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Fiese Gumminoppen
Оглавление»Hier?«, fragt der ältere Herr sich über den Schalter beugend.
»Hm. Sehen Sie, da ist für Ihre Signatur ein Platz aufgespart. Das können Sie gar nicht verfehlen«, meine ich verträumt und mich bereits in einem bequemen Sessel wähnend.
»Da hin!«
»Ja, Herrgott.« Ich tippe mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand auf das Feld. Dann erst setzt der ältere Herr seine Brille auf. Zweifelsohne ist er halb Blind, wenn er nicht mal das bisschen Tinte da vom Rest der fast leeren Seite unterscheiden kann.
»Und Sie meinen, ich solle dort …«
Ich schreite ein: »Bitte dort. Ich hätte einen Stift.«
Er witzelt: »Das ist Sache meines eigenen Füllhalters.«
Wow denke ich, das hättest du dem gar nicht zugetraut. Da steht nun ein Mann mit neunzig Jahren vor mir und lässt sich einen Kredit über 20.000 Pfund geben. Wer hat denn das zugelassen? Ich meine, ob der wohl einen Zwanziger von einem Zweihunderter noch unterscheiden kann?
»Alles … oder reicht der Nachname?«, fragt er, ich bin abwesend.
»Alles … oder reicht der Nachname?«, verkündet er so laut, dass sich mein Trommelfell blitzschnell zusammenzieht und in meinem Gehirn nur ein Haufen verzerrter Wellen ankommt. Dann frage ich höflichst: »Wir haben auch Lesehilfen hier, wenn Sie eine benötigen?«
»Alles … oder reicht der Nachname?«, ersucht er penetrant.
»Der reicht, der Nachname. Aber wenn Sie sich bitte dazu durchringen würden, der Chef wartet schon ungeduldig auf seinen morgendlichen Kaffee«, beruhige ich den aufgebrachten Mann, der sich nun endlich mit den Schnörkeln seiner Unterschrift herumbalgt.
Er dann wieder aufgeregt: »War es das?«
»Ja.«
Dann klingelt das Telefon. Aber ich kenne das schon. Das ist so anbiedernd, fast schon ekelhaft, wie sich der kleine dickliche Mann hinter seinem Schreibtisch fläzend amüsiert, wie meine Kunden stressen und der Kaffee auf der Strecke bleibt. Dabei ist doch gerade der seine allmorgendliche Dosis gute Laune. Überhaupt muss man ihn ständig bei guter Laune halten, weil er selbst in dieser Verfassung noch das wohl ekelhafteste Arschloch ist, dem ich je zu begegnen das Pech hatte. Wenn er in seiner selbstgefälligen Art auf einen herabschaut, obgleich er lediglich einhundertfünfundsechzig Zentimeter misst, sich über die Arbeit mokiert, die man eben getan hat und insgeheim schon die nächsten unbezahlten Überstunden einplant, um dann selbst eher in den Feierabend sich verabschieden zu können … dieser Mann ist mein Chef und gleichwohl ein Despot. Seine Idiotie ist auch seine schlimmste Macke, recht einer Manie vergleichbar, wenn er ständig meint, die Handlungen seiner Angestellten untersuchen zu müssen. Er besitzt dafür drei einfache Methoden, von denen nicht eine einzige der allgemeinen Logik folgt …
»Können Sie mir davon eine Kopie ziehen?«, spricht mich der ältere Herr nochmals an, der eben seinen Füllhalter in das Etui zurückgesteckt hat und meine Gedanken unterbricht.
»Ja«, antworte ich ihm und denke mich bereits wieder an dem Kopierer stehend, wenn die gesamte Schar von all den tüchtigen und emsigen Angestellten um mich verweilend in großes Gelächter ausbricht, weil die Bedienung mir bisweilen schwerer fällt – das sind eben auch so kleine, fiese Gumminoppen …
Mein Bürostuhl knarzt, als ich ihn zurückrolle um aufzustehen und sogleich die Blicke derer auf mich ziehe, die in wenigen Sekunden eben um den Kopierer stehen – Sie werden schon sehen. Dann setze ich mich in Bewegung, immer schön gemächlich, nichts übereilen zu wollen und vor allem nicht übereifrig zu erscheinen. Das hat der gemeine Bürger nicht gern, wenn Bankangestellte eilig hin und her wuseln.
