Читать книгу Der fahle Ritter - Paul Tobias Dahlmann - Страница 6
In lichten Auen
ОглавлениеGute zwei Tage hatte Sejarl und Ihlsteg der Abstieg von den Bergen gekostet. Immer wieder hatten sie nach jenem Weg Ausschau gehalten, den sie nach dem Kampf auf der Passhöhe verloren hatten. Sie hatten ihn jedoch nicht wieder gefunden. Auf der anderen Seite waren aber auch die haarigen Bergmenschen seit dieser Zeit nicht wieder aufgetaucht. Also waren sie zufrieden mit den Dingen.
Ihren Abstieg hatten sie fortgesetzt, indem sie sich ihren Weg durch Bachbetten, sowie über Seitengrate und Wildpfade gesucht hatten. Die grüne Waldlandschaft hatte sich dabei zunächst nicht groß von jener auf der anderen Seite der Berge unterschieden. Gelegentlich hatte es Engpässe gegeben, Dickichte, durch die sie sich einen Weg hatten hauen müssen, steile Abhänge, die sie weiträumig hatten umgehen müssen, und kleine Schluchten, die sie nur sehr mühselig hatten überwinden können. Mit der Zeit jedoch flachte das Bergland ab, und die Hänge wurden besser passierbar.
Oftmals wunderten sich die Ritter, denn das Gelände begann, lichter und offener zu werden, ohne, dass es einen erkennbaren Grund dafür gegeben hätte. Der Boden war fruchtbar, bewässert durch zahlreiche, kleine Bäche, und die Sonne schien freundlich und mild auf das Land herab. Dennoch gedieh hier kein wild wuchernder Urwald, wie man ihn in den Ordenslanden unter solchen Bedingungen hätte erwarten können. Die Bäume standen recht weit auseinander. Immer zahlreicher wurden die Lichtungen, auf denen das satte Grün kniehoch wuchs, und an deren Rändern sich so mancher beerentragende Busch finden ließ.
Das Vorankommen wurde den Pferden immer leichter. Bald drängte sich Sejarl der Eindruck auf, er befände sich auf einem Spazierritt hin zu einem Festplatz, und nicht auf einer Abenteuerfahrt in der Fremde. Das Gelände fiel weiterhin sanft ab. Hierdurch in frohe Stimmung versetzt, erreichten die Ritter schließlich am Morgen des dritten Tages den ersten der breiteren Flussläufe, die sie vom Berghang aus gesehen hatten.
Ein sanft vor sich hinplätschernder Arm war es. Sein Wasser sprang über steinerne Schnellen hinweg, und sein durch das glasklare Nass an vielen Stellen hindurch schimmernder Grund war kaum tief zu nennen. Die Ritter mussten nicht lange suchen, bis sie eine Furt gefunden hatten. Nach allen Seiten sprühten wässerne Perlen, während die schweren Stahlrösser schnell und unbehindert zum anderen Ufer gelangten.
Als sie dieses hinauf ritten, fanden sich die Reisenden in einem sonnendurchfluteten Auwald wieder. Sein ganzer Boden war ein einziger Teppich aus Blauen Mittagsblüten. Diese Blumenart, die man in ihrer Heimat nur selten einmal, und wurde in den berühmtesten Gärten sorgsam gehütet. Niemals wuchsen sie dort wild an freien Flüssen. Durch diesen Hain ritten sie langsamer. An seinem Ende fanden sie einen weiteren Flussarm vor, den es zu durchqueren galt.
Als sie über ihn hinwegblickten, sahen sie auf der anderen Seite etwas, dass sie beide unwillkürlich zusammenzucken ließ. Ein Schauer der tiefsten Verwunderung lief ihnen über den Rücken. Was sie sahen, war ein Baum, groß und hoch gewachsen. Er überragte alle anderen Bäume um ihn herum um das Doppelte. Trotzdem war er schlank und zart von Jugend. Die Blätter an diesem Baum zeigten alle Stadien, die sie im Laufe eines ganzen Jahres hätten annehmen sollen, in einem Moment gleichzeitig. So kam es, dass neben erblühendem, frischem Grün und anderen Blättern in der vollen Fülle des Sommers auch rostrote und orangene an den Zweigen hingen. Das merkwürdigste aber war, dass sich von diesem Herbstlaub auch andauernd ein kleiner Teil abfiel. Deshalb wehte von den Ästen des Baumes ein hauchfeiner, nebelgleicher Regen kleiner und kleinster Blätter und Blättchen nieder. In demselben hatte sich ein Regenbogen gebildet.
