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IV.

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Fiorenza Bálint war fünf Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal einer unendlichen Seligkeit bewußt wurde. Sie war ihrer zeitweiligen Hüterin, der guten, aber sehr ängstlichen Agnes entlaufen. Den Flügelschlag eines Vogels mit den Armen nachahmend, war das Kind einen Gartenpfad hinaufgeeilt, durch die Gattertür geschlüpft und befand sich in einem abgesonderten Gemüsegärtchen, das von Bohnenranken umfriedet, ein sicheres Versteck bot. Hier wuchsen zwischen Salatbeeten und Krautköpfen braungoldene Levkojen, da duftete es nach Verbenen und Basilikum und da lag Fiorenza’s eigenes Blumenbeet, das sie mit Onkel Sepp’s Hilfe bepflanzt hatte. Eben auf diesem Beete war eine Geraniendolde aufgeblüht. Brennende Liebe heißt diese Pflanze im Volksmund. Das Kind kniete vor dem purpurroten Blütenwunder. Zwei Falter spielten um die Kelche, setzten sich für einen Augenblick mit bebenden Flügeln auf die Kinderhand und entschwebten dann in das Gezweig eines alten Apfelbaumes. Fiorenza kletterte mühelos den etwas schief gewachsenen Stamm empor bis zu einer Gabelung, die einen prächtigen Hochsitz bot.

Ein Glücksgefühl ohnegleichen durchströmte sie. Den Kopf zurückbiegend, ließ sie sich die warme Sonne durch die geschlossenen Lider scheinen. Losgelöst von der Erde hing sie in den Ästen und hatte das Gefühl des Fliegenkönnens, wie es in Träumen vorkommt.

Da sah Fiorenza zwei Kinder zwischen den Gemüsebeeten langsam auf und abgehen. Ein Mädchen mit kleinen, festgeflochtenen Zöpfen, das einen jüngeren Knaben an der Hand führte. Fiorenza winkte ihnen näher zu treten und die Kinder blieben stehen. „Kommt zu mir!“ rief sie, „wir wollen spielen!“

Hörten sie nicht? Wie hinter einer gläsernen Wand standen sie und schauten mit großen, scheuen Augen herüber.

„Schön ist es hier oben!“ lockte Fiorenza. Da kam das kleine Mädchen zögernd heran, lächelte und schlang die Ärmchen um den Baum. Fiorenza beugte sich nieder: „Wie heißt du?“ Das Kind blieb aber stumm. Mit langgezogenem Heulen stieß ein Neufundländer die Gattertüre auf, kroch winselnd unter den Apfelbaum und beruhigte sich erst, als Fiorenza herabstieg und ihn am Halsband faßte. Er drängte sie aus dem Gemüsegarten hinaus. Am Pförtchen wendete sie sich aber nach den Kindern um. Hatte Tell, der Hund, sie verscheucht? Sie waren fort.

Der Neufundländer zog und zerrte Fiorenza bis an das Landhaus hinab, legte sich dort in Hütstellung nieder und knurrte dumpf weiter. Fiorenza hatte sich auch ins Gras geworfen und begann, sich mit ihm zu balgen. Er stemmte die großen Pfoten gegen ihr weißes Kleid und fuhr mit der Zunge über ihr Gesicht. Da griff sie ihm ins Maul. Ganz zart hielt er ihr Händchen fest.

„Tell!“ Der Hund sprang auf. Sepp Knöll, sein Herr, hatte ihn gerufen.

„Fiore! Wenn Agnes die Grasflecke auf deinem Kleide sieht! Und zerrissen ist es auch!“

„Vom Baumkraxeln“, gab Fiore zu. „Ich habe so schnell herunterspringen müssen. Tell hat die Kinder bös angebellt.“

„Welche Kinder? Wo?“

„Oben, bei den Stangenbohnen, Onkel Sepp. Ein Bub wars und ein Mädel.“

„Ich bin die ganze Zeit hier im Garten gewesen und habe keine Kinder hereinkommen sehen. Sie hätten an mir vorbeigehen müssen.“

„Onkel Sepp, mein Beet blüht schon. Das kleine Mädchen hat es auch gesehen.“

Mit einigen Sätzen war Sepp im Gemüsegarten. Ebenso schnell kam er zurück. „Ja, es fängt zu blühen an. Aber Kinder sind keine oben. Du mußt dich getäuscht haben.“

Fiore schloß den Mund, er wurde ganz schmal. Ihre dunklen Augen schauten Sepp vorwurfsvoll an.

