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Vaters St. Lucia

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Mums Mutter weigerte sich, uns aufzunehmen. Dabei hatte Mum alles getan, um sich mit ihr gutzustellen, hatte ihr Sachen geschickt aus London und ihr auch das Geld zurückbezahlt, das sie für die Reise bekommen hatte – aber die Wunden waren nicht verheilt. Nicht mal wir, die Enkelkinder, die den ganzen Weg von London gekommen waren, konnten daran etwas ändern. Mum weinte und flehte, aber es war nichts zu machen.

Mum blieb nichts anderes übrig, als uns zu Vaters Mutter, zu «Gran», zu bringen. Die beiden Frauen waren sich nur einmal kurz begegnet, bevor meine Eltern damals aufs Schiff gegangen waren. Mum hatte keine Ahnung, wie Gran auf diesen «Gefallen» reagieren würde. Es gab kein Telefon, also musste Mum hinfahren und sie mit uns konfrontieren. Gran lebte in einem kleinen Dorf mit etwa hundert Einwohnern; es hiess Gadet. Alle kannten einander, nichts blieb dort lange ein Geheimnis. Weil wir aus London kamen, waren wir ein Ereignis. Nur wenige hatten Kinder in Übersee, höchstens auf den benachbarten Inseln. Alle wussten, dass wir kommen würden, aber sie dachten, wir wollten nur einen Besuch machen. Sie fanden es schon etwas eigenartig, die Frau mit den zwei kleinen Kindern, dem Kinderwagen und einem Koffer zu sehen. Meine Mutter schaute nicht allzu glücklich drein – aber nicht lange. Denn Vaters Mutter wusste, was Liebe ist, und sie war allein. Bis an ihr Ende war sie im Dorf sehr angesehen, vor allem, weil sie einen Sohn hatte, denn ein Sohn ist für die Frauen ein Geschenk Gottes. Sie war ausserdem ziemlich fromm und arbeitete hart.

Mutter mochte Gran nicht sehr; sie verdächtigte sie der Zauberei. Aber sie liess uns bei ihr und kehrte zu Vater nach London zurück.

Durch Granma habe ich einiges über meinen Vater erfahren. Er war ihr einziger Sohn, und sie liebte ihn sehr, auch wenn sie gar nicht glücklich war über sein Leben. Er sei nie erwachsen geworden, sagte sie, er habe nur spielen, trinken und Frauen lieben wollen.

Aber zu ihr war er immer gut gewesen. Am Wochenende brachte er ihr Esswaren aus der Stadt, manchmal auch ein Stück Stoff für ein Kleid und ein wenig weissen Rum, denn auch sie trank gerne von Zeit zu Zeit ein Glas. Manchmal zog er bei seinen Besuchen die alten Kleider an, die er bei ihr zurückgelassen hatte, ging Holz sammeln, holte Wasser, kochte und sprach von seiner Arbeit. Sie schimpfte mit ihm wegen seinem unsteten Leben, aber er lächelte nur, packte sie, während sie ihn mit allem, was sie zur Hand hatte, abzuwehren versuchte. Dabei musste sie das Lachen verbeissen; insgeheim liebte sie dieses Spiel und liebte sie ihn.

Das Dorfleben war nichts für ihn gewesen. Schon am frühen Nachmittag genehmigte er sich auf nüchternen Magen ein paar Gläser Rum. Es schmerzte Gran sehr, ihr einziges Kind sich so jung selbst zerstören zu sehen. Seine Arbeiter waren neidisch, die Frauen flogen auf ihn, auch wegen seiner Stellung, und machten ihm Probleme; sie wollten ihn nicht freigeben. Wenn er die üblichen Besuche bei seinen vielen Freundinnen machte, hörte er überall Klagen und Beschimpfungen: «Warum besuchst du deinen Sohn nie, Oliver!» «Warum kümmerst du dich nie um Giny!» Beschämt, mit hängendem Kopf und leeren Taschen ging er weg. Er wollte nie Kinder, er wollte nur Sex, und schon war wieder ein Baby unterwegs. Er fürchtete, diese Frauen könnten ihn eines Tages töten, sie hatten es auch einige Male versucht, mit Voodoo und Gift.