Grimmig nickte Sejarl vor sich hin. Dann wandte er sich an seinen Ordensbruder: „Dir ist klar, wo wir hier sind?“
„Natürlich. Das hier ist ein Trollwald.“ Auch Ihlsteg hatte die Erkenntnis verunsichert. Dennoch beeilte er sich, hinzuzufügen: „Dann stellt sich jetzt die Frage, ob die Trolle uns gut oder schlecht gesonnen sind.“
„Auf jeden Fall dürfen wir uns nicht von dem schönen Schein trügen lassen“, sagte Sejarl. Von Kindesbeinen an hatte man ihn davor gewarnt, dass Trolle untereinander keine Unterschiede zwischen Gut und Böse machten, oder zwischen Klug und Dumm. Verschiedenartigste Wesen lebten bei ihnen an einem Ort zusammen. Was für einem Wesen sie hier zuerst begegnen mochten, war reine Glückssache.
Von nun an ritten Sejarl und Ihlsteg vorsichtig und voller Misstrauen weiter, ständig die Seiten ihres Weges im Auge behaltend. Auch der zweite Flussarm war schnell durchritten und der Wald dahinter erstreckte sich ein gutes Stück weit geradeaus. Die Landschaft veränderte sich nicht wesentlich. Von bezaubernder Schönheit umgeben bemühten sich die Ritter, auf den von ihnen gefürchteten Zufall einer Begegnung vorbereitet zu sein. Dass der Augenschein trügen konnte, hatte man ihnen gründlich eingeschärft. Wo sich die einfachen Freuden der Natur in ihrer ganzen Pracht entfalteten, witterten sie hinter diesen eine Falle.
So kamen sie gegen Mittag an den dritten Fluss, und dieser war um einiges breiter und tiefer als die beiden Läufe zuvor. Die Ordensmänner ritten an seinem Ufer auf und ab und fanden keinen Übergang. Die Sonne schien wohlig wärmend auf sie nieder und lud sie ein, sich im Gras zu einem Nickerchen niederzulassen. Gerade das verunsicherte sie weiter und brachte sie dazu, leicht schwitzend und nervös beisammen zu stehen und darüber zu beraten, was zu tun sei. Angestrengt dachten sie nach, kamen jedoch zu keinem Ergebnis, denn ihre Pferde waren zu schwer, um zu schwimmen, und mussten atmen, um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen.
Als sie so eine Zeitlang sich beratend, doch ratlos, dagestanden hatten, hörten sie hinter einem dicken, alten Baumstamm ein Kichern erklingen. Es war hell, offen und in keiner Weise unterdrückt.
Hastig und irritiert zogen beide ihre Schwerter blank, worauf sich das Kichern noch verstärkte. Es ging in ein hohes, nach Atem ringendes Lachen über. Überrascht erstarrten die Ritter und sahen sich fragend an.
Kurz darauf erstarb das Lachen in einem unterdrückten Glucksen. Dann folgte ein Rascheln, und hinter dem Baumstamm trat eine weibliche Gestalt hervor, die sich von ihrer Umgebung erst durch eben diese Bewegung abhob.
Ein Trollmädchen!, durchfuhr es Sejarl. Zur Hälfte beruhigt ließ er seine Klinge sinken. Von diesem Geschöpf drohte ihnen kaum eine Gefahr.
Dann betrachtete er sie etwas näher und eingehender. Ihre Größe und Gestalt waren die einer normalen, jungen Menschenfrau. Nur ihr Knochenbau war überaus stark ausgeprägt und ihr Gesicht und ihre Glieder, ja ihr ganzer Körper wirkten knubbelig. Ihrem breiten, von Sommersprossen gekrönten, Grinsen und ihrer kokett-schlaksigen Haltung tat das keinen Abbruch. Ihr hüftlanges Haupthaar wellte sich gleichzeitig in verschiedenen Brauntönen. Ihr ganzer, in tiefem Gold schimmernder Körper war mit einem hauchzarten Flaum bedeckt, über den Licht und Wind in Kaskaden hinwegspielten, wenn man sich darauf konzentrierte. Gekleidet war sie in einen knielangen Rock und eine Weste aus lose miteinander vernähten, weichen Rindenstücken, die mehr Einblicke zuließen, als sie verdeckten. Alles in Allem ergab sich für Sejarl das Bild eines ziemlich hübschen, kecken jungen Mädchens, das wohl auch in so mancher Menschensiedlung die meisten Frauen hätte ausstechen können.
