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5 | Besuch bei Mutter
ОглавлениеNachdem er ausgeschlafen hatte – so gegen Mittag –, suchte Henrik auf direktem Weg seine Mutter auf, denn er war zu der Einsicht gelangt, dass es wichtiger sei, zuerst Geld zu besorgen. Die Krankmeldung bei seinem Arbeitgeber konnte noch warten.
Sarah Wanker wohnte in einer Reihenhaussiedlung in einem Stadtviertel, in dem vorwiegend Rentner und Angehörige der Mittelschicht lebten. Die Vorgärten waren penibel gepflegt, ohne die Spur eines Unkräutleins.
Über Sarahs Haustür hing ein kitschiges, handgeschnitztes Willkommensschild aus Holz, das sie aus dem letzten Skiurlaub aus Davos mitgebracht hatte.
Henrik hatte sich eine halbwegs saubere Hose und ein nicht allzu verknittertes T-Shirt angezogen mit dem Aufdruck »Besser arm dran als Arm ab«. Es ging ihm heute schon deutlich besser. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen und auch die gebrochenen Rippen taten nicht mehr so weh, wenn er tief durchatmete. Trotzdem war ihm nicht wohl in seiner Haut.
Er verspürte immer eine gewisse Beklommenheit, wenn er die Mutter besuchte. Ihr Verhältnis war – gelinde gesagt – nicht gerade harmonisch. Henrik erschien deshalb nur bei ihr, wenn er Geld brauchte. Die Mutter dagegen machte ihm ständig Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit, Schlampigkeit und Faulheit.
In Wahrheit interessierten sich beide herzlich wenig füreinander. Sarah Wanker führte ein aufwendiges Leben, kaufte sich unentwegt neue Kleider, ging zur Kosmetikerin und war drei- bis viermal im Jahr auf Reisen. Henrik wusste genau, dass er von der Mutter kein Geld zu erwarten hatte, wenn er sie direkt danach fragte. So ergriff er bei jedem Besuch die Chance, alles zu stehlen, was im Hause nicht niet- und nagelfest war, um es bei Billie oder anderswo zu verkaufen. In letzter Zeit schien seine Mutter jedoch bemerkt zu haben, dass immer wieder mal etwas fehlte. Sie war offenbar misstrauisch geworden und ließ ihn nur noch selten aus den Augen, wenn er bei ihr auftauchte. Diesmal hoffte er inständig auf ihre Bereitschaft, ihm das Geld für die Miete zumindest zu leihen, weil er ja sonst auf der Straße säße.
Mit einem Kloß im Hals betätigte er die Klingel. Als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gelauert, riss seine Mutter die Haustür auf und starrte ihn mit verkniffenem Gesichtsausdruck an. Sarah Wanker war auffallend geschminkt – knallroter Lippenstift, Rouge auf den Wangen und blauer Lidschatten. Die blonden, mittellangen Haare zierten im Pony drei pinkfarbene Strähnen, die nicht so recht zu ihren achtundvierzig Jahren passen wollten. Den Kopf missbilligend schüttelnd, winkte sie ihn ins Haus. Ihre rot lackierte Fingernägel blitzten auf wie Blutstropfen.
Henrik folgte der Mutter ins Wohnzimmer und blieb dort abrupt stehen, wie ein Tier, das von einem Scheinwerfer geblendet wird. An einem runden Eichentisch saßen die vier Freundinnen Sarah Wankers bei der allwöchentlichen Bridgepartie. Wie hatte er das nur vergessen können? Doch nun war es zu spät, sich zurückzuziehen. Henrik kannte die Frauen schon seit seiner Kindheit. Er hatte diese aufgedonnerten Hexen noch nie leiden können. Das beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Ihr Alter lag zwischen vierzig und fünfzig Jahren, alle gekleidet in Designerklamotten, mit Gucci- oder MCM-Täschchen – nicht besonders geschmackvoll zusammengestellt, aber auf alle Fälle teuer.