Auf zur Showeinlage, sinniere ich noch und stehe bereits unausweichlich vor dem schwarzen Klumpen, der mich mit seinem gierigen Schlund und seinem abscheulichen Tastenfeld grimmig anschaut. Dabei ist der Kopiervorgang im wesentlichen ein einfach zu durchschauender Prozess: Tinte auf Papier, aber eben in gewisser Ordnung zwischen dem leeren Seitenbereich und dem gefüllten; ein paar Walzen verrichten ihre Tätigkeit vorzüglich und der kleine Druckkopf läuft von links nach rechts, von rechts dann wieder zurück und so weiter … ein amüsantes Spiel, bei dem Zeile für Zeile angesetzt wird und letztendlich eine vollständige Kopie zu Erden liegt, als wie wenn von Hand das Original abgeschrieben worden wäre – nur reiner.
Eigentlich heißt es da Augen zu und durch – wenn das nur so einfach wäre. Zuallererst drücke ich den kleinen Standby-Knopf an der rechten Seite des Geräts, dann ein leises Surren gefolgt von lautem Walzengeräusch … bereit. Na ja, was hieße schon bereit, wenn jetzt nicht Verstand gefragt sei: das Original zumindest versuche ich meist durch den Schlitz zu schieben, durch den am Ende die fertige Kopie ausgespuckt werden wird … erstes Gelächter sucht seine Bahnen durch die hinter mir stehenden weiblichen Beschäftigten in dieser Bank, die eindeutig den leider größten Anteil am Personal ausmachen, einen netten Kollegen findet man hier selten. Die Situation erfordert mehr Feingefühl, als nötig wäre … Jetzt sind die bösen Gumminoppen an der Reihe, so herrlich bunt sie auch sein mögen.
»Drücken Sie mal blau«, wirft Irene ein, ihrerseits Bankfachfrau und meist an Schalter Nummer eins sitzend.
»Wieso?«
»Na, weil sie’ s sowieso nicht schaffen.«
Das darf mich emotional nicht aus dem Konzept bringen. »Aber Miss, der blaue Knopf wird doch unweigerlich die Reinigung des Geräts starten.«
»Ist unausweichlich.« Ein hämisches Grinsen steht Ihr zu Gesicht.
Vielleicht ein kurzer Umriss über meine Situation. Die Werkstätte meinerseits ist die Harrow Bank im Herzen Londons. Täglich werden Geldwerte von mehreren Millionen Pfund, Euro und Dollar verschoben und verarbeitet, Kontos eröffnet und geschlossen, sich unseren Krediten bedient und sonst welchen Angelegenheiten, denen man auf einer Bank zu begegnen weiß. Die Harrow Bank ist beileibe nicht mit einer Filiale abgetan, aber ich musste das Pech haben, unbedingt das schrecklichste aller Institute ersucht zu haben, in dem ich nun mit vielen hysterischen Frauen und einem unbarmherzigen Chef konfrontiert werde. Ja, ich bin der einzige Mann hier, was in Anbetracht der Tatsache ziemlich verstörend sein kann. Alles hier so hysterisch und schrill und der Chef hat auch nur Augen für die weiblichen Angestellten. (Schauder)
Haben wir schon über die Begebenheiten gesprochen, die sich täglich reichlich zeigen? Nein? Dann steht das nächste Kapitel meiner Erzählung bereits fest. Obgleich mein Tag mit allerlei Bankkram gefüllt ist, lässt sich doch zweimal täglich eine kleine Pause einschieben, oder wie es mein Chef, übrigens Adam Harrow, immer wieder gern betont: »Tätigen wir jetzt eine ungewollte aber leider nicht umgängliche Unterbrechung der Arbeitszeit, die der fleißige Angestellte gewollt ist nachzuarbeiten, ja?« – so ein …
