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4. Minne

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Es war zu Beginn des nächsten Jahres, als mir Gerhards Jugend zum Halse heraushing. Er kam gerade in das Alter, wo Jungen sich für Mädchen begeistern. Sein Verhalten in dieser Richtung fiel nicht zu knapp aus.

Wir waren öfter einmal auf dem benachbarten Hof Overdieck zu Gast. Nun war es so, dass es auf Overdieck eine Magd gab, die beachtliche Brüste vor sich her trug. Ich muss es einfach so sagen. Die Magd war glücklich verheiratet. Trotzdem blieben Gerhards Augen an ihrem Hemd hängen, als wären sie dort angeklebt.

Weiter ungewöhnlich war sein Verhalten nicht. Jungen in dem Alter können nicht anders. Tatsächlich habe ich später zwei Knappen abgelehnt, weil meine eigenen Töchter in ein heiratsfähiges Alter kamen. Die Jungen hätten sich unweigerlich in sie verliebt. Dabei will ich gegen die Jungen gar nichts sagen, nur gegen ihre Natur. Ich habe sie nach Hause geschickt, um sicheren Tränen und unnötigen Scherereien vorzubeugen.

Zum Zeitpunkt der Geschichte waren meine Mädchen aber noch Kinder. Gerhard konnte ohne den allerleisesten Hintergedanken mit ihnen spielen. Bei jener Magd dagegen wurde er zu einer rot leuchtenden Salzsäule.

Ich hätte schon längst ein Gespräch über die Frauen und die Liebe mit ihm führen sollen. Ich entschied mich daher, ihn für einige Tage auf die Burg Volmarstein mitzunehmen.

„Warum gerade nach Volmarstein?“, fragte er mit sehr stark schwankender Stimme. Sein Stimmbruch fiel ebenfalls so aus, dass es mir in den Ohren wehtat.

„Weil dort meine eigene Liebe wartet“, sagte ich, und ließ ihn mit dieser vieldeutigen Antwort in der Gegend stehen.

Etwas später ritten wir los. Gerhard besaß nun ein eigenes Pferd. Die Stute meiner Frau hatte im Jahr zuvor ein Fohlen bekommen, und nach Rücksprache mit Gerhards Eltern hatten wir es ihm zusammen zu Nikolaus geschenkt. Mag sein, dass das Geschenk recht groß war, aber es was auch wichtig, dass er ein eigenes Reittier bekam. Außerdem nötigten wir seinen Eltern die Kosten für zusätzliches Futter auf.

Jedenfalls gab es keine Probleme damit, Volmarstein innerhalb eines Nachmittages zu erreichen. Die Burg lag auf einem steilen Berg am jenseitigen Ruhrufer. Wir wechselten bereits bei Witten die Seiten, denn direkt gegenüber von Volmarstein lagen Graf Adolfs Männer bei Wetter in festen Stellungen.

Noch wussten sie nicht so richtig, wie sie Graf Heinrich einschätzen sollten, den Herren auf Volmarstein. Er war nur ein kleiner Graf, der kaum mehr besaß als seine Burg und ein paar Gehöfte im Umkreis. Während der ganzen Geschichte mit Friederich vom Isenberg hatte er versucht, sich aus Allem herauszuhalten.

Trotzdem war der Anstieg auf seine Burg steil, und seine Befestigungen waren stark. Einfach vorbeilaufen konnte man an ihnen nicht. Außerdem unterstand er dem Namen nach unmittelbar dem Kölner Bischof. Ein Angriff auf ihn ohne echten Grund hätte dessen Männer auf den Plan gerufen.

Für den ganzen Ärger zwischen Altena-Mark und Isenberg war Volmarstein ein einzelner Bergrücken, über den man nur stolpern konnte.

Am späten Nachmittag trafen wir ein.

Der Berg erhob sich schroff zwischen der Ruhr und einem kleinen Seitental. Durch das Seitental führte ein Weg hinauf. Oben befanden sich auf einem Sattel eine Kirche und ein paar Häuser. Nach links stieg der Weg weiter steil an. Früher einmal musste es hier viele Bäume gegeben haben. Jetzt war alles abgeholzt. In den Grund des Hangs waren unregelmäßig einige Schanzen gezogen. Zwischen ihnen ritten wir hinauf, bis wir an einem engen Tor an einer steilen Abbruchkante ankamen.

Der Wind pfiff singend um unsere Ohren und durch die alten Mauern um uns. Gerhard wirkte wie üblich eingeschüchtert.