Agnes, die Haushälterin, kam aus der Plättkammer. „Da bist du ja endlich, Fiorerl! Komm, ich zieh’ dir ein reines Kleidl an!“ sagte sie gutmütig.

„Nein, bitte nicht“, wehrte sich die Kleine.

„Kleide sie nur um, Agnes“, befahl Sepp. Die Gäste werden bald kommen. Ich muß noch Rosen für den Tisch abschneiden. Hast du um einen weißen Wecken nach Mödling geschickt. Baron Claudio ißt kein Schwarzbrot.“

‚Hab selbst gebacken“, sagte Agnes.

Fiore ließ sich von ihr ins Haus führen. Da wohnte sie bei Agnes und Sepp, im Erdgeschoß. Links vom Flur, im Eßzimmer standen hochgepolsterte, mit grünen Rips überzogene Stühle und ein ebensolches Sofa mit Fransen und weißen Porzellannägeln. Auf der Kommode, deren Laden immer nach Lavendel und Lebkuchen rochen, war zwischen Wachsstöcken und Blumenvasen eine schöne Weihnachtskrippe aufgestellt. Fiore verehrte diese holdselige Jungfrau Maria mit dem Jesuskindlein, vor dem sich die drei heiligen Könige neigten. Von Agnes hatte die Kleine das Vaterunser und das Ave beten gelernt. Jeden Abend, vor dem Schlafengehen, knieten sie hier andächtig beim Scheine eines Wachslichtes, und draußen rauschten die Ulmen wie in alter Zeit. Wenn es dann Fiore in ihrem Hemdchen fröstelte, trug Agnes sie zu sich in die Kammer und legte sie in das kleine weiße Bett, das die junge Baronin Lambrecht für ihr Patenkind mitgebracht hatte. Am besten gefiel es aber Fiore in Sepp’s Stube, bei seinen Vogelkäfigen, in welchen er Kanarien züchtete. An den Fenstern blühten Hängenelken, alte Epheustöcke füllten die tiefen Fensternischen mit ihrem freundlichen Grün. Werke über Pflanzenkunde und Gartenkunst lagen auf dem Tisch. Ansichten von Bozen mit dem Rosengarten, von den Burgen Siegmundskron und Runkelstein hingen an den Wänden. Am meisten aber fesselte Fiore das große Ölbild, das über dem Bette hing und das Sepp’s Mutter in einem weiten blauen Kleide und einem bunten Kaschmirshawl darstellte. Sie hielt einen Knaben auf dem Schoße und ein kleines Mädchen an der Hand, Sepp’s früh verstorbene Geschwister. Im Hintergrund des Bildes schimmerten in bleichem Purpurlicht die Vajoletttürme.

„Der Vater ließ die Mutter in Wien malen“, hatte Onkel Sepp erzählt, „aber sie saß dem Künstler nur unter der Bedingung, daß er eine Tiroler Landschaft dazu male. Und das tat er. Wenn du größer bist, Fiore, nehme ich dich einmal nach Tirol mit.

Wenn sie größer sein würde! Die Großen haben es so gut! Sie machen sich keine Grasflecke in die Kleider, haben immer reine Hände und müssen sich nicht das Haar in Rädchen aus Draht eindrehen lassen, auf denen man recht schlecht liegt in der Nacht — dachte Fiore, während ihr Agnes mit einem runden Lockenholz und einer Bürste die dunkelblonden Strähne so lange bearbeitete, bis sie wieder in gleichmäßigen Ringeln um ihr Gesicht lagen.

„Wie schön ist das Kind!“ sagten oft auf der Straße fremde Menschen.

Das hörte Fiore wohl gern, jedoch das Fragen und Flüstern um sie war ihr lästig. Ebenso lästig empfand sie es, wenn sie den Gästen der Baronin vorsingen oder französische Verse deklamieren mußte. Die Leute nannten sie dann scherzend: „Die kleine Adelina Patti“ oder „die Wolter“. Nur vor ihrem Bruder Bernhard sang sie gern. Er griff ein paar Akkorde auf dem Klavier und sie schwebte auf einem Strom von Wohlklang sicher und geborgen mit ihm dahin. Manchmal brachte er seine Geige und spielte dann für sie ganz allein. Er war ihr Vorbild, dieser große Bruder. Wenn er ihr bloß gestattet hätte, auf seiner Geige zu spielen! Aber stets sagte er: „Du bist noch zu klein“. — Was tut man, um schnell zu wachsen?