Ein Glucksen, dann ein Rattern, ein ratschen und piepen, langsam scheint der Drucker seiner Arbeit genüge zu tun und meine Kopie zu ziehen, warum auch immer man es so nennt. Ungeduldig steht der Alte noch immer am Schalter und blickt unter seiner Brille hervor in meine Richtung, ganz als würde er mir mitteilen wollen, seine Kopie auch schnellstmöglich zu erhalten. Ungeachtet dessen wenden sich die ersten von mir ab – wird auch Zeit. Ich meine die Schlange von anstehenden Bankkunden bereits am Foyer zu erblicken, obgleich das ganze Gemenge durch Gedrängel und Schubserei für mich kaum auseinander zu halten ist. Und alles wegen eines Kopierers, der seine Arbeit eben beendet hat und mir die fertige Kopie anzeigt. Das Walzwerk fährt zurück und ich schicke ihn in seinen Standby-Modus, weil sich der Chef deswegen bereits mehrere Male zu beklagen wusste: »Strom ist nicht zu verschwenden. Ja, dann vor allem nicht auf mein Geld!«
»Ihre Kopie, der Herr«, meine ich noch freundlich, als der Alte sich bereits von mir abwendet, den Wisch in seine Manteltasche schiebt und die Schalterhalle auf schnellstem Weg verlässt. Doch hinter mir steht schon der kleine fiese Chef mit den neuen Plänen für die nächste Woche.
»Ach Gott, da wollte ich doch freimachen.« Ich zeige geradewegs auf den Mittwoch.
»Ja, geht eben nicht.«
»Und Irene? Sie hat an dem Tag auch frei bekommen.«
»Das geht Sie nichts an.«
»Jawohl Mister Harrow«, bejahe ich und wende mich von ihm ab – der nächste Kunde wartet bereits auf Bearbeitung und ich auf meine nächste Dosis. Dabei weiß ich genaustens über das Kommen und Gehen der Angestellten Bescheid und beobachte bereits seit längerem die Bevorzugung des weiblichen Personals. Vor allem aber ist es Irene Smith, die dem Chef zu gefallen scheint. Auffällig oft verbringt sie ihre verlängerten Mittagspausen mit dem Chef im Büro und entsteigt dem Zimmer, Sie mögen meine Ausdrucksweise entschuldigen, fröhlich und beschwipst. Alles deutet auf einen kleinen Umtrunk zur Mittagszeit hin. Vielleicht auch auf mehr, was sich meiner Auffassung bisweilen aber verschlossen hat. Und es wäre mir wahrlich kein Vergnügen, den Chef beim Flirt mit der Bankangestellten Nummer eins zu erwischen. Solche Szenen gehören nicht in eine Bank, oder Irrenanstalt, ganz wie man will. Bereits die Überlegung zieht seine Schatten bei dem kleinen Mann und der viel zu großen Blondine. Eine weitere Beschreibung spare ich lieber auf, weil Sie ohnedies nicht von ihr angetan wären und sich ihr Mitleid auf mich in Grenzen halten soll. Schreiten wir lieber objektiv zu den folgenden Ereignissen.
Jeder Arbeitstag hat die Annehmlichkeit einmal zu Ende zu gehen, sei es nach vielen unbezahlten Überstunden oder auch vielen Bankkunden und Angestellten, die nur so auf meine Psyche springen und ein heilloses Chaos in meinem Kopf stiften. An diesem Punkt wäre zumindest einer wichtigen Eigenschaft der Welt Rechnung getragen – der Entropie, der steigenden Unordnung in einem System. Meist kann ich erst gegen 19 Uhr die Bank verlassen und mich meinen Tätigkeiten des häuslichen verschreiben, die so zahlreich anfallen. Beileibe kommt mir der Umstand sehr entgegen, dass ich keinem Hobby fröne, keinem Verein beigetreten bin und auch sonst mich von nichts begeistern lasse. Es bleibt demnach immer noch genügend Zeit, um den Weg nach Hause zu Fuß zu nehmen, denn in der Abenddämmerung gehe ich gern ein Stück, und obwohl es Tag für Tag die gleiche Strecke zu sein scheint, kann man in einer Stadt wie sie London ist davon ausgehen, jeden Tag an einem anderen Ereignis vorbei zu kommen. Häuser, die von Tag zu Tag höher werden, stetig wechselnde Baustellen und Läden und Wohnungen. Ein reger Verkehr ist das Umzugsgeschäft allein auf meinem drei Kilometer langen Weg bis nach Hause in die Dover Street.