Die Trollin trat in hüpfendem Gang näher.
„Na, ihr seid mir ja zwei Vögel“, meinte sie gut gelaunt. „Erst schafft ihr es nicht, über ein einfaches, kleines Flüsschen ´rüberzukommen, und dann greift ihr zu den Waffen, sobald ein unbewaffnetes, junges Mädchen auftaucht.“
„Kannst du uns denn garantieren, dass uns keine Gefahr droht?“, fragte Sejarl geistesgegenwärtig.
„Natürlich. Solange ihr euch ruhig verhaltet, werden meine Leute sich auch ruhig verhalten.“
Erleichtert steckten auf diese Worte hin die Krieger ihre Schwerter wieder zurück. Zwar galten Trolle als unberechenbar, doch in einem Punkt waren sich jedwede Menschen, die ihnen je begegnet waren, vollkommen einig: Dass nämlich den Trollen die Lüge gänzlich fremd war und ihr Wort stets feststand.
„Wer bist du?“, fragte Ihlsteg, der, nachdem auch er sich beruhigt hatte, nun in einen Gesprächston verfiel.
„Wer, ich? Oh. Ich bin Leihani. Ich wohne in den weiten Baumkreisen einen Tag nach Norden zu.“
„Angenehm. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Wir sind Ritter aus den Landen des Ordens Fradewis hinter den Bergen. Ich heiße Ihlsteg und dies hier ist mein Freund Sejarl.“
Beide Ritter verneigten sich leicht zur Begrüßung.
„Und? Was macht ihr hier?“, fuhr das Mädchen unbekümmert fort, indem sie auf ihren Füßen auf- und abwippte.
„Wir befinden uns auf der Durchreise. Wir wollen nach Osten in das Königreich Kom. Dort hoffen wir auf Hilfe bei unserer Suche nach den Zielen, die wir uns für unsere Leben gesetzt haben.“
„Aha. Was für Ziele sind denn das?“
Sejarl schmunzelte in sich hinein. Sie erscheint naiv wie ein Kind, und sprühend vor Liebenswürdigkeit. Sind so jene Trolle aus unseren Legenden wirklich, wenn sie dort stets nur entweder hehr und edel, oder aber monströs und gewalttätig daherkommen?
Ihlsteg beantwortete unterdessen die Frage: „Mein Ziel ist es, das wahre Glück im Leben zu finden, und das meines Bruders ist es, den Sinn des Seins zu ergründen.“
„Da scheint mir dein Ziel aber um einiges sinnvoller. Wer sollte denn schon etwas über den Sinn des Seins wissen?“, lachte Leihani. Sie zwinkerte Ihlsteg dabei zu.
Sejarl räusperte sich verlegen.
„Schon gut, du. Das war nicht böse gemeint“, zwitscherte das Mädchen weiter.
Einen Moment lang blickte Leihani zwischen den beiden Männern hin und her. Dann sagte sie: „Sagt mal, wie ist das denn jetzt? Soll ich euch einen Weg über den Fluss zeigen oder nicht?“
Überrascht nickten die beiden Angesprochenen. Sie ließen sich von dem Trollmädchen ein Stück weiter den Strom hinauf führen.
Dort befand sich eine Stelle, an welcher eine kleine Stufe im Gelände den Lauf des Wassers hemmte. Eine Reihe von Findlingen ragten hier und da hervor. Zwischen die einzelnen Brocken waren Baumstämme geschwemmt worden, die solcherart eine treibende und schwankende Brücke bildeten.
„Wie, bei aller Zeit, sollen wir da denn unsere Pferde hinüberführen können?“, fragte Sejarl. „Da ist ja an einigen Stellen nur ein einzelner, glitschiger Stamm, um darüber zu balancieren.“ Nach dem, was er sah, wäre es selbst für einen leichten Menschen ein Kunststück von großem akrobatischen Können gewesen, den Überweg vor ihnen zu gehen. Für ihre Stahlrösser, deren Hufe schon im Kies der Böschung gänzlich versanken, erschien er ihm nicht gangbarer als die Wasseroberfläche daneben.
Leihani schenkte ihm einen langen, verständnisvollen Blick. Dann sprang sie auf die Stämme und lief über sie hin, als ginge sie auf der breitesten aller Pflasterstraßen. In der Mitte des Stromes drehte sie sich um und winkte den Zurückgebliebenen zu.
„Nun kommt schon!“, rief sie.
„Aber unsere Pferde...“, setzte Sejarl an.