Mit verkniffenen Gesichtern starrten sie ihn an, jede in Lauerposition, zum Sprung bereit, um ihn fertigzumachen.
Da war zunächst Kirsten Stadler – schwarze Kurzhaarfrisur, Ganzkörper-Sonnenbankbräune, perfektes Make-up, äußerst gewagtes Dekolleté, enger schwarzer Lederrock, bis knapp unter die Knie, High Heels. Dann Yvonne Nordmann – schulterlange, weißblond gefärbte Haare, weißes Armani-Kostüm, extrem auf Figur gearbeitet. Beide hatten deutlich ältere Ehemänner geheiratet, die reich wie Hiob und bereits vor zehn beziehungsweise fünfzehn Jahren verstorben waren. Die untröstlichen Witwen bemühten sich seitdem nach besten Kräften, das geerbte Geld unter die Leute zu bringen.
Betty von Werdersmark hatte dagegen das zweifelhafte Glück, dass ihr Mann noch lebte. Graf Roderick von Werdersmark weigerte sich trotz seiner sechsundachtzig Lenze abzutreten. Betty zahlte es ihm heim, indem sie ihrerseits Männerbekanntschaften mit deutlich jüngeren Liebhabern pflegte. Die attraktive, brünette Frau mit dem etwas ausladenden, aber straffen Hintern und den fast zu perfekten Brüsten brauchte vorerst nicht zu befürchten, dass ihr der Nachschub an abwechslungsreichem Frischfleisch im Bett ausgehen werde.
Frau Mai-Lin Kim war unverheiratet und stammte aus Korea. Sie war für ihr Alter noch immer eine exotische Schönheit mit hohen Wangenknochen und dunklen Mandelaugen und die einzige des Kleeblattes, die nicht von einem Freund ausgehalten wurde oder auf ein Erbe zurückgreifen konnte. Auf ihren Beruf angesprochen, nannte sie sich selbst »Körpertherapeutin«. Henrik war ihr einmal aus Neugier heimlich bis zu ihrem Appartement gefolgt. Neben einem roten Klingelknopf befand sich ein Schild mit der Aufschrift: »Mai-Lins Entspannungsmassagen – Tantra. Termine nach Vereinbarung von 20.00 bis 1.00 Uhr, samstags bis 3.00 Uhr.«
Henrik bemerkte noch einen weiteren Gast. Ein schmaler, grauhaariger Mann – vielleicht Anfang sechzig – in blauer Jeans und weißem Hemd saß mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel neben dem Bücherschrank und las die Tageszeitung. Als Henrik das Zimmer betreten hatte, waren alle Gespräche schlagartig verstummt. Der Grauhaarige unterbrach seine Lektüre, betrachtete ihn interessiert und – wie es Henrik schien – mit einem ironischen Lächeln.
»Was willst du hier?«, fragte Sarah Wanker ihren Sohn unfreundlich. »Du störst uns beim Bridgebrunch.«
Auf einem zweiten Tisch standen Fingerfoodhäppchen bereit. Das Büfett bot alles, was sich ein verwöhnter Gourmetgaumen nur wünschen konnte – angefangen von Schinken-Melonen-Streifen über Tomaten auf Mozzarella bis zu Lachsschnittchen, Putenbrust und Hähnchenspießen. Auf einer Warmhalteplatte dampfte eine Terrine mit köstlicher Kürbiscremesuppe. Das eine Ende des Tisches wurde durch eine Schüssel Belugakaviar, das andere durch eisgekühlte Austern begrenzt.
Henrik schluckte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als ihm bewusst wurde, dass die Instantbrühe vom gestrigen Abend das Letzte war, das er zu sich genommen hatte.
Es hatte nicht nur daran gelegen, dass er immer noch nicht vernünftig kauen konnte, auch in seinem Kühlschrank herrschte bis auf ein angebrochenes Glas saurer Gürkchen und eine Tüte Frischmilch, deren Haltbarkeitsdatum seit fünf Tagen abgelaufen war, gähnende Leere. Dies lag wiederum daran, dass er sein letztes Geld für die Taxifahrt vom Krankenhaus nach Hause ausgegeben hatte. Seine ihm noch zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel betrugen exakt achtundsiebzig Cent.
