Читать книгу An der Spitze meiner Kompagnie - Paul Oskar Höcker - Страница 11
Mons, 1. September
ОглавлениеWir nähern uns Frankreich. Nun gibt es nur wenig Brandstätten mehr. Hier im Süden Belgiens haben wohl die Strafgerichte von Battice, Visé und Löwen schon ihre mahnende Wirkung getan. Vielleicht haben auch die Einwohner endlich eingesehen, dass es fruchtlos ist, von einem nach Millionen zählenden Heere ein paar einsame Patrouillen oder Meldereiter abzuknallen.
Der Schlossbesitzer von Drogenbosch hat es vorgezogen, sein wundervolles Anwesen mit Kind und Kegel zu verlassen. Ein schmutziges Küchenmädchen und ein krummer Hausdiener empfangen den Stab. Ich liege bei kleinen Webersleuten in der Dorfgasse. Auf das Zimmer mit dem Bett habe ich verzichtet: es dient sieben Personen zum nächtlichen Aufenthalt. Ich begnüge mich mit einem Strohsack in der „guten Stube“, dem Raum, der als heiliges Grab so respektiert wird, dass niemand ihn je betritt. Aber zu Tische holt mich der liebenswürdige Adjutant nach dem Schlosse. Nicht der Verpflegung halber, denn unsere Soldatenkost ist bei weitem besser als das dürftige und wenig appetitlich hergerichtete Diner in dem Chateau des vielfachen Millionärs, als vielmehr des Zaubergartens wegen, in dem wir abends lustwandeln können. Die mächtige Schlossterrasse ist mit bunten Petunien bepflanzt, der Fernblick über das in der Sommerpracht stehende belgische Land ist hinreissend schön. Die Gemächer, die an den Altan stossen, zeigen schon die Spuren öfterer Einquartierung. In dem Vorraum zur Bibliothek hat sich der Bursche des Oberstleutnants eingenistet. Wir nennen ihn „das schlafende Heer“. Er weiss nämlich vom Einrücken ins Quartier oder ins Biwak bis zum Abmarsch mit wahrer Meisterschaft jede Minute der Krästesammlung im Schlafe zuzuführen. Marschieren ist ihm eine unangenehme Unterbrechung dieser Tätigkeit. Die grossen Bücherschätze, die die Bibliothek enthält, scheinen eine besonders einschläfernde Wirkung auf ihn auszuüben. Er ist seit dem Einmarsch verschwunden, wie vom Erdboden weggefegt. Erst morgens um halb zwei Uhr meldet er sich an der Tür des Adjutanten. „Wer da?“ Der Leutnant nimmt die Armeepistole zur Hand und öffnet die Tür. „Das schlafende Heer! Menschenskind, wo hast du gesteckt? Wir hielten dich schon für abgemurkst!“ Das schlafende Heer verrät sein literarisches Versteck. „Und was ist jetzt geschehen? Wird alarmiert?“ Das schlafende Heer zeigt wirklich eine etwas erregte Miene und sagt stockend: „Ach, verzeihen der Herr Leutnant—ich finde den Ausgang nicht—und — und — — ich muss mal verschwinden!“ So schnell wie in dieser Nacht soll das schlafende Heer noch nie zuvor verschwunden sein.
Der Garten ist zum Verirren übrigens noch mehr geeignet als das weitläufige Schloss. An den Park stösst ein schön gepflegter Forst. Buchenwälder, die wahre Säulenhallen darstellen, bieten sich hier. Man denkt an Leistikow. Karnickelherden jagen einander auf den weiten Wiesen und den Spielplätzen. Ein rotglühender Abend senkt sich über den Parkfrieden. Beim Gewehrreinigen und Abkochen fingen die Mannschaften an der Dorfstrasse ihre melancholischen Lieder. Man sollte jetzt nicht allein durch den Park ziehen. Der ist gar zu sehr geeignet für stimmungsvolle Zweisamkeiten.