Ihlsteg unterdessen nahm allen Mut zusammen. Er setzte einen Fuß auf das unsicher schwankende Gebilde aus Ästen, Stämmen und Felsen. Schritt für Schritt tastete er sich voran, gewann dabei zusehends an Sicherheit, und stand schließlich einige Mannslängen weit draußen auf den Wellen. In aller Gemütsruhe winkte er Sejarl.
„Es geht irgendwie. Probier es aus!“, schloss er seinen Ruf dem des Mädchens an.
Sejarl verschränkte die Arme und starrte ihn an. Einen weiteren Hinweis auf die Pferde wollte er sich ersparen.
„Jetzt hol schon endlich dein vermaledeites Pferd!“, versetzte Leihani, „Du wirst sehen, es kommt mit dir.“
Ihlsteg schaute daraufhin auf, ging zu seinem Tier zurück, und führte es vorsichtig auf das Treibgut hinauf. Dieses trug die schwere Last, ohne dabei auch nur im Geringsten einzusinken. Der Ritter führte das Ross am Zügel weiter und weiter, und die breiten, harten Hufe fanden sicheren Platz und Halt. Selbst auf einzelnen, dünnen Stämmen rutschte das Pferd weder aus, noch scheute es.
„Solange ich bei euch bin, wird nichts passieren“, ergänzte die Trollin.
Nun erst folgte auch Sejarl. Schnell musste er feststellen, dass er den Worten ihrer Führerin ebenso gut gleich hätte folgen können. Nicht, dass wirklich mehr Platz für ihn und sein Ross dagewesen wäre. Vielmehr verhielt es sich so, dass das, was da war, ihm in jeder Hinsicht sicherer und besser erschien, ohne dass dieser Schein die Augen getrogen hätte. So konnte Sejarl nicht sagen, ob er vom Ufer aus einem Trugbild aufgesessen war, oder ob sich hier tatsächlich auf magischem Wege etwas verändert hatte, als sie die Brücke betreten hatten.
In jedem Falle gelangte er, hinter seinem Ordensbruder, sicher am neuen Ufer an.
Erleichtert setzte er mit einem langen Schritt vom letzten, angespülten Wurzelstrunk herab aufs Land und warf dem Mädchen ein anerkennendes Lächeln zu. Eigentlich ist das eine ziemlich hübsche, junge Frau, dachte er sich und überlegte einen kurzen Moment, ob er ihr schöne Augen machen sollte.
Noch fast im selben Augenblick jedoch ließ er alle in solchen Gedanken gleich wieder fallen. Als sein Blick zur Seite huschte, war der Ausdruck im Blick seines Freundes Ihlsteg mehr als eindeutig. Wann immer dieser nämlich von nun an in Richtung des Mädchens schaute, dauerte dieses Schauen nur allzu lange und ein tiefes, gedankenverlorenes Lächeln lag auf seinen Zügen.
Wenn ich je im Leben einen spontan verliebten Mann gesehen habe,, überlegte Sejarl, dann heute meinen Bruder hier. Sein Glück sei ihm gegönnt. - Zumal es mir auf Gegenseitigkeit zu beruhen scheint. Und für eine Frau für mein Leben finde ich auch meine eigene Suche in ihrer Art nicht genug wieder.
Auch Leihani widmete sich in der nächsten Zeit sichtlich immer mehr Ihlsteg. Als sie aufsaßen, um ihren Weg fortzusetzen, stieg das Mädchen wie selbstverständlich hinter Ihlsteg auf und schmiegte sich eng an ihn. Das hielt sie aber dennoch nicht davon ab, während des nächsten Abschnitts ihrer Reise weiter zu plappern.
Sie redete über Kunst und Musik, über Bäume und Sträucher, über das Wetter und über uralte Legenden, welche alle Anwesenden zur Genüge kannten. Ihlsteg hing an ihren Lippen und lachte und scherzte. Sejarl mischte sich nur selten ein. Wenn er es überhaupt tat, dann nur an bestimmten Punkten, um etwas Wesentliches zu ergänzen. Nichts von dem, was er hörte, war wirklich neu für ihn. Die Hoffnungen darauf, etwas Nützliches zu erfahren, schwanden ihm bald. Er verzweifelte deswegen vorübergehend ein wenig.
Statt also dem unergiebigen Gespräch zu folgen, machte sich Sejarl seine eigenen Gedanken über dies und das, und betrachtete die vorüberziehende Landschaft.
