Читать книгу Ich hatte einen Schießbefehl - Paul Küch - Страница 11
Aller Abschied fällt schwer
ОглавлениеAuf dem Weg zur Penne kam mir täglich eine junge Frau mit einem Moped entgegen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen, denn pünktlich um 7.00 Uhr brauste sie an mir vorbei und grüßte jedes Mal freundlich. Wie sich Corinna mit ihrer orangefarbenen Schwalbe in die Kurven legte, war sehenswert.
Sie arbeitete als Sekretärin in der LPG, wo auch meine Eltern unseren Lebensunterhalt verdienten. Corinna gefiel mir mit ihrer mittelblonden Mähne und dem schelmischen Lächeln auf Anhieb. Sie hatte graugrüne Augen, einen begehrenden und zugleich begehrenswerten Blick sowie Kurven satt. Ihre Weiblichkeit verlieh jedem Kleidungsstück etwas Besonderes, das nicht nur meine Sinne, sondern auch mein Herz berührte. Wenn ich Corinna sah, ging es mir gut.
Um an Informationen über sie zu kommen, bemühte ich ihren jüngeren Bruder, der die Berufsschule in der Nachbarkreisstadt besuchte und ebenfalls mit dem Zug fuhr. Doch Ralf verstand nicht, dass ich Gefallen an seiner Schwester gefunden hatte. Er war so verschlossen, dass ich nichts aus ihm herausbekam. Also musste ich mich selber kümmern. Sehnsüchtig fieberte ich dem wöchentlichen Training der Damen-Gymnastikgruppe unseres Dorfes entgegen und beobachtete Corinna, die sich elegant über den Mattenboden bewegte. Während der Festumzüge am 1. Mai und 7. Oktober stand ich am Straßenrand, um Corinna zu sehen, die im Gleichschritt des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR marschierte. Die pure Lebensfreude, die von ihr ausging, wirkte ansteckend. Wenn ich Corinna mit meinen bisherigen Eroberungen vergleiche, müsste ich die jungen Frauen kränken. Um nicht missverstanden zu werden: Alle Mädels waren auf ihre Art nett, liebenswert und ich bereue keine der Beziehungen. Jedoch steckte der Damennachwuchs wie ich in der pubertären Erkundungsphase. Corinna wirkte mit ihrer Lebenserfahrung wesentlich reifer. Ich machte mir wenig Hoffnung, da sie fünf Jahre älter war und zwischenzeitlich auch verheiratet. Mit diesen Tatsachen wollte ich mich nicht abfinden. Auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit, meinen Schwarm wiederzusehen, half mir der Zufall.
Mein lahmes Moped, das ich mir vom Jugendweihegeld kaufte, hatte ich mit Wertausgleich gegen ein Motorrad vom Typ MZ TS 150 eingetauscht, das nicht anspringen wollte. Trotz neuer Zündkerze gab das Motorrad keinen Laut von sich. Wütend warf ich das Werkzeug durch die Garage, bis diese einem Schlachtfeld glich. Ich gebe zu, dass ich von Technik keine Ahnung hatte. Auch mein Sinn fürs Praktische ließ zu wünschen übrig, aber ich erkannte, dass ich fachmännische Hilfe brauchte. Da nur ausgewählte Haushalte in unserem Dorf über einen Telefonanschluss verfügten, radelte ich zum LPG-Büro. Von dort aus wollte ich eine Werkstatt anrufen, um einen Reparaturtermin zu vereinbaren.
