Читать книгу An der Spitze meiner Kompagnie - Paul Oskar Höcker - Страница 7
In Tongern und Hasselt
ОглавлениеAuf engem Raum, auf einem Stoppelfeld nördlich von Visé, wo schon zahlreiche Truppen gelegen haben müssen, wie die unappetitlichen Spuren der Feldschlächterei beweisen, beziehen wir unser Biwak. Aber es ist schon so tief in der Nacht, und in wenigen Stunden soll es ja schon wieder weitergehen, dass wir auf das Aufschlagen der Zelte verzichten. Stroh gibt es nicht mehr in der Gegend. Aus einem der brennenden Häuser holen wir Balken, Tische, eine Kommode, einen Schrank. Die letzten Trümmer dieser belgischen Häuslichkeit dienen uns zum Wachtfeuer.
Am andern Morgen, als ich unterm klarblauen Himmel erwache, über und über bereift, dazu bestäubt, berusst, fällt mein Blick auf die kleine Villa da drüben. Es stehen nur noch die festen Mauern, das Dach ist längst zusammengebrochen. Aber am Westteil der Front ranken sich noch immer die üppigen Blütentrauben der Dorothy Perkins empor, der schönen Kletterrose, die bei uns in Deutschland um diese Jahreszeit längst abgeblüht hat. Und ich sehe im Geist unsre Rosenlaube daheim, in der Karl Clewing an einem schönen Sommerabend zur Laute sang: „Wenn’s die Soldaten durch die Stadt marschieren...“
In der Liebfrauenkirche in Tongern sind ein paar hundert belgische Kriegsgefangene untergebracht. Während ich durch den romanischen Kreuzgang wandle und die Skulpturen aus dem Marienleben betrachte, wird den Unglücklichen Kaffee und Brot gereicht. Der Offizier hockt neben den Gemeinen, und sie stippen schmatzend ihr Nachtmahl.
Langsam, feierlich schlägt es von dem wundervollen Kirchturm — er stammt aus dem 15. Jahrhundert — acht Uhr. Natürlich deutscher Zeit, woran sich die Herrschaften hier noch nicht so recht gewöhnen können. Dem tiefen Glockenschlag folgt ein helles Glockenspiel. Jede Stunde bietet ein frohstimmendes Konzert. Belgien ist das Land der Glockenkünstler. In Mecheln gibt es oft grosse Wettbewerbe unter den Meistern auf diesem Gebiet. Hier kommen Händel und Mozart am meisten zu Wort. Der Silberklang wandert durch das schöne Gotteshaus, und die Gefangenen horchen einen Augenblick auf. In der Nacht werden sie in die Bahn verladen, dann geht’s nach Lüttich, vielleicht auch nach Aachen, vielleicht noch weiter, auf irgendeinen Truppenübungsplatz.
Ich habe im Hause des Altbürgermeisters Quartier bekommen. Er liegt schwerkrank droben. Aber seine Gattin ist immerzu unterwegs, um mich zu fragen, ob Gefahr für sie und ihr Haus bestände, und sie gibt sich alle erdenkliche Mühe, um mich gut zu verpflegen. Sogar einen Barbier bietet sie mir an. Ich bin zum Glück im Besitz eines Gillette-Apparats. Die Vorstellung, mich in den jetzigen Zeiten von einem Belgier rasieren zu lassen, hat etwas Erheiterndes.
Es liegt in diesem an Kunstschätzen reichen Hause eine Überlieferung, es ist hier alte Kultur. Wie ich so in meinem bösartigen Biwakaufzug in das behagliche Zimmerchen hereingeschneit bin, komme ich mir etwas barbarisch vor. Mein Schlafzimmer hat schon königlichen Besuch beherbergt. Als Leopold 1. zum letztenmal nach Tongern kam, hat er in diesem prunkvollen Himmelbett geschlafen.
