Читать книгу Mandarinen aus Jaffa - Patrizia Joos - Страница 11
Kapitel 3
ОглавлениеEs geht nicht darum, was dir im Leben passiert, sondern wie du darauf reagierst. Epiktet
Nach Tagen ohne Raphael und auch ohne dass sie von ihm auch nur einen Anruf, eine Nachricht oder einen Brief erhalten hatte, begann Rose Tagebuch zu schreiben. Zuvor war sie bei einer Nonne gewesen – eine Art Freundin, die sie während einer Zeit, die sie in einem Kloster verbracht hatte, kennen- und sehr schätzen gelernt hatte. Für eine Dokumentation des Klosters hatte sie vor einem Jahr – es war, bevor sie Raphael kennengelernt hatte – drei Wochen darin gelebt und auch Geheimnisse des Klosters erfahren. Diese hatten aber nicht Eingang in die spätere Veröffentlichung gefunden. Die Dokumentation war fotografischer Natur. Eine Darstellung der Architektur und Geschichte des Klosters aus künstlerischer Perspektive.
Die Nonnen waren wie Freundinnen für Rose geworden. Trotz des Altersunterschieds. Das gemeinsame Frühstück und das Morgengebet, das gemeinsame Mittagessen und der Abendsegen. Rose hatte sich während dieser Zeit an diesen Rhythmus gewöhnt gehabt und wusste ihn zu schätzen. Jeden Tag dasselbe bedeutete nicht unbedingt etwas Schlechtes, dachte sich Rose. Manchmal ging Rose auch Monate später noch zu den Nonnen. Spielte Schach mit ihnen, redete über den Sinn des Lebens oder trank mit ihnen einen Kaffee. Als Kind hatte sie zwischenzeitig auch Nonne werden wollen, aber auch Lehrerin, Autorin, Reiterin, Malerin, Architektin, Fotografin, Tierärztin, Psychologin, Schwimmerin, Musikerin, Rennfahrerin, Imkerin, Pilotin, Tänzerin, Umweltschützerin und Farmbesitzerin. Sie hatte viele Träume gehabt und wollte diese Träume auch leben. Irgendwann zumindest.
Es war der Rat einer fünfundneunzigjährigen Nonne gewesen, sich alles von der Seele zu schreiben. Genau acht Tage waren jetzt vergangen. Acht Tage ohne Raphael. Ohne ein einziges Wort von ihm. Ohne eine Nachricht. Seine Wohnung war immerzu dunkel – sie war jeden Tag zu seinem Haus gegangen in der Hoffnung, ihn anzutreffen. Auch Richard, der beste Freund von Raphael, war nicht auffindbar, denn sie wusste nicht, dass er für ein paar Wochen nach New York gefahren war.
Aber tief in ihrem Inneren glaubte sie, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln würde. Und sie Raphael bald wieder in ihre Arme schließen könnte. Sie glaubte nicht an ein Ende. Rose fasste sich ans Herz. Das Herz, das nur für ihn schlug. Und sie begann zu schreiben.
Liebes Tagebuch,
Raphael. Wo ist Raphael? Was ist passiert? Er will mich offensichtlich nicht mehr sehen. Was habe ich getan? Was habe ich falsch gemacht? Wie kannst Du so hart sein? Was habe ich Dir getan? Ich sehne mich nach Dir. Ich fühle mich wie Luft, bin wie gelähmt. Ich fühle mich ohnmächtig. Ich esse nichts. Ich spüre nichts. Nur pure Verzweiflung. Du bist gegangen – ohne ein Wort. Du kannst doch nicht alles einfach wegwerfen – mich wegwerfen, wie einen alten Hut. Ich liebe Dich, Raphael. Ich sehne mich nach Dir. Ich sehne mich nach Deinem Körper und nach Deinem Mund. Ich sehne mich nach Deiner Art zu sprechen. Warum willst Du meine Liebe nicht? Warum willst Du mich nicht mehr? Alles in der Stadt erinnert mich an Dich. Ich steige in die Bahn – sie erinnert mich an Dich. Ich steige in den Bus – plötzlich fallen mir die Gedanken ein, die ich hatte, als ich zu Dir gefahren war. Jedes Eck in London, das wir gemeinsam besuchten, erinnert mich an Dich. Du bist in ganz London. Du bist London! Raphael! Jedes Vogelgezwitscher erinnert mich an Dich – alles. Und das alles macht mich so wütend. Ich hasse diese Schmerzen. Ich schlafe nicht mehr. Ich weine jede Nacht, bis ich irgendwann vor Erschöpfung in den Morgenstunden einschlafe und völlig übermüdet von meinem schrecklichen Wecker geweckt werde. Diesen Wecker findest Du so furchtbar und Du hast recht. Er ist furchtbar. Ich kaufe mir morgen einen neuen. Ich verspüre so eine Sehnsucht nach Dir, ich kann sie nicht in Worte fassen.