Als ich schüchtern den Raum betrat, verflog der ganze Ärger mit dem Motorrad. Meine Traumfrau, die auf eine Optima-Schreibmaschine einhämmerte, grüßte freundlich, ohne das Tippen zu unterbrechen. Hinter ihrem rechten Ohr klemmte ein angespitzter Bleistift, was mir Respekt einflößte. In dem Moment vergaß ich alle Komplimente, die ich mir mühsam ausgedacht hatte. Ich war so nervös, dass ich erst nach einigen Augenblicken den Mut fand, sie anzusprechen. Mit hochrotem Kopf schilderte ich das technische Problem und bat die Sekretärin um Unterstützung. Corinna unterbrach ihre Arbeit und musterte mich von oben bis unten. Wenn ich das geahnt hätte, wäre mein Blaumann in der Garage geblieben. Wer bei uns im Dorf nicht in Arbeitsklamotten oder im Trainingsanzug umherlief, der hatte entweder Geburtstag oder es war Feiertag. Corinna verschränkte beide Arme, sah mitleidig zu mir rüber und bemerkte, „dass der Teufel so manches Mal direkt im Detail stecken würde.“ Ich hielt die treffliche Fehlerdiagnose der Tippse für blanken Wahnsinn und sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Zuneigung an. Corinna blätterte im Telefonbuch, wählte die Nummer der Werkstatt und reichte mir den Hörer. Aufgeregt griff ich daneben und spürte ihre warme, weiche Hand, die ich nicht loslassen wollte. Mein Telefonat geriet völlig zur Nebensache, als sie sich lässig zurücklehnte und die Arme hinterm Kopf verschränkte. Verlegen schielte ich auf ihr pralles Dekolleté, das die Rüschenbluse in Altrosa ausfüllte. Mir wurde schlagartig klar, dass Corinna mehr verdient hatte als meine heimliche Bewunderung.
Diese Frau hätte man mit Zärtlichkeiten überschütten müssen in jeder Sekunde des Tages und warum sollte ich das nicht tun. Wenn der LPG-Vorsitzende nicht ins Zimmer geplatzt wäre, hätte ich wahrscheinlich die Beherrschung verloren. Stattdessen bedankte ich mich höflich und verließ das Büro in der Hoffnung, dass ich der freundlichen Sekretärin in Erinnerung bleiben würde.
Der Autor mit seiner MZ TS 150
Ein anderes Mal traf ich Corinna in unserem Dorfkonsum, wo sie in der Mittagspause regelmäßig einkaufte. Sie trug ein braunes Sommerkleid, das vorne durchgehend zu knöpfen war. Die oben und unten offene Knopfleiste gestattete mir tiefe Einblicke. Ich hätte beinahe die Konsummarken vergessen, die meine Mutter sammelte. Corinna stand vorm Feinkostregal, sah einmal nach links, einmal nach rechts und wieder nach links. Scheinbar unbeobachtet, griff sie gezielt nach dem Mostrich aus Bautzen. Es blieb jedoch nicht bei einem Becher. Sie hortete emsig, denn ich zählte 36 Stück in ihrem Einkaufskorb. Wofür brauchte man nur so viel Senf? Während ich noch überlegte, fand der Hamsterkauf bereits erste Nachahmer. Alle Kundinnen, die Corinna beobachtet hatten, griffen eilig zum Mostrich. Es entbrannte ein heißer Kampf um die verbliebenen Becher im Regal. Die Leute tuschelten, dass demnächst ein Senfmangel im Handel bevorstände. Ich staunte über das auffällige Kaufverhalten, das meine Traumfrau mit ihrer Hamsteraktion auslöste. Während sie die Ware an der Kasse bezahlte, ging ich zurück und packte sicherheitshalber zwei Becher Senf in meinen Einkaufskorb. Man konnte ja nie wissen, wann es wieder Mostrich gab. Ich hätte mehr genommen, aber das Feinkostregal war leergefegt.
