesyrup und Saccharose. Die 200ml pro Packung oder Flasche bekam ich mit Mühe herunter. Mit Disziplin schaffte ich am Tag vier oder fünf davon.
Für mich hatte das einen großen symbolischen Wert. So hatte ich zumindest noch eine Sache in meiner eigenen Hand. Wenn ich die Astronautenkost nicht hätte trinken können oder wollen, wäre künstliche Ernährung durch einen Schlauch die Konsequenz gewesen.
Bevor ich einen neuen Zimmernachbarn bekommen konnte, wurde ich auf ein anderes Zimmer verlegt. Aufgrund meines Zustands hielten die Ärzte es für angebrachter, mir ein Einzelzimmer zu geben. Es waren mittlerweile drei Wochen vergangen und die Situation hatte sich stetig verschlimmert. Meine Blutwerte machten Bluttransfusionen unabdingbar. Mir gefiel die Entwicklung überhaupt nicht. Wir versuchten noch Möglichkeiten zu finden, mich in eine alternativmedizinische Klinik zu verlegen. Leider war es dafür zu spät. In meinem Zustand war ich nicht mehr transportfähig. Der Chefarzt der Magen-Darm-Abteilung war mir gegenüber sehr ehrlich und offen. Schlimmstenfalls könnte ich an der Erkrankung sterben, sagte er. Oder zumindest lebenslang künstlich ernährt werden, wenn mehr als nur der Dickdarm entfernt werden müsste. In den Tagen wurde das zu meiner größten Angst: Gerade war ich 23 geworden und das sollte nun alles sein? Ich hing stark am Leben.
Für mich gab es wenig Ablenkung. Ich konnte zwar Fernsehen, Zeitschriften lesen, Musik hören oder auch das Internet nutzen. Ich war jedoch viel zu schwach, irgendetwas davon konzentriert zu verfolgen. Der Schmerz durchdrang alles und es gab kein Entkommen vor ihm.
Die Behandlungsmöglichkeiten gingen so langsam aus. Wochenlange Cortisongabe hatte zwar den Entzündungswert reduziert, doch die Blutungen waren unvermindert und sogar stärker als je zuvor. Ich lernte noch einen völlig neuen Begriff kennen: Blutkoagel. Wochenlang kam nur flüssiges Blut aus mir raus, jetzt aber auch richtige Blutklumpen. Aufgrund der Entwicklung konnte ich da nicht völlig tatenlos liegen. Ich fand etwas über Blutwäsche als Möglichkeit im Internet. Das war jedoch eine experimentelle und noch nicht sehr erprobte Behandlungsmethode und in der Klinik wurde sie nicht praktiziert. Daher blieb nur noch die Behandlung mit Immunsuppressiva. Im wahrsten Sinne war das nun „alles auf eine Karte setzen“: Eine Colitis würde zu hoher Wahrscheinlichkeit darauf positiv ansprechen und die Symptome sollten abflachen. Bei einer anderen Erkrankung könnten alle Dämme brechen. Es wurde sofort zur härtesten Waffe gegriffen: Tacrolimus, ein extrem stark und schnell wirkendes Mittel, um das Immunsystem auszuschalten. Zeitgleich wurde ich darüber informiert, was passieren würde, sollte die Behandlung nicht anschlagen. Dr. Tischler erklärte mir, dass man den Dickdarm entfernen würde, mir einen künstlichen Darmausgang legen würde, Ileostoma genannt, und ich nach zehn Tagen wieder normal essen und nach Hause könnte. Nach sechs Wochen würde das dann wieder zurückverlegt und alles wäre wie zuvor, ich müsste nur etwas öfter auf Toilette. Das hörte sich für mich nach Erlösung an. So sehnte ich die Operation geradezu herbei, da Besserung absolut nicht in Sicht war.
Als mein Zustand stabil schien, flog mein Vater mit seiner Freundin nach China. Neben meiner Mutter, die so oft sie konnte, bei mir war, war er meine zweite Stütze.
Er war nun nicht da, als die Situation eskalieren drohte.