„Ein schwaches, zartes Kind“, hörte sie immer die Erwachsenen sagen, und dann tuschelten sie wieder Geheimes.

Damit sie sich kräftige, hatte Baron Lambrecht einen Turnplatz im Garten errichten lassen. Das Hängen in den Ringen oder auf dem Trapez machte ihr aber keine Freude. Zum Klettern waren doch die Bäume da. Manchmal kam der Arzt, Doktor Schwarz, ein kleiner Mann mit einem langen, weißen Bart. Der nannte Fiore zärtlich sein „Blümchen“ verordnete ihr Lebertran und ein Eisenpräparat, das sie durch ein Glasröhrchen trinken sollte. Der Arzt ahnte nicht, daß Agnes die von ihm vorgeschriebene „Medizin“ wegschüttete. Die alte Jungfer schwor nur auf Kamillentee, warme Biersuppe oder einen Ölfleck. Mit diesen Mitteln war sie immer gut ausgekommen. Sie hatte ja Sepp aufgezogen und was war das für ein Kerl geworden! Nach ihrer Ansicht plagte man auch Fiore viel zu früh mit dem französisch Parlieren. Alle Leute sagten doch ohnehin, daß das kleine Mädchen ungewöhnlich klug sei, ein wahres Wunderkind! Wozu also wollte Baron Lambrecht einem armen Ding von fünf Jahren schon das Einmaleins und das A B C eintrichtern? Was verstand er überhaupt von Kindern? Er hatte doch keine. Agnes wußte, was es bedeutete, wenn Baronin Antonietta das Gesicht so leidenschaftlich in Fiore’s Locken drückte. Eine Sehnsucht, die stärker war als jedes andere Gefühl, brannte in der Seele der jungen Frau. Doktor Schwarz hatte ihr kürzlich eine Badereise angeraten. Die Baronin war gestern aus dem böhmischen Kurort zurückgekommen und saß mit ihrer Handarbeit im Gartenrondell unter den gelbblühenden Gloire de Dijon-Rosen. Wann würde sich ihr Wunsch erfüllen? ...

Der Baron empfand die Kinderlosigkeit seiner Ehe nicht so tief. Er hatte viele Interessen: die Rennen, den Dienst, das Avancement und die ihn freudig erregende Aussicht, bald nach Bosnien einzurücken. Seine starke Vitalität verlangte immer nach Bewegung, nach Abwechslung und Antonietta war gezwungen, Gäste einzuladen, um ihn bei guter Laune zu erhalten.

Jetzt zu den Pfingstfeiertagen, erwartete sie den Besuch ihres Oheims, Baron Claudio Casalanza, der in regelmäßigen Abständen von Trient nach Wien reiste, um seinen Sohn Falco im Konvikt zu besuchen.

Er war schon am Samstag vor Pfingsten in der Anstalt erschienen, hatte Falco’s vorzeitigen Ausgang erwirkt und die Ankunft mit dem Jungen in der Brühl für Nachmittag gemeldet.

Das beste Zimmer war bereit gestellt worden. Agnes hatte noch in letzter Stunde die Mullgardinen gewaschen und geplättet. Ein Strauß Dotterblumen und Vergißmeinnicht, Fiore’s Willkommengruß für Falco, stand in einem grünen Glase. Schon öfter war von Falco Casalanza die Rede gewesen. Sie stellte sich ihn als Knaben mit kurzen Höschen vor, als Spielkameraden, und nachdem Agnes mit dem Lockendrehen fertig war, lief das Kind zum Gartentor, um nach dem erwarteten kleinen Freund auszuspähen. Noch niemals war Fiore so ungeduldig gewesen. Endlich hielt ein Fiakerkutscher unten auf der Straße die Pferde an und zog mit einem laut vernehmlichen „Küß die Hand, Herr Graf!‘ vor dem aussteigenden Fahrgast den Hut. Diesem Herrn folgte zu Fiore’s grenzenloser Verwunderung ein großer Junge in blauer Uniform, mit einem Degen an der Seite. Er würdigte aber Fiore keines Blickes.