»Und wie du wieder aussiehst!«, nörgelte Sarah Wanker. Angewidert verzog sie das Gesicht und musterte ihren Sohn von oben bis unten. »Konntest du meinen Gästen diesen Anblick nicht ersparen? Treibst dich nachts in zwielichtigen Bars rum, prügelst dich und machst deiner Mutter eine peinliche Szene!«
Gemurmel und Kopfnicken des Kleeblattes. Der Grauhaarige sagte nichts, grinste nur weiter.
»Szene? Was für eine Szene, verdammt noch mal?«, versuchte Henrik sich mit einem Gemisch aus Empörung und Fassungslosigkeit zu verteidigen. »Ich habe doch noch keinen Ton gesagt? Und woher weißt du überhaupt, was in der Nacht vor dem Molocco passiert ist?«
Sarah Wanker schnaufte verächtlich und zündete sich eine Zigarette an. »Zwei Polizisten haben mich informiert. Bauer und Wegner hießen sie, glaube ich.« Betont zielgerichtet stieß sie den Rauch aus und verharrte in einer affektierten Pose.
»Wagner!«, korrigierte Henrik prompt.
»Wie?« Sarah Wanker runzelte unwillig die Stirn und fixierte den Sohn angriffslustig.
»Wagner! So heißt dieser nach Zwiebeln stinkende Schmalspurderrick!«, knurrte Henrik. »Man hat dich also darüber informiert, wie übel ich zugerichtet wurde, aber du hast es nicht für nötig befunden hast, mich im Krankenhaus zu besuchen.«
Nicht, dass er seine Mutter am Krankenbett vermisst hätte, aber die anderen sollten wissen, wie es um ihre Fürsorge wirklich stand.
»Nun übertreib mal nicht so, mein Lieber.« Die stimmliche Tonlage seiner Mutter stieg. Sie lief allmählich zur Hochform auf. »Die netten Polizisten haben mich wohl darüber informiert, dass die paar Schrammen dich nicht umbringen werden. Und außerdem …« sie machte eine Kunstpause, in der sie dem Kleeblatt triumphierend zuzwinkerte, »und außerdem hast du diese Abreibung verdient, wenn du wirklich versucht haben solltest, einen kleinen Jungen zu belästigen.«
Augenblicklich wich die Farbe aus Henriks Gesicht und die Blutergüsse wurden besonders deutlich. Er stand sprachlos und wie vom Donner gerührt.
Frau Stadler entfuhr ein kurzer Aufschrei, dann hielt sie sich ungläubig die Hand vor den Mund.
Frau Nordmann fixierte ihn mit einem Grinsen, das so dreckig war, dass Henrik das Gefühl bekam, sich schleunigst das Gesicht waschen zu müssen.
Mai-Lin Kim zischte Frau von Werdersmark etwas ins Ohr. Henrik glaubte das Wort »Hinterlader« vernommen zu haben.
Der Grauhaarige erhob sich mit einem Auflachen und hielt der Mutter einen Aschenbecher hin, in den sie mit einer Geste, als habe sie soeben einen Gegner erfolgreich zur Strecke gebracht, die Zigarettenasche abklopfte. Dann legte er den Arm um ihre Schulter und beide starrten ihn an wie Präparatoren, die einen Schmetterling aufgespießt hatten.
»Es war kein kleiner Junge, sondern nur Tobi!«, schrie Henrik. Doch noch während dieses Aufschreis begriff er: Das war die falsche Antwort auf die Anschuldigung.
»Er gibt es auch noch zu, das Schwein!«, keifte Frau Nordmann.
