Читать книгу Mandarinen aus Jaffa - Patrizia Joos - Страница 10

Kapitel 2

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Trennung ist für die Liebe wie der Wind für die Flamme: Kleine Liebe löscht sie aus, große bläst sie noch stärker auf. - Russisches Sprichwort

Rose fuhr mit ihrem Fahrrad beglückt und freudestrahlend die Bayswater Road entlang. Heute würden sie im Hyde Park Licht und Schattenphänomene fotografieren. Licht und Schatten in der Natur – so lautete der Titel des heutigen Kurses. Rose war aufgeregt und freute sich auf diesen Tag. Ihre Nikon hatte sie in ihrem Rucksack. Rose hatte eine Vorliebe für Kameras. Besonders ihre eigenen liebte sie sehr. Ihre allererste hatte sie als junges Mädchen bekommen. Diese analoge Kamera war feuerrot und sie war ihr Ein und Alles. Ihr Vater war es, der ihr schon in ihrer Kindheit gezeigt hatte, wie das Fotografieren funktionierte. In Tierparks und auf verschiedensten Reisen zeigte er Rose sehr geduldig, was man beim Fotografieren beachten musste. Licht und Schatten, Motivauswahl, Perspektive und das Abwarten auf den richtigen Moment. Diese eindrucksvollen Momente hatte sie nie vergessen. „Gebrauche erst deinen Verstand und dann den Auslöser der Kamera! Nimm dir Zeit dafür“, hatte ihr Vater immerzu gesagt und dann anschließend das jüdische Sprichwort erwähnt: „Und gebrauche erst deinen Verstand und dann die Zunge!“ Eine gute Erziehung war ihm und Roses Mutter sehr wichtig. Jüdische Sprichwörter und Redewendungen gehörten in ihrer Familie zum Alltag, denn viele Freunde ihrer Vorfahren waren jüdische Auswanderer, die Europa den Rücken gekehrt hatten, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Die meisten hatten sich in New York und New Jersey niedergelassen. Auch Raphael war ein Nachfahre von jüdischen Auswanderern, die Europa vor langer Zeit Lebewohl gesagt hatten.

Roses Vater war, neben Roses Mutter und ihren Großvätern, ein großes Vorbild für sie. Obwohl er in der Finanzenwelt zu Hause und ein leidenschaftlicher Angler und Jäger war, hielt sie ihn für einen feinen und ästhetischen Geist mit kreativer Ader. Er lebte minimalistisch und schätzte das Geld auf der Bank. „Ohne Geld gibt es keine Welt. Diese jüdische Weisheit war im Hause der Harpers allgegenwärtig. Sie waren keine Juden, sondern Christen. Die Vorfahren der Familie waren mit dem Schiff von Hamburg nach Amerika ausgewandert und stammten ursprünglich aus Süddeutschland. Und nun war sie, Rosamund Harper, wieder in Europa. Wo ihre Familiengeschichte vor Jahrhunderten begonnen hatte.

Rose erreichte den Hyde Park. Die Sonne schimmerte durch die Äste der Bäume und verwandelte den Park in ein einziges Lichtspiel. Der Himmel war blau. Der Hyde Park grün. Es duftete nach Frühling. Rose schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und inhalierte den Duft der Natur. Der Fahrtwind ließ ihre Haare wehen und ihre helle, luftige Bluse flattern. Sie fühlte sich großartig. Geliebt. Raphael war ihre große Liebe. Rose wollte für immer mit ihm sein. Mit ihm alt werden. Ihm täglich sagen, dass sie ihn begehrte. Dass sie seine Husky-Augen anbetete. Seit ihrer Kindheit waren Huskys ihre Lieblingstiere gewesen. War das reiner Zufall? Gab es Zufälle? Dies fragte sich Rose sehr häufig. Rose spürte Raphael noch an ihr. Noch in ihr. Sein natürlicher Duft war an ihrer Kleidung und an ihrem Hals. Sie atmete diesen Duft tief ein und schloss für einen kurzen Moment noch einmal ihre Augen. Beflügelt und beschwingt und in Gedanken versunken fuhr Rose durch London. ‚Mein London‘, dachte sie. ‚Das London von Raphael und Rosamund‘. Sie hatte nun die Mitte des Hyde Parks erreicht.

„Hey Rose“. Ein Kommilitone kam um die Ecke mit seinem Fahrrad. Sie wachte aus ihren Träumen auf und grüßte ihn: „Hey Alex!“ Er freute sich wahnsinnig, sie zu sehen, und sie freute sich auch. Er war gerne in ihrer Nähe. Obwohl er von Raphael wusste. Wer wusste nicht von Raphael? Sie erzählte so gerne von ihm. Von seinen brillanten Gedanken. Was sie von ihm bereits nach kürzester Zeit übernommen und gelernt hatte. Von seinem spannenden Leben. Wie sehr sie ihn liebte. Wie leidenschaftlich er kochte. Welche erlesenen Teesorten er trank. Dass er keinen Kaffee mochte. Wie er sich auf seine großen Reisen und Expeditionen vorbereitete und seine Jeans trug. Welche Zigarettenmarke er rauchte. Wie er als liberaler Jude seine Traditionen in den modernen Alltag integrierte. Wo er sein Frühstück einnahm. In welchen Ländern er bereits gelebt und als großartiger Architekt gearbeitet hatte. Welche Kunst er schätzte. Welche Bilderrahmen er sammelte. Dass er Wildbraten liebte, besonders Hirsch – und wie gut er sein Saxofon beherrschte.

