Читать книгу Die Rose Feuerzauber - Paul Oskar Höcker - Страница 4
ОглавлениеWenn Fränze Daus von der Köpenicker Landstrasse abbog und den Feldweg entlangging, der zur Gärtnerei ihres Onkels führte, dann pfiff sie klar und schmetternd das Siegfriedmotiv.
Julius Bottschau nannte das Pfeifen unweiblich. Doch sooft er das ohrfällige Ankunftssignal hörte, huschte ein Lächeln über sein braunes Gesicht. Nicht weil er sich je am Kampf um Richard Wagner beteiligt hätte — in der Königlichen Oper war er ja überhaupt noch nie gewesen —, sondern weil er sich über Fränze und ihr keckes Zwanzigjahrschnäuzchen freute. So lange hatte er hier allein gesessen, auch abends immer. Seit dem Tode seiner Frau hatte es für ihn nur Arbeit gegeben. Mit Berlin besass Treptow kaum Verbindung. Ja, durch eine Pferdebahn, aber die klingelte nur jede Stunde einmal durch die entsetzlich langen Vorstadtstrassen. Solange Fränze in Charlottenburg wohnte, als sie die neue Gartenbauschule für Frauen besuchte, hatte sie immer nur auf ein paar Sonntagsstunden hier herauskommen können. Dann war sie in Trier und Köln und Hamburg in modernen Blumengeschäften in Stellung gewesen. Von dem grossen Leben dort draussen wusste sie nun Wunderdinge zu erzählen, über die man eigentlich staunen konnte. Aber Julius Bottschau liess sich so leicht nicht verblüffen. Theoretisch wusste er über viel mehr Bescheid als über Dinge aus dem Grossstadtleben. Er war eine unersättliche Leseratte. Und seine Rosenzucht stellte ihn stets vor fremde Wunder und Rätsel, die ihm doch noch wichtiger schienen als etwa das neuerfundene Telephon, die Quasselstrippe, an der man auf dem Postamt in der dunklen Zelle hören konnte, was Müller und Schulze am andern Ende von Berlin sagten. Er war ja froh, wenn er das gar nicht erfuhr ...
Fränze erstattete Bericht über die Arbeiten, die heute am Baumschulenweg in den Rosenplantagen erledigt worden waren. „Peter versteht die Sache, ist ordentlich und fleissig, auch wenn man ihm nicht auf die Finger guckt. Aber den Edu musst du dir mal wieder vorbinden. Mit dem schaff’ ich’s alleine nicht.“
„Ist er frech geworden?“
„Dann ging’s noch eher. Dem wär’ ich gewachsen. Das Unglück ist grösser: Er ist erstens dumm und zweitens verliebt.“
„Etwa in dich?“
„Dann hätt’ ich doch nicht an seiner Intelligenz gezweifelt. Wie? So viel Eva steckt doch auch wieder in mir. Obwohl ich Klugheit und Verliebtheit noch selten vereint gesehen hab’.“
Sie lachten beide. Julius Bottschau erhob sich mit einem leisen Ächzen und tat ein paar Schritte am Stock durch das kleine Treibhaus. „Sobald ich wieder humpeln kann, komm’ ich anmarschiert. Taugt er nischt, dann fliegt er achtkantig zum Tempel ’raus.“ Er wies durchs Fenster nach der dicken Wolke, die über dem Berliner Südosten und seinen Fabrikschornsteinen lag. „Es muss Regen kommen, das merk’ ich im Knie. Im Herbst wird’s ein Vierteljahrhundert, dass sie mir die Franzosenkugel herausgeschnitten haben, und noch jedesmal, wenn das Wetter umschlägt — — Olle Kamellen!“ unterbrach er sich. Er folgte Fränze in die kleine Küche, in der sie flink die von der Aufwartefrau getroffenen Vorbereitungen für die Abendmahlzeit besichtigte, Teewasser aufsetzte und Brot schnitt. „Aber weisst du, Mädel, so vor dem Siebziger Krieg damals, da hat deine Mutter, die Helma, ebenso hochnäsig wie du jetzt über die Verliebtheit geschwatzt. Und nach dem Truppeneinzug? Hat sie richtig ihren strammen Vizewachtmeister Daus geheiratet.“
„Ei, der Daus!“ Fränze winkte ihm überlegen mit dem Brotmesser ab. „Ja, du, so hast du gerufen, als Mutter mit ihm ankam. Die Geschichte kenn’ ich nun schon. Kann mir aber nicht passieren. Keine Angst!“