Ich winkte der Torwache. „Heda! Herr Tobias von Hamme und sein Knappe erbitten Einlass!“

Mit lautem Knarren öffnete sich das Tor. Die Angeln hatten auch schon bessere Tage erlebt. Ich sprang ab und nahm mein Pferd beim Zügel, um mir in dem schmalen Durchgang nicht den Kopf zu stoßen. Gerhard machte es mir nach.

Eine Torwache zur Linken verneigte sich stumm vor mir.

„Was ist das für ein Ort?“, fragte Gerhard. „Warum spricht hier niemand? Warum folgt man mit solcher Selbstverständlichkeit Euren Wünschen?“

„Man kennt mich. Ein so seltener Gast bin ich hier auch wieder nicht.“

Die Wache schloss das erste Tor hinter uns, und führte uns durch eine schmale Gasse und ein weiteres. Dann lief sie zu einem Haus an der Seite, um uns zu melden.

„Mir ist unheimlich hier“, sagte Gerhard, und fröstelte.

„Du hast kalte Ohren vom Wind“, meinte ich. Zerrissene Wolkenfetzen jagten über den Himmel.

Ein kleines Mädchen tobte spielend über den Hof.

„Hallo, Hollentraud!“, rief ich.

Das Mädchen hüpfte auf uns zu.

„Hallo, Onkel Tobias!“, rief es zurück.

„Das ist die Tochter des Burgherren“, erklärte ich, während das siebenjährige Kind mit Kennermiene unsere Pferde tätschelte. „Wo sind denn deine Eltern?“

„Mama und Papa sprechen über neue Teppiche“, sagte sie leichthin. „Sie sind im oberen Kaminzimmer im Haupthaus.“

Ich nickte und klopfte Gerhard auf die Schulter, damit er mir folgte. Wir gingen zu einem steinernen Wohnhaus, wo man uns schon angekündigt hatte. Der Koch kam uns entgegen und wies mit dem Daumen hinter sich.

„Die Herrschaften erwarten Euch schon. Ihr wisst ja, wo es ist.“

Ich wusste es tatsächlich. Aus dem oberen Kaminzimmer über dem großen Saal und jenseits der Treppe kamen vertraute Stimmen.

„Im Ernst: Was hältst du davon?“, wollte eine Männerstimme wissen.

„Abgesehen davon, dass er das falsche Rosa hat, ist er zu klein“, antwortete eine andere Männerstimme. Gerhard sah mich fragend an.

„Das ist Dixit. Du wirst ihn gleich kennen lernen.“

Die Tür zu einem Raum schwang auf, der mit einfachen, aber guten Hölzern ausgestattet war. Die Schnitzereien darin zeigten vielerlei Fabelwesen. Zwischen ihnen standen ein Mann, eine wunderschöne Frau, und ein Zwerg.

Das Paar war reich gekleidet, der Mann etwas älter, die Frau so, dass ihre Jugend in die mittleren Jahre wechselte.

Gerhards Blick blieb an dem Zwerg haften. Dieser trug schreiend rote Sachen und hielt seinen beiden Gesprächspartnern einen Laib Brot unter die Nase.

„Was ist das?“, fragte Gerhard nur laut in den Raum. Das Vorhandensein jeder Art von Höflichkeit hatte er vorübergehend vergessen.

„Ich glaube, er meint dich, Dixit.“

Der Hofzwerg des Grafen vollführte eine höfische Verbeugung.

„Seid mir willkommen“, meinte Graf Heinrich von Volmarstein mit einem Lächeln.

Er nickte, während ich vortrat und vor der Gräfin niederkniete.

Sie erlaubte mir, ihren Ring zu küssen, und zog mich dabei auf die Füße.

„Was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs?“, sang sie mehr, als sie sprach.

„Ihr und das Wissen um Eure Liebe“, antwortete ich und deutete mit der offenen Hand auf Gerhard. „Ein neuer und junger Geist soll sich Ihr in Ritterlichkeit öffnen.“

„Oh, Mann, Junge, jetzt wirst du eine ganze Menge ritterlichen Mist hören.“ Dixit stöhnte und rollte mit den Augen, während er zwischen sämtlichen anderen Anwesenden hin- und herschaute. Seine kleine Gestalt wirkte auf mich wie eine tanzende Flamme.

Gerhard fing auch an, verwirrt von einem Anwesenden zum nächsten zu schauen. Wenigstens blieb er ruhig dabei.