Das sind jetzt heisse, heisse Märsche durch dicken Staub. Immer geht es südwärts. In den Mittagsstunden brennt uns die Sonne prall ins Gesicht. Natürlich marschieren wir mit Sicherung. Unsere Ulanen sind ein paar Kilometer weit auf der Strasse voraus. Heute stellt meine Kompagnie die Spitze. Immer wieder reite ich voraus, um die Dorfbewohner an der Strecke zu veranlassen, frisches Wasser herauszustellen. Die tausend Mann eines Bataillons verbrauchen auf solch einem Marsch eine stattliche Menge. Viele Brunnen sind schon versiegt. Man denke an die Hunderttausende, die bereits hier durchgezogen sind. Die Bevölkerung ist sehr entgegenkommend. Es ist geradezu auffallend, wie sich der Ton gewandelt hat. Wirken schon unsere Siegesnachrichten? Bisher hatten nur die französischen Lügenbotschaften hier Boden gefunden. Indem wir durch Hal marschieren, erreicht uns die Kunde von dem grossen Sieg der Armee des Kronprinzen bei Metz. Jeder Kompagnieführer ruft seinen Leuten die hellen Nachrichten zu. Da geht’s wie ein Ruck durch alle Glieder. Die Müdesten selbst richten den Kopf auf, die Tornisterschwere wird vergessen, ein Lied nach dem andern schallt durch die Strassen... Und auf den Bürgersteigen stehen die Belgier und staunen, staunen... Ja, wieviel Soldaten kommen denn nun noch? Das nimmt ja kein Ende?!
Der Mostrichhändler von Tubize, Herr Fernande Fontaine-Gublau, der mir abends Quartier gibt, fragt es mich auch. Sie fassen es einfach nicht, die Belgier, dass Deutschland über so viel Millionen Kriegsvolk verfügt. Was sollen dagegen die 50 000 Mann ausrichten, die England nun wieder in Ostende gelandet haben soll? „Il n’y a plus d’hommes en Allemagne, maintenant?“ (Es gibt jetzt nicht viel Männer mehr in Deutschland, nicht wahr?) Ich lächle. „Fast mehr, als Deutschland ernähren kann, sind drüben. Aber es sind lauter Franzosen, Belgier und Engländer.“ Monsieur Fontaine-Gublau macht mir darauf ein politisches Bekenntnis. „Nous autres Belges sommes trompés par les Français et les Anglais!“ (Wir sind in Belgien von den Franzosen und Engländern betrogen worden!) Das sei die Wut, das sei der Schmerz jetzt im ganzen Lande!
Am Familientisch in dem kleinen Stübchen neben dem Lädchen, in dem ausser Mostrich auch Petroleumlampen, Bindfaden, Zigarren und Stiefelwichse verkauft werden, nehme ich das Souper ein. Fleisch ist nicht mehr zu haben, es gibt die übliche Brotsuppe, der zwei Eier in der Pfanne folgen, und ein Stück Käse. Dazu aber vorzügliche Weine. Madame Fontaine hat die neunjährige Izabelle auf den Schoss genommen, ihre alte Mutter läuft eifrig hin und her und will mir durchaus das Leben „à mon aise“ machen, die hübsche Nichte strahlt mich mit ihren grossen Augen an, und der Hausherr, der im Gehrock steckt, weil er als Magistratsmitglied Tubize mit repräsentiert, schenkt immer wieder ein und verwickelt mich in strapaziöse politische Auseinandersetzungen. Es gibt Bordeaux, darauf Burgunder, schliesslich Sekt. Ich bitte Frau Fontaine, die kleine Izabelle zu Bett zu bringen. Aber sie meint, es werde für sie doch eine Erinnerung für später sein, einmal mit einem deutschen Offizier soupiert zu haben. Wir sind die erste Einquartierung bei den guten Leutchen. Sie ahnen nicht, was noch hinter uns einhermarschiert. Wenn alle Landwehr aus Belgien herausgezogen ist, dann wird wohl erst noch der Landsturm an die Reihe kommen. Und der dürfte alles, was an Vieh, Lebensmitteln, Hafer und Stroh noch im Lande ist, zusammentreiben, um es dem vorn kämpfenden Heere nach Frankreich nachzuschicken. Wie mag’s in dem jetzt noch so reichen Lande um Weihnachten herum aussehen!
Herr Fontaine ist auch der Begründer einer Volksbibliothek. Natürlich lasse ich mir seinen Katalog zeigen. Er ist sehr stolz darauf, dass alle populären Bücher darin vertreten sind, die so viel verlangt werden. Was für Werke das sind? Nun — Paul de Kock und Dumas in erster Reihe. Wenn ich mir dagegen unsere deutschen Arbeiterbüchereien vorstelle!