Andererseits sorgte er in den Wochen zuvor für große Unruhe. Ich wohnte mit meinem Vater einige Jahre zuvor in einer Wohnung, in der an den Wänden teilweise Schimmel war. Seitdem verfolgte ihn geradezu ein Wahn, dass überall Parasiten sein könnten. Meine Erkrankung bestärkte ihn darin und so musste ich in meinem Krankenbett, um mein Leben kämpfend, hinnehmen, dass mein Vater darauf beharrte und bestand, dass bei uns Parasiten wären. Er kündigte die Wohnung und beraubte mich so faktisch meines zu Hauses. Wir führten darüber einige Gespräche und ich forderte, dass er mir Beweise liefern sollte: Eine Untersuchung durch einen Sachverständigen oder das Gesundheitsamt. Das passierte jedoch nie. Auch die Schwestern und Pfleger schüttelten nur den Kopf, als er argwöhnisch im Zimmer die Wände und Oberflächen betrachtete.
Meine Blutwerte sackten nun regelmäßig auf lebens-bedrohliches Niveau. Nach einer besonders starken Blutung verlor ich beinahe das Bewusstsein.
In diesen Tagen schrieb ich auch Lin. Sie war die einzige Person neben meinen Eltern, an die ich in der Zeit dachte. Ich berichtete ihr von der Entwicklung und meinem Zustand.
Der April war angebrochen und vor dem Fenster liefen ein paar Häschen herum. Nicht, dass es irgendetwas an meiner Situation änderte. Ich hatte dadurch jedoch zumindest eine Idee, wie lange ich nun schon hier war.
In den Jahren zuvor hatte ich mir finanziellen Rücklagen geschaffen. Da das Überleben tatsächlich fraglich war, stand ich vor einer wichtigen Entscheidung. Damit im schlimmsten Falle an meine Rücklagen zu kommen war, schrieb ich meine Zugangsdaten und Passwörter auf. Die Frage war nur, wem ich diese gebe. Nachdem ich meine Finanzen grob offenlegte, war mein Vater sehr dahinter her. Er wollte das Geld anlegen, um ein Teil eines Hauses zu finanzieren, wo seiner Vorstellung nach er, seine Freundin, die Tochter und ich wohnen sollten. Ich entschied mich dafür, alles meiner Mutter anzuvertrauen. Das führte wiederum zu Querelen und auch dazu, dass mein Vater mehrere Male versuchte, meine Mutter dazu zu überreden, ihm den Zugang zu ermöglichen. Meine Mutter hielt stand und ließ alles unangetastet.
Nach vier oder fünf Tagen Behandlung mit Tacrolimus war dann das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich hatte eine große Blutung, bestimmt einen halben Liter Blut auf einmal. Die Notoperation wurde anberaumt. Was genau dabei herauskommen würde, war ungewiss. Im besten Falle würde nur ein Teil des Dickdarms entfernt, im schlimmsten Falle der gesamte Dickdarm samt Teile von oder der gesamte Dünndarm. Es war der 7. April. Mein Vater war am selben Tag wieder aus China zurück und kam ins Krankenhaus, als ich gerade operiert worden war.
Meine Mutter erzählte mir später, dass sie beide im Aufwachsaal gewartet hätten. Mein Vater war hysterisch und haderte an der Entwicklung. Auch hier muss sich wieder ein skurriles Bild gegeben haben: Er konnte es nicht akzeptieren. Er weinte und litt vor sich hin. Eine Pflegerin sagte zu ihm: „Reißen sie sich zusammen. Schließlich sind es nicht sie, der da drin liegt.“
Anhand der OP-Berichte konnte ich später lesen, dass die Operation unter Vollnarkose sechs Stunden gedauert hatte.
Ich kam in einem Aufwachraum mit mehreren Personen wieder zu Bewusstsein. Ich hatte mich über die Wochen an Schmerzen gewöhnt.
Auf das, was ich jetzt jedoch spürte, war ich trotzdem nicht vorbereitet. Der Schmerz war so unerträglich, dass ich mit meinen Füßen strampelte, um es irgendwie aushalten zu können. Den Patienten neben mir ging es ebenfalls nicht allzu gut und die Schwestern waren sichtlich überfordert. So ließen sie ihren Verdruss auch an den Patienten aus.
Ich kam nach und nach mehr zu Sinnen. Mir wurde erklärt, dass ich eine Schmerzpumpe hatte, die ich bei Bedarf drücken sollte. Die Dosis und Menge wurde automatisch geregelt. Häufiges Drücken führte also auch zu nichts.