Die Flussinsel, auf der sie gegenwärtig ritten, war verhältnismäßig flach und hatte dabei eine ziemlich weite Ausdehnung. Nur einmal noch bis zum Abend mussten sie einen kleinen Flusslauf überqueren, und das Wasser in diesem stand und war mit Schilf bewachsen. Bunte Libellen kreisten in großer Zahl darüber. Sejarl hatte den Eindruck, dass es sich dabei um einen toten Arm handeln musste, so dass sie sich auch nach der Überquerung immer noch auf der selben Insel befanden.
Landschaft und Untergrund sahen ähnlich aus wie in dem Bereich, durch den die Ritter vor ihrem Zusammentreffen mit Leihani gekommen waren. Da waren lichte, offene Birkenhaine, zwischen denen sich Wiesen befanden. Auf diesen waren immer wieder kleinere und größere Tiere zu sehen, die keinerlei Scheu vor den Reisenden zeigten. Da waren Vögel mit fellartigen, flauschigen Federn, und armlange Eidechsen, die auf Steinen in der Sonne dösten. Es gab Rotwild mit verdrehten Geweihen. Gelegentlich lugten auch ein Auge oder zwei aus einem Gebüsch hervor. Sejarl argwöhnte Zauberwesen, die sich vor ihnen versteckt hielten. Der Boden unter ihnen war fast immer ein Blütenteppich, der nur selten von fünfblättrigem Klee oder Beerenranken unterbrochen wurde.
Irgendwann begann Sejarl damit, all dieser müßigen Schönheit überdrüssig zu werden. Er lenkte seine Gedanken auf die Dinge in der Welt, die er für wichtiger und entscheidender hielt.
Solcherart gelangten sie schließlich bei Sonnenuntergang an den Rand eines flachen Hügels, auf dessen Spitze ihnen Leihani das Lager aufzuschlagen riet. Es war Sejarl, als täte das nicht nur das Trollmädchen, sondern auch das ganze Land um sie herum, denn unzählige schmale Pfade führten aus der Umgebung auf jene Kuppe hinauf, auf der allein ein einsamer, großer Baum stand.
Sejarl versuchte zuerst, ihn mit jenem Regenbogenbaum zu vergleichen, den sie früher am Tage gesehen hatten, scheiterte aber. Dieser hier musste uralt sein. Er hatte einen Stamm, den sechs Männer kaum hätten umspannen können. Weit ausladend waren seine Äste, und in seinem Gezweig flog schwer erkennbares Federvolk hin und her. Wo immer die Arme des Baumes zum Boden herabreichten, da hingen süße Früchte an ihnen, deren Art die Ritter nicht kannten. Ihr Geruch war schon fast auf Sichtweite hin schwer und süß und betörend.
Zu diesem Baum gingen sie und ließen sich nieder auf der weichen Erde unter dem schützenden Blätterdach und aßen von den Früchten. Diese hatten einen Geschmack, der ihrem Duft um nichts nachstand. Dann streckten sie sich und schliefen ein.
Nicht allzu lange dauerte es, und Sejarl wachte wieder auf und stellte fest, dass er allein auf der Kuppe unter dem Baum lag. Aus einem Gebüsch ein Stück weit entfernt erklangen Geräusche, deren Ursprung zu erkennen es ihn keine große Mühe kostete. Ihlsteg und Leihani hatten sich um der Höflichkeit willen nach dorthin fort geschlichen. Doch sie machten genug Lärm, um den halben Wald aufzuwecken, und dem Ritter auf dem Hügel eine unruhige Nacht zu bescheren.
Als der Morgen anbrach, machte das Pärchen sich keine Mühe mehr, seine Liebe noch verborgen zu halten. Sie küssten einander unentwegt und kuschelten beim Frühstück so eng miteinander, dass die Situation für Sejarl zeitweilig peinlich wurde.
Als sie dann aufbrachen, änderte sich auch nicht viel. Den ganzen Tag über kamen sie durch liebliche Gegenden hindurch, in denen das einzige Zeichen intelligenten Lebens darin bestand, dass die ihnen den Weg versperrenden Wasserläufe nun an vielen Stellen von zierlichen Brücken aus Schnitzwerk oder Marmorstein überwunden wurden.
Nahrung boten ihnen die sanft rauschenden Wäldchen im Überfluss. Sie kamen auf ihrem Pfad so gut voran, dass sich Sejarl der Eindruck aufdrängte, sie müssten schon ein gutes Stück seit dem Fuße der Berge zurückgelegt haben.
