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St. Georg und der Drache
ОглавлениеSiggi hatte einen Wutanfall. Wutanfälle ihres Chefs waren alle Anwesenden gewöhnt. Dieser Wutanfall übertraf in Ausmaß, Lautstärke und Länge jeden bisherigen, fanden die vier betreten auf den Boden schauenden Männer. Die Vier waren es gewohnt, von ihrem Chef ruppig herumkommandiert zu werden. Und sie waren nicht aus Zucker. In diesem Fall fand sich Georgy mit der dicken, blutig verkrusteten Lippe allerdings ungerecht behandelt. Ab und zu schaute er unterwürfig und doch vorwurfsvoll in Richtung seines Chefs. Wie auf Knopfdruck steigerte sich Siggi in eine speichelsprühende Raserei. Die vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Schriftstücke wurden mit feuchten Flecken übersät.
»Welcher Idiot hat die Liquidierung von Sergio angeordnet! Was habe ich euch gesagt was ihr tun sollt UND WAS IHR NICHT TUN SOLLT!«
Erschöpft ließ sich Siggi in seinen Chefsessel zurückfallen. Er holte ein großes Taschentuch aus seiner Sakkotasche und wischte sich den Speichel vom Mund. Dann tupfte er sich vorsichtig den Schweiß von der Stirn. Dabei blieben bräunliche Flecken am Taschentuch zurück. Siggi war geschminkt. Siggi hieß eigentlich Sighurt von Ravenow, was außer seiner senilen Mutter und ihm kein Mensch wusste. Und auch niemand wissen sollte. Er war ein Kind verarmter Landadliger, die aus dem Osten vor den Russen fliehen mussten und alles verloren hatten. Sie hatten nur noch einen inzwischen von den Motten zerfressenen Wandteppich mit dem Familienwappen retten können. Irgendwas mit einem Drachen war darauf zu erkennen gewesen. Das war eine der wenigen Erinnerungen, die er aus seiner Kindheit noch hatte. Trotzdem oder genau deshalb bestand er auf einem gewissen Niveau. Er wollte, dass die Leute erkannten, dass er Klasse hatte. Und er hatte sich im Milieu jahrzehntelang hochgearbeitet. Von ganz unten. Und er kannte inzwischen das Geschäft in- und auswendig. Meistens ließ er alle Arbeiten, die anfielen, von seinen zahlreichen Mitarbeitern erledigen. Die Vier, die vor ihm fast schon stramm standen, wussten aber, dass er manchmal eine Ausnahme machte und Aufgaben selbst erledigte. Und das betraf insbesondere Strafmaßnahmen bei den Mitarbeitern. Siggi war bekannt für drakonische Strafen. Angefangen von der Wegnahme der heiß geliebten dicken Sportwagen bis zur Amputationen von Gliedmaßen war alles schon mal vorgekommen. Deshalb blieben die Männer schweigend mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch stehen. Und das war auch gut so. Denn Siggi war noch lange nicht fertig.
»Wie erkläre ich den Italienern das mit Sergio? Und wo sind mein Buch und der Schlüssel?«, fragte er gefährlich leise und schaute Georgy dabei an.
»Der Fpaghetti verfuchte fu fliehen«, stammelte Georgy undeutlich.
Georgy hatte eine sehr dicke und blutige Unterlippe. Ein Auge war blutunterlaufen und es war von lila-bläulichen Flecken umgeben. Seine Nase war eindeutig gebrochen und gelb-blau geschwollen. Außerdem zierten mehrere frische Schnittwunden und eine schwarzblaue große Beule seine Stirn. Wenn er sprach, hörte sich ein S bei ihm eher nach einem F an. Aus seiner Sicht hatte Georgy alles richtig gemacht. An dem Verlust von Buch und Schlüssel war er komplett unschuldig. Niemand hatte ihm irgendwas gesagt. Nie wurde er vor Aktionen aufgeklärt, um was es ging. Und seinen Schritt fühlte er eigentlich nur noch als geschwollenen Ballon zwischen seinen Beinen.