„Vizewachtmeister? Nee. Dafür hast du viel zuwenig Subordination in den Knochen.“
„Stimmt. Väterliches Erbe. Wie?“
Er setzte sich an den Abendbrottisch. „Von deinem Vater hast du sogar eine ganze Menge mit. Nee, im Ernst, Mädel. Nicht nur die hellen Augen, die mausgrauen. Er war ein Durchgänger und Draufgänger, aber man konnte ihn riesig gut leiden. Wär’ deine Mutter nicht so früh gestorben, wer weiss —“
„Jetzt kommt die Sache mit der Wirtschafterin — ich ahne Schreckliches, Onkelchen. Weswegen mich Tante Elfriede aus der Westender Rennbahn herausgeholt hat. Wie Vater dann nach Ostpreussen gezogen ist als Bereiter. Wie er gestürzt und gestorben ist. Und wie Tante Elfriede durchaus ’ne Lehrerin hat aus mir machen wollen.“ Sie bediente ihn geschickt, denn sie war mit ihren Händen ebenso flink wie mit ihren Gedanken, ihrer Rede. Er merkte kaum, dass sie ihn davon abbrachte, ihr wieder einmal zu schildern, was sie so ungern hörte. „Ja, ja, ja, die strenge Tante Elfriede. Wär’s nach ihr gegangen, armer Onkel Julius, dann hättest du ja auch aufs Lehrerseminar gemusst. Und bist doch gottlob immer so ein miserabler Schüler gewesen.“
„Hier übertreibst du wieder wesentlich, du kleine Kröte!“
„In einer schwachen Stunde hast du’s mir einmal verraten. Vorige Weihnacht. Wo du mir vorgeheuchelt hast, du brauchtest kein Wasser in den Grog, weil so eine starke Erkältung in dir steckte.“
„Ist sie hernach etwa ausgebrochen, die Erkältung? Bewahre!“
„Nur ein mächtiger Katzenjammer.“
„Was für einen grauenvollen Rum hattest du aber auch in den Grog getan, Fränze! Mit Fleiss. Ganz wie die Elfriede immer bei meinem alten Herrn.“
„Onkel Julius, ich schwöre dir ewige Fehde, wenn du mich noch ein einziges Mal mit Tante Elfriede vergleichst! Erstens war sie zehn Jahre älter als du, für eine Schwester schon schlimm genug, und zweitens hast du sie nie ausstehn können. Oder hast du etwa? Gestehen Sie, Angeklagter!“ Sie stützte Messer und Gabel neben ihrem Teller auf und sah ihn funkelnd an.
„Wenn dich bloss die Ilse jetzt noch erlebt hätte, Mädel! Als meine Frau starb, warst du fünfzehn. Schreckliches Gestell warst du damals eigentlich. Fahrig, mager — wusstest nicht, wohin mit Armen und Beinen. Und was du deiner armen Tante Ilse beim Abwaschen alles zertöppert hast! Losmäulig warst du dabei auch noch. Und hieltest du den Mund, du kleiner Rabanter, dann hast du einen angeguckt ... Ja, genau so frech wie eben! Warte, das müsstest du bloss im Spiegel sehn!“
Sie lehnte sich zurück und lachte. „Gar nicht nötig! Ach, Onkel Julius, viel Schelte haben wir gekriegt. Aber es war doch sehr gut, dass wir Tante Ilse hatten. Ja, und Tante Elfriede vielleicht auch. Ruhig, Onkelchen, jawohl, ich nenn’ sie in einem Atem. Bei Tante Elfriede haben wir doch beide Hochdeutsch gelernt —“
„Ich habe noch für jedes ‚ick‘ und jedes ‚det‘ von ihr ’ne Backpfeife bezogen.“
„Siehste! Und Tante Ilse hat dir den Grog abgewöhnt und mich zu einem so mustergültigen Hausfrauenersatz ausgebildet.“
„Unvollkommen, liebes Kind. Denn heute trink’ ich bombensicher ein Glas. Der mustergültige Hausfrauenersatz wird sich doch nicht etwa damit herausreden wollen, dass kein Rum in der Küche ist?“
„Bewahre, Onkelchen. Ich hab’ nämlich heute mittag gesehn, wie du die Rumflasche in deinem Kleiderspind versteckt hast.“
„Spionage treibst du also auch noch? Zur Strafe trinkst du heute mit, Fränze!“
‚So leben wir, so leben wir!‘ pfiff sie, während sie abräumte und den Grog vorbereitete.
