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St. Lucia Anfang in London

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Ich, Paula Annette Charles, wurde 1956 in einer warmen Julinacht im Park Royal Hospital in Paddington, London, geboren.

Meine Eltern waren ein halbes Jahr zuvor von der kleinen sonnigen Karibikinsel St. Lucia nach London gekommen. Auf der Überfahrt hatte mein Vater zu seiner Überraschung erfahren, dass Mutter mit mir schwanger war. Diesmal sollte er also nicht so leicht davonkommen. Ich habe Glück gehabt.

Vater war immer ein Frauenheld gewesen, überall im Dorf hatte er Kinder, was für viele schwarze Männer so normal ist wie Teetrinken. Natürlich waren Mutter und er auch nicht verheiratet, und er war zwanzig Jahre älter.

Sie stammte aus einer recht wohlhabenden Familie mit zehn Kindern, die Land und einen Rum-Shop besass. Sie habe zu Hause immer die schwersten Arbeiten machen müssen, sagte sie mir später einmal: den Hof wischen, Holz sammeln, auf die Kokospalmen klettern, ja sogar die Schweine füttern, was eigentlich die Arbeit der Jungs war, und sie habe nur abgetragene Kleider besessen. «Ich hasste meine Mutter. Sie war grausam zu mir.» Sie weinte, als sie das erzählte. Sie schien nicht zu bemerken, dass sie sich mir gegenüber nicht anders verhielt.

Mein Vater hatte eine gute Stellung gehabt. Er war im Staatsdienst gewesen, war «Aufseher», wie man das in St. Lucia nennt, das heisst, er war Vorsteher auf der Bananenplantage. Er wurde rausgeschmissen, Neid und Intrigen waren dabei im Spiel. Danach war er zu stolz, um noch länger im Land zu bleiben. Zusammen mit meiner Mutter und wenigen Habseligkeiten verliess er so schnell wie möglich St. Lucia. Ihr bezahlte die Familie einen Teil der Reisekosten; die Mutter war sichtlich froh, ihre ungeliebte Tochter loszuwerden – «sie wusch ihre Hände», wie man in St. Lucia sagt.

Ich weiss nicht viel darüber, wie meine Eltern ihre erste Zeit in London erlebt haben. Mum sprach nicht gerne davon, es war wohl zu schmerzhaft und zu beschämend. Jedenfalls, es war Winter und sehr kalt. Davon hatten sie in St. Lucia schon viel gehört – dass man zwei Mäntel übereinander tragen müsse und dass die Hände fast erfroren und die Strassen voll Schnee seien und der Atem vor Kälte dampfe. Doch dies beunruhigte sie nicht wirklich; was ihnen Sorgen machte, war, dass sie niemanden kannten und nicht wussten wohin.

Ich stelle mir vor, dass sie die erste Nacht in London auf einer Bank sitzend geschlafen haben. Aber ich werde nie wissen, wie sie sich durchgeschlagen haben in diesen Tagen und Nächten, und ob ihnen jemand weitergeholfen hat.

Sie hatten nicht mehr viel Geld, aber schliesslich fanden sie ein Zimmer, ziemlich schäbig, aber besser jedenfalls, als in Sommerkleidern im Schnee herumzulaufen. Mutter hat später mal erzählt, dass sie ihren Schlafrock als Mantel getragen habe, weil sie nichts anderes besass. Während Vater Arbeit suchte, blieb sie im Zimmer. Alleine auf die Strasse zu gehen, getraute sie sich nicht. Alles um sie herum machte Angst. Ich bin ziemlich sicher, wenn sie gewusst hätten, auf wieviel Hass und Schikanen sie stossen würden, wären sie sofort umgekehrt – falls sie noch Geld für die Rückreise gehabt hätten.

Es war damals schlimmer als heute: Für die Briten war es neu, dass die Schwarzen aus den Kolonien plötzlich Anspruch auf ihr Mutterland erhoben und dort leben und arbeiten wollten, wo scheint's die Strassen mit Gold gepflastert waren. Die Schwarzen wurden in England nicht willkommen geheissen, sie fanden keine Wohnung, wurden in Restaurants nicht bedient, und auf der Strasse mussten sie damit rechnen, angepöbelt, ja geschlagen oder gar getötet zu werden. Sie bekamen in den Spitälern und bei den Londoner Verkehrsbetrieben nur die übelsten Jobs. Diesen Rassismus hatten meine Eltern nicht erwartet, sowas kannte man auf St. Lucia nicht. Für jemanden, der das nicht kennt, ist es sehr beleidigend, als «Nigger», «Blackie» oder «Monkey» bezeichnet zu werden. Sie verstanden nicht, warum die Briten sie so sehr hassten; diese gebildeten Leute, die sich «zivilisiert» nannten, benahmen sich wie im Busch.

Vater fand Arbeit. In einer Arzneimittelfabrik machte er Tabletten. Er verdiente neun Schilling die Woche, was viel war, damals. Nachts studierte er medizinische Bücher, um später bei einem Apotheker arbeiten zu können. Seine Ausbildung entsprach nicht europäischem Standard, aber er war ein sehr intelligenter Mann. Diese akademische Seite habe ich nicht geerbt von ihm, eher schon seine Liebe zum Nachtleben, zu den Frauen und zum Rum, da bin ich fast wie er – bloss trinke ich nur halb soviel und ziehe Männer den Frauen vor. In der Fabrik arbeitete er sich rasch hoch, was ihn bei den andern Arbeitern unbeliebt machte. Er wurde ihr Boss. Er war ein schnell und hart arbeitender Mann, und er war ehrgeizig.