Genau 14 Tage vor meiner Einberufung sah ich Corinna bei einer Disko, wo sie in einem grünen Strickpulli und hautengen Bluejeans den Saal rockte. Dieser Anblick bestätigte meinen Entschluss, endlich anzugreifen. Aber das Auseinandertanzen lag mir nicht. Die Frau auf diesem Wege zu erobern, fiel also aus. Ich tanzte lieber zusammen oder rockte bei „Hiroshima“ von Wishful Thinking kniend auf dem Fußboden. Dabei konnte man keinem auf die Schuhe treten. Einen Kompromiss bildete die langsame Runde, die häufig als seichtes Vorspiel am Ende der Veranstaltung gespielt wurde. Im Dunkeln hätte niemand einen Fehltritt bemerkt. Wenn ich schon nicht alt genug war, musste ich wenigstens für mein Alter perfekt wirken. Ich bestellte mir beim Diskjockey mein Lieblingslied, „Am Fenster“ von City, das er sowieso zum Abschluss spielen wollte. Als die ersten Geigenklänge aus den Lautsprecherboxen auf der Bühne zu hören waren, forderte ich Corinna zum Tanzen auf. Sie lächelte verschmitzt und folgte mir aufs Parkett. Die neugierigen Blicke ihrer staunenden Freundinnen ignorierte ich. Beim Tanzen bewegten wir uns kaum von der Stelle. Während ich ihre Nähe genoss, plapperte Corinna munter drauflos wie das Frauen so an sich haben. Da ich nur die Hälfte der Nettigkeiten verstand, schmiegte ich mich noch enger an sie heran. Für diesen Augenblick hatte ich den ganzen Aufwand betrieben und wurde nicht enttäuscht. Irgendwann küsste ich Corinna flüchtig auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss und ich legte nach. Das klebrige, rote Zeug auf ihren weichen Lippen reichte für zwei. Unsere kleinen, heimlichen Zärtlichkeiten bestärkten meinen Wunsch, dass der gemeinsame Abend kein Ende nehmen sollte. Nach der Disko brachte ich Corinna bis vor die Haustür und fragte zuerst nach dem Senf, worauf eine simple Erklärung für den Hamsterkauf folgte. Corinnas Mutter, die Verkaufsstellenleiterin des Konsums in der Nachbargemeinde, hatte einfach vergessen, Senf zu bestellen. Die kluge Geschäftsfrau beauftragte ihre Tochter, Mostrich im Nachbardorf zu kaufen, um einem Mangel im eigenen Laden vorzubeugen. Der Senf, der mir nur als Vorwand diente, spielte in meinen Gedanken längst keine Rolle mehr. Ich küsste Corinna zärtlich und streichelte ihr sanft über das Haar. Natürlich begehrte ich diese Frau, die energisch versuchte, mich abzuwimmeln. Warum bemühte sich Corinna, mir zu widerstehen? War ich tatsächlich zu jung für sie? Sie blieb hartnäckig und rückte den Haustürschlüssel nicht heraus. Allein die Kälte dieser Oktobernacht wäre ein guter Grund gewesen, mich aus reiner Nächstenliebe mit nach oben zu nehmen. Kurz vorm Morgengrauen gab sie endlich nach und zog mich die Treppe hoch in ihre Einraumwohnung unterm Dach des Mehrfamilienhauses. Verrückt nach Liebe landeten wir auf der gemütlichen Klappcouch, wo ich eine so bedingungslose Hingabe und Leidenschaft spürte, wie ich sie bisher nicht kannte. Ich schloss Corinna in die Arme und drückte ihren weichen, warmen Körper zärtlich gegen meinen. Sie wehrte sich nicht und wir liebten uns in tiefer gegenseitiger Hingabe. Noch Tage später atmete ich ihren unwiderstehlichen Duft an meinem Körper. Die Frau ging mir förmlich unter die Haut. Von Beginn an stand für mich fest, dass Corinna eine Nummer zu groß für mich war. Liebevoll erzog sie ihre kleine Tochter Meike. Pflichtbewusst arbeitete sie als Sekretärin im LPG-Büro. Während der Urlaubszeit half sie auf dem Feld oder im Stall. In ihrer praktisch eingerichteten Mansarde herrschten Ordnung und Sauberkeit. Corinna konnte waschen, kochen und backen. Sie mochte Rockmusik aus England, romantische Liebesfilme und verschiedene Literaturklassiker. Mir imponierte, dass sie die Bücher in ihrem Regal tatsächlich alle gelesen hatte. Was sich Corinna in den Kopf setzte, zog sie konsequent durch und vergeudete dabei keinen Augenblick. Damit legte sie hohe Maßstäbe an sich selbst. Von dieser Frau konnte ich mir eine ordentliche Scheibe abschneiden, denn sie wusste, worauf es im Leben ankam. Obwohl ich mir kaum Hoffnung auf eine feste Beziehung machen durfte, schwor ich mir damals, die oder keine.