Es schien so, als hätte Rose keine anderen Gedanken, kein anderes Thema mehr. Raphael war ihr Thema. Jeden Tag. Jede Stunde. Jede Minute und jede einzelne Sekunde. Wenn sie nicht bei ihm sein konnte, war sie in Gedanken bei ihm. Tagein, tagaus. Er war ihr König. Sie liebte und verehrte ihn mit jedem Teil ihres Körpers. Sie hatte sein einzigartiges Gesicht und seinen wunderbaren Körper täglich studiert und hätte ihn detailgenau zeichnen oder malen können. Sie kannte jeden einzelnen Leberflecken und jedes noch so kleine Muttermal an seinem Körper. Wie eine Landkarte hatte sie ihn studiert, ihn wie eine Naturforscherin erforscht. Ihn, den Mann ihrer tiefen Träume und Sehnsüchte. Sie schätzte seine Reife und liebte es, dass er ihr, wann immer sie zusammen waren, seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, ihre Gefühle respektierte und achtete. Roses Ziele und Träume genau kannte und sie in der Umsetzung unterstützte. Er behandelte sie wertschätzend und nahm jeden ihrer Gedanken ernst. Er liebte sie bedingungslos und half ihr, wann immer er konnte. Rose fühlte sich ihm so nah wie keinem anderen Menschen je zuvor. Sie hatten sich beide fallen lassen, ohne zu wissen, was die Zukunft bringen würde. Sie hatten sich geöffnet und sich dadurch verletzbar gemacht. Ohne Schutzmauer hatten sich Raphael und Rose kennen- und lieben gelernt. Auf einer tiefen und kosmologischen Ebene. Das alles blieb aber ihr und sein Geheimnis. Darüber sprach sie mit niemandem. Niemals hätte sie seine Gefühle verletzen wollen. Sie trugen jeweils das Herz des anderen behutsam auf den Händen. Raphael und Rose waren auf eine Weise miteinander verbunden, die man nicht in Worte fassen konnte.

Rose und Alex stiegen von ihren Fahrrädern. „Hast du heute Abend das Essen mit dem Kunstagenten, Rose?“

„Ja. Ich treffe mich mit ihm in Notting Hill. Portobello Road. Bei mir um die Ecke.“

„Bist du aufgeregt?“

„Ja. Ein bisschen. Ich will bei ihm unter Vertrag kommen.“ Rose nahm ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack. Keine Nachricht von ihm. Normalerweise schrieb Raphael ihr sofort, wenn sie das Haus verlassen hatte. Sie tippte eine Nachricht:

Raphael. Es war wunderbar. Ich vermisse dich jetzt schon. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Xxx Rose.

Dann ging sie zu den anderen des Kurses.

„Ist etwas nicht in Ordnung, Rose?“ Alex schaute sie fragend an.

„Nein, nein. Alles ist gut.“ Ihr Mobiltelefon verkündete den Eingang einer Nachricht. Sie freute sich, denn sie wusste, dass es Raphael sein würde, und startete beruhigt mit den anderen den Kurs. Ihr Lächeln war zurück. ‚Warum hatte ich mir eben Sorgen gemacht‘, fragte sie sich. ‚Es war so eine intensive und bezaubernde Nacht!‘

In der Mittagspause nahm sie ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack, schaute nach und las: Hey Rose. Das wünsche ich Dir auch. Xx Raphael.

Eine Nachricht von ihm ging direkt in ihr Herz. Rose errötete, als sie an die letzte Nacht dachte. Gedanklich spielte sie noch einmal die Nacht und das Wochenende mit Raphael durch.

„Rose, willst du auch einen Keks?“ Rose wachte wieder aus ihren Tagträumen auf. Ihre Kommilitonin Christy hielt ihr einen Schokokeks unter die Nase. „Ich habe sie selbst gebacken.“

Rose lächelte Christy an: „Danke. Das ist so aufmerksam von dir.“

„Wie war es mit Raphael?“, fragte Christy.

„Ich fühle mich wie in einem Roman. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich in ihn verliebt bin. Er ist die Liebe meines Lebens. Ich schreibe gerade eine Liebesgeschichte. Sie handelt von zwei Menschen, die sich sehr begehren. Sie leben in einem Zelt am Südpol. Sie wollten ursprünglich nur eine Expedition machen und sind einfach dort geblieben. Nur die beiden. In einem Zelt inmitten von Eis und Schnee und reiner Natur. Es sind zwei Aussteiger. Zwei Seelen, die sich gefunden haben.“ Rose lächelte Christy an.

„Eine Autobiografie der Zukunft?“, lachte Christy.

„Ein Thriller? Denn eines Tages werden sie von hungrigen Tieren aufgefressen?“, scherzte Alex.

„Ich hoffe nicht“, entgegnete Rose.

„Wie geht es aus? Bleiben sie für immer dort am Südpol?“, fragte Christy.

„Ja. Die beiden begehren sich. Und wollen den ganzen Tag zusammen sein und sich intensiv kennenlernen. Es ist nicht einfach, aber sie lieben sich bedingungslos, und auf eine sehr tiefe Weise sind sie miteinander verbunden. Eine Seelenverwandtschaft.“

„Und keiner macht Fehler? Nur erfüllte Liebe? Und nichts passiert? Wie langweilig. Ohne Dramatik wird sich das Buch nicht verkaufen lassen. Außerdem ist das sehr unrealistisch. Meine Großmutter in Stratford-upon-Avon sagt immer: Eine gute Beziehung bedeutet Arbeit. Nur zwei starke und unabhängige Partner können ein Leben lang glücklich zusammenleben. Aber wie soll man so einsam am Südpol unabhängig voneinander sein?“, stichelte Alex liebevoll weiter.

„Es ist die Abhängigkeit, die diese Liebe so intensiv werden lässt. Die beiden sind sich leidenschaftlich ausgeliefert“, flüsterte Rose. Die drei lachten sich an und Rose dachte an Raphael. Sie wurde unruhig.

„Vermutlich würde ich es lesen!“, sagte Alex und schaute Rose in die Augen.