Dann fand auch meine Mutter eine Arbeit. In einem Snack-Shop putzte sie und wusch Geschirr. Mit dem gebratenen Zeugs, das sie da verkauften, fütterte sie uns. Es war ihr nicht erlaubt, weisse Kunden zu bedienen; der Besitzer wollte auch nicht, dass sie sich im Lokal zeigte, aus Angst, seine Kundschaft zu verlieren.

Noch immer konnte sich meine Mutter nicht daran gewöhnen, früh am Morgen in dem eisigen Zimmer aufzustehen und nach draussen zu gehen, wo es noch kälter war. Anfangs brachte Vater sie zur Arbeit. Er musste stark sein, wenn sie zitternd zusammenbrach; aber seine zukünftige Ehefrau auf einmal so schwach zu sehen, verletzte und demütigte ihn.

Mit ihrem ersten Lohn kaufte Mutter Vorhänge, Bettwäsche, Lebensmittel und einige Sachen für das Baby. Sie versuchte in dem miefigen Zimmer, das sie mit Pflanzen und Blumen verschönerte, nicht an St. Lucia zu denken, wo sie in einem Haus mit mehreren Zimmern gelebt hatte. Es gab keine Dusche, und die Toilette war ausserhalb. Waschen mussten sie sich im Abwaschbecken; heisses Wasser gab es nicht.

Mutter war eine grossgewachsene Frau, fast gleich gross wie Vater. Sie hatte eine schöne dunkle Haut. Sie war damals etwa einundzwanzig Jahre alt. Als sie eines Nachts Schmerzen bekam, dachte sie, es seien Magenkrämpfe. Sie war jung und naiv, Vater hatte da mehr Erfahrung, auch wenn er sich um die sechs Kinder, die er in der Karibik zurückliess, nicht viel gekümmert hatte. Ich bin ja glücklicherweise kein Bastard geworden; meine Eltern haben noch vor meiner Geburt geheiratet.

Er holte die Nachbarin von nebenan. Sie war eine Weisse, die einzige weisse Frau, die mit meinen Eltern sprach. Sie sagte: «Mary, du kommst in die Wehen, du musst sofort ins Spital.» Wann genau ich meinen Weg in die Welt gemacht hatte, weiss Mutter nicht mehr, so um Mitternacht, meinte sie.

Die Nachbarin wurde meine Patin. Sie hiess Ive, war schon Anfang Sechzig und hatte keine Kinder. «Sie war eine wundervolle Frau», sagte meine Mutter immer wieder. Sie hatte ein Herz aus Gold, und ich war ihr Augapfel. Wenn Mutter an der Arbeit war, passte sie auf mich auf. Das war eine grosse Erleichterung, denn Mutter konnte es sich nicht leisten, nicht arbeiten zu gehen.

Es war 1959, ich war drei Jahre alt und mein Bruder Ben zwei, als meine Eltern entschieden, dass sie nicht auf Dauer für uns sorgen könnten. Für viele Schwarze, die im Ausland Kinder bekamen, war es normal, dass sie diese zu ihren Eltern oder Schwestern nach Hause schickten. Ich denke, es ist für alle Eltern hart, sowas zu tun, ich habe das später selber erlebt.

Die Frage war, ob ihre Mutter uns aufnehmen würde, da Mum und sie ja nie gut miteinander ausgekommen waren. Im schlimmsten Fall war da noch Vaters Mutter; die lebte alleine.

Jetzt musste jeder Schilling zur Seite gelegt werden, nicht nur, um Sachen für uns zu kaufen, sondern auch für die Familie und Freunde zu Hause. Was von London kam, war wichtig, und wer in London lebte, war ein Star und musste das mit grosszügigen Geschenken beweisen.

Meine Mutter wechselte die Stelle, arbeitete im Krankenhaus. Da verdiente sie ein paar Schilling mehr, aber sonst war die Arbeit nicht besser. Zu dieser Zeit liessen sich viele Weisse nicht von Schwarzen berühren. Man bezeichnete sie als schmutzig, einige rannten gar vor ihnen weg oder weigerten sich, von ihnen etwas zu essen und zu trinken anzunehmen, sogar wenn sie todkrank waren. Freundlich lächelnd, mussten die schwarzen Frauen diese Beleidigungen über sich ergehen lassen.

In dieser Zeit hatten meine Eltern ein grösseres Zimmer gefunden, nicht weit vom alten Ort entfernt, an der Shurland Road. Dieses Zimmer wurde für viele Leute die erste Anlaufstelle in London, unter anderem für zwei meiner Onkel und Mutters jüngste Schwester. Sie hatten es besser als meine Eltern: Mutter nahm sie bei sich auf, bis sie Zimmer im obern Stock bekamen, sie gab ihnen zu essen und Taschengeld und half ihnen, sich in London zurechtzufinden. Es machte ihr Spass, von ihren Geschwistern Geschichten von zu Hause zu hören. Aber eigentlich hatte sich dort nichts verändert; sie kämpften immer noch um das bisschen Land, ihre Mutter trank immer noch und fluchte über ihre Tochter.

In London mussten die Geschwister versuchen, miteinander auszukommen. Doch bald fingen die Streitereien an, vor allem zwischen Mum und ihrem Bruder Run. Schon zu Hause hatten sie sich nicht gemocht. Er trank und brachte jede Nacht eine andere Frau nach Hause, was irgendwann zum Eklat führte. Der Streit war wüst, da wurde mit allem gekämpft, was sie zur Hand hatten, auch mit Messern.

Die Vorbereitungen für unsere Reise waren endlich abgeschlossen. Mutter ging mit Ben und mir aufs Schiff. Damals konnte ich nicht wissen, dass ich Vater nie wiedersehen würde. Ich erinnere mich, dass ich nur ungern ohne ihn wegfuhr.

Go, Josephine, go

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