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KAPITEL 2

STÜRMISCHE ÜBERFAHRT

Europa, Mai 1943

Tief in Gedanken versunken stand Petra wieder an Deck, doch befand sie sich mittlerweile auf einem großen, majestätischen Schiff. Das kleine Fischerboot vom Anfang ihrer Reise lag nun weit hinter. Der kalte Wind pfiff ihr um die Ohren, die anderen Passagiere drängten sich an Deck, um ihren Lieben auf dem Hafenkai ein letztes Mal zuzuwinken. Doch erst, als sie das laute Horn ertönen hörte und das Schiff sich träge schaukelnd in Bewegung setzte, nahm Petra ihre neue Umgebung wahr. Wie aus einem Traum erwachend, ließ sie ihren Blick umherschweifen. Es war ihr schleierhaft, wie sie es so weit geschafft hatte. Aber je weiter sich das Schiff vom Festland entfernte, desto mehr spürte Petra eine Last von ihren Schultern fallen. Tage geprägt von Angst und Bangen lagen hinter ihr, doch nun sollte der letzte Teil ihrer großen Reise anbrechen. Langsam schlenderte sie auf dem Deck entlang und bewunderte das riesige Gefährt, auf dem sie sich befand. Im Vergleich hierzu erinnerte der erste Kahn an eine Nussschale. Dieses Schiff hatte mehrere Decks und zwei riesige Schornsteine, die in den Himmel ragten. Auf dem Weg zu ihrer Kajüte sah sie Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft. Die gut betuchten hatten eine Kabine mit Aussicht sowie einen riesigen Speisesaal mit edler Einrichtung und mit Geschirr aus dem feinsten Porzellan. Petra lugte in den luxuriösen Saal. Der Stil erinnerte sie an ein französisches Straßencafé, wovon sie einmal in einem Magazin eine Abbildung gesehen hatte. Ihre Augen glitzerten, als sie die Lichter der Kronleuchter an der Decke reflektierten sah. Doch ehe sie noch einen weiteren Blick riskieren konnte, wurde sie entdeckt und weggescheucht. Sie wusste, dass sie dort nicht hingehörte, daher machte es ihr nichts aus zu gehen. Für ein paar Sekunden in diese pompöse Welt einzutauchen und einen Hauch von der Welt zu erhaschen, welche sich hinter den schweren Mahagonitüren versteckte, genügte ihr schon. Als sie auf ihrem eigenen Deck ankam, wurde ihr der Bruch zwischen der glamourösen Welt der ersten Klasse und der Armut der dritten Klasse deutlich bewusst. Ihre Kabine lag im Schiffsinneren. Hier gab es keine schöne Aussicht, kein Fenster, kein Tageslicht. Petra teilte sich ihre Kabine mit fünf anderen Mitreisenden, die so wie sie auf der Suche nach einem neuen Zuhause waren. An Privatsphäre war bei der Enge des Raumes nicht zu denken.