Ich sehne mich nach Deiner Liebe. Ich sehne mich nach einem Tropfen Liebe von Dir. Du fehlst mir so unendlich. Ich kann ohne Dich nicht sein. Ich will ohne Dich nicht sein. Ich möchte die Zeit zurück drehen und wieder bei Dir sein. Ich brauche Dich und liebe Dich! Ich will zurück zu Dir. Ich will zurück zu uns. Wir gehören doch zusammen, wie Berg und Tal. Es kann doch nicht einfach vorbei sein. Wir gehören doch zusammen. Ich will zurück zu uns. Komm zurück!
Rose legte ihr Tagebuch in ihren weißen Nachttischschrank unter die feine alte hochglanzpolierte Schmuckschatulle mit Spieluhr, die sie auf dem Portobello Road Market an ihrem ersten Tag in London gekauft hatte. Beim Öffnen der Schatulle erklang Beethovens „Für Elise“, wenn man die Spieluhr davor aufgezogen hatte. Ihren filigranen schwarzen Füller, den sie schon seit ihrer Schulzeit hatte, legte sie auf ihren Schreibtisch. Erschöpft schloss Rose die Augen. Sie fühlte sich sterbensmüde. Ohne sich zu entkleiden, legte sie sich auf ihr Bett und dachte daran zurück, was Raphael ihr an ihrem ersten gemeinsamen Abendessen mitgeteilt hatte, als er ihr seinen Silberlöffel mit Steinpilzravioli anbot: „Ich stelle mir meine Zukunft so vor, dass ich einfach gehe und gehe. Im Eis oder in der Wüste. Ohne Ziel, ohne Plan. Einfach gehe. Wie ein Kletterer, aber auf der Ebene. Bis zum Horizont und weiter. Es gibt kein Zurück, sondern nur einen weiteren Schritt nach vorne. Wie ein Wolfsrudel, oder wie die Vögel, die zurückkehren und mehrere Tausend Kilometer aus Afrika zurück in den Norden fliegen. Wobei ich mich darin unterscheide, dass ich kein konkretes Ziel habe und nicht zurückkehre. Nur die Schritte meiner Beine. Die Füße, die die Natur spüren, und meine Augen, die die Natur bewandern. So stelle ich mir meine Zukunft vor. Ich gehe immer weiter. Bis ich irgendwo angekommen bin!“
Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Raphael und schlief dann müde und erschöpft ein. Ihr Schlaf war tief und fest. So tief und fest hatte sie in den letzten sieben Nächten nicht geschlafen.
Rose durchlebte schöne Träume. Von einer Schifffahrt nach Amerika und von Expeditionen am Südpol. Sie erwachte, denn sie hörte Raphaels Stimme. „Raphael! Raphael!“ Sie sprang auf und schaute sich in ihrer Wohnung um. Sie hatte ihn gehört. Raphaels Stimme. Aber sie konnte ihn nicht sehen. „Raphael! Raphael. Ich liebe Dich. Wo warst Du? Ich habe dich so vermisst, Raphael.“
Ihre Wohnung war klein. Eine typische One Bedroom Flat. Sie konnte Raphael nicht sehen. Dabei hatte sie alle Ecken und Winkel der Wohnung durchsucht. Selbst in der Dusche, unter dem Bett, im Kleiderschrank. Sie schaute aus dem Fenster auf die Portobello Road hinab. Dann öffnete sie ihre Wohnungstür und schaute sich im Treppenhaus um. Kein Raphael. Keine Stimme mehr von Raphael. Mit zerzaustem Haar und irritiertem Blick ging sie erschlagen und verwirrt in die Wohnung zurück. Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Steuerte auf ihr Bett zu und verkroch sich unter den weißen Baumwolldecken. Vor Schmerzen fing Rose bitterlich an zu weinen. Sie hatte seine Stimme geträumt. Ihr Körper fing an zu zittern. Sie schluchzte so laut, dass sie selbst daran erschrak. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Mädchen. Ängstlich, zitternd, zurückgelassen, und gleichzeitig kam sie sich lächerlich vor. Hatte sie das alles nur geträumt? „Raphael! Ich vermisse dich“, schluchzte sie.
