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Bild 1-6: Muster des Hauses, das Carl Lüderitz in Waldsieversdorf gekauft hatte / Quelle: (14)

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Mit diesem Polster dürfte er die mehr als 25 Jahre bis zu seinem Tod 1930 gut gelebt und wahrscheinlich auch die Zeit des Ersten Weltkriegs, die darauffolgende Versorgungskrise und die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er Jahre gut überstanden haben.

Die Auskunft des Katasteramtes barg aber eine weitere Überraschung: Für die beiden verbliebenen Grundstücke war als Erbin Carls Haushälterin Ida Kreutzfeld eingetragen. Carl hatte also seine Haushälterin, wenn sie es denn war und nicht seine Geliebte, großzügig abgesichert. Dies gab Raum für viele Spekulationen (–> Kapitel 15).

Eines der Grundstücke wurde 1966, kurz vor Idas Tod, verkauft. Das andere wurde 1970 an eine Marie Lüderitz geb. Beymel übertragen und von dieser an eine Renate Ehrlich geb. Beymel weitergegeben. Es sollte lange dauern, bis wir die Verbindungen dieser beiden Frauen zu „unserer“ Familie Lüderitz aufgeschlüsselt hatten.

Wir wissen nicht, was Carl in den 24 Jahren, die er in Waldsieversdorf lebte, tagtäglich getan hat. Er hat gelegentlich als Arzt praktiziert, aber wohl mehr im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. Es gibt nur zwei Dokumente, beide von 1910, denen man entnehmen kann, dass er die naturwissenschaftlich-philosophischen Debatten seiner Zeit verfolgte. Das heißt, er hat gelesen, er hat über das Gelesene nachgedacht und seine Gedanken schriftlich in dem Büchlein „Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen“ (11) festgehalten.

Carl war Abonnent der Zeitschrift „Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage“. Ein Brief an den Herausgeber, Dr. Wilhelm Breitenbach (1856/57 – 1937), offenbart Carls politisch-philosophische Grundgedanken (16), die er auch in seinem 1910 erschienenen Büchlein ausführte (11). Er war offensichtlich kein Anhänger von Ernst Haeckel (1834 – 1919) und dessen „Monismus“. Der rastlose und charismatische Philosoph wurde zunächst bekannt als Verbreiter der Theorien Darwins in Deutschland, die er zu einer eigenen Theorie der Einheit von Materie und Geist (Monismus) entwickelte. Zu deren Verbreitung gründete er 1906 in Jena den Monistenbund.

Lüderitz distanzierte sich von Haeckel, den er aus seiner Jenaer Zeit gekannt haben mag. Er war zwar von der Bedeutung der Naturwissenschaften überzeugt, wies aber auch den Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle bei der Erklärung von Leib und Seele zu. Carl war offensichtlich nicht der Meinung, dass alle Vorgänge naturwissenschaftlich zu erklären seien. Sonst hätte er in dem Brief an Breitenbach nicht vehement der Vorstellung widersprochen, dass Bewusstsein durch Hirnaktivitäten zu erklären sei. Das wäre heute unter Neurophysiologen Konsens, auch wenn die exakten Hirnströme noch undefiniert sind.

Allerdings wird aus seinen Ausführungen nicht klar, ob er auch der Religion eine Rolle zusprach. Dagegen spricht seine Abneigung gegen das Metaphysische und Übersinnliche. In seinem Brief an Breitenbach (16) bezog er sich auf die Philosophen Richard Avenarius (1843 – 1896) und Ernst Mach (1838 – 1916), beide Anhänger des Empiriokritizismus. Deren Erkenntnistheorie basiert auf reiner Erfahrung im Sinne von Messwerterfassung und nachweisbaren Prozessen. Dies mag seine in den Publikationen 1889 und 1890 zum Ausdruck kommende Hingabe zur Detailbeschreibung erklären. In keiner Veröffentlichung wurde die Darmaktivität jemals in solcher Genauigkeit und Gründlichkeit wie auch mit der ehrlichen Betonung der biologischen Varianz beschrieben. Der österreichische Physiker Mach war ein überzeugter Liberaler und später bekennender Sozialdemokrat – eine damals unübliche Einstellung für einen Universitätsprofessor.

Die erkennbare Zuwendung zu Machs politisch-philosophischen Ansichten spiegelt sich in Carls Zugehörigkeit zu den Deutsch-Freisinnigen wider, wie der Polizeipräsident von Berlin anlässlich seiner Ernennung zum Sanitätsrat berichtete. Die Deutsch-Freisinnige Partei, der auch Rudolf Virchow angehörte, war eine kurzlebige (1884 – 1893), nach damaligem Verständnis linksliberale Partei, die auf den Kronprinzen Friedrich setzte. Von diesem erhoffte sie sich eine Parlamentarisierung der Monarchie. Friedrich starb jedoch nach nur 99 Tagen, so dass ihm in diesem Drei-Kaiser-Jahr 1888 sein Sohn Wilhelm II. nachfolgte. Die Partei zerfiel, vereinigte sich 1910 erneut und ging im Wesentlichen 1918 in der Deutschen Demokratischen Partei auf.

Nach diesen Ausflügen in die Welt der Philosophie zog Carl vor, bei seinem Gelernten zu bleiben. Davon zeugt ein Halbsatz in den bereits 1972 niedergeschriebenen Erinnerungen des Enkels des Villenkolonie-Gründers Kindermann, Eberhard Friedrich. Darin schildert der Sohn des Sanatoriumsarztes Otto Friedrich, wonach die ortsansässige Schwester des Sanatoriums bei klinischen Notfällen „auch von meinem Vater und dem dort als Ruheständler noch etwas praktizierenden Dr. Lüderitz zugezogen wurde“ (17). So ganz konnte Carl die „Doktorspiele“ offenbar nicht sein lassen.

Die Familie Lüderitz

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