»An eine richtige Frau traut sich der Schlappschwanz nicht ran«, höhnte Frau Stadler, schlürfte ordinär eine Auster und drehte den Glibber mit einer obszönen Zungenbewegung im Mund herum.
Mai-Lin kicherte hysterisch und klatschte in die Hände, begeistert über die zweideutige Vorführung.
»Ich … ich … ich meine …«, stotterte Henrik hilflos und rang um Fassung. »Ich meinte, ich habe niemanden belästigt und diesen Schwachkopf Tobi schon gar nicht.«
Niemand hörte ihm zu. Das Kleeblatt redete wild durcheinander und versuchte sich darin zu übertreffen, seine Abscheu Henrik gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
Die Mutter und der Grauhaarige schauten sich nur bedeutungsvoll an und sagten kein Wort.
Schließlich erhob sich Frau von Werdersmark und wandte sich an Sarah Wanker. »Schätzchen, ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«
Zustimmendes Gemurmel vonseiten der übrigen Damen.
»Das weitere Gespräch ist wohl eher eine Familienangelegenheit. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, dass du mich jederzeit anrufen kannst, Schnuck.« Betty küsste die Freundin flüchtig auf den Mund und tätschelte ihr mit der manikürten, solitärgeschmückten Hand die Wange.
›Schnuck?‹, dachte Henrik erstaunt, vergaß aber den Kosenamen seiner Mutter in Anbetracht der äußerst peinlichen Gesamtsituation schnell wieder.
Die anderen verabschiedeten sich ebenfalls.
Mai-Lin Kim schob sich an Henrik vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Nachdem sie Sarah Wanker und den Grauhaarigen umarmt hatte, meinte sie: »Wenn es Probleme gibt, kann ich euch die Adresse eines guten Anwalts geben – oder eines Therapeuten«, ergänzte sie, nun mit einem angewiderten Seitenblick auf Henrik.
»Eines Körpertherapeuten vielleicht?«, giftete Henrik anzüglich. »Ich kenne da auch eine gewisse Adresse in der Maxstraße.«
Doch die Frauen reagierten nicht auf Henriks Anspielung. Sie schoben sich plappernd in Richtung Haustür. Sarah Wanker begleitete sie, immer wieder für die peinliche Situation um Entschuldigung bittend, in der sie ihr nichtsnutziger Sohn gebracht habe. Frau Stadler versicherte für alle, dass sie als Mutter ja keine Schuld trage. Wahrscheinlich stamme diese »Veranlagung« vom Vater. Dann schloss sich die Tür hinter dem Kleeblatt und es herrschte Stille.
Henrik stopfte sich gierig Putenbrust in den Mund und versuchte, so vorsichtig wie möglich zu kauen. Doch der Schmerz bewog ihn schnell, das Stück lieber komplett hinunterzuschlingen.
Sarah Wanker kehrte wortlos ins Wohnzimmer zurück und zündete sich die nächste Zigarette an. Als sie den Sohn am Büfett schlingen sah, schüttelte sie angewidert den Kopf.
Der Grauhaarige stand immer noch mit verschränkten Armen an der gleichen Stelle und grinste belustigt.
»Wer ist dieser Ladykiller überhaupt?«, fragte Henrik mit einer Kopfbewegung in Richtung des Mannes, leckte sich die fettigen Finger ab und pulte sich mit dem Zahnstocher ein Stück Pute aus den Zähnen.
»Das ist Herr Müller, ein alter Freund und Geschäftspartner«, antwortete seine Mutter, trat neben den Grauhaarigen und hakte sich demonstrativ bei ihm unter.
Henrik nickte. Ja, so konnte man das auch nennen. Mühsam schob er sich ein Löffelchen Kaviar zwischen die Zähne. »Alt isch schon richschisch«, nuschelte er und schluckte das Zeug hinunter. »Gab’s den bei der Frühjahrstombola im Altenheim als Trostpreis?« Es gluckste belustigt über seinen Witz. Die Zahnlücke im Oberkiefer kam zum Vorschein, während die übrigen Frontzähne mit Kaviarkörnern bedeckt waren.