Wenig später wurde ich auf die Chirurgiestation verlegt. Im Gegensatz zur MX1, auf der ich zuvor gelegen hatte, war diese im noch nicht renovierten Teil der Klinik. Alte, mechanische Betten, Gegensprechanlagen um nach Pflegern zu rufen und Zimmer, die auf einem Stand von vor 30 Jahren waren.
Eine Besserung sah anders aus: Ich hatte nun einen ZVK – zentraler Venenkatheter am Hals, durch den ich weiterhin niedrig-dosiert Kortison, die Schmerzmittel über die Pumpe, Flüssigkeit und nun auch künstliche Ernährung erhielt, dazu eine Magensonde, eine Wunddrainage links am Bauch, den Stomabeutel rechts am Bauch, eine große Wunde in der Mitte des Bauches und zu guter Letzt einen Urinkatheter – ich war voll verkabelt und fühlte mich schlimmer als je zuvor.
Die Schmerzpumpe half mir nicht viel. Schlaf und Ruhe zu finden war jetzt noch weniger möglich als zuvor. Täglich bat ich bei der Visite um etwas gegen die Schmerzen, aber außer den Standardmedikamenten gab es nichts. Am Ende des Tages gab es meist eine Opiatspritze ins Bein, die mir dann zumindest wiederum für einige Minuten bis zu einer Stunde den Schmerz erträglich machte.
Zuerst wurde ich die Magensonde los, dann den Urinkatheter. Leider konnte ich weiterhin kaum trinken. Daher überraschte es zumindest mich nicht, dass ich kein Wasser lassen konnte. Trotzdem wurde mir der Katheter noch einmal gesetzt – diesmal jedoch im Wachzustand. Viel möchte ich dazu nicht sagen, außer, dass es nicht angenehm war. Nach dem zweiten Versuch blieb er dann aber permanent draußen. Mir wurde dann auch die Armzerstecherei erspart, weil man nun über den ZVK einfach Blut abnehmen konnte.
Meine Moral sank über die nächsten Tage zusehends, da sich mein Zustand kaum besserte. Hatte mir Dr. Tischler nicht versprochen, dass nach der Operation alles besser seien würde?
Sogar das Bluten wollte nicht aufhören. In einer „Nachtaktion“ - es muss 3 oder 4 Uhr morgens gewesen sein - wurde ich in einen Raum mit Gynäkologenstuhl gebracht – unbeheizt – und mir ein spezielles Zäpfchen verpasst. Zwei Tage lang versuchte das Zäpfchen ein brennendes Gefühl, dann waren die Blutungen jedoch gestillt.
Zwischenzeitlich wurde mir das Ergebnis der Untersuchung des entnommenen Organs mitgeteilt: Die Entzündung beruhte auf einer Infektion „unbekannten Ursprungs“. Das war dann wohl nichts mit der Colitis Ulcerosa Behandlung, dachte ich. Außerdem blieb dadurch die Angst, dass die Infektion alleine durch die Operation noch nicht ausgestanden war.
Weiterhin fiel mir das Essen und Trinken schwer. Die künstliche Ernährung wurde mir aufgezwungen. Ich erreichte einen moralischen Tiefpunkt. Für mich hatte mein Zustand wenig mit Menschsein zu tun: Gefesselt an ein Bett, mit Schmerzen, künstlich ernährt und mit Medikamenten vollgepumpt. Zudem wurde entschieden, dass ich nach den ersten Tagen wieder „normale Kost“ zu mir nehmen sollte. „Der Junge muss ja wieder zu Kräften kommen“, sagte einer der Ärzte. An sich war die Aussage nicht falsch. Ich hätte jedoch erwartet, wenn man hier öfters solche Operationen durchführte, dass die Ernährung entsprechend abgestimmt würde. Ein künstlicher Darmausgang ist äußerst klein, und ballaststoffreiche, rohe und schwer verdauliche Lebensmittel verursachen Blockaden, starke Schmerzen und sogar Darmverschlüsse. Ich wurde zunächst ins offene Messer laufen gelassen: Oft waren die Speisen kaum durchgegart. Zudem gab es auch Bohnen und Pilze. Mein Glück war es, dass ich nur wenig essen konnte. Ansonsten wären noch mehr Schmerzen und Komplikationen vorprogrammiert gewesen.
