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4 | Rätselhafte Nachrichten

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Am nächsten Morgen hatte Henrik es eilig, das Krankenhaus zu verlassen. Die Ärzte wollten zwar, dass er noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung und zur Durchführung weiterer Untersuchungen in stationärer Behandlung blieb, doch er verspürte keine Lust, erneut Besuch von der Polizei zu bekommen. Noch immer fühlte er sich wie unter den Presslufthammer geraten. Sein Körper war von Prellungen und Blutergüssen übersät. Inzwischen hatte man zwar die Nasentamponade entfernt, aber sein Gesicht besaß die Farbe und Konsistenz eines überreifen Pfirsichs. Nach wie vor litt er unter übelsten Kopfschmerzen. Trotzdem packte er seine Sachen zusammen, so schnell es ihm in diesem Zustand möglich war. Er konnte sich ja zu Hause erholen. Nachdem er die Erklärung unterschrieben hatte, auf eigene Verantwortung das Krankenhaus verlassen zu haben, ließ er sich für seine letzten Euros ein Taxi bestellen.

Daheim angekommen legte er sich sofort wieder ins Bett, um zu schlafen. Aufgrund der ständigen Übelkeit wollte ihm das aber nicht gelingen. Stöhnend humpelte Henrik ins Bad und schluckte zwei Aspirintabletten. Er hustete, spuckte altes, klumpiges Blut aus und betrachtete sorgenvoll seine Zahnlücke im linken Oberkiefer. Voll Selbstmitleid begann er zu schluchzen und schleppte sich weiter ins Wohnzimmer. Dort bemerkte er, dass der Anrufbeantworter blinkte.

In seiner Abwesenheit hatte das Gerät sechs Anrufe aufgezeichnet. Lustlos drückte er auf den Abspielknopf, um die Nachrichten abzuhören.

Anruf Nummer eins: Zunächst nur Stille und leises Rauschen. Dann ein leichtes Räuspern. Schließlich: »Äh … Hallo, Alter! Ich bin's, dein Kumpel Tobi. Lebst du noch? Wenn ja, melde dich bei mir. War'n ziemlich beschissener Abend gestern, hä?« Klicken. Tobi hatte aufgelegt.

In Henrik stieg Wut auf. Dieser Witzbold nannte den Albtraum, in dem er fast totgeprügelt worden wäre, einen beschissenen Abend! Er schwor sich, diesem pickligen Penner richtig tief in den Arsch zu treten, sobald er wieder halbwegs bei Kräften war. Erst überredete der ihn, in diese zwielichtige Bar zu gehen. Dann provozierte er die verrückten Gruftis und ließ ihn als Krönung des Ganzen bei der Schlägerei feige im Stich. Schließlich war es ihm gewissermaßen auch zu verdanken, dass ihn die Polizei für einen beschissenen Pädophilen hielt. Es ärgerte ihn, dass er sich mit diesem ausgeflippten Milchgesicht jemals eingelassen hatte.

Erst als er sich wieder beruhigt hatte, hörte Henrik die nächste Ansage ab.

Anruf Nummer zwei: »Warum meldest du dich nicht? Man kann doch von seinem Sohn erwarten, dass er sich ab und zu mal nach dem Befinden seiner Mutter erkundigt. Aber nein! Dir ist völlig egal, wie es mir geht. Der Sohn von Frau Brinkmann bringt seiner Mutter jede Woche einen Strauß Blumen vorbei. Jede Woche! Und du? Noch nicht einmal zum Muttertag!« Klick.

Blödes Theater! Um ein Haar wäre er abgekratzt. Hatte sie sich da um sein Befinden gesorgt? Henrik gab sich keine Rechenschaft darüber, dass seine Mutter vom Krankenhausaufenthalt gar nichts erfahren hatte, und spulte weiter.