Baronin Antonietta lief den Ankömmlingen entgegen. „Du bist ja wieder gewachsen, Falco!“ rief sie und wollte den Jungen umarmen, doch er zog die Schultern hoch und sie frug bloß: „Wie alt bist du eigentlich?“ „Vierzehn Jahre.“

„Dreizehn“, korrigierte ihn sein Vater. „Er wird erst im August vierzehn.“ — „In sechs Wochen. Das ist ein und dasselbe“, versteifte sich der Knabe. „Falco ist ein Pedant“, erklärte Claudio Casalanza lachend.

„Ei! Ein Pedant?“ wiederholte Baron Lambrecht, nachdem er Casalanza die Hand geschüttelt hatte. „Ein Pedant? Wieso trägt er aber ganz vorschriftswidrig den Kragen offen?“ Falco’s Wimpern zuckten zweimal sehr rasch in seinem maskenhaften, unbewegten Gesicht. Und mit einer Höflichkeit, die gezwungen schien, sagte er: „Ich bitte um Entschuldigung. Es war sehr heiß in der Bahn“ und schloß eilig die Bluse.

„Kommt doch in den Schatten“, bat Antonietta und legte ihren weißen, runden Arm um Falco’s Nacken. Dieses Mal widerstrebte er nicht. Das bißchen Zärtlichkeit, sowie der wunderbare Duft, der dem weißen Spitzenärmel entströmte, taten ihm wohl. Mit der jungen Frau Schritt haltend, ließ er sich von ihr vor das Haus, zum gedeckten Tisch führen. Lambrecht geleitete Casalanza in das Fremdenzimmer.

Fiore hatte sich von der entgegengesetzten Seite des Hauses zu den Rosenbüschen herangeschlichen und bewunderte Falco, dem Antonietta Torte, Krapfen und Mandelgebäck auf den Teller häufte. Schade, daß er schon so groß ist, dachte das Kind. Aber wie schön ist seine Uniform!

In diesem Augenblick surrte etwas im Busch und Fiore griff schnell zu, denn es war ein Hirschkäfer mit einem mächtigen Geweih.

Zuerst wollte sie ihn wieder fliegen lassen, weil Sepp ihr geboten hatte, kein Tier seiner Freieheit zu berauben. Aber dann besann sie sich eines anderen. Wenigstens zeigen wollte sie ihren Fang, um den fremden Gast zu beweisen, daß er auch hier etwas zu bewundern gab.

Antonietta sah den Schimmer von Fiore’s Kleid zwischen den Rosensträuchern und rief: „Komm her, Fiore und gib Falco die Hand!“ Der Junge blickte sehr geringschätzig auf das kleine Mädchen, er wollte aber vor Antonietta seine gute Konvikterziehung zeigen, sprang vom Stuhle auf und bot Fiore die Rechte. Das Kind setzte mit stolzer Freude den Hirschkäfer in seine Hand.

„Au“, rief Falco und schüttelte sich heftig. „Der kneift!“ — „Tut es weh?“ frug Fiore ganz verzweifelt. Falco schleuderte den Käfer von sich. Dieser kam wieder auf die Beine und kroch langsam über den Gartenkies weiter.

„Bist du jetzt bös’?“ fragte das Kind traurig. Falco lachte kurz. Fiore bückte sich und hielt dem Käfer einen Finger zwischen die Zangen: „Wenn er dir weh getan hat, soll er mich auch zwicken, damit du nicht bös bist“, und das Kerbtier hing schon an ihrem Händchen.

Mit einem kleinen Schrei stürzte Antonietta auf ihr Pflegetöchterchen zu und befreite es von dem Käfer. „Was dieses Kind immer für extreme Einfälle hat!“ klagte sie. „Schnell den Finger ins Wasserglas stecken!“ Der Finger blutete ein wenig. Fiore schaute auf Falco und verzog keine Miene.

„Du bist aber dumm“, sagte Falco, doch der Ton klang nicht unfreundlich. „Jetzt wollen wir den Kerl zur Strafe anbinden.“ Er holte aus seiner Hosentasche Bindfaden, ein Messer, eine Signalpfeife, Nägel und eine Schachtel mit der Aufschrift „Juckpulver“ und weidete sich an Fiore’s Staunen. Da kam Rittmeister Lambrecht mit Casalanza aus dem Hause.

„Also das ist die Kleine?“ fragte Claudio Casalanza mit einem ernsten Blick auf Fiore.