Doch mein größtes Problem blieb unerhört: Schnell merkte ich nach der Operation, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich konnte mich nur schwer an die Zeit vor dem Krankenhaus erinnern. Ich nahm kaum wahr, wann ein Pfleger kam und ging, geschweige denn, welchen Namen sie oder er hatte. Zumindest war mir zu dem Zeitpunkt noch bewusst, dass das vorher anders war. Ich schilderte es den Ärzten oft, doch meinten sie, das wäre nach so einer Operation normal. Das musste ich akzeptieren.
Die Wunddrainage wurde nach einigen Tagen ebenfalls entfernt. Obwohl weiterhin Sekret aus der Wunde floss, wurde der Schlauch herausgenommen und die Öffnung zugenäht. Ich erhielt Besuch von einem Stomatherapeuten, der mir eine Broschüre in die Hand drückte und zeigte, wie ich die Stomabeutel und -platten zu wechseln hatte.
Gerade in diesen Situationen wurde mir bewusst, dass ich mir kaum etwas merken konnte. Alles, was komplett neu war, wollte nicht so richtig haften.
Die Broschüre zeigte, was man noch alles mit einem Stoma machen konnte: viele Bilder von Senioren, die noch Radfahren und Wandern konnten. Das war nun auch nicht sonderlich erbauend. Außerdem fanden sich darin die Ernährungsrichtlinien. Sie standen im krassen Widerspruch zur Kost, die ich bekam.
Die Nekrose am Steißbein war weiterhin ein großes Problem. Ich wurde häufig auf eine Seite gelagert, wo die Schmerzen für mich noch größer waren als in Rückenlage.
Die Pfleger kamen nur, wenn ich über die Gegensprechanlage mein Anliegen gut erklären und begründen konnte. Ich war meist zu schwach, um mich klar auszudrücken. Nur beharrliches Drücken und Bitten führte nach einigen Versuchen zum Erfolg. Eine der Schwestern erzählte, dass sie auch mal auf Bali war und dort ebenfalls an Darmproblemen litt. Sie ging zu einem balinesischen Heiler. Er gab ihr Kräuter, die ihr halfen. Es war eine interessante Geschichte, die an meiner Situation jedoch auch nichts mehr änderte.
Die Stomaversorgungen taten ihr Übriges zu meinen Problemen. Sie waren zu klein und durchsichtig, sodass ich den noch geschwollenen und dunkelroten Ausgang samt Fäden stets sehen musste. Die Beutel wurden fast täglich durch starke Gasentwicklung undicht. Einige Male lag ich daher sogar im wahrsten Sinne des Wortes in der Sch**sse.
Das Zimmer teilte mit mir ein alter Mann. Interessanterweise hatte er auch ein temporäres Stoma, doch bei ihm war es zurückverlegt worden. Bei ihm war es jedoch eine andere Ausgangssituation:
Zuvor hatte er Darmkrebs gehabt. Deswegen waren Teile des Darms stillgelegt worden. So konnte bei ihm der Dickdarm wieder angeschlossen werden. Auch bei ihm lief nicht alles problemlos. Er holte sich nach ein paar Tagen eine Lungenentzündung und wurde dann mit Antibiotika behandelt.
Meine schlaflosen Nächte wurden durch sein Röcheln und Husten zumindest etwas abwechslungsreicher. Womit wir beim Stichwort wären: Galgenhumor.
Einige Tage nach der Operation hatte ich ein ganz komisches Gefühl. Irgendetwas würde passieren, sagte mir mein Bauchgefühl. Am nächsten Tag geschah dann etwas, auf das mich keiner vorbereitet hatte. Ich hatte einen Prolaps. Während ich auf dem Bett lag, kam mein Darm bestimmt 30 cm aus der Bauchdecke. In dem Moment dachte ich: Ich sterbe. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ein Arzt versuchte mit seinen Händen den Darm wieder rein zudrücken, nur um zu festzustellen, dass er schnell wieder raus kam. So war eine zweite Operation zur Re-Fixierung des Stomas nötig. Vor der Operation meinte ich recht sarkastisch zu den Ärzten: „Dann kann ich zumindest für ein paar Stunden schlafen.“
Die Zeit verging schleppend. Fortschritte waren für mich nicht wahrnehmbar: Dr. Tischlers Worte gingen mir häufig durch den Kopf. Nach zwei Wochen hatte ich immer noch starke Schmerzen, konnte nicht schlafen, geschweige denn nach Hause oder normal essen und trinken. Ich wollte daran glauben, dass alles gut würde. Doch nach den Wochen voller Schmerzen und Leiden war so gut wie aller Glauben verloren. Ich war froh, als man mir anbot, mit jemandem zu sprechen, der sich meine Probleme anhören würde. In dem folgenden Gespräch mit einer Therapeutin schilderte ich meine Lage: die Schmerzen, die Schlaflosigkeit und die Gedächtnis- und Wahrnehmungsprobleme. Ich bat sie letztendlich nur darum, mir etwas gegen die Schmerzen zu geben, damit ich endlich schlafen konnte.