»Du!«, sagte Siggi fast singend mit einem sehr langen u. Dabei zeigte er mit einem dürren und zitternden Zeigefinger auf Georgy. »Du bist verantwortlich für die ganze Sache. Du wirst mir meine Sachen bringen. Und du wirst mir Bea und diesen P. lebendig und unversehrt abliefern. Ich gebe dir ganze zwei Tage. Wenn die zwei Tage vorbei sind und ich habe nicht was ich will, dann wird sich der Philosoph um dich kümmern. Und ich werde dabei zusehen. Und ich werde mir Zeit nehmen...«
»Oh, bitte nein Chef! Martin hat mir doch fchon fämtliche Fchneidezähne rauf gefchlagen«, bettelte Georgy.
Siggi schaute ihn nur bedauernd und kopfschüttelnd an. Dann nickte er den anderen zu.
»Ihr vier werdet das schnell und diskret erledigen. Und ihr drei habt dabei auch ein Auge auf unseren Georgy Porgy hier. Nicht, dass der uns verloren geht.« Die anderen Drei reagierten erleichtert und wagten sogar ein hämisches Lächeln in Richtung Georgy.
»Jetzt meldet euch bei Martin, der sagt euch was zu tun ist. Und tut nur was euch gesagt wird!«
Die vier Männer verließen, so schnell es unter Wahrung der Schlägerwürde machbar war, den Raum und schlossen leise die Tür hinter sich. Siggi war enttäuscht. Sein Personal war zu primitiv. Sein Leben war zu kurz. Und sein Körper verfiel immer mehr. Er hatte sich eine üble Krankheit eingefangen. Er wusste inzwischen aus den Nachrichten, was er vermutlich hatte. Sein Arzt war ein Idiot, der nicht den blassesten Schimmer hatte. Sein gut trainierter Körper von 90 Kilo stahlharten Muskeln war immer magerer geworden. Er sah mit seinen fünfundvierzig Jahren inzwischen aus wie ein Siebzigjähriger. Er wog jetzt unter 60 Kilo. Seine Muskeln waren weg. Und er hatte laufend Infektionen, Geschwüre und Schmerzen. Eine Lungenentzündung folgte der nächsten. Inzwischen hatte seine üblicherweise braun gebrannte Haut einen gelblich fahlen Ton angenommen. Und er bekam immer mehr Leberflecken, die rasch größer wurden. Voll gepumpt mit Antibiotika und Schmerzmitteln konnte er bisher noch seinen Geschäften nachgehen. Damit nicht jeder seinen Gesundheitszustand sofort bemerkte, ließ er sich von seinem Mädel morgens die Haut mit Schminke abtönen. Mehr wollte er auch nicht mehr von ihr. Wenn das so weiter ging, würden die Hyänen bald merken, dass es mit ihm bergab ging. Und das bedeutete nichts Gutes in dem Geschäft, in dem er tätig war. Er hatte selbst auch schon den einen oder anderen schwächelnden Konkurrenten oder Vorgänger ausgebootet. Das ging schneller als man gucken konnte. Deshalb konnte er es überhaupt nicht gebrauchen, dass sein Buch verschwunden war. In diesem Buch waren alle größeren Transaktionen verzeichnet, die er mit den Italienern durchgezogen hatte. Von größeren Autolieferungen über Mädchen und Waffen bis hin zu Drogen waren mehr oder weniger verschlüsselt alle Finanzbewegungen mit den Italienern der letzten sechs Monate mit diesem Buch nachvollziehbar. Nicht nur die Polizei würde sich brennend für diese Aufzeichnungen interessieren. Falls die Bullen das Buch in die Hände bekämen wäre er geliefert. Aus dem Knast würde er niemals wieder herauskommen. Und das bei seinem Gesundheitszustand. Undenkbar! Aber auch Andere hatten den Wert des Buches erkannt. Sergio war der Mittelsmann der Italiener gewesen. Gemeinsam hatten sie einen richtig großen Deal