Nach meinem Abschiedsspiel vor dem Grundwehrdienst gab es nicht nur Siegerbier in der Umkleidekabine. Mein Torwartkollege Norbert brachte selbstgemachten Pflaumenschnaps mit. Der Likör schmeckte lecker und verursachte anfangs kein Kopfweh, doch nach einer gewissen Zeit drehte sich alles vor meinen Augen.
Mannschaftsfoto vorm Abschiedsspiel am 30.10.1982
Zwei Mitspieler brachten mich nach Hause, wo ich meinen Rausch ausschlief. Als mich Norbert am Abend zur Abschiedsparty abholte, hätte ich lieber weiter geschlafen, aber meine Freunde erwarteten mich in der Bahnhofsgaststätte. Auf dem Weg dorthin bekam ich mächtig Schlagseite. Allein hätte ich die Strecke sicher nicht geschafft. Vorm Dorfkonsum begegnete uns eine Nachbarin mit ihrem Hund Scharik. Der Name entstammte dem treuen Gefährten von Janek aus der polnischen Fernsehserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. Ich muss mächtig getorkelt sein, weil mich der Schäferhund in diesem Zustand nicht erkannte. Auf gleicher Höhe angekommen, sprang Scharik an mir hoch und biss mir in den linken Unterarm. Vor Schreck war ich sofort wieder nüchtern. Glücklicher Weise trug ich meine Jeansjacke unterm Anorak, so dass Fleisch und Knochen wenig abbekamen.
Trotz des Missgeschickes wurde es ein geselliger Abend. Die Wirtsleute Emmi und Heiner hatten den Billardtisch zu einer festlichen Tafel umgestaltet. Heiner schützte den grünen Filz mit einer exakt angepassten Holzplatte, Emmi deckte ein weißes Tafeltuch darüber. Ich mochte das freundliche Ehepaar mit den kleinen Macken. Emmi sah heimlich Westfernsehen. Wenn Heiner sie dabei überraschte, schaltete er sofort auf einen Ostsender um. Als aktives Mitglied der Kampfgruppe des Ortes befürchtete er, dass sich Emmi im Dorf verplappern könnte. Dabei guckten viele Einwohner täglich ARD und ZDF, aber nur wenige sprachen darüber. Den Abschied feierte ich gemeinsam mit Jörg, der wie ich zur Ausbildung nach Eisenach musste. Mein Mitstreiter war ein Jahr älter als ich und wohnte direkt neben der Gaststätte. Wie unser Land im Großen bildeten wir eine geschlossene Gesellschaft im Kleinen an diesem Abend, was ein Schild am separaten Eingang zum Billardraum dokumentierte. Im hinteren Teil der Gaststätte lief der normale Kneipenbetrieb weiter. Emmi und Heiner hatten viel Arbeit. Zur Einstimmung auf den Grundwehrdienst übten wir zu zweit marschieren. Anstelle einer Waffe schulterte jeder einen Billardqueue. Der Gleichschritt stellte für Jörg kein Problem dar, nur ich verlor das Gleichgewicht und rammte den Tresen. Päckchenbauen beendete unser vormilitärisches Treiben. In Anlehnung an das Fertigmachen zur Nachtruhe bei der Armee wurden sämtliche Klamotten nach Größe geordnet auf einem Hocker zusammengelegt. Wir übten mit der Kampfgruppenuniform und der langen Baumwollunterwäsche vom Gastwirt. Leider verstand Jörg die Aufgabe falsch, denn er zog sich vor den Anwesenden splitternackt aus, was einigen Mitschülerinnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Wie ein schwankender Leuchtturm versuchte er, die Unterwäsche überzustreifen. Da er mit beiden Beinen in ein und dasselbe Hosenbein stieg, kam mein Freund ins Schwanken. Als er sich am Tisch abstützte, verlor er das Gleichgewicht und landete mit den Händen auf den Tellern seiner Nachbarinnen. Zwei Zigeunersteaks und ein Teil der Sättigungsbeilage landeten auf der Tischdecke. Fettflecken zierten das weiße Tafeltuch und die lange Unterwäsche von Heiner. Während der Wirt sich den Ärger nicht anmerken ließ, starrten die Mädchen ihren Mitschüler Jörg entsetzt an. Der Rest der Feier fehlt in meinem Gedächtnis.