Die erste Nacht war die schlimmste. Die dröhnenden Geräusche, die aus dem unweit entfernten Maschinenraum drangen, waren so laut, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht hören konnte. Doch vielleicht war das etwas Gutes: Immer wieder kehrte sie gedanklich zu dem Abend am Hamburger Hafen zurück und fragte sich, was wohl mit ihren Eltern geschehen war. Schreckliche Bilder gingen ihr durch den Kopf und sie spielte die grausamsten Szenarien vor ihrem inneren Auge immer und immer wieder durch. Keines davon nahm ein gutes Ende. Erst im Morgengrauen überkam der Schlaf eine völlig erschöpfte Petra. Als sie wenige Stunden später vom morgendlichen Tumult ihrer Zimmergenossinnen geweckt wurde, war die Luft in der Kabine so stickig, dass man kaum atmen konnte. Sie beschloss, sich so wenig wie möglich in diesem Raum aufzuhalten. Dafür hätte sie auch gar keine Zeit gehabt. Zwar stand ihr Name dank der Beziehungen ihrer Eltern auf der offiziellen Passagierliste, dennoch musste sie für ihren Platz auf dem Schiff arbeiten. Anders hätte sich ihre Familie die Überfahrt nicht leisten können. Ein Schiffskoch half immer wieder dabei, Leuten Fahrkarten zu besorgen und im Gegenzug bekam er von ihnen die dringend benötigte Hilfe in der Küche. Da die Schifffahrtsgesellschaft an allen Ecken sparen musste, wurde darüber hinweggesehen. Petra wurde für kleine Aufgaben eingeteilt. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, in der Kombüse Töpfe und Teller zu spülen. Ihr Tagesablauf war klar gegliedert: Morgens und abends arbeitete sie in der Küche, nachmittags hatte sie frei. Die gusseisernen Pfannen waren schwer, die kesselartigen Töpfe unhandlich. Ihr Rücken schmerzte jeden Abend. Dennoch war die harte Arbeit kein Problem für Petra. Sie kam aus einer Familie, die sich alles, was sie besaß, selbst erarbeitet hatte. Es war nicht viel, aber Petra hatte nie das Gefühl gehabt, dass ihr etwas fehlte. Ihre Eltern hatten ihr alles gegeben, was sie brauchte: Liebe, Vertrauen und Respekt. Sie hatten eine junge Frau aufgezogen, die eine eigene, kritische Stimme besaß, auch wenn dies in der Zeit, in der sie lebten, nicht das beste Attribut für eine heranwachsende junge Frau war. Ihre Eltern erzählten gerne die Geschichte, als Petra in der zweiten Klasse von der Schule suspendiert worden war, weil sie auf dem Schulhof in eine Rauferei mit einem Jungen verwickelt gewesen war. Als Grund der Suspendierung war der Vermerk „unschickliches Verhalten“ eingetragen worden. Ihr Vater hatte gelacht, als er den Zettel sah. Er kannte seine Tochter und wusste, dass sie sicherlich einen guten Grund gehabt haben musste, sich auf dem Schulhof zu balgen. Es stellte sich heraus, dass der Junge ihrer Freundin an den Zöpfen gezogen hatte und Petra aufgrund ihres Gerechtigkeitssinns eingeschritten war. Immer, wenn sie daran zurückdachte, schien es ihr, als wären ihre Eltern stolz auf sie gewesen, weil sie sich für jemand anderen starkgemacht hatte. Leider ging dieser kindliche Mut irgendwo auf der Strecke verloren. Wo einst Mut gewesen war, schürte die Propagandamaschinerie nun ein Feuer der Angst, das in ihrem Kopf immer mehr überhand nahm. Sie wusste nicht, wie ihre Eltern so furchtlos sein konnten, oder besser gesagt, wie sie ihre eigene Angst hinten anstellen konnten im Angesicht des Leides anderer Menschen. Dazu benötigte es einen besonderen Schlag Mensch.

Nach einem langen Arbeitstag in der Küche kehrte Petra geschafft in ihre Kabine zurück. Ihr Rücken schmerzte. Als sie in die schon etwas vergilbte, abgenutzte Matratze sank, fühlte sie sich wie auf einem Wolkenbett. Während sie da so lag, griff sie unter ihr Kopfkissen und holte den Brief hervor, den ihr ihre Mutter kurz vor der Abreise gegeben hatte. Sie ließ ihn zwischen ihren Fingern gleiten. Auf dem Umschlag stand in großen Buchstaben ihr Name geschrieben. Sie hatte schon immer die Handschrift ihrer Mutter bewundert, so grazil und schwungvoll. Sie schmunzelte innerlich, als sie sich daran erinnerte, wie oft sie versucht hatte, sie zu fälschen, wenn sie keine Lust auf einen dieser Heimabende oder einen der obligatorischen Ausflüge hatte. Aber sie fehlte nicht ein einziges Mal, die Angst, von den Betreuern erwischt zu werden, war zu groß. Petra wusste, dass ihre Mutter ihr eine Entschuldigung geschrieben hätte, hätte sie sie darum gebeten, doch sie wollte ihre Mutter damit nicht belästigen. Als Lehrerin einer örtlichen Grundschule hatte Petras Mutter immer selbst genug um die Ohren. Außerdem musste auch sie oft genug darlegen, warum sie an so vielen Veranstaltungen nicht teilnahm. Von Anfang an war sie gegen die Vertreibung der Juden gewesen. Oft kochten ihre Gefühle hoch, wenn sie den hasserfüllten Reden beiwohnen musste – ein weiterer triftiger Grund, öffentlichen Reden fernzubleiben.

Sie betrachtete ihre Schüler wie ihre eigenen Kinder. Entsprechend hart traf es sie, als viele von ihnen mit ihren Familien plötzlich und wortlos verschwunden waren. Petra hatte ihre Mutter immer als starke Frau gesehen, die voller Liebe und Unbeschwertheit durch die Welt ging. Doch mit jedem Jahr, in dem der Nationalsozialismus in Deutschland regierte, wurden ihre unbeschwerten Lachfältchen durch trübe Sorgenfalten ersetzt. Trotz allem, was außerhalb ihrer vier Wände passierte, versuchte sie ihr Haus weiterhin mit Liebe und Hoffnung zu füllen. Wenn sie Petra nicht die Welt zeigen konnte, die sie so liebte, so konnte sie doch zumindest ein Stück Welt in ihr Wohnzimmer bringen. Die Familie besaß Bücher über alles, was das Herz begehrte: Kunst, Musik, Geografie, Geschichte und Sprachen. Obwohl Petra lieber mit ihrem Vater Schallplatten hörte, als in Büchern zu blättern, genoss sie es doch sehr, wenn ihre Mutter völlig hingebungsvoll von einem ihrer neuen Bücher schwärmte. Ihr Vater und sie tauschen dann immer verschwörerische Blicke aus. Sie wussten, dass ihre Hingabe zu den Büchern das kleine Feuer aus Liebe, Wissbegierde und kritischem Denken in ihr weiter lodern ließ. Aber der Besitz von einigen Büchern aus der Sammlung war verboten. Darum versteckte sie ihre Bücher so gut, dass selbst ihre eigene Familie nicht wusste, wo alle zu finden waren.