Es war früher Abend geworden. Der Kurs im Hyde Park war zu Ende. Die Architekturstudentinnen und -studenten machten sich auf den Heimweg. Rose fuhr mit ihrem Fahrrad zurück über die Bayswater Road in Richtung Portobello Road. Setzte sich in das Café, in dem sie später den Kunstagenten Michael Cunningham treffen würde, und rief Raphael an. Er nahm das Gespräch nicht an. ‚Vielleicht ist er im Gym‘, dachte sie sich. Sie bestellte ein großes Glas Wasser mit Zitrone. Ihre Hand suchte das kleine braune Buch in ihrem Rucksack und zog es heraus. Rose öffnete das Buch, in dem sie Gedanken und Gefühle gerne festhielt, und begann zu zeichnen.

Wann würde sie Raphael ihrer Familie vorstellen? Wann würden sie so weit sein, den nächsten Schritt zu gehen?, fragte sie sich. Rose war nun zwanzig Jahre alt und fühlte sich bereit für eine erwachsene Beziehung. Bereit für das Leben. Sie lebte ein unabhängiges Leben – weit entfernt von der Heimat. Von ihrer Familie. Weit entfernt von dem Leben in New Jersey. Rose war nun in London. Sie liebte New Jersey, aber London war ihr Zuhause geworden. Raphael war ihr Zuhause geworden. New Jersey würde immer ihre Heimat bleiben, aber London und Raphael waren nun ihr Leben. Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Raphael. Er hatte sie an ihrem ersten gemeinsamen Tag gefragt: „Was ist für dich Heimat?“, und sie hatte ihm geantwortet: „Heimat, ist da, wo meine Wurzeln begonnen haben zu wachsen. Es ist nicht unbedingt an einen Ort gebunden. Eher an Menschen, es kann aber auch in einem drin sein. Wie bei einer Karotte. Man sieht die Wurzeln nicht, wenn die Karotte noch in der Erde steckt. Es ist eher ein Gefühl. Heimat ist ein Gefühl.“ Er hatte daraufhin nichts geantwortet.

Raphael hatte New York, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, verlassen und war nun auch in London. ‚Zwei Amerikaner in Great Britain‘, dachte sich Rose vergnügt. Es war für sie eine kostbare Zeit. Raphael behielt sein Haus in New York zwar noch – denn er hatte über drei Etagen eine Kunstsammlung in seinem Haus eingerichtet, die er nicht mit nach London bringen wollte, aber seinen Lebensmittelpunkt verlagerte er in die britische Hauptstadt. In sein neues Haus in Notting Hill, ein paar Straßen von ihrer Portobello Road entfernt. „Meine Kunstsammlung gehört in das Haus in New York. Ich will sie nicht entwurzeln. Wie eine Karotte, die man aus dem Boden zieht“, hatte er gesagt, als Rose ihn erstaunt fragte, warum er das Haus in New York behielt.

„Miss Harper?“

„Ja. Rose. Rose Harper.“

„Michael.“

„Guten Tag.“

„Guten Tag. Schön, dass es geklappt hat.“

„Darf ich mich setzen?“

„Natürlich!“, sagte Rose. Plötzlich überkam sie eine Art Nervosität. Michael Cunningham vertrat momentan die Newcomer der Kunstszene in London. Rose wollte unbedingt von ihm unter Vertrag genommen werden.

„Erzählen Sie! Warum sollte ich Sie vertreten? Ihre Architekturfotografien hatten Sie mir ja geschickt. Die sind gut. Obwohl ich normalerweise keine Architekturstudenten vertrete, würde ich eventuell bei Ihrem Talent eine Ausnahme machen. Aber ich will jetzt etwas von Ihrer Persönlichkeit und ihrer Vision erfahren.“

Rose war etwas verwirrt und wusste nicht so genau, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie fuhr sich durch die Haare und begann ruhig zu erzählen:„Mein Name ist Rose. Ich bin zwanzig Jahre alt und komme aus den USA und wohne nun in Notting Hill. Ich studiere Architektur, weil ich gerne Neues und Altes verbinde. Wenn ich ein altes Gebäude betrachte, dann kommen mir sofort viele Ideen, wie man es noch schöner und neu gestalten könnte, ohne dabei die Grundidee des Gebäudes zu verändern. Gebäude haben auch ein Herz und eine Seele. Man muss nur genau hinschauen und sich darauf einlassen. Außerdem liebe ich alte Gebäude und fotografiere sie gerne. Meine Arbeiten zeigen die Ästhetik einer Stadt. Die Ästhetik dieser Gebäude. Straßen, die wie ein Musikstück verlaufen. Licht und Schatten. Ja, die Schönheit einer Stadt möchte ich zeigen. Die Schönheit von Paris – die unterschiedlichen Architekturstile der verschiedenen Stadtteile, das ganze Flair, die Atmosphäre. Jede Stadt ist auf ihre einzigartige Weise schön, finde ich. Jede Stadt hat ihren speziellen Reiz. Selbst eine Kleinstadt, die niemand kennt, kann aus der richtigen Perspektive ein ästhetisches Erlebnis werden. Ich möchte die Schönheit zeigen in meinen Arbeiten, die Menschen gebaut und erschaffen haben. Das ist für mich die Musik der Architektur. Ja, und Kunst. Architekten sind Schöngeister.“

Michael Cunningham schaute Rose an und musterte sie.

„Ihre Fotografien von Paris sind gut. Deshalb bin ich hierhergekommen. Aber Sie, Sie sehen so jung aus. Als hätten Sie noch gar nicht gelebt. Erzählen Sie etwas von sich. Wer sind Sie?“

„Vielleicht eine junge Frau mit Träumen? Ich liebe das Schöne, die Kunst, die Oper, Musik, Architektur, die Renaissance, Michelangelo, Raffael, Tizian, Giorgio Vasari, Botticelli, Masaccio. Florenz, Venedig, ja, und Rom liebe ich auch. Ich besitze ungefähr zweihundert Bücher über italienische und europäische Kunstgeschichte und Künstler. Ein Tag ohne schöne Musik ist für mich ein verlorener Tag. Ein Tag ohne ein schönes Wort ist für mich ein verlorener Tag. Ein Tag ohne eine schöne Aussicht ist für mich ein verlorener Tag. Ich möchte keine verlorenen Tage, deshalb ziehe ich durch die Städte und fotografiere die schönsten Ecken und sauge diese Stimmungen auf“, antwortete Rose.