vereinbart. Insgesamt fast 100 Kilo Stoff. Also fast sechs Millionen Deutsche Mark! Wenn dieser Deal funktionierte, dann könnte er sich Ärzte auf der ganzen Welt leisten. Und er brauchte diese Ärzte dringend. Mittlererweile hatte er eine regelrechte Todesangst. Er würde Stück für Stück und immer schneller verfaulen. Und die bisherigen Ärzte, die er konsultiert hatte, rieten ihm ins Krankenhaus zu gehen. Vermutlich auf die Isolierstation oder was! Er wollte nicht zum Abnibbeln in ein verdammtes Krankenhaus. Mit der richtigen Summe würde er mit den richtigen Ärzten eine Kur durchziehen. Und danach wie früher arbeiten können. Oder er würde sich zurückziehen und das Leben genießen. Von dieser Summe müsste eigentlich trotz teurer Kurmaßnahmen noch genug übrig bleiben. Vielleicht Karibik? Oder eine griechische Insel? Na egal. Auf jeden Fall gesund und braun gebrannt in einer Strandbar, umringt von jungen Mädels oder auch jungen Griechen. Das mit den Jungs hatte er immer genossen. Viel mehr als mit den Mädels. Also dann doch eher eine griechische Insel? Auf so einer Insel könnte er leben wie er wollte. Und eigentlich könnte er dann dort seine Vorliebe für Jungs ganz offen ausleben. Nicht so wie hier. Im Milieu durfte man in dieser Hinsicht keine Informationen preisgeben. Das war schlimmer als in mancher evangelischen Dorfgemeinde. Ruckzuck war der Ruf versaut. Und man wurde nicht mehr für voll genommen. Und man wurde auch erpressbar. Apropos Erpressung. Dieser Sergio hatte eigentlich den Tod verdient. Nur nicht bevor er erzählt hatte, was er wusste. Und Siggi hätte sich viel Zeit genommen herauszufinden, was Sergio wusste. Dieser Dummkopf Georgy hatte es echt versaut. Überfährt auf einem Parkplatz zweimal einen Italiener. Auch noch einen Italiener der Mafia. Gut, der Wagen war geklaut gewesen. Sie hatten den Wagen im Industriegebiet in der Nähe der Müllentsorgungsanlage mit Benzin übergossen und angezündet. Bisher war er noch nicht gefunden worden. Zumindest hatte er nichts gehört. Allerdings ermittelte die Polizei nach diesem grausamen Mord. Die waren jetzt überall unterwegs. Und schnüffelten herum. Das hätte man ganz anders anfassen müssen. Sergio war während den Verhandlungen zwischen ihm und den Italienern hier im Büro gewesen. Und womöglich war Siggi kurz raus gegangen, um Getränke zu ordern. Oder er hatte einen von diesen widerlichen Hustenanfällen bekommen, die ihm den Atem nahmen und musste kurz ins Bad um den Schleim heraus zu husten. Er wusste es nicht. Er hatte es gar nicht bemerkt, dass ihm etwas fehlte. Der nächste Eintrag wäre ja erst nach Abschluss des Deals fällig gewesen. Er wollte doch um Gottes willen so schnell als möglich diesen wichtigen Deal – den wichtigsten Deal seines Lebens! – über die Bühne bringen und mit dem Geld die Behandlungen beginnen. Scheißegal, zum Blutaustausch in die Schweiz wie Keith Richards oder irgendwas, was ihn wieder auf Vordermann brachte. Wahrscheinlich war dieser Diebstahl nur wegen seiner miserablen Verfassung möglich gewesen. Früher wäre ihm nie so etwas passiert. Niemals! Früher hätte er Verrat gerochen. Eine schwache Stelle in seiner Organisation erspürt. Aber der Philosoph hatte sich intensiv unter den Männern umgehört. Wie er das immer so machte. Sie mussten wahrscheinlich seine Gedichte lesen. Und er war sich