Es war auch ihre Mutter, die darauf bestand, dass ihre Tochter Englisch lernte. Doch nur die Sprache zu beherrschen war nicht genug. Sie übten so lange, bis Petra fast akzentfreies Englisch sprechen konnte. Sie übten oft Nächte lang an der perfekten Aussprache.

Gerade jetzt hätte sie ihre Mutter gerne an ihrer Seite gehabt. Sie hätte sie gerne wissen lassen, dass sie es sicher aufs Schiff geschafft hatte. Das war nicht selbstverständlich gewesen, da es auf offiziellen Wegen gar nicht mehr möglich war, Deutschland zu verlassen. Und doch war sie hier. Wirklich freuen konnte sie sich darüber aber nicht. Doch spürte sie nur Einsamkeit. Petra konnte es kaum erwarten, die Zeilen ihrer Mutter zu lesen, aber sie hatte ihr vor ihrer Abreise versprochen, den Brief erst bei ihrer Ankunft in Amerika zu öffnen. Sie strich ein letztes Mal zärtlich mit ihrem Daumen über ihren Namen und legte den Umschlag wieder unter das Kopfkissen. Zwar war sie erschöpft und ausgelaugt vom Tag, doch sie konnte trotz der fortgeschrittenen Stunde nicht schlafen. Nach kurzer Überlegung stand sie auf und verließ das Zimmer.

Ein paar Matrosen spielten in der Schiffskombüse Karten. Petra setzte sich an einen leeren Tisch in der Nähe der Tür. Die Stimmung war gesellig und ausgelassen. Sie genoss es, den Männern beim Spielen zuzusehen. Sie versuchte so wenig wie möglich aufzufallen, da sie sich mit niemandem unterhalten wollte. Trotz ihrer Anstrengungen, jeglichen Augenkontakt zu vermeiden, spürte sie, wie die anzüglichen Blicke eines Matrosen immer wieder zu ihr herüber wanderten. Der schmierige Kerl war ihr schon des Öfteren unangenehm aufgefallen, weil er den jungen Frauen an Bord gerne lüstern hinterher starrte. Ihre Nackenhaare stellten sich jedes Mal auf, wenn sich ihre Blicke trafen. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, niemanden vorzeitig zu verurteilen, doch bei ihm hatte sie ein sehr unangenehmes Bauchgefühl. Breitbeinig und süffisant grinsend saß er in seiner verschwitzten Uniform inmitten seiner Kumpane. Dicke Schweißperlen rannen über seinen kahl geschorenen Kopf und seine Stirn und er musste sie sich ständig abwischen, damit sie ihm nicht in die Augen liefen. Petra ekelte sich bei seinem Anblick und wendete sich von ihm ab. Als sie wieder zu ihm hinsah, war sein Platz leer. Panisch suchte sie mit den Augen den Raum nach ihm ab. Ihr Herz blieb kurz stehen, als sie bemerkte, dass er direkt auf sie zusteuerte. Sie erhob sich, verließ die Kombüse und bewegte sich zügig in Richtung ihrer Kabine. Sie hörte schwere Schritte hinter sich und legte daraufhin an Tempo zu. Die letzten Meter zu ihrer Kabine rannte sie fast. Sie traute sich nicht, sich umzudrehen.