Behaglich sah er ihr zu und rauchte. Er hatte sich die kurze englische Pfeife angewöhnt, die sie ihm aus Hamburg mitgebracht. Als sie sich dann mit ihren Näharbeiten an den Tisch setzte, zog er die Zeichnungen und Preislisten aus der Schublade, die ihm von der Firma Heinrich Nidders & Co. ins Haus gebracht worden waren. Seine verstorbene Frau Ilse war eine geborene Nidders gewesen, hatte aber keiner der in Berlin ansässigen Familien dieses Namens angehört, aus der ein paar führende Industriefirmen hervorgegangen waren. Die Bauglaserei von Heinrich Nidders & Co., die Treibhäuser, Wintergärten und Frühbeete herstellte, hatte ihren Fabrikbetrieb noch immer im Südosten Berlins, in der Schlesischen Strasse; das Hauptgeschäft war nach der Innenstadt verlegt worden. Der Vertreter, der heute hier gewesen war, hatte ganz besondere Sorgfalt für den Auftrag zugesichert, als er — zufällig — hörte, dass Bottschaus Frau einer Familie Nidders entstammte.
„Zufällig, hm.“ Es war unwiderstehlich, wie Fränze so ein halb der Verlegenheit entstammendes Wort wiederholen konnte.
Onkel Julius tat gleich, als suchte er nach Gegenständen, um sie damit zu bombardieren. Das bisschen Stolz, irgendwie mit den reichen und mächtigen Nidders versippt zu sein, war ja das einzige, was ihm von Ilse geblieben war; Kinder hatte sie ihm nicht geschenkt, und das kleine Sparkassenbuch, das Fränze von ihr geerbt, hatte kaum die Kosten ihrer Berufsausbildung gedeckt. „Schwadroniert hat er mächtig, der Herr Vertreter“, sagte Onkel Julius. „Na ja, ‚Es-ist-erreicht‘-Schnurrbart. Jardeton. Kennst die Leutchen ja. Was er alles über die Ausstellung zu prophezeien wusste! Also keine Ahnung, dass uns hier etwa der Treptower Park damit verschandelt würde.“
„Hab’ ich auch ohne den Herrn Vertreter nicht geglaubt, Onkelchen. Die landwirtschaftliche Wanderausstellung, die sie euch im vorigen Juni hier mitten in den Park hineingesetzt haben, hat doch keinen von euch Anliegern glücklich gemacht. Oder? Fünf Junitage sollte sie dauern, und vom März bis Mitte Juli war da drüben alles mit Zelten besetzt, mit Vieh, Geräten und Maschinen. Wie haben die Anlagen hernach ausgesehn! Und die neue Ausstellung würde ja noch viel grösser. Ich erinnere mich noch an das Gerede in Hamburg, als es hiess, die Berliner dächten nun schon gar an eine Weltausstellung.“
„Längst überholt. Nein, das hat der Kaiser ja gleich im ‚Reichsanzeiger‘ erklären lassen: Dem Weltausstellungsplan werde nicht nähergetreten. Aber dass in Berlin für achtzehnhundertsechsundneunzig was Funkelnagelneues zustande kommen soll, das ist sicher. Ein Arbeitsausschuss ist schon lange dafür tätig. Die einen sind für Witzleben, das liegt im Westen von Charlottenburg, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, die anderen für Treptow. Und ich weiss nicht, ich weiss nicht, ob es am Ende nicht doch ganz richtig wäre, wenn unsereiner — —“
Fränze liess die Arbeit sinken und sah ihn listig forschend an. „Eben. Warum sitzt Herr Julius Bottschau nicht selbst im Arbeitsausschuss? Klügster Mann zwischen Berlin SO und Köpenick, in Mussestunden grosser Philosoph!“
„Ach, Fränze: Kleiner Landschaftsgärtner bin ich, sonst nischt.“
„Immer stellst du dein Licht unter den Scheffel. Deine Rosen! Die neue Züchtung!“
„So was gelingt einem einmal, nun ja. Halber Zufall. Ein grosser Züchter lacht vielleicht darüber.“ Er tat einen langen Zug und setzte das leere Grogglas mitten auf den Tisch. „Du denkst am Ende, die Rose sollte ich ausstellen, die neue?“