An jenem Tag blieb Rose der Universität fern. Sie konnte nicht gehen. Sie war es leid, jeden Tag so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Rose wollte niemandem etwas vorspielen. Zudem war sie in der Zwischenzeit so schwach geworden, dass sie kaum noch stehen konnte. Die Appetitlosigkeit und der Schlafmangel vor Sorgen um ihn setzten ihr körperlich zu. Ihre schöne Ausstrahlung hatte sich verabschiedet. Ihre hohen Wangenknochen kamen nun noch mehr zur Geltung und die dunklen Ränder unter den Augen wuchsen beachtlich. Sie fühlte sich wie ein Geist. Wohin war das Leben, das sie sonst so intensiv in ihrem Körper spürte, gegangen? Floss noch Blut in ihren Adern? Sie spürte nichts.
Rose schleppte sich in ihr Badezimmer und nahm eine kurze und erfrischende Dusche, trocknete sich ab und betrachtete sich nackt im Spiegel. Sie legte eine Entspannungsmaske auf und cremte ihren Körper mit einer wärmenden Creme ein. Sandelholz, Orchideen und Kirschblütenduft brachten sie immer wieder auf entspannte Gedanken. Auch wenn ihr gerade nicht nach schönen Gedanken zumute war. Aber genau deshalb brauchte sie diese Düfte nun umso mehr. Sie stellte Jazzmusik an und betrachtete die Blumenvasen, die in ihrem Badezimmer für eine angenehme Atmosphäre sorgten. Sie dachte an Raphael. Und es schmerzte.
Rose war in ihrer kleinen Wohnung in der Portobello Road. Die Straße, die zu Beginn ihrer London-Zeit zu ihrer absoluten Lieblingsstraße geworden war, strahlte nun eine gewisse Einsamkeit aus. Rose liebte London. Rose liebte Notting Hill. Aber seit Raphael nicht mehr aufzufinden war, fühlte sie sich nicht mehr in London zu Hause. Sie fühlte sich nicht mehr wie sie selbst. Als wäre ihre Hülle noch in dieser Wohnung – aber ihr Inneres war wie betäubt, war fort, war gegangen. ‚Wohin war es gegangen?‘, fragte sie sich und schaute auf die zarten Blumen, die Lebendigkeit verströmten.
Es klingelte an der Tür. Rose rannte sofort hin in der Hoffnung, Raphael anzutreffen.
„Ja, bitte? Raphael? Bist du es?“
„Post für Sie!“
Rose öffnete die Holztür. Es knarrte. Der junge Postbote überreichte ihr einen Brief. Er lächelte, drehte sich um und stieg die Treppen hinab. Rose erkannte die Schrift. Ihr Herz pochte unter ihren Rippen. Ihre Hände zitterten.
Rose ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und setzte sich hastig an ihren kleinen feinen Küchentisch. Auf dem nur Platz war für ein kleines Frühstück für höchstens zwei Personen. Hier hatten sie so oft gemeinsam gefrühstückt und sich nachher in ihrem großen und hellen Bett stundenlang Geschichten erzählt. Raphael und sie. Der Stuhl knarzte. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie dachte, sie würde in Ohnmacht fallen. Mit einem Messer öffnete sie den Briefumschlag. Sie zitterte so stark, dass sie sich in den Finger schnitt. Sie blutete. Langsam nahm sie den handgeschriebenen Brief aus dem Umschlag. Sie las unter Tränen:
Meine liebste Rose,
es tut mir sehr leid, dass ich mich zurückgezogen habe. Ich habe Zeit zum Nachdenken gebraucht. Ich sitze in New York. Ich komme nicht mehr nach London zurück. Ich konnte es Dir nicht persönlich sagen. Ich hätte es nicht geschafft. Rose, Du bist noch so jung. Du hast Dein ganzes Leben vor Dir. Du musst Dein Leben leben. Reisen. Suchen und Finden. Wir hatten eine sehr schöne Zeit. Die Gefühle für Dich waren echt. Das alles kann uns keiner mehr nehmen. Es fällt mir auch schwer, diesen Schritt zu gehen. Aber wir haben keine gemeinsame Zukunft. Ich werde Dich niemals heiraten. Ich werde Dir keine Kinder schenken. Uns trennen so viele Jahre. Ich will Dir Deine Zeit nicht stehlen. Du musst nach vorne schauen. Wie ein Bergsteiger, der das Gipfelkreuz erreichen möchte. Schaue nach vorne. Die ganze Welt gehört Dir und liegt Dir zu Füßen. Du bist frei, wie ein Vogel. Bitte lass los. Auch wenn es schwerfällt. Ich werde Dich niemals vergessen. Es ist vorbei. Lebe wohl! Pass bitte auf Dich auf! Bitte versuche mich nicht zu erreichen. Das macht es für uns nur noch schwerer. Leb wohl. Schalom. Bitte gib Deine Träume niemals auf! Du bist eine wunderbare Frau. Unsere Verbindung war einzigartig. Du wirst immer in meinem Herzen sein. Aber ich muss Dich ziehen lassen.