„Sie sind eine interessante Frau. Was war das Schlimmste, was Sie in Ihrem Leben ertragen mussten, Rose?“

„Warum wollen Sie so etwas wissen?“, stutzte sie etwas und gab ihm auf diese Frage keine Antwort.

„Hören Sie, Rose. Ich bin erst zweiunddreißig Jahre alt und möchte nicht wie ein alter Mann klingen. Verstehen Sie? Ich finde Ihre Bilder ausgezeichnet. Aber Sie müssen noch etwas erleben. Sie müssen vielleicht eine Europareise machen. Sie müssen fallen und wieder aufstehen. Sie müssen bereit sein, für die Kunst zu leiden. Die meisten Künstler können sich ihre Miete kaum leisten. Sie leiden für ihre Kunst. Es ist wie in einer Liebesbeziehung: auch dort gibt es wundervolle und furchtbare Zeiten. Wie im Leben eines Künstlers auch. Es gibt keine Sicherheit. Verstehen Sie?“ Er schaute sie durchdringend an. „Sie brauchen mehr Stoff. Verstehen Sie? Eine Europareise!“

„Als Kind habe ich schon einige Europareisen gemacht. Die Vorfahren meiner Eltern waren Europäer. Sie sind mit einem Schiff aus Hamburg nach Amerika aufgebrochen. Das waren mutige Menschen. Sie hatten nur ein paar Koffer bei sich. So wie ich, als ich mit nur einem Koffer alleine nach London gekommen war. Und nun bin ich hier in Europa, zurückgekehrt zu den Wurzeln meiner Vorfahren.“

„Interessant! Aber, ja, Stoff. Mehr Material. Sehen Sie, Rose, die meisten Künstler sind feige. Sie trauen sich nichts mehr. Sie kennen den Markt und lehnen sich zurück. Man darf sich auf seinem Talent nicht ausruhen. Viele denken: So funktioniert das, das ändere ich nicht mehr. Die Ideen gehen ihnen aus. Diese Künstler verlieren ihr Arbeitsethos. Angepasst und träge. Das ist nicht Kunst. Wenn Sie eine Ausstellung machen wollen, dann müssen Sie etwas erzählen. Schöne Bilder reichen nicht. Der Kunstsammler möchte wissen, was Sie denken, was Sie fühlen. Ich wette, dass Sie bisher noch nicht einmal verlassen wurden.“ Rose schaute Michael fassungslos an und war sprachlos. „Schau, Rose. Ich duze Sie jetzt einfach. Du bist zwanzig Jahre alt. Du bist begabt. Du bist eine leidenschaftliche Fotografin, das spürt man, wenn man deine Fotografien betrachtet. Ich glaube auch, dass du Erfolg haben wirst. Gerne auch mit meiner Agentur. Aber ich muss dich als Ganzes verkaufen. Du machst erst einmal deinen Abschluss. Dann meldest du dich wieder bei mir. Ich will, dass du reist. Dass du die Welt siehst. Es gibt weit mehr als nur London und die USA. Ich schätze deine Arbeit. Aber du bist noch nicht … noch nicht …“

„Was kann ich Ihnen bringen?“, unterbrach ihn der Kellner.

„Einen … einen … einen starken Kaffee.“

„Gerne“, antwortete der Kellner.

Michael Cunningham fuhr fort: „Rose. Du hast noch ein ganzes Leben vor dir. Reise! Fotografiere! Lass dir dein Herz brechen und gehe weiter. Mache Fehler und probiere dich aus! Du bist eine Erscheinung, Rose. Spiele damit! Komm zurück nach London und ich nehme dich unter Vertrag.“

Rose schaute ihn an, dachte nach und antwortete leicht gekränkt: „Gut. Ich verstehe. Herzlichen Dank für Ihre Offenheit!“ Sie trank ihr Wasser. Michael schaute sie an. Rose schaute in die Ferne. Der Kellner brachte den Kaffee.

„Danke. Ich würde auch gerne bezahlen“, sagte Michael und bezahlte sogleich. Er betrachtete ihre Lippen und ihre Augen. Rose schaute weiter ins Weite. Sie dachte an Raphael und an Michael Cunninghams Worte. „Das ist meine private Mobiltelefonnummer. Ruf mich an, wenn du dich erfahrener fühlst. Ich warte auf dich, Rose!“

Beide fühlten sich wie verändert. Das Treffen hatte beide gedanklich angestoßen. Wie Kugeln bei einem Billardspiel. Michael stand auf, nahm seine Jacke und verließ das Café. Er drehte sich noch einmal zu ihr um. Rose saß in Gedanken versunken auf ihrem Stuhl. Er drehte sich eine Zigarette und machte sich auf den Weg. Er dachte darüber nach, dass er aus Rose etwas machen könnte. Obgleich sie noch so jung und verletzlich wirkte. „Momentan würde man über sie herfallen wie die Löwen über eine Gazelle. Ich musste einfach so handeln.“

Michael Cunningham wollte sie vor der Kunstwelt in Schutz nehmen. Ihr Gesicht und ihre Figur erinnerten ihn an seine erste Freundin aus der Schulzeit – Natalia, ein russisches Mädchen in seiner Abschlussklasse. Auch deshalb hatte er Rose heute eine Absage erteilt. Er wollte sie beschützen. Auch wenn sie es noch nicht verstand.