Die Augen des Grauhaarigen verengten sich zu Schlitzen. Hasserfüllt starrte er Henrik an. Die aufgesetzte Fröhlichkeit war plötzlich wie weggewischt.
Das reizte Henrik noch mehr zum Lachen, er verschluckte sich, würgte und hustete einen Teil des Kaviars aufs Büffet. »Sorry«, murmelte er mit hochrotem Kopf, goss sich schnell aus einer Karaffe ein Glas Wasser ein und trank, trotz Schmerzen, in möglichst großen Schlucken. »Ah …«, seufzte er dann erleichtert und wischte sich mit der Hand den Mund ab. »Jetzt geht’s mir gleich besser.«
Seine Mutter begann zu schluchzen und schmiegte ihr Gesicht an Herrn Müllers Schulter. »Wie konnte er … schluchz … mich nur so … schluchz … vor meinen Freundinnen … schluchz, schluchz … blamieren?«, jammerte sie.
Der Grauhaarige strich ihr tröstend übers Haar.
»Wer hat hier wen blamiert?« Henrik war stinksauer über das Schmierentheater, das seine Mutter aufführte. »Wer hat diesen vier Schlampen denn weisgemacht, dass der Sohn angeblich ein Perverser ist?«
»Angeblich?«, meldete sich Herr Müller ironisch.
»Ach, er kann sprechen?« Henrik tat, als sei er von dieser Tatsache überwältigt. »Ich dachte schon, dass man Häuptling ›Grauer Star‹ aus 'nem Stummfilm gecuttet hätte. Wirklich faszinierend!« Er nickte anerkennend. »Doch mal davon abgesehen frage ich mich: Was mischt sich dieser Kerl in unsere Angelegenheiten ein?«
Sarah Wanker vergaß das Schluchzen. »Herr Müller genießt mein vollstes Vertrauen.« Sie blickte mit einem zärtlichen Augenaufschlag zu dem Grauhaarigen auf und spitzte dabei den Mund. »In allen Dingen«, ergänzte sie schelmisch.
Henrik wurde beinahe übel von diesem Getue.
»Du solltest etwas rücksichtsvoller mit deiner Mutter umgehen, mein junger Freund«, sprach Müller in lehrerhaftem Ton und strich der nun wieder Tiefbetrübten erneut übers Haar.
Henrik bekam eine Gänsehaut.
»Ich kenne Sarah jetzt schon mehr als zwanzig Jahre und uns verbinden viele gemeinsame geschäftliche, aber auch persönliche Aktivitäten.« Diesmal folgte der Augenaufschlag von der Seite des Grauhaarigen, ehe er hinzusetzte: »Und ich weiß, wie sensibel und zerbrechlich meine Rose ist.«
Dann fixierte er Henrik böse. Sein linker Mundwinkel begann nervös zu zucken. Seine Lippen wurden schmal und es klang bedrohlich, als er sagte: »Ich werde nicht zulassen, dass ein Taugenichts von Sohn Sarah das Leben zur Hölle macht.«
Die Mutter gab die Schauspielerei nun endgültig auf. »Konrad ist mein Lebensgefährte. Gewöhn dich gefälligst daran!«, zischte sie.
Die beiden starrten Henrik herausfordernd an.
»Na, meinen Segen habt ihr!« Henrik winkte gelassen ab. »Ich steh’ eurem Glück sicher nicht im Weg, ihr Turteltäubchen.« Er wandte sich an seine Mutter. »Aber dann nerv’ mich auch nicht ständig mit deinen Anrufen. Hör endlich auf, Interesse für mein Leben zu heucheln.«
Schon seit geraumer Zeit hatte Henrik das vage Gefühl, dass die Mutter ihn lediglich anrief, um ihn zu kontrollieren, beinahe so, als überwache ein Privatdetektiv den des Ehebruchs verdächtigen Mann einer Klientin. Warum begnügte die Alte sich nicht mit ihrem Stecher? Doch bevor er weiter gedanklich abschweifte – er musste endlich zum eigentlichen Anliegen seines Besuches kommen.