„In gewisser Weise hat Dixit Recht“, meinte ich. „Dies ist keine Lektion in Schwertkampf, sondern eine in ritterlicher Lebensweise. Es geht eben nicht nur darum, wie man ein Schwert benutzt, sondern auch, warum und wofür.“

„Du wirst dich heute oft fragen, warum ich nicht einschreite, junger Mann“, ergänzte Graf Heinrich schief lächelnd durch seinen früh ergrauenden Bart. „Der Grund dafür ist, dass ich weiß, dass Herrn Tobias Liebe zu meiner Frau ehrlich und lauter ist.“

Gerhards Gesichtsausdruck erinnerte immer mehr an einen Karpfen.

„Du wirst es nicht glauben, Junge“, sagte Dixit mit so langsamen Worten, als wolle er einer Schnecke Aristoteles erklären. „Dein Herr ist in die Frau meines Herren und Grafen verliebt. Weil die beiden aber nicht miteinander ins Heu gehen wollen, ist die ganze Sache für meinen Grafen wieder völlig in Ordnung.“

„Ich bin einfach froh, wenn meine Fee glücklich ist“, sagte ich, und zog eine kleine Tonflasche mir Met hervor, in dem Himbeeren eingelegt waren. Ich wusste, dass sie beides mochte. Also überreichte ich sie ihr. Sie nahm sie dankend entgegen.

„Fee?“ Ich hatte mich mittlerweile an Gerhards Art gewöhnt, erst spät und dann nur wenig den Mund aufzumachen.

„Sie heißt so“, erklärte ich. „Gräfin Fee von Volmarstein. Ob sie wirklich eine Fee ist, weiß ich nicht. Dass sie über ihre Herkunft schweigt, spricht dafür.“

Ich erntete ein vieldeutiges Lächeln.

„Dass ich wie eine Frau lebe, spricht dagegen.“

„Jedenfalls bin ich ihr in hoher Minne zugetan“, ergänzte ich.

„Und ich habe damit zu leben“, fuhr Graf Heinrich fort, indem er sich an Gerhard wandte. „So wie jeder echte Ritter das Haupt beugen muss vor wahrer Liebe. Manchmal befremdet mich der Gedanke zwar selber, aber bei deinem Herren wäre es nicht anders, wenn jemand seine Frau verehren würde. Wahre, hohe Liebe, ist stets das höchste Gut dieser Welt.“

„Er meint hohe Minne, nicht niedere. Und jetzt mach den Mund wieder zu!“ Manchmal hatte es Dixit an sich, den Punkt zu treffen, wie vorlaut auch immer.

Mein Blick wanderte zum Boden. Gleichzeitig spürte ich den meines Schülers in meiner Seite stechen.

„Habt Ihr mich deshalb hierhin gebracht?“, fragte er.

„Ja.“

„Wegen einer Frau, die Ihr liebt, auch wenn Ihr sie niemals haben könnt?“

Ich grinste. Die letzte, verwirrte Frage war Gerhard einfach so herausgerutscht. Trotzdem zeigte sie, was er wirklich dachte, und mit ihm viele Andere, die das Rittertum nicht verstanden hatten.

„Es geht nicht darum, irgendetwas oder jemanden zu haben oder zu besitzen. Es geht darum, die Welt ein Stück besser zu machen. Für das und die, die man liebt. Es soll ihr gut gehen, der Rest ist nebensächlich.“

„Aber was ist mit Euch selbst?“

„Mir geht es besser, wenn es ihr besser geht, weil ich mich dann für sie freuen kann.“

„Und das reicht Euch?“

„Je mehr du deine Dame wirklich liebst, umso mehr wird es dir reichen.“

„Es gibt viele Geschichten“, warf Dixit ein, „von Rittern, denen es nicht mehr reichte, und die zu der hohen Minne auch die niedere wollten. Aber selbst ich gebe zu, das es für jeden von diesen auch einen gibt, dem seine Vorstellungen wichtiger waren als sein Unterleib.“

„Wie kann das sein? Wenn ich eine Frau liebe, dann verlange ich auch nach ihr.“

„Es ist das Recht der Jugend, Dummheiten zu machen. Dazu gehört auch, zu glauben, dass ein Mann sich nicht selbst beherrschen könnte. Wenn du älter wirst, wirst du feststellen, dass der Geist den Körper beherrscht, und nicht umgekehrt. Jedenfalls sollte das so sein, wenn du dich noch Edelmann nennen willst.“

„Ich will aber nicht nichts spüren wollen!“ Gerhards Stimme überschlug sich plötzlich.

„Wer redet denn davon? Gerade, weil du etwas spürst, solltest du es in sinnvolle Bahnen leiten können. Oder glaubst du, ich hätte zwei wundervolle Töchter, weil ich Ginevra nur Gedichte geschrieben hätte?“

Er schwieg betreten. Dann sah er auf.