Zweimal die Woche war der Nachtclub sein Zuhause; nichts, ausser vielleicht eine hübsche Frau, konnte ihn davon abhalten. Er war höflich und respektvoll, wenn er nüchtern war, aber wenn der rauhe weisse Rum in seinem Blut floss, wurde er ein Monster. Meist trank er, bis er nicht mehr wusste, wo er war. Meine Mutter sagte einmal, es sei beschämend, einen erwachsenen Mann zu sehen, der sich wie ein Kind benehme – einen liebenswerten Mann sich so erniedrigen zu sehen.

Ich habe, wie meine Mutter, Vater sehr geliebt. Aber ich kannte ihn nicht. Als ich erfuhr, dass Vater so viel getrunken hatte, fühlte ich mich hilflos, ich wusste damals nicht, dass es eine Krankheit war. Das hat Auswirkungen auf mein späteres Leben gehabt. Ich machte Frauen für Vaters Trinkerei verantwortlich, ich traute ihnen nie und mochte sie nicht. Die meisten meiner Freunde sind Männer, mit ihnen komme ich besser klar.

Er starb einige Jahre nach unserer Ankunft in St. Lucia. Ich konnte nicht recht glauben, dass er tot war; irgendwie war ich überzeugt, dass er noch lebte. Es hiess, er habe sich zu Tode getrunken. Es ging auch das Gerücht, dass er mit einem langsam wirkenden Gift getötet worden sei.

In ihrem kleinen, aus Schindeln gebauten Haus lernte Granma mit Sechzig wieder, Mutter zu sein. Es war nicht einfach für sie, denn anders als Ben wollte ich immer zurück nach London, zu meiner Mutter. Gran wollte nicht, dass wir weggingen, nicht solange sie lebte. Ich war zu selbstsüchtig, um zu realisieren, wieviel meine Grossmutter opfern musste, um uns eine bessere Zukunft zu geben. Ich dachte, dass das Leben in London viel einfacher wäre und dass dort meine Träume wahr würden. Ich war gerne englisch, ich hasste es, barfuss im Dreck herumzulaufen.

Alle vierzehn Tage mussten wir Bananen verkaufen gehen, eine halbe Stunde zu Fuss, die Bananen auf dem Kopf. Der Schweiss floss an meinem jungen Körper herunter. Ich fürchtete diese Tage, denn ich erhielt nur dann einige Dollars für die Staude, wenn die Früchte die richtige Grösse hatten und keine Druckstelle. Sonst wurden sie zurückgewiesen, und ich war den Weg vergebens gegangen, hatte vergebens die ganze Woche zu den Früchten Sorge getragen.

Manchmal waren wir zu erschöpft, um die Bananen den ganzen Weg wieder nach Hause zu tragen – und sie zu essen, gekocht oder gebraten, war mir auch verleidet. So überliessen wir sie andern, die ein Transportmittel hatten. Die nahmen sie mit, kochten sie und verfütterten sie den Schweinen. Wenn wir ohne Geld und Bananen zurückkamen, sah ich jeweils den Schmerz und die tiefen Furchen in Granmas Gesicht.

Wann immer sie konnte, schickte uns Mutter Geld und manchmal ein Paket. Sie sandte uns alles, was ihr in den Sinn kam: Süssigkeiten, Puppen, Murmeln, Höschen, Schuhe, Strümpfe, Haarspangen, Seifen – aber genug war es nie. Grossmutter blieb arm. Hunger litten wir jedoch nie, weil da die beiden Tanten waren, die nebeneinander wohnten und einen kleinen Laden besassen. Die eine mussten wir «Auntie» nennen, obwohl sie nicht wirklich eine Tante war, sondern einfach eine gute Freundin von Gran. Sie hatte auch zwei englische Mädchen, und sie mochte uns sehr. Unserer richtigen Tante, einer Halbschwester meines Vaters, standen wir nie sehr nah. Sie grüsste uns, gab uns manchmal einen Keks, aber sie war ziemlich geizig. Sie hatte elf Kinder. Meine «falsche» Tante war älter und intelligenter; meine richtige Tante war nur Bäckerin.