Am nächsten Morgen war das Aufwachen umso schöner. Gemeinsam mit Corinna und Meike genoss ich den vorläufig letzten Sonntag in ziviler Freiheit. Meine äußerliche Gelassenheit war gespielt. Seit ich den Einberufungsbefehl in der Tasche hatte, zerriss es mir das Herz, sobald ich an Abschied dachte. Ich wollte nicht weg, befürchtete den Verlust menschlicher Wärme und Geborgenheit. Abseits von persönlichen Verpflichtungen, Planerfüllung und Vorbildwirkung in der Gesellschaft hatten wir eine Nische gefunden, in der der Altersunterschied zwischen Corinna und mir keine Rolle mehr spielte, wo wir gleichberechtigte Menschen mit Träumen, Wünschen und Hoffnung waren. Insofern bildeten die beiden Wochen vor meiner Einberufung die glücklichste Zeit meines Lebens, die Lust auf mehr machte. Von der großen Liebe hatte ich keine Ahnung, weil ich das Gefühl bisher nicht kannte. Noch nicht. Ich war damals zu jung, um zu begreifen, dass ich bereits liebte. Wahrscheinlich überforderte mich dieses Eingeständnis, mit dem ich mich konkret auf einen Menschen festlegte. Dabei hatte ich die Liebe des Menschen, den ich am meisten mochte, längst angenommen.
Am 3. November 1982 brach eine neue Zeitrechnung für mich an, 542 Tage Grundwehrdienst lagen vor mir. Die Kälte dieses Herbsttages stand in krassem Gegensatz zu meinem Abschied von Corinna. Ein langer Kuss beschrieb alles, was wir in diesem Augenblick für einander empfanden. Immer wieder riss ich mich los und kam zurück, um sie noch fester zu umarmen. Schließlich kehrte ich nicht mehr um. Mein Vater fuhr Jörg und mich zum Bahnhof in die Kreisstadt, dem so genannten Gestellungspunkt, wo sich alle Rekruten des Kreises zur Abfahrt nach Eisenach trafen. Ich hatte keinen Alkohol eingepackt, wollte mit klarem Kopf im Grenzausbildungsregiment ankommen. Meine Haare waren kurz, dass ich in der Ausbildung nicht aneckte. Wäre ich mit meinem Vater allein im Auto gewesen, hätte ich wieder gefragt, wie viele Menschen er im Krieg erschossen hatte, um sein Leben zu verteidigen. Die Antwort blieb er mir leider schuldig. Vor Aufregung brachte ich kein Wort heraus. Mein Leidensgenosse hinter mir blieb ebenfalls still. Er machte Blasen mit seinem Kaugummi, was den nervösen Fahrer sichtlich störte. Regelmäßig schaute er in den Rückspiegel. Mir war klar, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Der Vulkan neben mir brodelte heftig. Es schien eine Frage der Zeit, wann er ausbrechen würde. Mit einem Glückspfennig schob ich die Haut über die Halbmonde meiner Fingernägel zurück und wünschte mir nichts sehnlicher als eine Autopanne, um den Zug zu verpassen. Aber unser 408er Moskwitsch, Baujahr 1970, lief zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. „Diese Russenkarren sind unverwüstlich“, prahlte unser LPG-Vorsitzender oft und der musste es wissen. Schließlich transportierte er mit seinem Mossi riesige Findlinge vom benachbarten Acker in seinen Steingarten.