Leihani und Ihlsteg kamen sich während dieser Zeit nur noch näher. Soweit das überhaupt noch möglich ist, ergänzte Sejarl gedanklich in einem Anflug von amüsiertem Sarkasmus. Es kam für ihn auch wenig überraschend, als die beiden nach einer kurzen Rast am frühen Nachmittag Händchen haltend an ihn herantraten und Ihlsteg sich verlegen räusperte.
„Sejarl, wir haben etwas beschlossen“, sagte er.
Der Angesprochene ahnte schon, was kommen würde. Er sagte jedoch nichts, blickte statt dessen nur erwartungsvoll, und ließ seinen Freund fortfahren.
„Weißt du, ich bin ja ausgezogen, um das Glück zu suchen. Und ich glaube nun, dass ich es bei Leihani gefunden habe.“
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Sejarl, unabsichtlich etwas spröde.
„Na ja, also haben wir beschlossen, dass wir uns verheiraten und zusammenleben wollen. Und ich stimme Leihani darin zu, dass dies hier für ein solches Leben ein besserer Ort ist, als die Dörfer und Städte der Menschen.“
„Und du meinst nicht, dass dir hier deine Bücher und geistigen Herausforderungen fehlen werden?“
„Oh, Bücher haben wir“, beeilte sich die Trollin zu erklären, „Tief im Wald liegt eine große Bibliothek verborgen. An geistigem Ansporn wird es meinem Schatz schon nicht mangeln.“
„Dann wollt ihr euch also jetzt das Versprechen geben? Oder wollt ihr damit noch warten, bis ihr vor Zeugen steht?“
„Wir wollten auf einem Versammlungsplatz der Trolle heiraten, der etwa eine halbe Tagesreise entfernt liegt“, erläuterte Ihlsteg, „Wie steht es? Die Feier wirst du dir doch wohl nicht entgehen lassen? Ob du Kom einen Tag früher oder später erreichst, kann dir doch egal sein.“
Der frisch verlobte Ordensritter hatte an dieser Stelle offen und fröhlich vor sich hingeplaudert, als Leihani plötzlich ein verlegenes Gesicht machte, und sich ihrerseits laut räusperte.
„Äh, Schatzi, ich fürchte, das wird nicht gehen“, sagte sie.
„Was meinst du?“
„Er kann nicht mit auf den Versammlungsplatz kommen. Unser Land zu durchreiten, das ist in Ordnung. Aber ihn zu unseren geheimen Orten zu führen, das traue ich mich nicht. Es gibt da zu viele Leute, die das falsch auffassen und ihn angreifen könnten.“
„Aber wieso? Und überhaupt: Er ist ein Ritter von ausgezeichnetem Kampfesmut...“, setzte Ihlsteg an, nur, um von seiner Gefährtin unterbrochen zu werden: „Willst du denn, dass an unserem Tage Blut vergossen wird? Glaube mir, der Schatten, der dann auf das Fest fiele, ist weit größer als der, den ein vorzeitiger Abschied mit sich bringt.“
Ihlsteg versteifte sich. Er war seines Freundes wegen eingeschnappt.
„So begreife doch!“, fuhr Leihani eindringlich fort, „Viele der Wesen dort sind den Menschenvölkern nicht annähernd so ähnlich, wie ich es bin, sei es an Geist oder an Körper. Dort leben baumgroße Kerle von ungeschliffener Brutalität. Dich, als meinen Mann, müssen sie zwangsweise akzeptieren. Ein Anderer jedoch wäre ihnen nichts als ein Feind.“
Sejarl sah, dass Ihlsteg weitere Einwände vorbringen wollte, erkannte aber auch die Wahrheit in den Worten des Mädchens.
Darum erhob er sogleich die Stimme: „Warte, Ihlsteg! An dem, was sie da sagt, ist einiges dran. Ich möchte wirklich nicht der Grund dafür sein, dass es am Ende noch Tote gibt.“
Schlechten Mutes schnitt der Angesprochene eine Grimasse.
„Lass es uns doch so machen:“, schlug Leihani vor, „Wir bringen Sejarl bis zur Grenze von Kom, und verabschieden ihn dort für dieses Mal. Und wenn er dann das nächste Mal, in einigen Monden oder so, hier durchkommt, dann können wir das Wiedersehen groß feiern. Bis dahin habe ich diese Hauklötze in meinem Volk bestimmt überredet, etwas nachsichtiger zu sein. Schließlich sind auch nicht alle Orte hier gleich geheim.“
Dieser Vorschlag der Trollin wurde noch ein wenig besprochen, und schließlich von allen dreien akzeptiert. Es war ein Kompromiss; kein guter vielleicht, doch einer, auf den sie sich hatten einigen können.