Sie verschrieb mir als „Schlafmittel“ Remergil mit dem Wirkstoff Mirtazapin – zusätzlich zum Cortison, den Schmerzmitteln und den anderen Medikamenten, die ich noch bekam.
Noch am selben Abend nahm ich eine der Tabletten, die sich sofort unter der Zunge auflöste. Ich konnte danach tatsächlich für wenige Stunden schlafen. Für einen Wimpernschlag konnte ich dem Schmerz entfliehen und träumte sogar etwas Schönes. Was genau vergaß ich schnell. Ebenso wie die Ruhe, die ich durch den Schlaf genossen hatte. Denn die Schmerzen quälten mich weiterhin unvermindert und die Wirkung der Tablette war schon ab der nächsten Nacht kaum noch spürbar. Im Gegenteil: Ich schlief zwar noch zweimal kurz, doch dafür mit heftigen Albträumen. Ich erzählte meiner Mutter von dem neuen Medikament und nahm es weiter, in der Hoffnung, dass der erste Effekt wieder eintrat und vor Angst, was passiert, wenn ich es absetzen würde.
Nach dem meine Mutter erfuhr, was für ein Medikament ich bekam, sprach sie mit einer Freundin, die in einem Altenheim arbeitete. Dort wurde das Medikament auch verabreicht. Viele Patienten litten dadurch unter Wahnvorstellungen. Sie riet mir dringendst, das Medikament abzusetzen. Ich hielt mich an die Ärzte. So nahm das Unheil seinen Lauf.
In den nächsten Tagen verschwammen Realität und Illusion zunehmendst. In meinem Kopf spielten sich eigene Realitäten ab. Zwar waren sie nicht mit dem normalen Sehen und Hören vergleichbar, doch für mich zu dem Zeitpunkt überzeugend, glaubhaft und real.
Einerseits war dort die Horrorvision eines Daseins nach dem Tod. Mir wurde gezeigt, was ich in meinen vorherigen Leben getan hatte und für die dort begangenen Sünden bis in Ewigkeit büßen sollte. An einem Ort, an dem ich alleine war, verstrahlt, ohne Leben, ohne Möglichkeit des Bewegens, dunkel, voller Schmerz – verdammt für immer. Die zweite Schreckensrealität zeigte mir, dass die Krankheit noch einmal stärker ausbrechen würde und ich danach nur noch künstlich am Leben erhalten werden würde. Gefangen in meinem Körper, ohne Möglichkeit, den Schmerzen und Qualen zu entrinnen, mich zu bewegen oder zu äußern – und das ebenfalls für immer. Was diese Szenarien verband, war ihre Schrecklichkeit und Unausweichlichkeit von ewigen Schmerzen und Qualen.
Dann spielte sich noch der dramatische Kampf gegen die Krankheit ab. Da war so eine Art gedankliche Stimme, dir mir sagte, man würde den Infektionserreger an einem anderen Ort erforschen und bekämpfen – und würde versuchen, mich zu retten.