„Wie wunderschön sie ist“, sagte er vor sich hin. „Glasklar und gleichzeitig so verletzlich. Wie eine zarte Blume. Wenn sie sich nicht meldet, werde ich es tun“, flüsterte er und zog an seiner Zigarette. Heute würde er anfangen, nach Natalia zu suchen. Er liebte sie noch immer. Das wurde ihm an diesem Abend durch die Begegnung mit Rose bewusst. „Danke, Rose!“, flüsterte er und lief schnellen Schrittes in Richtung Notting Hill Gate. Mit Natalia im Kopf und Natalia im Herzen. „Natalia, ich werde dich finden!“

Rose schob in sich gekehrt und leicht zerstreut ihr Fahrrad nach Hause. Sie dachte an einen weisen Spruch, den ihr Vater beinahe täglich im Munde führte: „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler!“ ‚Der Satz passte einfach in jeder Lebenssituation‘, dachte Rose andächtig. Sie blieb stehen und schaute die Straße entlang. Die Portobello Road leuchtete und schimmerte im frühen Abendlicht. Die bunten Häuser, die Antiquitätengeschäfte und Cafés, Blumengeschäfte und Restaurants waren es, was Rose so an Notting Hill faszinierte. Sie schaute auf einen duftenden Kirschbaum, und ein mulmiges und nicht beschreibbares Gefühl überkam sie plötzlich. Die Portobello Road liebte sie über alles. Es gab für sie keine schönere Ecke in London als diese hier. Sie hatte großes Glück mit ihrer Wohnung gehabt. Und nun war sie hier inmitten von schönster Architektur und liebevoll dekorierten Antiquitätenläden, die jedes Sammlerherz schneller schlagen ließen, und fühlte sich beseligt und verunsichert zugleich. ‚Was ist passiert‘, fragte sich Rose zerstreut.

Zu Hause angekommen, stellte sie ihr Fahrrad ab und öffnete die Haustür. Sie ging in den ersten Stock hinauf und starrte auf ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht, kein Rückruf von Raphael. Rose schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf. Der Ort, an den sie sich zurückziehen konnte und sich Zeit für ihre Gedanken und kreativen Ideen nahm. Die Türe fiel hinter ihr ins Schloss. Rose zog ihre Sandalen aus und stellte sie in den roten Schuhschrank. In ihrer Wohnung war es heiß. Sie ging in ihr Schlafzimmer und öffnete das Fenster. Frische Luft. Frische und kühle Luft brauchte sie nun. Sie atmete tief ein und aus. „Raphael. Wo ist Raphael?“

Rose nahm ihr Mobiltelefon in die Hand und wählte seine Nummer. Raphael ging nicht dran. Sie schaute hinab auf die flimmernde Farbenpracht der Portobello Road. „Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man das ganze Leben“, sagte sie. Rose beobachtete ein Pärchen, das Hand in Hand durch die Straße lief. Die beiden schienen nicht von dieser Welt zu sein. Versunken in ihrer gemeinsamen Einsamkeit. Als wären sie in einem anderen Universum unterwegs. Sie konnte sich in die junge Frau hineinversetzen. ‚Verliebt sein. Das ist ein wunderbares Gefühl‘, dachte sie. Rose betrachtete das fantasievolle Haus von gegenüber, romantisch wie die meisten Häuser in der Portobello Road und in Blau gehalten. Mit weißen Fensterrahmen und Fensterlaibungen. Den kleinen Teeladen unten im Erdgeschoss, Tom's Tea Bar. Die bordeauxrote Holzverkleidung des Geschäfts war ein schöner Kontrast zu dem blauen Haus. Sie liebte ihre Straße. Besonders den Portobello Road Market mit dem frischen Obst und Gemüse. Die kleinen und feinen Geschäfte in der Straße. Die Touristen. Schmale Häuser direkt nebeneinander gebaut. Jedes einzelne in einer eigenen Farbe. Aber die Fensterrahmen immerzu weiß. Sie liebte diesen Stil. Auch liebte sie die viktorianischen Villen in diesem Stadtviertel. Als könnten sie sie in eine andere Zeit versetzen. Den Buchladen von schräg gegenüber, der Ms Turner gehörte. Dort fand man wunderbare kleine Romane. Romane aus Irland, aus London, Paris, Rom. Selbst deutsche Literatur konnte man dort finden. Denn die Buchladenbesitzerin Ms Turner hatte Verwandte in Deutschland. So kam es dazu, dass sie als einziger Buchladen in ganz Notting Hill – vielleicht sogar der einzige Buchladen in ganz London – deutsche Literatur anbot. Roses Deutsch war sehr schlecht. Ihre Eltern hatten in ihrer eigenen Kindheit noch Deutsch gelernt. Rose hingegen wuchs mit der englischen Sprache auf. Gewisse Begriffe und Redensarten wurden aber auf Deutsch gesagt – nicht nur bei den Großeltern. Ade und Servus waren im internen Familienkreis traditionelle Abschieds- und Begrüßungsformen. Servus war eine Begrüßungsform, die man in Mitteleuropa pflegte, und stammte aus dem Lateinischen ‚zu Diensten‘. Ade setzte sich aus den beiden französischen Wörtern à (‚bei‘) und dieu (‚Gott‘) zusammen, deren Wurzeln im lateinischen ad deum, ‚zu Gott hin‘, lagen. Diese kleinen Wörter waren es, die zu einem starken Band der Harper-Familie in Amerika führten. Obwohl sie sich als Amerikaner fühlten, waren ihnen ihre Wurzeln sehr bewusst.

Roses Mutter erzählte immer von einer Großtante im Schwarzwald. Ihr Name war Tante Irmgard, sie musste sehr lustig gewesen sein. Denn die Geschichten, die man sich von dieser Tante erzählte, waren immerzu spannende Gutenachtgeschichten in New Jersey in ihrer Kindheit. Als Kleinkind war ihre Mutter jeden Sommer im Schwarzwald gewesen. Deshalb hing in New Jersey auch eine Kuckucksuhr in der Küche bei ihren Eltern. Eine Kuckucksuhr aus der Stadt Triberg. Auch Rose selbst hatte als Kind einmal diese Stadt im Schwarzwald besucht gehabt. Die Triberger Wasserfälle waren ein spannendes Erlebnis. Sie erinnerte sich noch genau daran. Die Rehe und Hirsche, die dunklen Tannen und die liebevoll gestalteten Häuser. Der tiefe Schwarzwald hatte ihr gefallen. ‚Wie romantisch es dort war‘, dachte Rose.