Der Motor vom Moskwitsch dröhnte in den unteren Gängen fast so laut wie ein Traktor. Ein Autoradio auf voller Lautstärke hätte es nicht geschafft, dieses Geräusch zu übertönen. Wir besaßen kein Radio im Fahrzeug, mein Vater musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Er hielt sich konsequent an die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung. Manchmal rollten wir im Leerlauf die Lieper Berge hinunter oder schlichen untertourig im höchsten Gang. Kurz vorm Abwürgen des Motors schaltete er herunter. Dabei umklammerte er in Zehn vor Zwei-Stellung das Lenkrad wie im Lehrbuch. Wenn Vati am Steuer saß, wusste ich nie so richtig, ob ich die Augen öffnen oder besser schließen sollte. Doch zum Meckern fehlte mir die Lust. Ich gebe zu, dass wir uns nicht immer verstanden haben. Aber ich zweifelte nie daran, dass ich mich auf meinen Vater verlassen konnte. Wenn ich ihn brauchte, war er für mich da. Selbstverständlich mochte ich den Griesgram über alles, doch in den letzten Tagen fanden wir nur selten eine gemeinsame Sprache. Dieser Zustand machte mir Angst. Über der Stille lag eine seltsame Spannung. Wir schwiegen nicht miteinander, sondern gegeneinander. In Gedanken ließ ich die beiden Wochen mit Corinna Revue passieren und bereute keinen Augenblick. Plötzlich überwand mein Vater seine Zurückhaltung und sprach von einer Episode im Leben, woraus ich schlussfolgerte, dass er gegen diese Beziehung war. Wahrscheinlich hatte ihn Mutti damit beauftragt. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen und es verstrichen Minuten, in denen keiner etwas sagte. Der Ratschlag meiner Eltern missfiel mir, obwohl ich Verständnis dafür hatte. In der Vergangenheit mussten sie sich oft neue Namen einprägen. Ob Kirsten oder Jana bei mir aktuell waren, wussten meine Eltern nie. Ihnen fehlte die Kontinuität in meinen Beziehungen. Wie nur sollte ich ihnen glaubhaft vermitteln, dass Corinna die Richtige für mich war? Die Fahrt in die Kreisstadt reichte dafür nicht aus. Da ich beim Abschied keinen Streit wollte, blieb ich stumm. Jörg schmunzelte auf dem Rücksitz. Selbst er hatte bemerkt, dass Corinna zu mir passte. Von diesem Glück musste ich den Vati überzeugen, denn ich brauchte einen Fürsprecher in der Familie. Mein alter Herr stand auf meiner Seite, seit ich ihn beim heimlichen Rauchen erwischte. Meine Mutter schickte mich ins Dorf, um ihn zu suchen. Mir war klar, dass er sich in einer unserer beiden Gaststätten aufhalten würde. Neugierig betrat ich die Bahnhofskneipe und sah meinen Vater, der am Stammtisch saß und genüsslich an einer Jägerstolz-Zigarre zog. Sein knallrotes Gesicht signalisierte mir, dass er den glimmenden Stummel am liebsten verschluckt hätte. Mein alter Herr fühlte sich ertappt. Verunsichert nahm ich neben ihm Platz. Obwohl der stinkende Stumpen im Aschenbecher landete, begann ich zu husten von dem ganzen Qualm. Mein Vater spendierte eine Fassbrause und bat mich, seinen Rückfall ins ungesunde Laster daheim zu verschweigen, denn er galt seit einigen Jahren als Nichtraucher. Meine Verschwiegenheit belohnte er großzügig mit vielen Freiheiten.