Angekommen öffnete sie leise die Tür zu ihrer Kajüte, um niemanden zu wecken. Als sie sah, dass all ihre Zimmergenossinnen in ihren Betten lagen und schliefen, stellte sie einen kleinen Holzhocker unter den Türgriff, sodass die Tür nicht mehr von außen geöffnet werden konnte. Zittrig horchte sie an der Tür. Als keine Geräusche von draußen zu hören waren, zog sie sich aus und legte sich erleichtert ins Bett. Doch plötzlich rüttelte es am Türgriff. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Ein paar Mal wackelte noch der Griff, dann hörte sie, wie sich die schweren Schritte des Matrosen langsam entfernten. Ihre Mitreisenden waren mittlerweile an die lauten Geräusche des Schiffes gewöhnt und schliefen unbehelligt weiter. Noch lange nachdem das Rütteln aufgehört hatte, raste Petras Herz in ihrer Brust. Sie beruhigte sich nur langsam. Wie in den Nächten zuvor war auch in dieser Nacht für Petra an Schlaf kaum zu denken.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, war ihre Furcht groß, die Kabine zu verlassen, doch bald hielt sie die stickige Luft nicht mehr aus, außerdem hatte sie Dienst. Das Einzige, was Petra beruhigte, war, dass auch der Matrose nun arbeiten musste. Zum ersten Mal war sie froh, hinter dem alten Spülbecken zu stehen und eine Arbeit zu haben, die sie beschäftigte. Den ganzen Vormittag lang dachte sie an den Nachmittag, an dem sie keinen Dienst hatte. Ihr graute es davor, dem Matrosen erneut zu begegnen. Sie konnte und wollte nicht zurück in die stickige Kabine, also beschloss Petra aufs Oberdeck zu gehen. Dort war sie umgeben von anderen Passagieren und die Wahrscheinlichkeit, dem schmierigen Seemann zu begegnen, war gering. Als sie nach draußen trat, zog die kalte Luft durch jede Masche ihres schon etwas löchrigen Mantels. Schnell zog sie den Kragen bis unter ihr Kinn. Sie sah sich um und beschloss, sich an die Reling zu stellen war. Ein junges Pärchen stand neben ihr und blickte auf die raue See, eine ältere Dame saß in eine Decke gewickelt auf einem Stuhl und eine Mutter versuchte ihre beiden Kinder in Schach zu halten. Doch Petras Augenmerk fiel auf einen einsamen Mann. Sie schätzte ihn auf Mitte 50. Von Weitem ähnelte er ihrem Vater mit den kurzen braunen Haaren und dem gütigen Gesichtsausdruck. Gedankenverloren stand er in einer Ecke und zog an seiner Pfeife. Petra, die nach wie vor nicht an einer Konversation interessiert war, stellte sich mit einem angemessenen Abstand neben den Herren und musterte ihn eingehend. Von seinem perfekt sitzenden Anzug und dem hochwertigen blauen Wollmantel mit goldenen Knöpfen schloss sie, dass er zu den besser betuchten Passagieren gehören musste. Ihr Blick wanderte zu seinen Schuhen. Sie sahen nicht übermäßig teuer, aber gut gepflegt aus. Petra dachte an ihre Mutter, die großen Wert auf ordentliches Schuhwerk legte. „Schuhe sorgen dafür, dass man leichter durchs Leben kommt und deshalb sollte man sich um sie kümmern“, hatte ihre Mutter immer wieder erklärt, wenn Petra erneut in ihre abgenutzten Lieblingssandalen schlüpfte. Immer noch in Gedanken bei ihrer Mutter, bemerkte Petra nicht, dass der Herr sie nun ebenfalls musterte. „Wissen Sie, worüber sich die Fische am meisten aufregen?“ Petra schreckte aus ihren Gedanken hoch: „Wie bitte?“ Er wiederholte seine Frage, doch Petra blickte ihn weiterhin verständnislos an. Mit einem Lächeln sagte er: „Schuhe. Es liegen geschätzt über 10.000 einzelne Schuhe auf dem Meeresgrund, die sie nicht benutzen können.“ „Was für eine komische Antwort“, dachte Petra. Dennoch lächelte sie und erwiderte: „Ja, ich habe auch schon gehört, wie sich die Meerjungfrauen über dieses Problem beschwert haben.“ Beide grinsten einander an. Der Herr war schlagfertige Antworten von Frauen nicht gewohnt und daher positiv überrascht. Sein Akzent war kein deutscher, das war Petra sofort aufgefallen. Als sie ihn danach fragte, erzählte er ihr, dass er ein Journalist aus Österreich sei. Obwohl Petra anfänglich jeder Konversation aus dem Weg gehen wollte, fand sie nun doch Gefallen daran, sich mit diesem netten Herrn, der sich als Johannes vorstellte, zu unterhalten. Sie erfuhr, dass er lange Jahre mit seiner Frau in der Nähe von Salzburg gelebt hatte. Er sprach mit solch einer schmerzlichen Hingabe von ihr, dass Petra sofort verstand, wie sehr er sie geliebt haben musste. „Sie wurde von ihnen abgeholt“, erzählte er mit einem gequälten Blick. Petra wusste genau, was er damit meinte. Sie hatte die verschiedenen Phasen selbst miterlebt. Erst wurden Menschen jüdischer Herkunft aus ihren Positionen enthoben. Sie nannten es die Entlassung aller „nichtarischen“ Beamten. Dann folgten alle anderen Berufsstände. Die Regierung grenzte sie aus der Gesellschaft aus und machte es für sie unmöglich zu arbeiten. Sie enteignete ganze Familien und brachte sie in sogenannten „Ghettos“ unter. Es wurden zahlreiche antijüdische Gesetze und Verordnungen erlassen. Dann kamen die Lager. Viele Menschen wussten nicht einmal, dass diese existierten und diejenigen, die von ihrer Existenz erfuhren, verschlossen oft die Augen davor. Was sollte man schon dagegen tun? Anfangs wurden sie der Bevölkerung noch als Arbeitslager verkauft, doch langsam und schleichend wurden die Gerüchte von Folter und Massenmorden laut.