„Schwarzwald, warum war ich eigentlich nie mehr wieder im Schwarzwald?“, fragte Rose sich selbst. „Vielleicht werde ich mit Raphael eines Tages dorthin fahren. Aber erst einmal ans Meer! Die englische Riviera!“ Ein Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht. In einem Gefühlsgemisch aus Sehnsucht, Vorfreude, Lust und Glückseligkeit blickte Rose auf die Portobello Road hinab. Die Sonne war am Untergehen. Die Lichter in der Straße leuchteten bereits und sie stand noch immer in Gedanken versunken am Fenster in ihrem geliebten Notting Hill.

Ihr Mund fühlte sich trocken an. Rose ging in die Küche und holte sich Orangensaft aus dem Kühlschrank, goss ihn in ein Weinglas und sagte „Cheers! Mazel Tov!“ zu sich selbst. Sie nahm einen großen Schluck frischen Orangensaft und verschluckte sich dabei. Sie hustete und musste das Glas abstellen, um sich an die Kehle fassen zu können. Mit der anderen Hand vor dem Mund und einem roten Gesicht setzte sie sich auf einen Küchenstuhl und hustete weiter.

Plötzlich erinnerte sich Rose an die ähnliche Situation am frühen Morgen bei Raphael auf dem Bett. ‚Was hatte er da noch gleich erzählt? Vögel. Ja. Es ging um Vögel. Nein, Moment.‘ Ihr fiel wieder ein, dass sie meinte, „dass mehr Menschen am Verschlucken von irgendwelchen Lebensmitteln starben als an terroristischen Anschlägen.“ Und er daraufhin meinte: „Heute wird nicht gestorben. Heute beginnt ein neues Leben für dich!“ ‚Ja, das waren seine Worte‘, dachte sie.

‚Was hatte er denn damit gemeint? Und warum geht er nicht an sein Telefon?‘, fragte sie sich unsicher. Rose rief ihren Vater in New Jersey an. Ihr Vater nahm das Gespräch an und meinte, er säße in einem Meeting und würde sie später zurückrufen. Später läge sie aber aufgrund der Zeitverschiebung schon stundenlang im Bett – aber sie wollte ihn nicht länger aufhalten: „Okay, Bye. Daddy. Ich liebe dich. Servus!“

Das Telefonat war beendet und sie ging in ihr Bad, entkleidete sich, nahm eine kurze, erfrischende Dusche und wusch sich mit einer wohlduftenden Orangenseife aus der Provence ab. Denn ihre Rosen- und Lavendelseifen hatte sie bei Raphael gelassen. „Raphael!“, seufzte sie.

Gedanklich wiederholte sie seine Worte: ‚Heute beginnt ein neues Leben für dich‘, während das Wasser über ihren Körper glitt. Rose stieg aus der Dusche. Trocknete ihren erfrischten Körper ab, nahm eine Körpercreme mit Düften der Provence aus dem weißen Badezimmerschrank und cremte ihre Beine ein. Dann ihre Füße und ihren Bauch. Ihre Brüste und ihren Hals und zum Schluss ihre Arme und Hände. Rose betrachtete sich im Spiegel. Manchmal erinnerte sie ihr Gesicht an Tante Barbara. ‚Heute‘, dachte sie, ‚ähnle ich eher Großmutter Stephanie‘. Rose liebte ihre Großmutter. Die blauen Augen hatte sie von ihr geerbt. Es war wie eine Erinnerung an ihre Großmutter, täglich in ihre Augen zu schauen. Eine Art Souvenir.

Rose wartete, bis die Körpercreme eingezogen war, und fing dann an, ihr Gesicht zu waschen und einzucremen. Es duftete nach Meer und einem viktorianischen Blumengarten. Diese Gesichtscreme mochte sie sehr. Frisch, blumig, klar und romantisch. Sie öffnete den feinen Badezimmerschrank, der sich neben dem Spiegel befand, und griff nach ihrem Lieblingsparfum aus Frankreich. Ein paar Tropfen davon und ihre Sinne waren stimuliert. Blumig und elegant. Die Kopfnote wirkte durch Zitrone, Bergamotte, Aldehyde und Neroli wie ein frisches Bad und belebend. Für einen Hauch eleganter Würze sorgte die Herznote – Rose, Maiglöckchen und Jasmin. Ein femininer Duft. Für die Sinnlichkeit sorgte der einzigartige Duft von Sandelholz, Moschus und Eichenmoos. Sie liebte dieses Parfum. Es war wie für sie kreiert. Sie schloss den Badezimmerschrank und betrachtete sich im Spiegel. Als auch die Gesichtscreme eingezogen war, nahm sie die Naturbürste in die Hand und begann ihre blonden Haare zu kämmen. Zuerst von oben nach unten. Einmal im Kreis herum. Dann beugte sie sich nach vorne und bürstete die Haare wieder von der Kopfhaut bis in die Spitzen. „Hundert Bürstenstriche am Tag sollten es sein“, so stand es im Schönheitsratgeber, den sie von ihrer Mutter zu ihrem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. „Hundert Bürstenstriche für glänzendes und gesundes Haar.“

‚Gesundes Haar habe ich‘, dachte sie. Sie kämmte weiter ihre Haare. Plötzlich klingelte ihr Mobiltelefon. „Raphael!“

Rose ließ die Bürste fallen und rannte zum Mobiltelefon. Vor Enttäuschung brach sie fast zusammen. Es war Alex, ihr Kommilitone, den sie sehr mochte, aber nicht erwartet hatte. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Rose nahm ab.