„Ja, das ist unser Kind!“ lachte der Rittmeister. „Pass’ einmal auf, Onkel Claudio!“ Er kommandierte: „Habt acht! Rechts schaut!“ worauf das kleine Mädchen mit einem Ruck vom Boden auffuhr, die Fersen zusammenschlug und mit Kopfwendung stramm salutierte.

„Du mußt immer Rekruten abrichten“, spottete Casalanza. „Hast du diesem entzückenden kleinen Engel vielleicht auch Gewehrgriffe beigebracht, du Kommisknopf?“ — „Sie kann auch anderes, du Zivilist.“ entgegnete Lambrecht, ohne Casalanza’s hochmütiges Achselzucken zu beachten. „Habt acht! Abtreten! Fiore! Wieviel ist dreimal drei?“

Fiore war aber ins Gras gesprungen und sah zu, wie Falco den Hirschkäfer an den Stamm eines Rosenbäumchens fesselte.

„Nein, nicht rechnen! Sie soll singen!“ rie Antonietta. „Singe uns das Fischerlied, mein Kind, oder den Carneval von Venedig!“

„Bist du ein dressierter Pudel?“ frug Falco leise.

„Ich bin kein dressierter Pudel“, sagte Fiore ganz laut.

Antonietta schwieg verblüfft. Casalanza lachte. Doch der Rittmeister schrie zornig: „Marsch in dein Zimmer! Du hast Stubenarrest für heute!“

„Das Kind weiß ja nicht, was es spricht“, legte sich Antonietta ins Mittel.

„Vorwärts!“ kommandierte Lambrecht unberührt. „Du wirst das A B C abschreiben! und heute gibt’s kein Backwerk!“

Schluchzend lief Fiore ins Haus.

„Es wundert mich, daß du nicht Spangen anwendest“, sagte Casalanza ärgerlich.

Es entstand eine ungemütliche Pause. Antonietta schenkte den Kaffee in die Tassen ein.

„Mit viel Zucker“, bat Casalanza. Lambrecht trank ihn bitter.

„Es gibt zwei bestimmte Männertypen“, wandte sich Casalanza an seine Nichte, „und ich glaube, daß dein Mann und ich diese beiden Charaktere vertreten: er schlägt mit dem Säbel und ich fechte mit dem Florett.“

„Es gibt noch andere Unterschiede zwischen euch Italianissimi und uns Deutschen“, trumpfte Lambrecht auf. — „Ein Deutscher bist du gar nicht“, lachte Casalanza. „Darüber mußt du dir klar werden. Deine Vorfahren haben in Böhmen und Mähren gehaust. Von großmütterlicher Seite hast du bestimmt slawisches Blut in den Adern. So ähnlich, wie mein Sohn Slawenblut von Stasia mitbekommen hat. In unserer Familie häufen sich diese Ehen zwischen Angehörigen verschiedenster Nationen. Meine Schwester Teresa hat den Anfang gemacht, als sie einen Ungarn heiratete. Dann folgte ich mit Stasia und zuletzt nahm unsere Nichte Amelia den vergrämten Witwer, den Hauptmann der Kaiserjäger, Hohenlehen, zum Mann. Ich war aus bestimmten Gründen gegen diese Heirat. Seine erste Frau hat, wie man glaubt, durch Selbstmord geendet. Nun, ich werde meine Nichte jetzt auf der Rückreise in Bozen besuchen. Sie haben dort ein Haus auf dem Obstplatz. Amelia scheint übrigens zufrieden zu sein. Sie ist glückliche Mutter eines dreijährigen Buben. Ich bin neugierig auf das Ergebnis dieser Verbindung. Ich und unser guter Don Carlo werden die letzten, echten römischen Casalanza sein.“

„Ich bin ein echter Casalanza“, brauste Falco auf. „Ich bin kein Slawe, ich bin Italiener!“

„Vor allem bist du Österreicher“, rief Lambrecht.

„Ich meine, daß unsere Kronländer eine große Völkerfamilie darstellen und sich gegenseitig ergänzen und stützen sollen, anstatt gegeneinander zu eifern“, sagte Antonietta besänftigend.