Immer wenn die Lastwagen anrollten, hielten alle den Atem an. Je älter sie wurde, desto schmerzhafter wurde Petra bewusst, dass die meisten Menschen, die abgeholt wurden, ihre letzte Reise antreten würden. Es war die Gleichgültigkeit, die Petra am meisten abschreckte. Sie wusste, dass sie nicht urteilen durfte, da sie selbst wegsah, wenn die Soldaten Familien auseinanderrissen und unschuldige Menschen deportierten. Allerdings stand vielen ihrer Mitbürger die Freude und die Genugtuung ins Gesicht geschrieben, wenn sie einem solchen Spektakel beiwohnten. So fühlten sie sich stark, erhaben trotz ihrer eigenen Machtlosigkeit. Doch nichts war erhaben daran, einen alten Mann zu schlagen, der sein Leben lang für sein Land gearbeitet hatte. Und nun kam ein 17-jähriger Bursche daher, der in seinem Leben noch nichts geleistet hatte und dachte, er wäre etwas Besseres. Das war in ihren Augen anmaßend. Ein anderes Mal musste sie mitansehen, wie beim Losfahren des Lastwagens ein Mann von der Ladefläche geschleuderte wurde. Statt anzuhalten und ihn wieder aufsteigen zu lassen, legten die Soldaten den Rückwärtsgang ein und fuhren mit voller Wucht mehrere Male lachend über ihn. Seinen reglosen Körper ließen sie auf der Straße liegen. Das Jubeln der Soldaten konnte sie bis heute noch in ihren Ohren hören. Sie konnte sich nicht im Ansatz vorstellen, wie traumatisch es sein musste, einen geliebten Menschen auf solch einem Wagen wegfahren zu sehen.

Umso mehr bewunderte sie die abgeklärte Art, mit der Johannes über den Verlust seiner Frau sprach. Petra konnte die Trauer über den Verlust in seiner Stimme hören, doch sie spürte keine Bitterkeit in seinen Worten. Immer wieder betonte er, dass seine Frau das Leben geliebt hatte und nicht gewollt hätte, dass er seins aufgäbe. „Sie war der Meinung, dass die anderen sonst gewinnen würden.

Ich solle für uns beide leben, sagte sie immer wieder“. Seine Lippen formten ein trauriges Lächeln, während er sprach. Petra gefiel dieser Gedanke, auch wenn sie selbst nicht wusste, ob ihr Zorn gegenüber einer Regierung, die ihr die Eltern nahm und sie zwang, ihre Heimat zu verlassen, jemals verblassen würde. Zu frisch war die Wunde, zu groß der Schmerz. Noch über eine Stunde standen die beiden an Deck und sprachen über ihre persönlichen Schicksale, die sie auf diesem Schiff zusammengebracht hatten.