„Hey Alex!“

„Hey Rose. Ich wollte hören, wie es lief. Störe ich?“

„Nein. Nein, ich war nur gerade im Bad. Aber du störst nicht. Wie geht es dir?“

Er antwortete: „Wie lief es? Hat er dich aufgenommen? Bist du in seiner Agentur?“

Rose setzte sich auf ihr Bett und sprach leise: „Ich muss ein paar Reisen machen. Ich muss seine Sicht auf die Kunstwelt erst noch einmal durchdenken.“

Alex antwortete: „Wie? Ich dachte, er mag deine Bilder.“

In diesem Moment wurde Rose bewusst, dass es als Fotografin oder auch als Architektin nicht nur auf das Handwerk ankam, sondern auch auf die Geschichten dahinter. Auf den Kreateur.

„Talent ist nicht alles. Es geht noch um mehr als nur Talent“, sagte Rose.

Alex am anderen Ende war verwirrt: „Rose, du bist begabt. Du bist aus den Vereinigten Staaten nach London gezogen. Das ist Mut! Du bist leidenschaftlich und erkennst die Schönheit in vielem.“

„Ja, das dachte ich bisher auch. Du bist wirklich sehr aufmerksam. Vielen Dank! Alex, ich muss nun leider auflegen. Ich erwarte einen Anruf von Raphael. Ich weiß nicht, wo er ist. Lass uns morgen sprechen. Sei mir nicht böse. Ich bin etwas müde. Ich wünsche dir einen schönen Abend! Bye!“

Rose legte das Mobiltelefon auf ihren Nachttisch. Null Nachrichten, null Anrufe von Raphael. Es war mittlerweile Mitternacht. Sie setzte sich auf ihr Bett. Stützte ihren Kopf auf ihre Hände. Und schloss die Augen. „Raphael. Wo bist du?“ Sie schrieb ihrer Mutter eine Nachricht. Denn anrufen konnte sie sie nicht, sie hätte vor Verzweiflung nur ins Telefon geweint. Aber sie wollte nicht, dass sich ihre Mutter Sorgen machte. Zu sehr liebte sie ihre Mutter.

Ihre Beine fingen an zu zitterten, sie stand auf und nahm das Mobiltelefon vom Tisch und wählte ein weiteres Mal und mit Hoffnung im Herzen seine Nummer. Es klingelte. Raphael nahm nicht ab. Wie gelähmt legte Rose das Mobiltelefon wieder zurück. Sie spürte, dass etwas passiert war. Sie ließ in ihren Gedanken den frühen Morgen vor ihrem Kurs noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen. Sie hatte ihren Rucksack gepackt. War noch einmal zu ihm ins Wohnzimmer gegangen. Wie immer. Er küsste sie zum Abschied. Wie immer. Er nahm sie sogar länger als sonst in seine Arme. „Raphael!“, sie rief verzweifelt seinen Namen.

Rose legte sich in ihr Bett und deckte sich zu. Ihr Körper war kalt. Wie bei einem Schock. Rose zitterte. Sie vermisste ihn. Leise fing sie an zu weinen. Zuerst nur schluchzend und dann immer schlimmer. Rose vergrub sich in ihrem Bett. Irgendwann war sie eingeschlafen.

Der Wecker klingelte. Rose war hellwach. Schlug auf den Wecker ein, der darauf zu Boden fiel. Ihr Kopf schmerzte. Sie stand auf, ging zu ihrem Mobiltelefon und schaute voller Hoffnung auf das Display: Null Nachrichten, null Anrufe von Raphael. Es war sieben Uhr. Spätestens jetzt hätte er ihr eine Nachricht geschrieben. An den Morgen, die sie nicht zusammen verbringen konnten, weil er in New York oder Princeton bei seinen Eltern zu Besuch war, schrieben sie sich – trotz Zeitverschiebung. Jedes Mal. Nur nicht an diesem Tag!

Rose nahm das Mobiltelefon und wählte seine Nummer. Es klingelte. Er nahm nicht ab. Sie schrieb ihm eine Nachricht: Hey Raphael. Guten Morgen. Wie geht es dir? Wo bist du? Kuss Xx Rose.

Rose schickte die Nachricht ab. Es kam nichts zurück. Wie gelähmt ging sie ins Badezimmer. Stellte sich unter die Dusche und brauste sich heiß ab. Ihr war kalt. Sie weinte. Plötzlich überkam sie eine furchtbare Angst. Was, wenn Raphael etwas zugestoßen war? Wie sollte sie es mitbekommen? Rose hatte nur eine einzige Adresse von einem sehr guten Freund von ihm, den sie in London kennengelernt hatte. Wenn Raphael bis zum Nachmittag nichts von sich hören ließe, dann würde sie seinen Freund aufsuchen. Richard war sein Name. Er kam auch aus New York. Raphael und er kannten sich aus Studienzeiten.

Rose stieg aus der Dusche, griff nach einem weichen und weißen Handtuch und trocknete ihren Körper ab. Sie ging zu ihrem Mobiltelefon: null Nachrichten, null Anrufe von Raphael. Langsam schleppte sich Rose in die Küche. Wie mechanisch, wie eine Maschine kochte sie sich einen Kaffee und holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank. Ihren Körper spürte Rose nicht. Sie machte das Radio an und hörte Nachrichten. Es war mittlerweile 7.45 Uhr. Es war nun Zeit, sie musste los. In ihren Kurs. Das Mobiltelefon zeigte immer noch kein Lebenszeichen von Raphael. Rose war kurz vor dem Durchdrehen. Noch immer nackt griff sie nach einer blauen Jeans, die auf dem Stuhl neben dem Schreibtisch lag. Aus der weißen Kommode nahm sie einen hellen Büstenhalter und das passende Höschen. Nachdem sie sich die Dessous angezogen hatte, zog sie sich die Jeans über ihre Beine und entschied sich für eine leichte Bluse in Weiß und einen cremefarbenen Schal aus Seide für den Hals.