Anruf Nummer drei: »Herr Wanker? Hier spricht Braun, ihr Vermieter. Sie sind mit Ihren Mietzahlungen zwei Monate im Verzug. Ich werde mich in Kürze wieder melden.« Klick.

Henrik zog eine Grimasse. Braun, dieser dumme Zausel. Der Kerl sollte sich wegen der paar lausigen Kröten nicht ins Hemd pissen. Er ließ das Gerät weiter laufen.

Anruf Nummer vier: Sekundenlanges Rauschen. Dann Klick. Wer nicht will, der hat schon, dachte Henrik. Dann der nächste …

Anruf Nummer fünf: »Äh …Wo bist du, Alter? Machst mir richtig Sorgen, Mann. Also, wenn du Lust hast, könnten wir morgen Pizza essen gehen. Okay? Dein Kumpel Tobi zahlt auch.« Klick.

Henrik grinste spöttisch, aber schon halb versöhnt. Wenigstens ein schlechtes Gewissen schien der Torfkopf zu haben. Okay, weiter zum letzten Anruf.

Anruf Nummer sechs: Rauschen … Rauschen … zehn Sekunden … fünfzehn … Henrik wollte schon die Stopptaste drücken, da hörte er ein leises Kichern und nach einer kurzen Pause eine ihm wohlbekannte Stimme: »Seid gegrüßt, edler Paladin.« Er meinte, das unverschämte Grinsen dieses schleimigen Druiden direkt vor sich zu sehen. »Ich hoffe, es geht Euch gut? Oder fühlt Ihr Euch etwa inkommod?« Wieder das unverschämte Kichern. Dann: »Mein hochherziger Lord Dragon bittet Euch zu einer Audienz anlässlich unseres diesjährigen Gildentreffens in Blackmount Castle. Es geht um den bewussten Gegenstand, der sich in Eurem Besitz befindet, Euch aber bedauerlicherweise nicht gehört.« Schweigen. Tulsadoom atmete zischend ein und aus. »Ihr wisst doch, wovon ich rede, oder? Natürlich wisst Ihr das!« Klick.

Henriks Kopfschmerzen wurden unerträglich. Ihm wurde schwarz vor Augen. Unbeschreiblicher Hass erfüllte ihn. Er stieß unartikulierte Schreie aus und biss in die Knöchel seiner geballten linken Faust, was ihm aufgrund des ausgeschlagenen Zahnes noch mehr Schmerzen verursachte. Wie irr spuckte er immer wieder auf den Boden. Und plötzlich wurde ihm alles klar: Diese drei Gruftis aus Franks Bar, die ihm so übel mitgespielt hatten, waren Handlanger von Tulsadoom, die ihm in dessen Auftrag einen Denkzettel verpasst hatten. Die Einschüchterung sollte bewirken, dass er beim Gildentreffen klein beigab und Lord Dragon freiwillig den Armreif ablieferte. Aber die Rechnung würde nicht aufgehen. Er würde Lord Dragon den stinkenden Penis des Druiden ins hochherzige Maul stopfen und anschließend sein Schwert so tief in den Hintern des Schattenmagiers schieben, dass kein Echolot es mehr orten konnte.

Henrik war gerade auf dem Höhepunkt seiner Amokstimmung angelangt, als es an der Tür klingelte. Wutschnaubend und humpelnd wie der Glöckner Quasimodo bewegte er sich in den Korridor. Er vermutete, dass es Tobi war, der mit ihm Pizza essen gehen wollte. Deshalb riss er die Tür auf und schrie: »Was willst du gepierctes, pickelgesichtiges Klappergestell von mir?« Aber vor der Tür stand Herr Braun, sein Vermieter.

Henrik glotzte ihn verblüfft mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffneten Mund an. Speichel tropfte ihm seitlich an der geschwollenen Unterlippe vorbei.