„Falco ist Österreicher!“ wiederholte der Rittmeister, „und wenn er es bis heute nicht gewußt hat, so wird er es lernen, wenn ich ihn als Einjährig-Freiwilligen in die Hand bekomme, was ich recht sehnlich wünsche!“

„Daran brauchen wir noch nicht zu denken“, sagte Claudio mit einer weit ausholenden Armbewegung. „Die Casalanza haben übrigens seit jeher weniger Sinn für Militarismus gehabt, als für Diplomatie oder Wissenschaft.“

„Was die Diplomaten verpfuschen, müssen immer wir Soldaten in Ordnung bringen. Wir sind die Einzigen, die es ehrlich treiben. Der Soldat tut seine Pflicht nicht um Geld ...

„Ich weiß, er stirbt für vier Kreuzer im Tag“, unterbrach Claudio seinen Neffen, „oder es werden ihm jetzt in Bosnien die Ohren abgeschnitten. Ihr kommt dort unten scheinbar nicht weiter.“

„Warte nur, bis die Richtigen dort sind!“

„Willst du damit sagen, daß du einrückst? Du bist doch in der Militärakademie unabkömmlich.“ Lambrecht legte einen Finger auf den Mund. Antonietta hatte aber die Bewegung gesehen und fuhr auf: „Franz! Du hast um Versetzung angesucht!“

„Na ja. Soll ich’s leugnen? Jetzt weißt du’s. Schon längst habe ich es getan. Du bist doch mit keinem Zivilisten verheiratet. Aber sei ruhig. Ich habe kein Glück und bevor ich einrücken darf, wird der Krieg aus sein.“

„Du hast mir nichts gesagt, Franz ...“ stammelte Antonietta fassungslos.

„Willst du dir den Garten ansehen. Falco? fragte Lambrecht. Der Junge begriff. Sie hatten etwas zu reden und er störte. Er stand auf, behielt aber seinen Teller mit Fruchteis in der Hand.

Er schlenderte zum Vorgarten hinab, wollte sich dort in die Laube setzen, aber plötzlich interessierte ihn das Haus. Komisch, wie es mit der Schmalseite gegen die Straße stand. Zwei Fenster oben, zwei unten im Erdgeschoß. Die beiden unteren waren vergittert und hinter dem einen saß Fiorenza mit verweinten Augen. Er wußte, daß sie durch seine Schuld hier wie eine Gefangene sitzen mußte. Er pfiff leise. Das Kind hatte ihn längst erblickt, zeichnete aber mit verbissener Geduld Buchstaben auf eine Schiefertafel.

„Heda! Fiore!“ rief er.

Fiore legte den Griffel weg, kam zum Fenster und faßte das Gitter mit beiden Händen: „Oh, du hast Eis?“

„Willst du kosten?“

„Onkel Franz hats verboten.“

„Backwerk hat er verboten. Eis ist kein Backwerk.“

Das war, im Ton gewichtiger Autorität gesprochen, für Fiorenza allerdings eine Entscheidung. Aber das enge Fenstergitter trennte sie von dem Teller mit den himbeerroten und aprikosenfarbenen Eisschnitten.

Falco wußte Rat: „Ich werde dich mit dem Löffel durchs Gitter füttern“, und das tat er, aber bald sagte sie: „Ich kann allein essen, gib mir den Löffel.“ Er mußte bloß den Teller halten, damit er nicht vom Gesimse abglitt.

„Hast du aber selbst genug gekriegt?“ fragte sie plötzlich.

„Ich kann nicht weiter“, gestand er. „Ich habe eine halbe Punschtorte aufgegessen und zwei Schlagobersrollen und noch so Verschiedenes. Im Konvikt essen wir kein so süßes Zeug. Das ist nichts für Männer.“

„Magst du keinen Lebkuchen? Morgen ist hier Kirchweihfest. Die Lebzeltenstandeln sind schon aufgestellt. Und ein Kasperltheater wird es geben und einen Baumkraxler. Der steigt auf eine hohe Stange, ganz hinauf bis zu den bunten Tücherln und Bändern und holt sich die Silbergulden, die dort eingebunden sind.“

„Das ist nicht schwer. Uns solltest du turnen sehen, im Konvikt! Da würdest du Augen machen!“

„Ich bitt’ gehorsamst, der junge Herr Baron möcht‘ sich bereit machen. Die Herrschaften wollen spazieren fahren“, meldete der Bursch des Rittmeisters.

Sofort lief Falco ins Haus, um Kappe und Degen zu holen. Vor dem Gartentor stand der Kutschierwagen. Lambrecht hielt die Zügel. Falco durfte an seiner Seite Platz nehmen. Rückwärts saß Claudio mit Antonietta.