Es gefiel mir, mit Auntie und den beiden Mädchen, die etwas älter waren, im Laden Kunden zu bedienen. Neben der Bartheke gab es eine Ecke mit Esswaren, wo gesalzener Trockenfisch oder je nach Saison auch frischer Fisch verkauft wurde, in gesalzenes Wasser eingelegtes Rinds- oder Schweinefleisch, Reis, Büchsenfleisch, Öl und Butter, die in einer grossen Plastiktonne fast schmolz.

Am schönsten war es, wenn in dem dunklen kleinen Dorf mit seinen zwei Laternen meine Gran alles stehen- und liegenliess, um, mit etwas Rum intus, zu den Trommeln zu tanzen. Niemand wollte die Samstagnacht im Rum-Shop verpassen. Kaum zehn Leute konnten in dem Laden stehen oder sitzen. Männer und Frauen tanzten zusammen und machten Musik mit Trommeln und Gitarre. Jemand führte den Blinden her; er war der einzige, der die Gitarre richtig spielen konnte. Die Lieder handelten von den Leuten im Dorf, von Liebenden, die heimliche Affären hatten. Die Betrogenen erfuhren manchmal erst durch die Lieder davon, und der Streit zwischen Mann und Frau ging los. Es gab ein Lied, das hatte nur zwei Zeilen: «Bumsen ist süss, aber Schwangersein gar nicht.» Das wurde natürlich in Patois gesungen, da klingt es viel hübscher.

Einmal im Monat war Tanznacht in der Dorfhalle, die für alles mögliche, Politik, Hochzeit, Versammlungen, benutzt wurde. Viele konnten sich den Eintritt nicht leisten, aber von ganz St. Lucia kamen die Leute. Ich ging auch hin, um meine Schulkameraden zu sehen und vor allem meine Boyfriends. Ich war etwa acht damals; ja, in diesem Alter hatte ich schon Liebe im Kopf.

Ich erinnere mich an einen Film. Es war der einzige Film, den ich in den zehn Jahren auf St. Lucia gesehen habe. Er hiess «Samson und Delila». Diese Delila war für mich die schönste Frau der Welt. Sie hatte einen wunderschönen Körper und wunderschöne Brüste. Sie war vollkommen, mit ihren schwarzen Haaren, sie war geheimnisvoll, und ich wollte sein wie sie, wollte, dass Männer meinetwegen den Kopf verloren.

Nachdem sie meine Heldin geworden war, konnte ich monatelang nicht richtig schlafen. Ich wollte Brüste wie sie, nur grösser. Ich hatte immer was übrig für grosse Brüste, nicht so gross wie eine ausgereifte Wassermelone, aber so, dass es eine Handvoll hergibt. Ich glaubte den Altweibergeschichten, die meine Freundinnen erzählten, und so gingen wir zum Fluss, versuchten Flusskrebse zu fangen und sie an unseren kleinen Brüsten zu reiben. Dann standen wir in einer Reihe über den Fluss gebeugt, um zu schauen, ob sie wuchsen.

Dabei wurden wir einmal von meiner Cousine Ilin beobachtet, die immer im falschen Moment auftauchte. Sie war älter als wir, hatte ein Kind und war wie üblich nicht verheiratet. Ihr Freund war ein Frauenheld, der sie nur gerade zum Liebemachen ein paarmal pro Woche besuchte. Sie war noch nicht so alt, ich weiss nicht, wie alt. Das Alter interessiert auch heute noch kaum jemanden in St. Lucia, das scheint eher eine europäische Krankheit zu sein.

Ilin war entrüstet, als sie uns sah, sie rief meinen Namen. Ich kriegte einen mächtigen Schrecken, zitterte am ganzen Körper vor Scham und begann zu weinen. Sie sagte höhnisch: «Was würde Grossmutter von all dem denken – Krebse an deinen Brüsten zu reiben, du schmutziges kleines Mädchen!» Ich hoffte, sie würde nichts erzählen, aber sie tat es doch.

Go, Josephine, go

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