Herr Braun war ein kleiner, drahtiger Mittsechziger, der immer ein kariertes Jackett, weißes Oberhemd, dezente Krawatte und penibel gebügelte Bundfaltenhosen trug. Das dünne, graue Haar war sorgfältig nach links gescheitelt. Wenn er über Henriks Begrüßung oder dessen ramponiertes Aussehen geschockt war, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Schön, dass ich Sie mal persönlich antreffe, Herr Wanker«, sagte er kühl und mit unbewegtem Gesichtsausdruck.

Verblüfft stotterte Henrik: »Ach, Sie sind es, Braunie! Äh, ich meine natürlich Herr Braun. Wie geht’s denn so und wie geht’s der verehrten Frau Gemahlin?«

In den letzten Wochen war er Braun geschickt aus dem Weg gegangen und hatte so getan, als ob niemand daheim sei, sobald der Vermieter im Haus aufkreuzte. Doch nun hatte der Mann ihn erwischt.

»Herr Wanker, ich mache es kurz.« Braun entnahm der Innentasche seines Jacketts einen Briefumschlag und hielt ihn Henrik entgegen. »Sie sind zwei Monate mit Ihren Mietzahlungen in Verzug.«

Henrik starrte den Umschlag an, als ob der Milzbrandsporen enthielte. »Herr Braun, es ist mir … es tut mir so leid«, stotterte er. »Meine liebe Mutter musste ins Krankenhaus – schwere Lungenentzündung, die Arme. Der rechte Lungenflügel wurde entfernt. Sie glauben gar nicht, was das alles kostet, diese Arztrechnungen für die Medikamente Penicillin, Aspirin, Kodein und Kokain …«

»Kokain?« Das Gesicht des Vermieters nahm einen misstrauischen Ausdruck an.

Henrik redete unbeirrt weiter. »Deshalb hatte ich sogar einen Nebenjob als Zeitungsausträger für ›die Bäckerblume‹ angenommen. Nacht für Nacht habe ich Zeitungen verteilt, bis ich endlich auch das Geld für die ausstehende Miete zusammenhatte.« Henrik schnäuzte gerührt in sein Taschentuch und betrachtete interessiert das Ergebnis, ehe er fortfuhr: »Und dann wurde ich letzte Nacht, kurz vor Ende meiner Tour, von der Russenmafia überfallen.«

»Russenmafia«, echote Braun.

»Vielleicht waren es auch Rumänen. Jedenfalls umzingelten mich fünf Kerle – alle Bodybuilder. Zwei konnte ich in die Flucht schlagen, doch die übrigen haben mir von hinten einen Baseballschläger übergezogen. Dann wurde ich besinnungslos. Oh, es hat sooo wehgetan.« Henrik schluchzte jammervoll in sein Taschentuch.

Herr Braun schien davon wenig beeindruckt zu sein. »In zwei Tagen ist die ausstehende Miete auf meinem Konto oder ich lasse die Wohnung räumen. Guten Tag!« Er warf den Umschlag in den Korridor hinein, drehte sich auf dem Absatz um und stieg eilig die Treppe hinab.

Henrik bückte sich mühsam, hob den Brief auf und riss missmutig den Umschlag auf. Wo sollte er bloß die darin abverlangten siebenhundert Euro hernehmen?

Übers Geländer spähte er vorsichtig ins Treppenhaus hinunter. Als er sicher war, dass Braun das Haus verlassen hatte, schrie er: »Verpiss dich, du aufgeblasener Schwachmat!« Danach war ihm wohler.

Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Couch, um nachzudenken, was durchaus nicht einfach war, denn sein Schädel brummte schlimmer als je zuvor. Er musste unbedingt seine Mutter besuchen, um an Geld zu kommen.

Aber etwas anderes war noch viel wichtiger. Doch was war das gewesen? Wenn er nur endlich wieder hätte klar denken können … Diese verfluchten Kopfschmerzen und diese Übelkeit! Henrik versuchte, sich zu konzentrieren.