„Wollt Ihr sagen, das die Frau, die man liebt, und diejenige, mit der man,... nun, Kinder hat, manchmal eine andere ist?“

„So etwas in der Richtung. Die Kirche sagt sicherlich etwas Anderes. Es mag schön sein, wenn beides zusammenfällt. Doch seien wir ehrlich: Viele Ehen werden verabredet, ohne, dass sich die Brautleute überhaupt kennen. Wie soll denn da echte Liebe gedeihen? In einer Ehe sollte man dem anderen offen in die Augen sehen können. Eine tiefe, ehrliche Freundschaft ist da wünschenswert, und die habe ich mit meiner Frau Ginevra.“

„Aber die Liebe...“, begann Gerhard.

„Die Liebe ist eine wundervolle Sache. Ihretwegen habe ich dich hierhin mitgenommen. Nur sind deine Liebe und dein Verlangen oft genug zwei unterschiedliche Dinge. Beides sollte Teil von deinem Leben sein, sonst bist du entweder ein Mönch oder ein Arschloch. Und ich habe vor, dich zu einem Ritter zu machen.“

„Gibt es denn keine Hoffnung für wahre Liebe?“ Gerhard verfiel von einer seltsamen Vorstellung in die nächste.

„Doch. Es ist wahre Liebe, die ich für die Herrin Fee von Volmarstein empfinde. Trotzdem kann ich meine Kinder mit meiner Frau haben.“

„Ich bin übrigens auch schon für andere Frauen in die Schranken geritten“, warf Graf Heinrich ein.

Gerhard wandte den Blick wieder zu Boden. Er wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte, und lief statt dessen rot an.

„Es gibt genug willige Weiber, die sich mit dir vergnügen wollen“, trompetete Dixit. Er hieb Gerhard von unten auf den Rücken, so dass dieser taumelte.

„Als kleiner Hinweis nebenbei:“, meinte der Graf. „Wenn du einer Frau immer nur in die Augen sehen willst, dann ist es echte Liebe. Wenn du ihr auf den Hintern schaust, dann ist es Verlangen.“

Nun errötete selbst meine Fee, und ich machte eine entschuldigende Geste.

„Es ist so. Und es ist an einem echten Ritter, die echte Liebe zu verteidigen“, sagte ich.

„Und ich dachte, ich sollte etwas über Schwertkampf lernen“, nuschelte Gerhard verstört.

Dixit wollte mir wieder ins Wort fallen. Doch diesmal war ich schneller.

„Das tust du“, sagte ich. „Wie ich eben schon sagte: Es kommt nicht nur darauf an, wie du kämpfst, sondern auch, wofür. Tausende von Leuten können dich anfeuern; auch du selbst kannst es jahrelang ohne Unterlass tun. Das Alles wird dir nicht halb soviel helfen wie ein einziger Gedanke an deine wahre Liebe.“

„Was glaubst du denn, warum Ritter auf Turnieren mit einem Tuch ihrer Liebsten reiten? Um sich damit nachher den Schweiß abzuwischen?“ Diesmal war es Graf Heinrich, der sprach.

„Deine Liebe gibt dir die Stärke im Kampf, nicht dein Vergnügen am Abend davor oder danach.“

„Liebe und Kampf sind eine Sache“, ergänzte wiederum der Graf. „Die hohe Minne ist ein Antrieb für das Schwert, nicht ihr Gegenteil.“

„Den Geist oder die Seele mit dem Körper zu verwechseln ist eine Sache, die ein Bauer machen kann“, sagte wieder ich.

„Wobei es auch Ritter gibt, die sich wie Bauern benehmen“, sagte wieder Dixit.

Gerhard war nun völlig verwirrt und verschüchtert. Dass Fee und ich ein ums andere Mal ein Lächeln tauschten, und uns tief in die Augen sahen, half ihm nicht eben weiter.

Gerhard wurde aus seiner Lage erlöst, als Hollentraud hereinkam, und sich lauthals beklagte, dass das Kleid ihrer Puppe eingerissen wäre.

Wir blieben noch den Abend über. Der Graf ließ seinen Koch ein gutes Mahl aus Wildbret bereiten. Ich lächelte während des Essens meine Fee an, was Gerhard nur noch mehr verstörte. In einem Punkt musste ich ihm allerdings zustimmen: Es fiel mir schwer, häufiger hier zu sein. Es ist gut, einer Versuchung widerstehen zu können. Sie ständig herauszufordern, ist vielleicht nicht ebenso klug.

Ich war froh, wenn meine Fee auf Volmarstein ein gutes Leben führte, und liebte sie mehr für jede Freude, die sie daran hatte.

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