Dieses Kopf-Chaos spitzte sich immer weiter zu. Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, durch unsichtbare Fesseln ans Bett gebunden zu sein und fühlte mich nur noch wie eine Maschine. Ich riss mir in einer Art Befreiungsaktion den Katheter vom Hals ab und schrie: „Ich bin ein Mensch“. Danach wollte man mich nur noch aus dem Krankenhaus haben. Ich sollte nach Hause geschickt werden. Gerade am Tag davor spitzte sich das innere Drama zu – ich aß etwas zu Mittag und zeitgleich kam die innere Stimme und sagte: „Jetzt ist es vorbei. Es passiert etwas Schlimmes, du wirst nochmals operiert und wirst für den Rest deines Daseins unter Schmerzen künstlich am Leben erhalten.“ So mehr oder minder war das Urteil, das mir mitgeteilt wurde. Wenn ich eines in dem Moment nicht mehr wollte, war es leiden. Genau das schrieb ich in einen Abschiedsbrief, den ich im Zimmer hinterließ. Dann ging ich in großer Verzweiflung und Panik aus dem Zimmer, zunächst auf die Toilette im Flur. Auf der Station gab es keine Zimmertoiletten, sondern alle Patienten mussten sich eine teilen. Dort fand ich ein großes Fenster, das man öffnen konnte. Ich schaute herunter: Es waren vielleicht sechs oder sieben Stockwerke. Das war eine Möglichkeit meinem Schicksal zu entrinnen, dachte ich. Ich ging weiter. Dann fand ich ein Treppenhaus. An den Seiten waren Geländer angebracht und daneben war ein relativ breiter Spalt, der nach unten hin endlos schien. Ich stieg über das Geländer und stand nun mit dem Rücken zu dem Spalt. Eine Putzfrau kam in den Flur und fragte mich in gebrochenem Deutsch, was ich da machen würde – ob ich spielen würde? Ich ließ sie in dem Glauben.
Dann machte ich den Schritt. Ich fiel ein Stockwerk und landete mit dem Gesäß auf den glatten Steinfliesen. Ich spürte keinen Schmerz. Die Putzfrau holte umgehend Hilfe und ich wurde sofort versorgt. Ich hatte mir die Lippe oben etwas und unten ziemlich stark aufgerissen und blutete entsprechend. Die Schneidezähne waren leicht abgeschlagen. Ich hielt über die nächsten Stunden die Augen geschlossen. Ich spürte während der Behandlung starke Schmerzen, als ob man mir einen Draht in dem Arm gedreht hätte – es war vermutlich irgendein Katheter und ich nahm wahr, wie ich an der Lippe vernäht wurde. Danach landete ich auf der Intensivstation.
Auch dort ging es verschwächt weiter mit den Wahnvorstellungen. Ich bekam kein Mirtazapin mehr. Obwohl meine Eltern und ich dagegen waren, wurde ich dann in das LVR-Klinikum in Düsseldorf-Grafenberg verlegt. Die Begründung: schwere Depression.
Dort angekommen landete ich auf einer geschlossenen Station. Direkt nach der Ankunft hatte ich ein Gespräch mit dem leitenden Arzt. Ich klagte wiederum über meine Gedächtnis- und Wahrnehmungsprobleme und über die Wahnvorstellungen, die sich aber nur noch in Albträumen niederschlugen. Die Gedächtnisstörungen waren im Krankenhaus zunächst mit der Belastung durch die Operation und der Narkose begründet worden. Für die Ärzte hier war es nun Symptom meiner schweren Depression. Das musste ich so hinnehmen, auch wenn ich nicht davon überzeugt war. Ich bekam ein anderes Medikament namens Seroquel, ein Anti-psychotikum und -depressivum.
Schmerzen hatte ich endlich kaum noch und daran versuchte ich, mich aufzubauen. Doch spürte ich besonders in diesem Umfeld eine riesengroße Leere. Ich hatte überlebt, nur zu welchem Preis? Es fiel mir auch schwer, mir selbst zu verzeihen. Einerseits wusste ich, dass die Geschehnisse im Krankenhaus nicht viel mit meinem wahren Ich zu tun hatten, andererseits fühlte ich mich trotzdem schuldig. Ich schrieb folgendes Gedicht:
Neubeginn (Gedicht Mai 2008)
Der Mensch macht Fehler am laufenden Band,
verliert von Zeit zu Zeit die Kontrolle, gibt sie aus der Hand,
lässt sich von bösen Mächten infiltrieren,
hofft jedoch stets dies zu korrigieren.
Wer seine Schwächen erkennt,
seine Fehler und Missetaten beim Namen nennt,
sich aufrichtig dafür schämt und durch gute Taten Buße tut,
jener hat Kampfgeist und Mut.
Eine neue Chance verdient jeder im Leben,
viele Wesen werden sich dadurch aus ihrer Lethargie erheben,
Licht verteilen, überall,
und am Ende landen in Gottes Hall'.
Gefangen im Kopf,
hängend am Tropf,
der Geist will sich befreien,
doch niemand hört sein Schreien,
surreale Vorstellungen, in jenen ward er fest verschlungen,
trieben ihn in den Sinne in den Wahn.
Er schmiss sein Leben beinahe hin -
man mag es kaum fassen,
sollte er sich dafür hassen?