Was, um Himmels willen, lief hier nicht richtig? Irgendetwas hakte ganz gewaltig und war systemisch absolut nicht korrekt.

Und dann – schlagartig – wurde ihm bewusst, was nicht stimmte: Die Geschichte mit dem Schattenmagier und dem magischen Armreif waren Dinge, die sich im Game abspielten, im Kingdom of Fantasy.

Aber das Tattoo am Arm des Gothics war ganz klar Real Life, ebenso die Nachricht des verdammten Magiers auf dem Anrufbeantworter.

Die Grenzen von Realität und Spiel schienen allmählich zu verschwimmen. Was bedeutete das?

Am Abend saß er dann wieder versöhnt mit Tobi zusammen im Türkenimbiss um die Ecke. Tobi schlang gierig und mit Appetit seine Pizza Diavolo hinunter, während Henrik ihm voll Neid zusah. Er war noch nicht in der Lage, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Der Imbissbudenbesitzer konnte ihm nur eine Tasse Instanthühnerbrühe anbieten.

»Ist ja völlig abgefahren, die Geschichte, die du mir da erzählst, Alter.« Tobi schmatzte hingebungsvoll und stopfte sich das nächste Pizzastück in den Mund. »Und du bist sicher, dass du wirklich mit diesem Druiden am Telefon geplaudert hast?«

»Ich habe nicht mit ihm geplaudert, du Vollidiot! Er hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Verstehst du das jetzt endlich?«

Tobi blieb vor Schreck der Bissen im Halse stecken, als Henrik ihn so anfuhr, doch nach kurzer Zeit kaute er vergnügt weiter.

»Und glaub’ mir, diese verlogene Schwuchtelstimme hör’ ich aus jedem Kirchenchor ‘raus«, grummelte Henrik und schlürfte vorsichtig einen winzigen Schluck Brühe. »Die Schlägertypen aus dem Molocco stecken ebenfalls mit dem Kerl unter einer Decke.«

»Nun ja …«, meinte Tobi unsicher und wischte sich mit dem Handrücken den fettverschmierten Mund ab. Die Pizza war vertilgt. Mit einem letzten bedauernden Blick schob er die leere Schachtel beiseite. Ein winziges Stück Pepperoni klebte weiterhin unbemerkt an seinem Nasenpiercing. »Nun ja … wir könnten Frank mal fragen, ob der was weiß.«

Henrik horchte auf. »Was hat denn dein Bruder mit der Sache zu tun?«

Tobi grinste. »Es ist so: Einmal im Monat trifft sich im Molocco eine Gruppe KoF-Spieler zu einer LAN-Party. Die Typen nehmen gemeinsam an Schlachtzügen oder Arenakämpfen teil.«

Henrik sah den Freund mit offenem Mund ungläubig an. »Und das sagst du mir erst jetzt? Das könnte eine Menge erklären.«

Tobi stand auf und legte acht Euro auf den Tisch. »Na, dann! Komm, wir besuchen Frank.«

Henrik schüttelte den Kopf. »Später. Für heute hab’ ich die Nase voll.« Dabei tastete er vorsichtig seine geschwollene und nicht ganz gerade Nase ab. »Ich schlucke noch zwei Aspirin und haue mich danach sofort ins Bett.«

Die beiden traten auf die Straße hinaus. Tobi sagte: »Geht klar, Alter«, und erkundigte sich: »Sehen wir uns morgen im Game?«

Henrik hob die Schultern. »Mal sehen. Vielleicht am Abend. Morgen muss ich endlich mal die Krankmeldung bei meinem Chef abgeben. Der ist sowieso schon angepisst. Und dann muss ich zu meiner Mutter und Geld besorgen. Vielleicht kann ich mich am späteren Abend kurz einloggen.«

»Geht klar, Alter«, meinte Tobi wieder. Er hob grüßend die Hand. Dann machten sich beide auf den Weg nach Hause.

YOLO

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