Dann schlüpfte sie barfuß in ihre braunen Mokassins und schnappte sich ihren Rucksack. Sie ließ die Türe hinter sich ins Schloss fallen und schaute ein weiteres Mal auf ihr Mobiltelefon.

7.50 Uhr. Keine Antwort von Raphael. Schnell rannte sie die Treppen hinunter, lief im Schnellschritt die Portobello Road entlang, bog rechts in die Pembridge Road ein und lief diese bis zu Notting Hill Gate. Dort rannte sie zur Notting Hill Station. Rose war spät dran. Außer Atem stürzte sie sich in die U-Bahn in Richtung Tate Modern. Mit Umsteigen brauchte sie knapp fünfunddreißig Minuten. Sie würde es nicht pünktlich schaffen. Deshalb schrieb sie Alex eine Nachricht, dass sie mit einer Verspätung kommen würde.

Rose saß in der Central Line und dachte an Raphael. Sie hatte immer noch keine Nachricht von ihm erhalten. Zehn Minuten später erreichte sie die Haltestelle Chancery Lane Station. Gedankenverloren stieg Rose aus der U-Bahn und ging zu Fuß in Richtung der Haltestelle High Holborn / Chancery Lane Station. Dort angekommen stieg sie in den Bus Nummer 45 nach Streatham Hill. Sie schaute aus dem Fenster und ihr schönes London fuhr an ihr vorbei wie in einem Film. Es war wunderbares Wetter und brachte die alte und beeindruckende Stadt zum Leuchten. Aber ihr Herz war von einem Schatten überzogen. Es war verletzt. Sie fühlte sich einsam und zurückgelassen. Verwirrt und angstvoll zugleich.

Rose wusste nicht, was vorgefallen war, und vermisste Raphael unendlich. Noch nie hatten sie so viele Stunden nichts voneinander gehört. Blackfriars Station – sie war am Ziel angekommen. Von hier musste sie nur noch ein paar Minuten zu Fuß gehen und schon war sie in der Tate Gallery of Modern Art.

Einerseits vergingen diese Minuten zur Tate Gallery wie im Flug, andererseits hingegen wie in Zeitlupe. Sie war verwirrt. Auch ängstlich. Ihr Körper zitterte. Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

„Rose!“ Sie drehte sich um und erblickte ihre Kommilitonin.

„Christy. Bist du auch zu spät?“

„Ja, ich hoffe, wir kommen noch hinein.“

Gemeinsam liefen sie schnellen Schrittes zum Haupteingang. Die Professorin und die Studentinnen und Studenten befanden sich bereits im Museum. Ihre Professorin Ms Goldwing hatte eine Extraführung für den Kurs organisiert. Das Museum öffnete nur für diesen Kurs von acht bis zehn Uhr die Pforten. Ab zehn Uhr würden die Tore für alle Besucher geöffnet sein.

„Guten Tag, wir gehören zu dem Kurs von Ms Goldwing!“

„Ja, bitte kommen Sie herein!“

Christy und Rose betraten die Innenräume. Rose liebte dieses meisterhafte Museum. Raphael kannte die Sammlung in- und auswendig. Alles erinnerte sie an Raphael. Sofort war sein Gesicht in ihren Gedanken.

„Da sind die anderen.“ Christy hatte die Gruppe entdeckt und zog an Roses Arm.

Christy und Rose gesellten sich zur Gruppe und lauschten Ms Goldwings wohlüberlegten Worten. Die Professorin sprach über die Architektur des Gebäudes, aber auch die einzelnen Arbeiten der Künstler erwähnte sie ausführlich. Normalerweise war Rose während der Vorlesungen sehr konzentriert. An diesem Tag folgte sie den Sätzen von Ms Goldwing kaum. Immer wieder tauchte sie in ihre Gedankenwelt ab. ‚Wo ist Raphael? Was ist passiert?‘

Der Kurs blieb bis zwölf Uhr in der Tate Modern. Ab zehn Uhr stießen auch andere Museumsbesucher hinzu. Das störte die Gruppe nicht. Rose überprüfte heimlich immer wieder ihr Mobiltelefon. Aber weder ein Anruf noch eine Nachricht von Raphael befanden sich auf ihrem Handy. Auch zur Mittagszeit nicht. In ihrer Mittagspause lief sie zur Themse und schaute auf den Fluss. Sie wollte auf andere Gedanken kommen und konnte nicht bei den anderen bleiben. Das Wetter war ein englischer Traum. Ihr Mobiltelefon blieb stumm. Eine sehr ungewöhnliche Situation für Rose. Raphael und sie hatten in ihrer Beziehung nahezu stündlich von einander gehört. Er hatte sie bis zu jenem Tag nahezu in jeder freien Sekunde angerufen oder ihr Nachrichten gesendet. All die gemeinsame Zeit über. Deshalb wurde Rose immer beunruhigter. Roses Mutter versuchte sie zu erreichen. Aber sie nahm nicht ab, sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen, und das wollte sie nicht. Sie schrieb ihrer Mutter eine Nachricht: Alles Liebe aus London. Rufe dich später zurück. Love you. Xx Rose.

Dann versuchte Rose ein weiteres Mal, Raphael anzurufen. Er nahm auch dieses Mal nicht ab. Sie schrieb ihm eine Nachricht:

Raphael, wo bist du? Sehen wir uns heute Abend? Ich liebe dich. Xx Rose.

Rose steckte das Mobiltelefon in ihren Rucksack. Ein Piepsen ertönte. ‚Eine Nachricht!‘ Sie riss den Rucksack auf, zog hastig das Mobiltelefon heraus und starrte auf das Display:

Liebe Rose. Ich schicke liebe Grüße aus New Jersey. Ich liebe dich. Deine Mum. Xx

Mandarinen aus Jaffa

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