»Ich will euch ja nicht länger stören, denn auch meine Zeit ist knapp.« Henrik unternahm den kläglichen Versuch eines Zwinkerns seines in allen Regenbogenfarben leuchtenden, geschwollenen linken Auges. »Ihr wisst schon … Termin mit meinem Broker. Heute entscheidet sich, ob ich in Badeprodukte oder Rinderhälften investiere.«
»Rinderhälften?«, echote der Grauhaarige verblüfft.
Sarah Wanker blieb unbeeindruckt. »Was willst du von mir, du Clown?«, skandierte sie ungeduldig und streute dabei die Asche ihrer Zigarette auf den Teppich.
Müller ging eilfertig in die Knie und versuchte, das graue Würstchen mit der befeuchteten Fingerspitze seiner Rechten in die linke Handfläche zu befördern.
Henrik verfolgte die Aktion verächtlich grinsend. Doch dann konzentrierte er sich auf die Mutter. »Nun, du weißt doch von meinem Studium an der Fern-Uni Motherwell. Ich brauch’ nur noch vier Semester, dann habe ich meinen Abschluss. Aber die Studiengebühren sind teuer, und ich wollte dich eigentlich nicht mit den Kosten belasten.«
Das Gesicht der Mutter zeigte keine Regung.
»Fern-Uni?« Wieder das Echo von Konrad Müller, der nun ratlos mit der aufgelesenen Asche in der Gegend herumstand.
»Glaub diesem Schwätzer kein Wort, Konrad. Der lügt, dass einem Leprakranken eine neue Nase wächst«, knurrte Sarah Wanker. »Ich weiß von keinem Fernstudium.«
Ihre Nasenflügel bebten leicht. Ein untrügliches Zeichen, dass sie dabei war, die Geduld zu verlieren. Schon als kleiner Junge wusste Henrik, dass es dann Zeit war, das Weite zu suchen, weil es sonst unweigerlich Prügel setzte.
»Aber, Mutti …« Henrik zögerte. Wie lange hatte er dieses Wort nicht mehr gebraucht? Denn mehr als ein Wort war es nicht. »Aber, Mutti«, wiederholte er, »wahrscheinlich hast du vergessen, dass ich dir vor zwei Jahren von meinem Entschluss erzählt habe, Kernphysik zu studieren. Du hast ja so viel um die Ohren – deine Geschäfte und deine Reisen. Jedenfalls musste ich die Semestergebühren bezahlen und dabei habe ich nicht bedacht, dass auch die Miete fällig ist.«
»Kernphysik?«
Langsam ging es Henrik auf die Nerven, dass der Grauhaarige sich als Echo betätigte.
»Jawohl, Kernphysik, du Pinsel!« fauchte Henrik, sodass ihm der Speichel von den Lippen flog. »Und zwar in Motherwell, das ist in Irland, damit du’s weißt und in deinem Seniorenstift in der Bastelstunde was zu erzählen hast!«
Der Lover seiner Mutter bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, der Henrik nachdenklich gestimmt hätte, wäre er nicht damit beschäftigt gewesen, einen klemmenden Geldhahn zu öffnen.
»Wie viel?« Seine Mutter blieb kalt wie Schweineöhrchen im Kühlhaus.