In ewiger Liebe,
Dein Raphael Jaron Rosengarten
Rose saß wie versteinert an ihrem Holztisch. Sie konnte nicht glauben, was Raphael ihr schrieb. Immer wieder las sie seinen Brief, ohne sich dabei vom Tisch zu bewegen. Die Schnittwunde ihres Fingers war ihr gleichgültig. Diesen Schmerz spürte sie nicht. Sie spürte nur den Schmerz ihres gebrochenen Herzens, das stärker blutete als ihre Schnittwunde am Finger. Regungslos blieb sie sitzen. Wie eine Steinskulptur aus der Antikensammlung im Alten Museum in Berlin, in dem sie als Kind einst gewesen war. „Du hast nun dein Tor für immer vor mir verschlossen, Raphael Jaron Rosengarten!“, schluchzte sie.
Rose schloss die Augen. Der Brief glitt ihr aus den Händen. Sie ließ den Kopf auf ihre Hände sinken. Und fing bitterlich an zu weinen. Rose weinte und weinte und spürte, wie sich alles um sie herum drehte, wie in einem Karussell auf einem lebensfrohen Rummel. Dabei gab es in diesem Moment für sie nichts Lebensfrohes mehr. Ihr wurde schwindelig. Rose sah nur noch schwarz und in ihren Ohren war ein dumpfes Geräusch zu hören. Ohnmächtig war sie zu Boden gefallen. Nun lag sie da, auf den Terrakottaplatten in ihrer Küche. Kurze Zeit später, mit kribbelnden Händen, einem trockenen Mund und einem von Tränen überfluteten Gesicht, kam sie wieder zu sich.
Sie, Rosamund Harper, vor wenigen Tagen noch alles habend, alles! Die Liebe ihres Lebens, eine wunderbare Wohnung im schönsten Teil Londons, in ihrem geliebten Notting Hill, ein Architekturstudium mit täglich wunderbaren Erfahrungen – sie, Rose war nun am Boden. Ganz tief am Boden. So sehr am Boden, dass sie unter ihrem Kühlschrank kleine und bunte Glasmurmeln aus Moskau erblicken konnte, die sie einst verloren glaubte. Rose rieb sich ihr Gesicht mit einem Küchentuch ab, das beim Sturz mit auf den Boden gefallen war, und schluchzte, denn sie wusste nun, dass es kein Zurück zu Raphael mehr gab. Es war nicht mehr möglich. Das schmerzte so sehr. Sie konnte es nicht glauben. Ihre Welt war zerbrochen und ihr Herz gebrochen. In diesem Moment klingelte das Telefon, aber sie ließ es klingeln. Es klingelte und klingelte eine volle Minute, aber sie ließ es klingeln und konnte nicht aufstehen. Der Schmerz ihres Herzens war so tief. Es fühlte sich an, als würde sie sterben. Sie vermisste ihn so unendlich. Ihren Raphael.
Mehr als fünftausend Kilometer entfernt, von einer New Yorker Telefonzelle aus versuchte Raphael Rose zu erreichen, denn sein Mobiltelefon war ihm auf dem New Yorker Flughafen gestohlen worden. Er wollte sie sprechen und ihr sagen, wie sehr es ihm leidtat. Sein Herz lag in Trümmern. Schmerzlich verzehrte er sich nach Rose. Seiner Rose.