Nachdem ich meine Kompagnie im Kloster der Beguinen untergebracht habe, kann ich mich der Unterhaltung mit den jungen Herren des Hauses widmen. Natürlich wundere ich mich, in solchen Kriegszeiten überhaupt einem waffenfähigen Mann noch im Land zu begegnen. Aber der Sohn des Hauses meint: in Belgien sei es nicht schick, zu dienen. Es dient nur, wer die 1600 Frank Ablösungsgeld nicht aufbringen kann. Die gute Gesellschaft dient höchstens bei der Garde civique, die ein Mittelding ist zwischen Landsturm und Schützengesellschaft.
Auch hier müssen natürlich die Quartiere nach Waffen durchsucht werden. Die Bevölkerung ist aber einsichtig genug, sie gutwillig herauszugeben. Ganze Musterlager sammeln sich auf dem Rathause an. Beim ersten Eindringen der deutschen Truppen ist es in der Vorstadt zu ein paar Belästigungen des Militärs durch Zivilisten gekommen. Die Häuser, aus denen geschossen wurde, sind natürlich niedergebrannt worden. Aber in der Innenstadt scheint alles seinen geregelten Gang zu gehen. Auch diejenigen Einwohner, die törichterweise ihr Haus, ihre Wohnung, ihr Geschäft verliessen, sind zurückgekehrt. Mit ihnen kamen aber auch grosse Scharen von Gesindel aus Lüttich, aus Visé, Obdachlose, die nichts mehr zu verlieren haben und das eigene nackte Leben kaum fristen können. Ihnen ist es jetzt die einzige Gelegenheit zu billigem Verdienst, wenn irgendwem der rote Hahn aufs Dach gesetzt wird. In der Verwirrung raubt und stiehlt der Mob, was er erwischen kann. Die Plünderungen werden hernach von den Belgiern natürlich den Deutschen zugeschrieben. Mit wenigen Ausnahmen zeigt aber der Deutsche, auch der gemeine Mann, eine Rücksichtnahme, die der Russe, der Engländer, der Belgier, der Franzose unter keinen Umständen anwenden würde.
Frau Meyers bittet mich beim Abmarsch des Regiments, ihren Kindern nach Brüssel und Namur Nachricht von ihr zu geben, falls wir dahin kommen. Sie selbst zweifelt jetzt nicht mehr daran, dass ganz Belgien mit der Zeit in deutsche Hände gelangt. Was für unendliche Züge deutschen Militärs sind hier schon durchmarschiert. Und immer neue Regimenter, immer neue Brigaden rücken heran. Ich habe die beiden Briefchen — dass sie nichts Staatsverräterisches enthielten, davon habe ich mich natürlich überzeugt — bis jetzt nicht los werden können. Brüssel und Namur sind von uns zwar längst besetzt, aber die Post geht noch nicht dahin. Das ist freilich nur noch eine Frage der Zeit, seitdem ein deutscher Postdirektor in Lüttich eingesetzt worden ist.
Der nördlichste Punkt, den unsere Landwehrbrigade erreicht, ist Hasselt. Auch hier haben sich Franktireurbanden gebildet, und es ist meine Aufgabe, nördlich der Stadt Vorposten aufzustellen und eine Schützenstellung zu befestigen. Das Bataillon zieht mit Gesang ein. Der Preussenmarsch wird gepfiffen, dann kommt die „Wacht am Rhein“ an die Reihe. Am meisten liebt der Landwehrmann aber die Umschreibung des „Guten Kameraden“ mit dem wehmutsvoll-sehnsuchtsvollen Refrain: „Die Vöglein im Walde, die sangen so wunder-wunderschön — In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn...!“ Der Norden von Hasselt gehört den armen Leuten. Ich liege bei dem kleinen Gärtner dem Friedhof gegenüber, und der Zufall will’s, dass sich unter den Mannschaften, die zur Kochgruppe meines Burschen gehören, der Totengräber aus Neukölln befindet. Er ist gewissermassen der Spassmacher der Kompagnie. Sein Witz ist scharf, aber schliesslich versöhnt er seine Gegner immer wieder, da er so einen seltsam mütterlichen Ton auschlägt, wenn er ihnen verspricht, ihnen einmal ein recht gutes, propperes Grab zu graben. „Ich hab’ gar keine Angst vor dem Tod. Siehste, Mensch, wenn du tot bist, dann bist selbst du altes Rauhbein ein ganz friedsames Kerlchen. Muckst nicht, schiltst nicht. Und alle Welt kommt und weint und hat dich lieb. Und dann buddel’ ich dir ein, und hernach wachsen doch gar noch Blumen auf dir. Mensch, kannste mehr verlangen?“ Die ganze Korona lacht dann, und alles meint: nein, wirklich, wenn man dem Totengräber von Rixdorf in die Hände fällt, dann hat der Tod keine Schrecken mehr.