Eine Lösung wäre das nicht, doch was erwartet ihm beim höchsten Gericht?
Die Atmosphäre auf der Station war äußerst deprimierend – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich empfand großes Mitgefühl mit den anderen Menschen hier. Viele hatten einen Selbstmordversuch hinter sich oder litten an so schweren Depressionen, dass sie in der normalen Welt nicht mehr funktionierten. Ansonsten waren sie aber genauso verrückt wie alle anderen Menschen, die ich bis dato kennengelernt hatte. Das Zeitgefühl hatte ich irgendwo im Krankenhaus verloren – ich schaute ständig auf die Uhr im Gang. Hier verging die Zeit kaum. Wie auch?
Es gab absolut nichts zu tun. Auf den Zimmern gab es bis auf eine Spüle, zwei Betten, Schränken und Beistelltischen nichts und im Aufenthaltsraum gab es einige Bücher, Spiele, bei denen die wichtigsten Figuren und Bestandteile fehlten, Puzzle, die nicht mehr vollständig waren, und einen Fernseher. Ich empfand es als sehr perfide, dass die einzigen Male, wo ich mehrere Patienten vor dem Fernseher sitzen sah, „CSI“ und „Deutschland sucht den Superstar“ geschaut wurde. Das interessierte aber keinen der Pfleger oder Ärzte. Mir fehlte auch jeglicher Antrieb und Motivation, denn nach der Erfahrung im Krankenhaus fiel es mir schwer, in irgendetwas großen Sinn zu sehen. Die einzigen Anker am Tag waren für mich die Mahlzeiten, auch wenn das Essen eher unterdurchschnittlich war. Für mich gab es zudem keine rationale Logik, wie ich nach den Erlebnissen 'glücklich' sein können sollte. In den Tagen hier wurde mir nach und nach klarer, dass die Operation weitaus tief greifender war, als wie es mir zuvor dargestellt wurde und dass ich wahrscheinlich immer mit dem Stoma leben müsste. Zudem schwand nach und nach die Zuversicht, dass sich mein Gedächtnis schnell wieder erholen würde.
Gerade in den ersten Tagen muss ich ein krasses Bild abgegeben haben. Bis auf eine Katzenwäsche konnte ich mich nicht zu größeren Reinigungsritualen aufraffen. Mein Gesicht war noch von dem Sturz mit Schrammen und Narben an der Lippe gezeichnet und die abgesplitterten Zähne rundeten das bizarre Gesamtbild ab.
Das Medikament hatte für mich nur zwei spürbare Effekte: Einerseits empfand ich meine Wahrnehmung als stark vernebelt und gedämpft. Der zweite Effekt war großer Hunger. Zu dem Zeitpunkt war das eine sehr positive Nebenwirkung, denn nachdem das Cortison abgesetzt worden war und ich Entwässerungstabletten nahm, zeigte die Waage hier am tiefsten Punkt 42 Kilogramm an.
Mir fehlte eine Aufgabe und ich sehnte mich nach einem Zuhause. Meine Eltern kamen zwar auch hier fast täglich, doch nach knapp zwei Monaten Kliniken war ich es so langsam leid. In den ersten Tagen hatte ich auch noch nachts ein Leck am Stomabeutel, was mich dann zum Duschen zwang. Für mich war das Duschen hauptsächlich ein Hemmnis, weil ich Angst hatte, dass der Beutel sich lösen würde – der Nutzen gegenüber dem Risiko schien mir unverhältnismäßig. Es blieb bei dem einem Unfall und endlich lernte ich auch, die Beutel eigenständig zu wechseln.
Die Erfahrungen und Eindrücke, die ich hier sammelte, gaben mir Einblick in eine Welt, die ich mir ansonsten wohl kaum hätte vorstellen können. Die Gedankenwelt, in der ich nun lebte, war komplett anders als die, die ich bis vor dem Krankenhaus kannte.