Nach dem Verlust seiner Frau hielt Johannes nichts mehr in Österreich. Auch war die Regierung nicht der größte Bewunderer seiner Arbeit, zu freidenkerisch waren seine Texte. Johannes berichtete, dass er von Kindertagen an immer ein Künstler sein wollte. Leider stellte sich schnell heraus, dass er kein natürliches Talent dafür besaß. Seine Eltern legte ihm nahe, einen anständigen Beruf zu erlernen und nicht weiter diesen Flausen im Kopf nachzujagen. Also machte er eine Lehre als Tischler. Viele Jahre arbeitete er in diesem Beruf, doch die Leidenschaft zur Kunst verließ ihn nie ganz. Zwar konnte er selbst nicht zeichnen, doch dies hielt ihn nicht davon ab, die großen Künstler seiner Zeit zu studieren. Er wurde ein richtiger Kunstexperte und war begierig darauf, sein Wissen zu teilen. Zu seinem Leid hielt sich das Interesse für Maler und Pinseltechniken in seinem Freundeskreis in Grenzen, also begann er neben seiner normalen Arbeit ein paar Artikel für eine lokale Zeitung zu schreiben. Der Chefredakteur erkannte sein Talent und seinen Enthusiasmus und bot ihm an, in Vollzeit für die Kunstkolumne der Zeitung zu schreiben. Diese Gelegenheit ließ sich Johannes nicht entgehen. Er kündigte seine Arbeit als Tischler und wurde Redakteur. Diese Geschichte erinnerte Petra an ihren Vater. Auch er hatte von einer großen Karriere als Musiker geträumt, doch nie genug an sich selbst geglaubt, um diesen Traum ernsthaft zu verfolgen. Petra hatte ihren Vater oft beim Klavierspielen beobachtet und sie war sich sicher, dass es ihm nicht an Talent fehlte. Immer wieder versuchte sie ihn zu ermutigen, sich einer Musikgruppe anzuschließen. Doch mit den Worten, „Diese Zeiten sind vorbei“, winkte er immer wieder ab. Was wohl passieren würde, wenn die Menschen nicht immer so schnell aufgeben würden, fragte sich Petra. Sie beneidete Menschen mit großen Träumen und Ambitionen, da sie selbst keine wahre Leidenschaft hatte. Sie konnte von allem ein wenig, aber nichts richtig gut. Sie sang gern, aber konnte sich selbst nicht als Sängerin sehen, sie liebte das Tanzen, doch eine Tänzerin war sie auch nicht. Petra merkte, wie ihre Gedanken abschweiften, während Johannes´ Lippen sich weiter bewegten. Schnell schwenkte sie wieder zu ihm zurück.

Sie wollte von ihm wissen, ob die Tatsache, dass seine Frau Jüdin war, ihn dazu bewegt hatte, das Land zu verlassen. Johannes lächelte und schüttelte den Kopf. „Klar war es ein Problem, aber mein Arbeitsverbot habe ich mir selbst zuzuschreiben – im wahrsten Sinne des Wortes. Über die Jahre habe ich mir einen guten Ruf aufgebaut und eine leitende Position bei der Zeitung übernommen. So hatte ich einige Freiheiten in der Themenwahl, aber das sollte mir schnell zum Verhängnis werden. Sie müssen verstehen, meine Liebe zur Kunst ist immens und das kann mir auch das nationalsozialistische Wertesystem nicht nehmen. Besonders diejenigen Künstler, die Dinge neu interpretieren und – ich möchte fast sagen – groteske Interpretationen bieten, faszinieren und inspirieren mich am allermeisten. Leider teilt der nationalsozialistische Staat nicht meine Ansicht und zensiert diese Kunst. Alles, was ich bewundere, ist unter diesem Regime verpönt. Also musste ich einen Weg finden, um trotzdem über diese Art der Kunst berichten zu können. Da kam mir die Münchner Ausstellung über entartete Kunst sehr gelegen. Haben Sie davon gehört?“ Petra schüttelte neugierig den Kopf. „Es handelte sich um eine staatliche Propagandaaktion. Es wurden Kunstwerke ausgestellt, die nicht den nationalsozialistischen Idealen entsprechen. Ziel dieser Ausstellung war es, den Menschen vor Augen zu führen, wie schrecklich diese Kunst doch sei und was mit jenen passiert, die diese verherrlichen.“ Johannes lachte kurz auf. „Also wurden aus ganz Deutschland Kunstwerke beschlagnahmt, die als „entartet“ gelten und zur Schau gestellt. Um den dramatischen Effekt zu intensivieren, wurden die Wände neben den Kunstwerken mit Schmäh-Sprüchen versehen. Anfangs habe ich wirklich versucht, meine Euphorie über die gezeigten Kunstwerke im Zaum zu halten. Ich wollte die Berichterstattung so sachlich wie möglich gestallten. Glauben Sie mir, meine Liebe, es war nicht leicht für mich. Doch dann bemerkte ich, dass die Leute in Massen in die Ausstellung strömten und da konnte ich nicht anders. Ich sah es als meine Pflicht an, die Menschen über die Künstler und die Geschichte der Kunstwerke aufzuklären. Ich schrieb und schrieb und vergaß dabei immer wieder, dass diese Künstler als Staatsfeinde gehandelt wurden und ich nicht positiv über entartete Kunst schreiben durfte. Meine Vorgesetzten ermahnten mich, vorsichtig zu sein, doch ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits einen guten Ruf in der Kunstszene erlangt und deshalb ließen sie es mir erst einmal durchgehen. Jedenfalls war die Ausstellung in München ein großer Erfolg, also entschied man sich, eine Wanderausstellung unter selbigem Namen durchzuführen. Selbstverständlich war es mir ein Anliegen, diese zu begleiten. Viele unterschiedliche und äußerst spannende Kunstwerke wurden gezeigt.“ Johannes hielt inne und zog ein paar Mal an seiner Pfeife.