Nur noch ein kleines Stück gemeinsamen Weges setzten sie daher ihre Reise in Richtung auf das Zwergenland fort. Als der Abend zurückkehrte, nächtigten sie auf einem offenen Feld aus schulterhohen, weichen Gräsern, und wiederum hatte Sejarl mit der gleichen Art von Störungen seines Schlafes zu kämpfen, wie in der Nacht zuvor.
Am späten Vormittag des folgenden Tages schließlich erreichten sie die Grenze des Auenlandes, in dem die Zauberwesen hausten.
So kam die Zeit für die Freunde, Abschied zu nehmen und für die Weggefährten, sich zu trennen. Hier verhielten sie an einem kleinen, fröhlich plätschernden Bachlauf am Rande einer Gruppe von blühenden Apfelbäumen, hinter denen nach Osten hin eine weite Grasebene begann, die sich bis zum Horizont erstreckte.
„Hier endet unser Land.“, erklärte die Trollin belegt.
Die Drei entschieden sich, noch kurz von den Pferden abzusteigen, um eine letzte gemeinsame Rast miteinander zu verbringen. Die beiden Ritter tauschten untereinander Grüße für Freunde aus; je nachdem, wer von beiden sie zuerst wiedersehen mochte. Sie machten Scherze und wechselten das eine oder andere Versprechen. Beide wollten darauf achten, ihre Freundschaft nicht ersterben zu lassen. Dies sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie sich in ihrem Leben sahen.
Es waren jedoch nicht die Ritter, die etwas Wichtiges sagten oder taten, sondern es war Leihani, die ihr Gespräch in einer aus Wehmut entstandenen Pause unterbrach.
„Ich kann das mit euch Beiden nicht mit ansehen“, rief sie, getrieben von ihrer eigenen Wut und Trauer. „Ich trenne hier die besten Freunde. Ich muss es tun, das befehlen mir sowohl mein Herz, als auch mein Verstand. Und doch ist es falsch.“
Mit großen Augen sahen die Männer sie an.
„Dir, Ihlsteg, mein Schatz, werde ich die Trauer um den Abschied schon zu nehmen wissen“, sprach sie weiter, „Aber was soll ich mit dir machen, Sejarl? Du musst nun allein und ohne Hilfe fortziehen ins Unbekannte, ohne jemanden, dich zu begleiten und vielleicht hier und da auch zu schützen. Zwar bist du mir nichts als ein lockerer Bekannter geworden während der letzten beiden Tage, doch sehe ich, dass du ein braver Mann bist. Allein und schutzlos dort hinauszuziehen, das verdienst du nicht.“
Sejarl war mit Sprachlosigkeit geschlagen. Was meint sie?, dachte er, Schutzlos bin ich nicht. Meine Waffen sind von bester Qualität und ich bin gesund und wohl auf und weiß mich meiner Haut zu erwehren. Zwar werde ich meinen Bruder vermissen, doch was Anderes sollte denn jetzt passieren? Er war gefesselt in der Vorstellungswelt seines Ordens.
„Komm!“, sagte die Trollin, und bedeutete Sejarl, ihr zu einer Stelle einige Schritte entfernt zu folgen, wo der Wind im Schatten eines umgestürzten, alten Baumes allerlei Laub zusammengetragen hatte. Zögernd kam Ihlsteg nach und beobachtete die Vorgänge aus einiger Entfernung.
„Was ist es, was du mir hier zeigen willst?“, fragte Sejarl.
„Warte“, sagte Leihani, „Ich mache dir ein Abschiedsgeschenk.“
Leise begann sie zu säuseln. Halb schloss sie ihre Augen und begann, ihren Körper dabei sich mit dem Klang jener Laute mitschwingen zu lassen. So entstand ein merkwürdiger Tanz, als sie sich auf der Stelle stehend dem Himmel entgegenschlängelte, gefangen in der Trance. Dann öffneten sich ihre Lider wieder und sie starrte ausdruckslos den Wolken in der Höhe entgegen.
Ein ausladender Ast, welcher ihr nahe in der Luft hing, zog nun ihre Aufmerksamkeit auf sich. Eine laue Brise fuhr durch ihn hindurch, löste einige weiße Blütenblätter und spielte mit ihnen, sie in der Schwebe haltend.
„Ja, du bist richtig“, sagte Leihani leise, doch klar und klingend. Ihr Blick blieb unverwandt auf den treibenden Blättern heften.