Ohne so etwas erlebt zu haben, kann man sich nicht vorstellen, wie dunkel und trostlos ein Geist sein kann. Die anderen Bewohner der Station waren komplett unterschiedlich: Von Jugendlichen bis Senioren, von Schülern bis Professoren – alles war vertreten. Die Einzelschicksale waren alle sehr berührend. Besonders blieb mir jedoch ein Mann in Erinnerung, der bei einem Suizidversuch seinen Arm verloren hatte. Er war sehr groß, dünn und Ende vierzig. Er erzählte davon, dass er eine Familie habe und eine eigene Lotto-Annahmestelle besäße. Es gab keinen greifbaren Grund dafür, dass er nicht mehr leben wollte. Nun war er hier gelandet und als letztes Mittel wurde er mit Elektroschocks behandelt. Ansonsten hörte ich noch etwas, was mich ziemlich schockierte. Einige der Patienten kamen immer wieder hier hin zurück – ich musste es innerlich mit einem Drogensüchtigen, der zum Dealer zurückkehrt, vergleichen. Ich konnte der Art und Weise, wie die Patienten hier behandelt werden, nicht viel abgewinnen. Letztendlich wurden sie nur mit Medikamenten versorgt und es wurde darauf gewartet, dass allein das Wunder bewirken sollte.
Ich hatte in den Tagen viel Zeit zum Nachdenken und Recherchieren. Ich machte mich etwas über Mirtazapin schlau. Es war das Medikament, das ich im Krankenhaus bekommen hatte. Sowohl die Albträume als auch die Wahnvorstellungen nebst Suizidrisiko bei jungen Menschen waren bekannt und dokumentiert. Ich war schockiert darüber, dass man mir das Medikament als „Schlafmittel“ untergejubelt hatte.
Es gab nur wenig Abwechslung auf der Station. Einmal die Woche fand eine Stunde Ergotherapie statt, die aus Kreuzworträtseln und anderen Beschäftigungstechniken bestand. Tagsüber ging ich unzählige Male den Gang auf und ab, um so langsam wieder in Bewegung zu kommen. Die Station konnte ich nur in Begleitung meines Vaters oder meiner Mutter selten verlassen. Es gab auf der Rückseite des Gebäudes einen kleinen eingezäunten Park, in den wir auch einige Male gingen. Ich war immer noch recht schwach und gerade das Treppensteigen war problematisch. So stolperte ich im Garten in Begleitung meines Vaters und schlug recht heftig auf. Das Resultat war ein Nasenbeinbruch.
Ich trainierte zudem täglich das Trinken. Im Krankenhaus war es mir noch schwer gefallen, einen Liter pro Tag zu trinken. Laut Broschüre und aufgrund des fehlenden Dickdarms hatte ich nun einen sehr hohen Flüssigkeitsbedarf – drei bis vier Liter am Tag. Deswegen stellte ich mir morgens zwei 1,5 Liter Flaschen hin und machte es mir zur Aufgabe, diese über den Tag zu leeren.
Zwischenzeitlich erhielt ich eine Mail von Lin. Sie hatte meine Email aus dem Krankenhaus erst am 8. Mai gelesen und schrieb mir um 3 Uhr morgens Ortszeit aus Hongkong. Ich nahm es ziemlich emotionslos zur Kenntnis. Nichts hatte zu dem Zeitpunkt großen Wert oder Bedeutung. Trotzdem antwortete ich ihr und berichtete davon, dass so ziemlich alles schief gelaufen ist. Ebenso musste ich noch meine Yogalehrerausbildung absagen. Dies machte ich mit einer kurzen und knappen und ungeschönten E-Mail.
Ich hatte in der Zeit zwei Zimmergenossen: Einen älteren Herren, der kurz nach meiner Ankunft wieder entlassen wurde und einen jungen Mann. Wie der Zufall(?) es so wollte, hatte dieser auch keinen Dickdarm mehr, dafür aber eine Pouch – kurz beschrieben war das eine aus Dünndarmgewebe geformte Tasche, die als „Ersatz“ für den Dickdarm dienen sollte. Ob das in der Praxis funktionierte, war sehr individuell und unterschiedlich. Dass er nun hier nach einem Suizidversuch gelandet war, war nun auch nicht wirklich erbauend.
Nach knapp drei Wochen entschied ich, dass ich nach Essen gehen würde. Mein Vater hatte mich überzeugt, dass er und seine Freundin sich besser um mich kümmern könnten als meine Mutter, die alleine lebte, studierte und arbeitete. Für mich entscheidend war, dass auch meine Firma nun in Essen war. Sie war das Einzige, was mir von den Fundamenten meines vorherigen Lebens geblieben war: Mein altes Zuhause war nicht mehr da und Yoga war für mich auch gestorben.
So verließ ich nach mehr als zwei Monaten das erste Mal Düsseldorf und fuhr mit meinem Vater nach Essen.