Aus der Kirche kehren viele schwarzgekleidete Damen zurück, die den englischen Witwenschleier tragen. Im Warten bin ich mit ein paar reizenden blonden Kindern, die am Markt spielen, ins Plandern geraten und erfahre dann von ihrer dabeistehenden Grossmama, dass heut ein kirchlicher Gedenktag für alle sei, die einen Anverwandten vor dem Feind verloren haben. Inzwischen stösst die junge Mutter dazu, und da mein Handschuh aufgesprungen ist, bitte ich um Nadel und Faden, um den Schaden rasch zu reparieren. Sie nimmt mir die Arbeit mit sanfter Gewalt aus den Händen und geht ins Haus. Jetzt erst bemerke ich ihre Trauerkleidung. Sie sei die Frau eines belgischen Offiziers, der kriegsgefangen nach Deutschland abgeführt worden sei, erklärt mir die alte Dame. Ich danke der unglücklichen Belgierin für den kleinen Liebesdienst, den sie dem Feind erwiesen hat, mit einem Händedruck. Grad’ ist’s so weit, dass das Kommando abrücken kann. Mein Oberleutnant, der Professor, hat in seinem Offizierstornister eine Unmenge Briefe, die er in Deutschland aufgeben soll; es weiss ja noch keiner, ob die Seinigen auch nur eine einzige der fast täglich ausgeschickten Nachrichten erreicht hat. Wir haben die erste Feldpost erst drei Wochen nach dem Verlassen der Garnison erhalten. Auch eine neue Zeitung war uns ebensolange ein unbekannter Begriff.
Die Belgier beziehen ihre neuesten Geschichtskenntnisse aus ein paar französischen Blättern. Danach sind die Deutschen unermüdlich im Rückmarsch begriffen. In St. Trond, wo wir in einer vom Klerus eingerichteten und mustergültig unterhaltenen Arbeiterschule quartieren, erzählt mir der Père das Allerneueste über unsere Heimat: In Berlin ist die Revolution ausgebrochen — die Kaiserin ist vor den Russen aus Berlin geflohen — vor Lüttich ist ein grosser Teil der deutschen Armee geschlagen worden. So haben Le Soir und Le Matin berichtet. „Aber Lüttich ist in deutschen Händen, trotzdem!“ erwidere ich. Er erklärt das für unmöglich, die Forts seien uneinnehmbar. Noch jetzt, am 24. August, nur wenige Meilen von Lüttich entfernt, wird unser Sieg noch bezweifelt! Zum Glück kommt soeben die gedruckte Bekanntmachung unseres Generalquartiermachers: Bei Lunéville ist die grösste Feldschlacht, die je geschlagen wurde, siegreich für die Deutschen zu Ende gegangen. Wir haben 47 000 Gefangene gemacht!
Der blass gewordene Geistliche begibt sich spornstreichs zu seinen Amtsbrüdern. Sie wandeln dann alle mit verstörten Mienen umher.