Fiore, die auf das Fensterbrett geklettert war, sah den Wagen davonfahren. Niemand hatte ihr einen Blick geschenkt. Wenn Onkel Franz sie strafte, war sonst immer die schöne, liebevolle Tante Antonietta zu ihr gekommen und hatte sie gestreichelt und geküßt. Oder Onkel Sepp hatte ein Spielzeug für sie geschnitzt. Auch Agnes, die so rauhe Hände hatte, und einen so sanften Mund, wäre von Trost für das einsame Kind gewesen. Ihre Stimme klang jetzt aus dem Hofe herauf, sie sprach mit der Köchin, während sie am Brunnen Wasser schöpften.

„Wenn der Baron nach Bosnien einrückt ...“ sagte Agnes. Die übrigen Worte verhallten im Garten. Das Brunnenwasser rieselte und tropfte immer leiser. Die Sonne sank und die Rosen verströmten ihren Duft in den Abend. Tiefe Einsamkeit war um das kleine Mädchen und es erschrak fast, als die Türe knarrte. Wie froh war es, als Agnes eintrat! Sie stellte Milchbrei und Butterbrot auf den Tisch, ermahnte die Kleine, brav zu essen, brachte sie dann schnell zu Bett und machte das Zeichen des Kreuzes über sie.

Fiorenza bewegte sich unruhig in den Kissen. Etwas Fremdes, Aufwühlendes war heute in diesem Hause. Noch zwischen Wachen und Traum hörte sie das unterdrückte Heulen des Hundes. So lag sie lange. Ein Lichtschein störte ihren Schlummer. Hatte nicht Agnes vorhin die Kerze ausgelöscht? Die Kerze brannte bestimmt nicht mehr, doch ein bläulicher Schimmer ging von der Frau mit dem weiten, blauen Kleide aus. Ja, das war die Frau aus dem Bilde in Onkel Sepp’s Stube. Und die beiden Kinder, die sie an der Hand führte, erkannte Fiorenza als dieselben, die sie heute im Gemüsegarten gesehen hatte. Freudig streckte sie ihnen die Hände entgegen und folgte ihnen ins Freie. Da stand auch schon der Klettermast für den Baumkraxler, aber er war viel, viel höher als bei Tage und reichte bis an die Sterne. Die zwei Kinder hatten plötzlich bunte Flügel und krochen den Mast empor, wie Schmetterlinge, so leicht und mühelos, und zogen Fiorenza mit hinauf. Je höher sie gelangten, umso strahlender glänzten die Lichter des Himmels, umso klarer wurde die Seele des Kindes und es sah den lieben Gott. Da sang eine Geige wie eine Menschenstimme und hatte Klänge von Purpur, prächtig wie ein Königsmantel. Und andere von tiefem Blau, wie Frühlingsenzian. Und himmlisch reine, wie Sonnengold. Fiorenza war es selbst, die Geige spielte, vor dem Throne Gottes ... doch da wurde ihre Hand von einer anderen gefaßt und — „Eine kleine Alteration, nichts weiter“, sagte Doktor Schwarz, als er Fiorenza’s Puls fühlte und dann seine Uhr zuklappte. „Geben sie dem Kindel alle zwei Stunden einen Eßlöffel voll von dem Saft.“

Zwei Tage später durfte sie aufstehen. Alle Leute waren freundlich zu ihr und man erlaubte ihr, am Brunnen zu sitzen und ihre Puppe in einem kleinen Holzschaff zu baden.

Fiore liebte diese ganz unscheinbare, gewöhnliche Porzellanpuppe, weil sie ein Geschenk ihres Bruders Bernhard war.

„Was machst du da?“ fragte Falco. „Das ist gar nichts. Die Puppe muß schwimmen lernen!“ Er steckte dieselbe in das Auslaufrohr und pumpte kräftig. Da fiel die Puppe, von der Gewalt des hervorstürzenden Wassers mitgerissen, in den steinernen Brunnentrog und zerschellte.

Fiore’s Gesicht verzog sich zum Weinen. Da geschah aber etwas Unerwartetes: Ein junger Mann, der einen Geigenkasten und eine Notenrolle trug, kam die Gartentreppe herauf und winkte dem Kinde freudig zu.

„Bernhard!“ schrie Fiore und flog ihm an den Hals und lag dort wie eine verirrte Schwalbe, die sich im Unwetter unter ein schützendes Dach schmiegt.

Drei Häuser

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