Man geht so an all dem vorüber, nimmt für einen kurzen Moment teil am Leben vollkommen fremder Menschen und kann denen genau oder eben auch gar nicht nachvollziehen so zu fühlen … Das schönste Stück ist noch immer an der Themse zu gehen, der tosenden und schäumenden Gischt dem Spiel der Wellen zuzusehen und den Geruch abgestandenen Wassers in die Nase geweht zu bekommen – in all den Jahren hat man sich daran gewöhnt und so schlimm, als wie in vergangenen Tagen schien, ist es lange nicht mehr. Allerhand Eindrücke sammelt man auf seiner Reise durch das hellerleuchtete abendliche London und kennt trotzdem den unausweichlichen Schritt am darauffolgenden Tag, gleiches Spiel zu betreiben und wieder und wieder der Arbeit nachzugehen, die seit jeher schon die Eigene ist – eigentlich ist es ein wenig wie Gefängnis, weil man sich zwar in Freiheit wähnt aber dennoch den Ausbruch nicht schafft. Wie oft schon nimmt man sich in seinem Leben vor, einen anderen Weg zu wählen aber wie oft landet man wieder dort, wo alles begann. Ich denke der Ausbruch aus einem Leben wie diesem ist um einiges komplizierter, als die Mauern eines Gefängnisses hinter sich zu lassen.
Etwa nach einer Stunde gelange ich in der Dover Street an und bezwinge die verrostete Tür zum Treppenhaus. Es ist ein Mietshaus mit insgesamt 20 Wohnungen. Ich für meinen Teil habe eine Zweizimmerwohnung im zweiten von vier Geschossen bezogen die von einer Frau vermietet wird, die kaum drei Türen weiter haust. Die Ausstattung ist gewöhnlich, man darf eben nicht zu viel erwarten, dafür ist die Miete gering und die Räumlichkeiten geradezu perfekt auf mich geschnitten. Sie liegt mit zwei Zimmern, dem Wohnraum und dem Schlafzimmer in den Hinterhof und mit den restlichen Räumlichkeiten ins Haus. Zwei Fenster in jedem Raum sorgen zwar nur für wenig Licht, aber mich sollte das bei meiner täglichen Abwesenheit nicht belangen: noch im Dunklen verlasse ich meine Heimstatt und kehre auch erst bei vollkommener Schwärze des Himmels zurück. Von lichtdurchfluteten Räumen zur Mittagszeit hätte ich wenig.
Zu meiner Freude war die Küche, als ich vor sieben Jahren hier einzog möbliert und auch ein altes Bett stand noch im dazugehörigen Keller, beides behielt ich bis zum heutigen Tag, weil es einfach noch keine Gelegenheit gab, es zu erneuern und ich ehrlich gesagt auch nicht wüsste wieso.
Das abendliche Prozedere ist wohl kaum Wert, hier Anklang zu finden … Ein kleines Mahl und ein x-beliebiges Programm im Fernsehen genügt schon um mich auf die Nacht und den kommenden Tag vorzubereiten. Alles beim alten, während ich die Deckenleuchte abstaube; nichts ändert sich, als ich ein wenig Dreck in der Küche bereinige und wirklich nicht der leiseste Vorbote von einem unerwarteten Ereignis in meinem Leben, als ich mein bisschen Müll in den Müllschlucker werfe. Ein Tag folgt dem nächsten, ohne das ich auch nur eine Veränderung feststellen kann. Dabei müsste man einfach mutig genug sein, um dem hier zu entfliehen … Den Wecker auf halb sechs gestellt drehe ich mich auf die linke Seite, weil wenn ich auf der rechten schliefe ich den Nachbarn durchs Fenster beim fern schauen zusehen könnte.