„Komm herab!“, rief sie in einem Befehlston, den Sejarl ihr in dieser Plötzlichkeit nicht zugetraut hätte.
Was macht sie da?, überlegte er, Wendet sie Magie an? Man sagt ja, dass Trolle solche Dinge täten.
Sein Staunen hielt an, als die Gruppe der Blätter von dem Ast herabschwebte in Bewegungen, die auf ihn in seltsamer Weise beherrscht wirkten. Das Trollmädchen starrte dabei angestrengt in jedem kleinsten Moment. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, während sie weiterhin Silben hervorbrachte, die offenbar keinen anderen Zweck hatten, als sich melodisch aneinanderzureihen.
Solcherart bestaunt vermischten sich die Blätter der Luft mit dem Laub am Boden, wirbelten es hoch und nahmen es in sich auf. Ein wachsender Wirbel von Wind und Blättern entstand so. Seine Größe schwankte zwischen einer doppelten Handspanne und Hüfthöhe.
„Drücke dich aus, lebe und sei sein Freund!“, sagte Leihani und richtete ihren Blick dann scharf und plötzlich auf Sejarl. Danach entspannte sie sich sichtlich, schüttelte ihren Kopf, dass ihre Haare flogen, und grinste wieder fröhlich. „Bitte sehr“, sagte sie.
Verblüfft starrte Sejarl auf den kleinen Wirbelwind aus Blättern unterschiedlichster Farbe, der auf ihn zutanzte und dann in einer Armlänge Entfernung verharrte.
„Was ist das?“, fragte er.
„Ein Windgeist“, erklärte Leihani. „Du musst wissen, dass die Natur an vielen Stellen nicht immer ganz dumm ist. Winde sind normalerweise sehr, sehr kurzlebig. Aber wenn man weiß, wie, dann kann man ihr Leben festhalten. Ich glaube außerdem, dass dieser hier recht klug ist; etwa wie ein Adler oder ein Otter, der dir als treu ergebener Begleiter zur Seite stehen kann.“
Das Mädchen feixte und linste zwischen den beiden Männern hin und her, die beide gleichermaßen erstaunt auf den leise raschelnden, belebten Wind stierten.
„Kann er sprechen?“, fragte Sejarl.
„Er mit dir anfangs noch nicht, das muss er erst lernen. Aber du kannst mit ihm reden und er wird dich im Großen und Ganzen verstehen. Übrigens lebt er jetzt praktisch ewig, solange keine Magie ihn zerstört. Glaub mir, das wird dir noch sehr nützlich sein. Also dann: Viel Spaß mit deinem neuen Weggefährten. Das war das, was ich für dich tun konnte.“
Sejarl war sprachlos. Da hatte eine Trollfrau wenig begründete Schuldgefühle, und was tat sie? Sie schenkte der Welt ein neues Leben. Seine Überlegungen überschlugen sich. Sie schenkt mir ein Zauberwesen, mich zu beschützen. Was sind diese Trolle für seltsame Geschöpfe? Die einen bedrohen einem das Leben und die anderen spenden neues in der Dauer eines verwunschenen Liedes. Schade nur, dass ich nichts habe, was ich ihr als Gegengeschenk anbieten könnte. Gerührt streckte er seine Hand nach dem aufschwebenden Luftwirbel aus, fühlte dort jedoch nichts als eine kühlende Brise und aufgewirbelte Blätter.
Gemeinsam bestaunten die Ritter noch eine lange Weile jenes wahr gewordene Wunder. Viel fröhliches Geschwätz tauschten die Anwesenden noch aus. Als sie erkannten, dass die Zeit des Abschiedes nun doch endgültig für sie gekommen war, war ihnen allen weit leichter ums Herz als vor dem Zauber des Mädchens.
Ein letztes Mal noch umarmte dort Sejarl Weglenner seinen Ordensbruder Ihlsteg, der jetzt Maruder hieß, und dessen Verlobte Leihani lang und herzlich. Dann stieg er auf sein Stahlross, überprüfte seine Ausrüstung, und ritt langsam und gemächlich in die Ebene hinaus. Oft noch drehte er sich um und winkte, und das Pärchen verharrte am Waldrand und winkte zurück, bis die Sicht und die Entfernung sie endgültig trennten.
Dann ritt Sejarl alleine weiter, hin zu jenen Gegenden, die zum Königreich der Zwerge gehörten. An seiner Seite schwebte, unstet und flatterhaft, ein lebender Wind, ein Zauberwesen, ihn zu beschützen und zu ermutigen in schweren Stunden.