„Aber ja doch! Immerzu, Onkel Julius! Gleichgültig, wo. Ob hier in Treptow oder in Charlottenburg, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. Es ist die erste zweifarbige Rose, die ich gesehn hab’. Auf Ehre, Onkel Julius! Innen lackrot, aussen wie Gold. Märchenhaft. Ich war zuerst fast erschrocken. Wenn die berühmten Händler die entdecken, kann es einen Welterfolg geben.“
Er nickte. „Versuche mach’ ich damit nun schon im dritten Jahr. Als Hochstamm wie als Beetrose setzt sie sich tatsächlich durch.“
„Ich bewundere deine Geduld, Onkelchen. Ich an deiner Stelle wäre schon gleich vor drei Jahren zum Ökonomierat Späth gelaufen oder zu einem der anderen Sachverständigen hier in der Mark. Der hätte dir die Rose doch mit Kusshand abgekauft.“
„Tja. Möglich. Aber wenn ich sie nun auf einer Ausstellung vielen hunderttausend Menschen zeigen könnte, aus ganz Deutschland und dem Ausland, und gleich in tausend Exemplaren oder mehr — dann wäre das der Kusshand fast noch vorzuziehen, Kleine, wie?“
„Grossartig, Onkel Julius!“ Sie nahm sein Glas und lief in die Küche, um ihm noch einen Grog zu brauen. Dabei pfiff sie nun wieder ihr ganzes reiches Repertoire. Natürlich meist Wagnermotive. In Hamburg hatte sie doch den „Ring“ gehört. Plötzlich stürmte sie durch die Tür bis zum Tisch zurück und sah mit ihren hellgrauen Augen den Rosenzüchter strahlend an. „Noch immer hast du ihr keinen Namen gegeben. Weisst du, wie sie heissen muss, die neue Kreuzung? ... Feuerzauber!“
Das Wort klang gut. Es passte auch. Er entsann sich, dass sie ihm öfters schon von der Walküre und dem Siegfried erzählt hatte, auch von dem Flammenwunder des Feuerzaubers. Bescheidener als sie hatte er daran gedacht, seiner verstorbenen Frau die Rose zu widmen. Aber „Ilse“ — den Namen behielt man nicht so leicht. „Nicht übel: Feuerzauber. Bloss hab’ ich im Sommer bei Zenner, in der Spreewirtschaft drüben, wo die Pionierkapelle das Stück gespielt hat, mir die Ohren zuhalten müssen. Mit Wagner komm’ ich eben nicht mehr mit, verstehst du. Mozart ist mir lieber. Und der ‚Freischütz‘. Oder Lortzing.“
Sogleich pfiff sie sein Lieblingslied: ‚Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar —!‘ Dabei fuhr sie ihm in seine feste, grauweisse Frisur, die noch immer den alten Militärschnitt aufwies. Und dann sang sie das Motiv des Feuerzaubers. Ihre Stimme war jung und hell, ihre Begeisterung gross. Sie holte den Grog, probte, da er es wollte, schüttelte sich leicht und setzte das Glas vor ihn hin. „Feuerzauber! Es bleibt dabei?“
„Aber vorläufig keiner Menschenseele verraten. Auch den Gehilfen nicht. Die dürfen noch keine Ahnung haben.“
„Wetten wir, dass du auf der Ausstellung eine Medaille kriegst?“
„Die kannst du dann als Brosche tragen, wenn du mal tanzen gehst.“
Sie waren heute viel länger munter als sonst.
„Weisst du, Fränze, den Auftrag für Heinrich Nidders und Co. werde ich lieber noch ein paarmal überschlafen“, sagte er, als er zu Bett ging. „Stellen wir die Rose aus, dann kostet das Platzmiete. Man müsste sie doch gleich in ein paar Beeten zeigen, im Boden gewachsen, nicht bloss in Töpfen.“
„Und mittendrin ein hübscher Pavillon, Onkel Julius. Für den Schnittverkauf und für die Bestellungen.“
„Teure Sache.“ Er kniff ein Auge zu. „In den Pavillon setzen wir natürlich einen bärbeissigen alten Herrn mit zertöppertem Knie, was meinste?“
Sie öffnete beide Arme und verschlang die Hände im Nacken. „Ich bin ganz schrecklich glücklich, Onkel Julius!“ sagte sie.