deshalb ganz sicher, dass diese Männer lieber ihr rechtes Ei hergeben würden als ein Buch aus Siggis Schreibtisch zu klauen. Und dem Philosophen vertraute er als einzigem von dieser Horde von geldgeilen Idioten. Er war zwar ein irrer Killer. Und schrieb ganz üble und wahnwitzige Gedichte. Aber er war auch sehr professionell und vor allem völlig loyal. Der Philosoph arbeitete nicht wegen schnödem Geld, sondern aus Passion. Und ihm war noch nie ein Fehler passiert. Fälle, die er bearbeitete, erschienen entweder als tragischer Unfall oder als Überdosis in der Zeitung oder tauchten überhaupt niemals mehr auf. Deshalb hatte Siggi auch ihn mit diesem heiklen Fall beauftragt. Auch wenn er wusste, dass der Philosoph trotz seiner Loyalität bei großen Deals immer einen Obolus von den harten Drogen abzweigte. Das würde er bei keinem der anderen Junkies tolerieren. Aber zwischen ihnen gab es einen unausgesprochenen Deal, der von beiden schweigend eingehalten wurde. Der Philosoph nahm sich etwas, aber nie zu viel. Und er war es wert. Auch wenn er mit den Drogen dann für Tage verschwand und sich in seiner Wohnung voll ballerte. Wenn er gebraucht wurde, war er da und nie zugeknallt. Er hätte den Philosophen alleine die Aufgabe mit Sergio erledigen lassen sollen. Sergio hatte den Deal mit den 100 Kilo mit eingefädelt. Und Siggi wusste nicht, dass Sergio vor hatte ein doppeltes Spiel zu spielen. Mit dem Buch und den ganzen Transaktionen darin hatte er vermutlich nicht nur Siggi, sondern auch die Italiener erpresst. Und als zusätzliches Druckmittel hatte er den kleinen Lieferwagen - einen spanischen MB 100 - verschwinden lassen. Gegen eine Zahlung der Hälfte des Wertes des Dopes wollte er das Buch und einen Schlüssel für das Versteck des Fahrzeugs übergeben. Wahrscheinlich hatte er den selben Vorschlag auch den Italienern gemacht. Immerhin musste Siggi anerkennen, dass dieser Plan zumindest von der Summe her durchaus respektabel gewesen war. Vermutlich hatte Sergio ähnliche Vorhaben wie er. Nur ohne medizinische Behandlungen. Aber mindestens Karibik musste es dann schon sein. Denn im Grunde war der Plan reiner Selbstmord. Sowohl die Organisation von Siggi als auch die der Italiener hätte alles gegeben, um ihn zu erwischen. Und dann hätte es sehr lange gedauert, bis die gerechte Strafe an ihm vollzogen gewesen wäre. Vermutlich hätten sich Siggi und die Italiener gestritten, welches Körperteil vom wem abgetrennt werden darf. Naja, jetzt war der Sergio platt gefahren auf dem Parkplatz gefunden worden. Die Italiener hatten sich bisher noch nicht gemeldet. Was verdächtig war. Siggi hatte fünf zusätzliche Männer im Haus als Wache aufgestellt und ihnen eingeschärft aufmerksam zu sein. Falls die Italiener ihm die Sache anhängen wollten, waren sie spät dran. Vermutlich suchten sie ebenfalls nach dem fehlenden Lieferwagen. Aber es konnte auch durchaus sein, dass sie ihm einen Besuch abstatten wollten, um ihm Fragen zu stellen. Das war eine riesengroße Scheiße, das alles. Und er hatte eigentlich gar keine Zeit für so etwas. Verzweifelt ließ Siggi sein Gesicht in seine Hände fallen und rieb sich die Augen. Im nächsten Moment schaute er angeekelt auf die braunen Streifen in seinen Handflächen. Seine Schminke war total verschmiert. Das musste ein Ende haben oder er drehte noch total durch.