Petra sagte nichts, sie war gespannt zu erfahren, wie seine Geschichte weiterging. Doch während sie Johannes beim Rauchen zusah, fiel ihr eine ähnliche Ausstellung ein, die sie mit ihrem Vater besucht hatte und den Titel „Entartete Musik“ trug. Am Pranger standen die Musik jüdischer Komponisten und die als „Niggermusik“ betitelte Jazzmusik. Sie erinnerte sich, dass sie sich selbst immer wieder zwingen musste, nicht mit dem Fuß zu wippen, während sie sich die „unreine“ Musik anhörte. Auf dem Heimweg schlug ihr Vater vor, die Ausstellung öfters zu besuchen, schließlich konnte man dort gute Musik hören. Er hatte zwar versucht, fröhlich zu klingen, als er das sagte, aber Petra war aufgefallen, wie traurig er in Wahrheit darüber war, seine geliebte Jazzmusik nicht mehr hören zu dürfen. So musste es wohl auch Johannes ergangen sein, dachte sich Petra. Sie räusperte sich diskret, um Johannes wieder auf sich aufmerksam zu machen. Dieser schrak tatsächlich aus seiner Tagträumerei auf und fuhr fort. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich begleitete die Wanderausstellung. Wunderbare Kunstwerke, über die ich dort berichtete! Allerdings wurden meine Artikel immer mehr zum Problem. Die Leser beschwerten sich über meine Äußerungen und die Zeitung geriet offiziell unter Druck, meine Arbeit zu zensieren. Doch ich konnte nicht klein beigeben, verstehen Sie? Je größer der Druck auf mich wurde, desto kritischer wurden meine Texte. Ein fataler Fehler, denn so wurde die Regierung erst auf mich und dann auf meine Frau aufmerksam. Dass sie sie abholten, brachte das Fass zum Überlaufen. Ich schrieb einen hitzigen Artikel über die Unterdrückung der Kunst, der mir nicht nur ein Berufsverbot einbrachte, sondern auch zwei Wochen Gefängnis. Ich bin nur durch meine guten Kontakte überhaupt wieder rausgekommen. Ich bereue nicht, diesen Artikel geschrieben zu haben, aber leider wurde er nie gedruckt. Das macht mich traurig. Nun ja, danach hielt mich nichts mehr in der Heimat. Ich kenne mich gut genug: Wäre ich dortgeblieben, hätte ich nicht den Mund halten können. Irgendwann hätten die mich für immer weggesperrt, da nützen mir die besten Kontakte nicht.“

Seither war er, wie Petra es nannte, auf der Flucht, doch er umschrieb es als eine abenteuerliche Suche nach neuen Inspirationen. Inspirationen, von denen es in dieser neuen Welt, auf die sie zusteuerten, hoffentlich viele geben würde. In seinen Augen konnte Petra ein Leuchten sehen. Sie bewunderte seine scheinbare Furchtlosigkeit. Für ihn war es ein Abenteuer und für sie eine Reise ins Ungewisse. Das Signal zum Essen ertönte. Bevor sich ihre Wege trennten, verabredeten sie sich wieder für den nächsten Tag. Zum ersten Mal, seitdem sie auf dieses Schiff gekommen war, verspürte Petra Vorfreude. Sie hatte vergessen, warum sie eigentlich an Deck gegangen war. Nichts konnte ihr an diesem Tag die Laune verderben. Sie absolvierte ihren Küchendienst und als sie danach erschöpft ins Bett fiel, schlief sie zum ersten Mal die ganze Nacht durch.

Auch in den nächsten Tagen waren die Treffen mit Johannes der Höhepunkt ihres Tages. Er erzählte ihr von seiner Arbeit als Journalist. Er schwärmte von Künstlern wie Otto Dix und Emil Nolde, von denen Petra noch nie gehört hatte. Doch er beschrieb ihre Kunstwerke so haargenau, dass sie diese mit all ihren Formen und Farben vor ihrem inneren Auge entstehen sah. Sie liebte es, ihm zuzuhören. Die Art, wie er sprach, erinnerte Petra immer wieder an ihren Vater. Wie er strahlte Johannes eine unerschütterliche Ruhe aus und Petra fühlte sich in seiner Gegenwart geborgen. Es war, als hätte sie mit ihm ein Stück ihrer Familie an Bord. Sie konnte über alles mit ihm sprechen und ihre Bewunderung für ihn wurde von Tag zu Tag größer. Für sie fühlte es sich an, als hätte er das Leben durchschaut. Nichts konnte ihn mehr wundern. Ganz im Gegenteil, es schien, als würde er das Leben herausfordern, um so viel wie möglich davon zu erleben. Er hatte keine Angst vor dem Unbekannten, das vor ihm lag. Er wollte sich von den Wundern des Lebens überraschen lassen. Solche unbeschwerten Gedanken waren für Petra undenkbar. Er fragte sie, wovor sie sich genau fürchte. „Vor allem!“, schoss es aus ihr heraus. „Meine Eltern sagen immer, ich könnte alles erreichen, was ich mir vornehme. Doch genau da liegt das Problem: Was will ich überhaupt? Ich weiß doch nicht einmal, wer ich wirklich bin! In Deutschland gibt es so viele Regeln und Gesetze, die man zu befolgen hat. Was bin ich, wenn es diese Gesetze nicht mehr gibt? Wie soll ich mich verhalten? Ich habe das Gefühl, dass eine riesige Mauer vor mir steht. Ich weiß, ich muss sie erklimmen, doch ich weiß nicht wie. Und ich habe Angst vor dem, was hinter dieser Mauer ist.“