Mein Vater ist ein großartiger Mensch gewesen, mit dem ich gern die Zeit verbrachte. Er war immer dabei, wenn Höhepunkte in meinem Leben anstanden und vermittelte mir Sicherheit. Leider habe ich ihm nie gesagt, dass ich mich in seiner Obhut geborgen fühlte. Wir hatten nur wenige Gemeinsamkeiten. Mein alter Herr war kein Mannschaftssportler wie ich, sondern ein verbissener Einzelkämpfer, der ehrgeizig Kraftsport betrieb und sich beim Angeln entspannte. Ich fuhr mit zum See, weil ich von ihm lernen wollte. Anfangs konnte ich nie meine große Klappe halten und fragte ständig, ob ich denn schon still sein müsse, um die Fische nicht zu verscheuchen. Wir hatten nicht einmal richtige Angelgeräte. Mein Vater brachte mir bei, wie man mit einem scharfen Taschenmesser eine Rute vom Baum abschnitt. Dabei mahnte er, mit dem Messer vom Körper weg zu schneiden. Während ich diese Prozedur früher als Erziehung empfand, rechne ich sie heute zur Familientradition, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Wenn ich meinen alten Herrn darum bat, spannende Geschichten von früher zu erzählen, schilderte er detailliert, wie er im Jahre 1936 das Reichssportjugendabzeichen ablegte. Fragte ich ihn nach seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg, verstummte er. Er redete nicht gern vom Überlebenskampf 1944 in der Wüste Nordafrikas. Wie viele andere zwang man ihn in den Krieg, obwohl er jede Form von Ungerechtigkeit verabscheute. Mein Vater sprach von Angst und nie vom Mut, diese Angst zu besiegen. Daher sehe ich seinen Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nach Kriegsende als konsequente und mutige Entscheidung. Ich erinnere mich an seinen Wutanfall, als er mich beim Lesen des verbotenen Buches „Mein Kampf“ erwischte, das er unter seinen Socken im sicheren Versteck wähnte. Mein Vater wollte mich vor dieser größenwahnsinnigen Lektüre schützen, die für die historische Einordnung des deutschen Faschismus wichtig ist. Für seinen Einsatz in Afrika hätte er sich nicht gerühmt, denn er war nur ein einfacher Militärkraftfahrer, der gesund nach Hause kommen wollte. Wenn die Reifen seines Jeeps in der Wüste qualmten, musste er anhalten und dagegen pinkeln, um den Gummi abzukühlen. Nannte er das etwa Kampf? Meine Gedanken wurden in diesem Moment so ungerecht und verletzend, dass ich mich selbst vor ihnen fürchtete. Mein alter Herr war kein Held, aber ein Vorbild, und ich wollte ihn unbedingt bei internen Wettkämpfen schlagen, die da lauteten: Wer fing den ersten und den letzten Fisch und wer hatte am Ende die meisten geangelt? Einmal gewann ich alle drei Disziplinen, obwohl ich nur einen einzigen Fisch fing. Der Vati redete den ganzen Tag kein Wort mehr mit mir. Manchmal sind wir richtige Rivalen gewesen, weil ich alles besser machen wollte als er. Warum gönnte mir mein Vater, der selbst nichts anbrennen ließ im Leben, das Glück mit Corinna nicht? Hielt er diese Frau für ein Flittchen, das kleine Jungs verführte oder war er einfach nur neidisch auf seinen Sohn? Das Gerede meiner Eltern vom großen Altersunterschied konnte ich nicht verstehen, denn Corinna und ich harmonierten bestens. Hatte ich ihnen bisher alles recht machen können, missfiel mir der Gedanke an ständigen Gehorsam. Irgendwie musste ich mich doch abnabeln. Ich wollte Corinna um jeden Preis, dessen war ich mir sicher. Schließlich kann man nicht alles über den Haufen werfen, wenn es unbequem wird oder den Eltern nicht in den Kram passt. Mein Vater schwieg. Vorwurfsvoll blickte ich ihn beim Aussteigen an und merkte, dass mein Vorbild zu bröckeln begann. Mir fehlten Verständnis und Toleranz, die er mir selbst stets vermittelte. Obwohl der Sonderzug nach Eisenach reichlich Verspätung hatte, verabschiedete sich mein alter Herr hastig von uns. Eine herzliche Umarmung verwehrte er mir. Wortlos fuhr mein Vater auf und davon.