Im Morgennebel brechen wir auf. Ein Flugzeugpark überholt uns. Donnernd sausen die unheimlichen eisgrauen Kasten an uns vorüber. Auch Aushilfswagen verschiedensten Kalibers sind mit eingestellt. Da gibt’s sogar einen Koloss, der noch die Aufschrift seines Berliner Warenhauses trägt. Und darunter steht in Kreide mit kräftiger Hand geschrieben: „Auf nach Paris, schnell, schnell!“ Auf einem anderen Kasten: „Grosser Sieg der Russen! Die Russen haben Wuttki eingenommen!“
Auf diesem Marsch dröhnt uns ausser dem Wagengerassel auch häufig der Geschützdonner ins Ohr. „Das muss bei Maubeuge sein!“ Die Übersichtskarten werden herausgezogen und auf dem Pferd ausgebreitet, man misst die Kilometeranzahl ab. „Ob es wohl möglich wäre, dass wir mit herangezogen werden?“ Wir scheuen die längsten Märsche nicht — nur endlich einmal da vorn mit eingreifen möchten wir!
Doch dieser Abend bringt mir ein neues Idyll: ich quartiere in Casteau in der kleinen deutschen Kolonie. Mein Quartierwirt ist ein Landschaftsgärtner, der vier Jahrzehnte lang Verwalter eines belgischen Barons war. Nun hat er sich vor ein paar Jahren als Siebzigjähriger ein kleines Häusel gebaut und den Traum seines Lebens verwirklicht: einen eigenen Garten zu bebauen.
Aber wie hat der alte Sennertz auch dies kleine Paradies gepflegt! Diese Artischocken, diese Melonen, diese Birnen! Es ist die Williams-Christ-Birne, von der wir in Westend auch ein Bäumchen haben, das heuer fünf Stück schon trägt. (Ob sie inzwischen reif geworden sind und meine Mädels sie verzehrt haben? Ich hab’ noch nichts von daheim gehört seit drei Wochen.) Und Erdbeeren gibt’s noch. Man staune: jetzt noch Erdbeeren. Der prächtige Alte ist mächtig stolz darauf. Ja, bei ihm reifen sie manchmal sogar noch bis zum Weihnachtsfest.
Und denkt nur, neulich, als die Engländer durch Casteau flüchteten, um sich vor Mons zur Verteidigung einzugraben, da hiess es doch, es sei hier aus den Häusern auf unsere deutschen Truppen geschossen worden, und ein junger Leutnant, der die Spitze führte, wollte schon alles in Brand stecken lassen. Aber da kam die Nachbarin, die junge Frankfurterin, eilends herzugelaufen und rief lachend: „Ha, nei, Herr Leitnant, was denke Sie denn, mir dhäte auf unsere oichene Landsleut schiesse. Mir sin doch die oinziche hier, wo’s gut mit Ihne moine!“ Der herzerquickende Dialekt rettete Haus und Hof und das gottgesegnete Friedensländchen, das Meister Sennertz, der alte Kaiser-Franz-Grenadier, hier für seinen Lebensrest betreut. Mög ihm, der unter dem Deutschenhass der früheren Wochen viel gelitten hat, der Einmarsch unserer Truppen zu dauerndem Segen werden!
In den Nachtschlaf grollt der Geschützdonner von Maubeuge her. Und ein paar Stunden nach dem Abschied vom Gartenidyll zu Casteau sehen wir die Stellungen, die Schützengräben und die Verhaue, aus denen die Engländer von den Unseren herausgeworfen worden sind. Jenseits des Kanals, der sich am Nordrand von Mons hinzieht, liegen noch die Zementsäcke, hinter denen die Engländer Sicherung gesucht haben. Aus dieser Stellung haben sie auf unsere sprungweise vorspritzende Infanterie ein mörderisches Feuer eröffnet. Es muss grosse Verluste gegeben haben. In Mons liegen noch viele Verwundete. Und auch hier war’s wie anderwärts: trotzdem die Engländer, sobald die Deutschen auf hundert Meter heran waren, die Waffen streckten — einzelne schwenkten weisse Tücher —, gaben sie doch in dem Augenblick, in dem die Deutschen sich zum erstenmal in voller Figur zeigten, auf der ganzen Linie von neuem ein rasendes Schnellfeuer ab. Die Wut der deutschen Schützen, die schliesslich an die Zementsäcke und den dahinter sich verkriechenden Gegner herankamen, lässt sich danach ermessen.
In schwebender Mittagshitze marschieren wir hier in Mons ein. Das Bataillon soll mit der Bahn über die französische Grenze gebracht werden. Wohin? So weit die Bahn in deutschem Besitz ist. Also jedenfalls über Valenciennes hinaus. Vielleicht nach Cambrai. Hurra, nach Frankreich!