»Siebenhundert Euro«, antwortete Henrik ebenso knapp. Er schluckte. Jetzt kam der Augenblick der Wahrheit …
»Keine Chance, mein Lieber!« Sarah Wanker drückte die Kippe mit einer heftigen Bewegung im Aschenbecher aus, vielmehr, sie zerquetschte sie regelrecht. »Du musst lernen, mit deinem Geld besser zu haushalten. Das sage ich dir schon seit Jahren. Ich habe auch meine finanziellen Verpflichtungen und darum nichts zu verschenken.«
»Welche Verpflichtungen?«, entließ Henrik aufgebracht. »Soviel ich weiß, lebst du sehr gut von Vaters Rente und in Vaters Haus. Anstatt jede Woche Geld für den Caterer auszugeben, um diese widerlichen Schlangen zu füttern, könntest du deinem Sohn ermöglichen, dass er nicht nächsten Monat unter der Brücke schlafen muss.«
Die Enttäuschung hinderte ihn nicht daran, sich eine Schüssel Kürbiscremesuppe zurechtzumachen und kleine Stückchen vom Baguettebrot einzutauchen, die er nun genüsslich am Gaumen zerdrückte.
»Du kriegst keinen Cent mehr von mir«, ereiferte sich die Mutter weiter. »Gib das Geld vernünftig und nicht fürs Saufen, für Drogen oder …«, ihr Mund ähnelte einem zähnefletschendem Bullterrier, als sie hervorstieß: »… für Stricher aus!«
Henrik hätte um ein Haar die Suppenschüssel fallen lassen, als seine Mutter diese Worte förmlich ausspie.
»Wie kannst du so was zu mir sagen?« Verdammt! Zu allem Unheil hatte er sich jetzt auch noch die Zunge verbrannt. Das tat beim Sprechen weh. Aber egal! Die Schlacht musste er gewinnen! »Tobi ist ein Trottel, ja! Aber kein Stricher. Und was hat das überhaupt mit unserem Problem zu tun?«
»Deinem Problem, mein Lieber, nicht unser Problem!« Sarah Wanker trat bedrohlich nahe an den Sohn heran und tippte mit dem rot lackierten Nagel ihres Zeigefingers gegen seine Brust. »Außerdem habe ich eine Alternative zu der Lösung, unter einer Brücke zu schlafen.«
»Welche?«, flüsterte Henrik und wagte die Suppenschüssel nicht aufs Büfett zu stellen. Er ahnte, dass nun die überraschende Wendung kam. Ob es sich um eine angenehme handelte, stand auf einem anderen Blatt.
»Du ziehst in meine Dachkammer ein.«
Henrik stand vor Staunen der Mund offen. Die Beiläufigkeit, mit der seine Mutter ihm den Vorschlag eröffnete, verblüffte ihn am meisten. »Vor ein paar Jahren konntest du mich nicht schnell genug loswerden und hast mir das Appartement gemietet. Und jetzt – wegen lumpiger 700 Euro – schlägst du vor, dass ich wieder zurückkommen soll?«
Da stimmte etwas nicht und stank ganz gewaltig. Doch was?
»Ich sage nicht, dass du zurückkommen sollst, mein Sohn«, schnappte Sarah Wanker zurück. »Durch dein Verhalten zeigst du aber, dass du nicht in der Lage bist, dein eigenes Leben zu gestalten. Du wurdest wegen Drogenbesitzes festgenommen, du treibst dich in zwielichtigen Etablissements herum, du wirst in Schlägereien verwickelt und, um allem die Krone aufzusetzen, wirst du auch verdächtigt, ein Sittlichkeitsverbrecher zu sein! Was soll ich noch aufzählen?« Den letzten Satz schrie Sarah Wanker fast heraus.
Henrik stand mit hängenden Schultern ratlos da. Ihm fiel kein Argument für seine Ehrenrettung ein, keine freche Pointe, keine verletzende Bemerkung, nicht mal eine billige Lüge. Die Schlacht war verloren. Plötzlich herrschte Stille im Raum.
Konrad Müller, der wie ein graues Gespenst im Hintergrund gelauert hatte, räusperte sich jetzt vernehmlich. Das süffisante Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht, als er sagte: »Übrigens, mein Junge … Motherwell liegt in Schottland, nicht in Irland.«
Henrik ließ die Suppenschüssel auf den Boden fallen, drehte sich um und verließ, so schnell es ihm möglich war, das Haus, nicht ohne die Türe wutschnaubend hinter sich zuzuknallen.