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Einleitung

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Der vielleicht angesehenste Kommentar zum deutschen Grundgesetz (MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ) erscheint seit 1958 als Loseblattsammlung. Obwohl dieses Konzept eine sehr zeitnahe Aktualisierung erlaubt, blieb die Kommentierung des Artikels 1 GG, welcher die Menschenwürde behandelt, fast ein halbes Jahrhundert lang unverändert. Erst im Jahre 2003 erschien eine grundlegende Neukommentierung, die schon 18 Monate später wieder überarbeitet und aktualisiert worden ist. Während über 50 Jahre das Thema „Menschenwürde“ allenfalls einen kleinen Kreis von Spezialisten interessierte, stießen diese beiden Neukommentierungen auf ein bemerkenswertes Medienecho. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung machte sogar in einem Kasten auf der ersten Seite darauf aufmerksam und ließ die Kommentierung in umfangreichen Artikeln von Fachleuten eingehend kritisch würdigen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Menschenwürde in der öffentlichen Wahrnehmung tatsächlich heute eine andere Rolle spielt als dies früher der Fall war. In den ersten vier Jahrzehnten der Bundesrepublik verstand man das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde als eine Absage an die Strukturen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Die geistige Situation der Zeit war von Leuten geprägt, die das Terrorregime der Nazis selbst erlebt und darunter gelitten hatten. Sie wussten nur allzu gut, wogegen und wofür die Idee der Menschenwürde stand. Auf eine sprachanalytisch und juristisch präzise Inhaltsbestimmung waren sie nicht angewiesen.

Seit den späten 80er Jahren hat sich diese Situation geändert. Zunächst waren es die atemberaubenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Bio- und Gentechnologie, die eine kritische Diskussion herausforderten, für die der Begriff der Menschenwürde zentrale Bedeutung hatte und weiterhin hat. In jüngerer Zeit sind insbesondere angesichts des politischen Terrors andere Fragen aufgetaucht, für die die Generation der Davongekommenen des Zweiten Weltkriegs kaum Verständnis gehabt hätte, nämlich ob und unter welchen Umständen es erlaubt oder gar geboten ist, Menschen zu foltern oder Unschuldige zu opfern, wenn anders ein terroristischer Anschlag nicht vereitelt werden kann. Auch in diesem Zusammenhang spielt das Argument der Menschenwürde eine prominente Rolle. Obwohl es heute kaum jemanden gibt, der die Idee der Menschenwürde ablehnt oder für unsinnig hält, hat die Berufung auf sie bisher zu keiner Lösung der genannten Probleme geführt, die allgemein akzeptiert wird. Unversöhnlich stehen sich vielmehr konträre Ansichten gegenüber und nicht selten berufen sich beide Seiten auf die Idee der Menschenwürde. Offenbar versteht dabei jeder etwas anderes unter diesem Begriff. Will man nicht weiterhin aneinander vorbeireden, stellt sich deshalb zwingend die Frage, was Menschenwürde eigentlich ist. Wir müssen zu einem gemeinsamen Verständnis dieses Begriffs kommen, wenn er uns bei der Lösung der dringenden Fragen der Gegenwart von Nutzen sein soll.

Das Bedürfnis nach einem hinreichend explizierten Begriff der Menschenwürde stellt sich weiterhin im Zusammenhang des globalen Diskurses über die Menschenrechte. Unabhängig von dem jeweiligen Kulturkreis sind heute die meisten Staaten der Erde miteinander durch völkerrechtliche Verträge verbunden, die den Schutz der Menschenrechte zum Ziel haben. Doch die Vertragspartner stimmen in der Interpretation dessen, was den Inhalt der Menschenrechte ausmacht, keineswegs überein. Es wird die These vertreten, dass die Menschenrechte einen je nach dem Kulturkreis unterschiedlichen Inhalt haben. Andere behaupten, es handele sich um ein spezifisch abendländisches Gedankengut, das in anderen Kulturen kaum nachvollzogen werden kann, so dass sich der Versuch der Implementierung der Menschenrechte in diesen Kulturkreisen als eine Art Kulturimperialismus darstellt. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen in dem Gedanken übereinstimmten, dass die Menschenwürde die Quelle der Menschenrechte ist. Ob es ein einheitliches universelles Verständnis der Menschenrechte geben kann, hängt also wesentlich von der Frage ab, ob es ein universales kulturunabhängiges Verständnis von Menschenwürde geben kann. Davon hängt es ab, ob der globale Diskurs über Menschenrechte und die menschenrechtliche Kritik anderer Staaten und Regierungen überhaupt eine sinnvolle Basis hat.

Dieses Buch will dazu beitragen, einen Begriff der Menschenwürde zu entwickeln, der geeignet ist, in all diesen Problemfeldern mehr Klarheit und Orientierung zu schaffen, so dass eine bessere Verständigung möglich wird. Damit wird zugleich jenem Sprachgebrauch eine Absage erteilt, für den die Menschenwürde nur eine rhetorische Floskel ist, die keinen bestimmbaren Inhalt hat und daher für nahezu beliebige Inhalte benutzt werden kann. Es wird zu zeigen sein, dass sich hinter dem Begriff der Menschenwürde eine fundamentale Wertvorstellung verbirgt, die es gebietet, das Wort ernst zu nehmen.

Was ist Menschenwürde

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