Als Johannes Petras Verzweiflung wahrnahm, betrachtete er sie einen Moment lang schweigend, dann ließ er sie für wenige Minuten allein. Als er wiederkam, hielt er eine Hand hinter dem Rücken verschränkt. Er bat Petra die Augen zu schließen und sich ihre Mauer vorzustellen. Die Mauer, die sie davon abhielt, frei zu sein. Sie sollte darüber nachdenken, woher die gedankliche Mauer stammte. Nach einer Minute tippte er Petra auf die Schulter und bat sie, ihre Augen zu öffnen. Als Erstes erblickte sie nur Johannes, der sie verschmitzt anlächelte. Dann sah sie es: Auf dem Boden vor ihr hatte er mit Kreide eine weiße Linie gezogen. Verständnislos zog sie die Augenbrauen hoch. „Dies ist deine Mauer. Wie du siehst, ist es gar keine Mauer. Es ist eine Grenze. Eine Grenze, die andere für dich gezogen haben. Doch du kannst entscheiden, diese Grenze hinter dir zu lassen.“ Er reichte Petra das Stück Kreide und fuhr fort. „Nur du entscheidest, wo deine Grenzen sind. Du wirst auf deinem Weg viele weiße Linien finden, die andere für dich gezogen haben. Doch am Ende sind es nur Linien, es braucht nur einen Schritt, um diese zu überschreiten.“ Petra starrte auf die Kreidelinie vor ihr. Ein unbeschreibliches Gefühl überkam sie, als sie seine Worte hörte. Sie trafen sie genau ins Herz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie konnte ihren Blick nicht von der Linie abwenden. Es war verrückt: Obwohl sie wusste, dass es nur eine Linie auf dem Boden war, obwohl sie wusste, dass sie nur den Fuß zu heben brauchte, um diese zu überschreiten, blieb sie wie angewurzelt stehen, ihren Blick fest auf die Linie gerichtet. Gefühle der Angst, Trauer und Verzweiflung überschlugen sich. Sie kämpfte mit den Tränen, ihre Kehle war zugeschnürt. Doch langsam bahnte sich ein anderes Gefühl einen Weg aus ihrem Inneren heraus. Ein Gefühl, das sie längst verloren geglaubt hatte. Es war die Hoffnung, die sich immer weiter nach oben kämpfte. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln in ihren Beinen. Nun war sie bereit. Petra machte einen großen Schritt und überquerte mit einem Satz die Linie auf dem Boden. Laut schluchzend fiel sie Johannes in die Arme. Es waren Freudentränen, die sie da vergoss. Petra wusste, dass der Weg weiterhin schwer sein würde, aber sie fühlte sich leichter, als wäre eine Last von ihr abgefallen. Sie dankte Johannes für diese Lektion und streckte ihm das Stück Kreide entgegen. Dieser sah sie mit seinen gütigen Augen an und antwortete: „Behalte es. Es soll dich daran erinnern, dass nur du deine Grenzen bestimmst.“

Petra lächelte und wickelte das Kreidestück in ein Taschentuch und steckte es in ihre Manteltasche. Dank der Treffen mit Johannes verging die Zeit in Windeseile. Umso überraschter war Petra, als sie eines Morgens vom lauten Geklapper ihrer Mitreisenden geweckt wurde, die noch eilig ihre letzten Habseligkeiten in den Koffern verstauten. Schnell zog sich Petra etwas über, griff ihren eigenen Koffer und stürzte wie ein Blitz aus der Kabine. Die Flure waren gefüllt mit Passagieren und ihrem Gepäck. Ein Durchkommen war fast unmöglich. Petra zwängte sich durch die Massen, bis sie endlich den Ausgang zum Oberdeck erreichte. Was hinter dieser Tür auf sie wartete, würde ihr Leben für immer verändern.

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